ich lebe nicht allein zusammen - GEW
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Ich <strong>lebe</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>allein</strong> <strong>zusammen</strong><br />
- Systemik als Haltung –<br />
Essay von Prof. Dr. Rolf Arnold<br />
(S. 20 - 25)<br />
-Zeitung<br />
3/08<br />
Rheinland-Pfalz<br />
UNTERSCHRIFTENAKTION VOR BILDUNGSMINISTERIUM<br />
FÜR LEITUNGSFREISTELLUNG IN KITAS (S. 4-5)
KOLUMNE / INHALT<br />
PARADOXIEN<br />
Zweifellos wird zumindest bis zur Änderung<br />
des Schulgesetzes die Diskussion um das neue<br />
Schulstrukturkonzept das beherrschende<br />
bildungspolitische Thema in unserem<br />
Bundesland bleiben. Und r<strong>ich</strong>tig spannend<br />
wird es danach, wenn die praktische<br />
Umsetzung ansteht. Niemand weiß, wie<br />
das Schulwahlverhalten der Eltern dann<br />
aussieht: Gibt es einen noch stärkeren Run<br />
auf die Gymnasien, weil die Realschulen<br />
durch ihre verschiedenen Plusze<strong>ich</strong>en an<br />
Anziehungskraft verlieren, oder wird die neue Schulart als Chance begriffen,<br />
den dritthöchsten Schulabschluss zu erre<strong>ich</strong>en? Oder kommt es gar zu dem,<br />
was wir uns als <strong>GEW</strong> erhoffen: zu einer Welle von Neugründungen von<br />
Integrierten Gesamtschulen? Schon in der letzten Ausgabe haben wir an<br />
dieser Stelle Zweifel geäußert, ob das der Gesetzesänderung vorausgehende<br />
Anhörungsverfahren, in dem betroffene Gruppierungen ihre Einwände<br />
vorbringen können, tatsächl<strong>ich</strong> noch viel bewirken wird und n<strong>ich</strong>t eher eine<br />
Alibiveranstaltung ist. Paradoxerweise werden diese Zweifel ausgerechnet<br />
durch zwei SPD-Landtagsabgeordnete aus Ludwigshafen genährt: Jutta<br />
Steinruck und Günther Ramsauer haben Anfang vergangenen Monats die<br />
Ludwigshafener Schuldezernentin der Untätigkeit geziehen, weil diese noch<br />
keine Initiativen zur Umsetzung der anstehenden Veränderungen ergriffen<br />
habe. Umgekehrt klopften s<strong>ich</strong> die beiden SPD-MdLs selbst kräftig auf die<br />
Schulter, indem sie s<strong>ich</strong> dafür lobten, bereits Kontakte zwischen betroffenen<br />
Schulen hergestellt zu haben. Mal abgesehen davon, dass Schulen in dieser<br />
Situation keine Hilfestellung von um ihr Profil bemühten Politikern brauchen,<br />
ist der CDU-Schuldezernentin nur zuzustimmen, wenn sie darauf<br />
verweist, erst dann konkret handeln zu können, sobald gesetzl<strong>ich</strong> Klarheit<br />
herrscht. Pikant in diesem Zusammenhang ist insbesondere die politische<br />
Akrobatik von Jutta Steinruck: Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />
im Stadtrat in einer Quasi - Koalition mit der CDU und im Landtag<br />
andererseits der absoluten SPD-Mehrheit verpfl<strong>ich</strong>tet, muss sie als örtl<strong>ich</strong>e<br />
DGB-Vorsitzende die Kritik der Gewerkschaften bspw. an den kümmerl<strong>ich</strong>en<br />
Gehaltssteigerungen oder der bescheidenen Schulstrukturreform<br />
umsetzen. Verstehe eine(r), wie das funktionieren soll.<br />
Absurder Vergle<strong>ich</strong><br />
Wenn in einer Jahreszahl hinten die 8 auftaucht, wird das, was das Jahr<br />
1968 bzw. die nach ihm benannte Jugendbewegung bewirkt (oder auch<br />
anger<strong>ich</strong>tet) hat, zum Thema von Veröffentl<strong>ich</strong>ungen und Diskussionen.<br />
In der Frankfurter Rundschau geschah dies am 30. Januar(!) in einem<br />
vierseitigen Aufsatz des renommierten Historikers Götz Aly unter der<br />
provokativen Überschrift „Die Väter der 68er“. Ausgerechnet die Nazis<br />
sollten das sein. Dabei sollen Parallelen in den Blick genommen werden,<br />
„die zwischen den politischen Sturm- und Drangjahren der unmittelbar<br />
AUS DEM INHALT <strong>GEW</strong>-ZEITUNG Rheinland-Pfalz Nr. 3 / 2008:<br />
Editorial / Gastkommentar Seiten 2 - 3<br />
Sozialpädagogik Seiten 4 - 5<br />
Bildungspolitik Seiten 6 - 10<br />
Schulen Seiten 11 - 13<br />
Schulische Erfahrungen … Seiten 14 - 15<br />
Aus anderen Bundesländern / Bildung international Seiten 16 - 18<br />
Hochschulen / Essay Prof. Arnold Seiten 19 - 25<br />
Gesellschaft / SeniorInnen Seiten 25 - 27<br />
Tipps + Termine / Kreis + Region Seiten 28 - 31<br />
Zeitgeist Seite 32<br />
aufeinander folgenden Generationskohorten bestehen.“ Als Begründung<br />
angeführt wurden u. a. folgende Phänomene:<br />
• Beide Generationen sahen s<strong>ich</strong> als „Bewegung“, liebten Kampf und<br />
Aktion.<br />
• Die Machtergreifung war Beginn einer Jugenddiktatur.<br />
• Auch für NS - Studenten waren die Erzfeinde die Spießbürger.<br />
• Wer wie die Studenten den neuen Menschen schaffen will, legt s<strong>ich</strong> mit<br />
der Staatsgewalt an.<br />
• An die Stelle des Nationalismus der Eltern setzten die 68er den Internationalismus.<br />
Auch wenn es auf der Erscheinungsebene durchaus Parallelen gibt, ist Alys<br />
Vergle<strong>ich</strong> absurd. Natürl<strong>ich</strong> ähneln s<strong>ich</strong> die Denkstrukturen von totalitär<br />
eingestellten Menschen, an welchem politischen Rand sie auch stehen. Und<br />
natürl<strong>ich</strong> ist das, wohin Teile der 68er abdrifteten - ob in den Terror der<br />
RAF oder in die Apologie gegenüber Diktaturen - n<strong>ich</strong>t verzeihbar. Nur:<br />
Im Kern war 68 eine antiautoritäre Bewegung gegen überkommene hierarchische<br />
Strukturen, deren positiven Auswirkungen noch heute deutl<strong>ich</strong><br />
spürbar sind. Es wird halt n<strong>ich</strong>t mehr gekuscht, nur weil jemand einen<br />
tollen Titel, ein w<strong>ich</strong>tiges Amt oder einen dicken Geldbeutel hat. Gerade<br />
unser zentrales Thema, die Bildung, rückte damals in den Blickpunkt,<br />
was u. a. zu explodierenden Studierendenzahlen in den entsprechenden<br />
Fächern führte: die soziale Segregation durch das gegliederte Schulwesen,<br />
die Bedeutung des frühkindl<strong>ich</strong>en Lernens, die Notwendigkeit eines Lernkulturwandels,<br />
all dies und noch viel mehr, was s<strong>ich</strong> erst jetzt langsam<br />
durchsetzt, war damals schon Thema und hat junge Menschen motiviert,<br />
einen pädagogischen Beruf zu ergreifen. N<strong>ich</strong>t um im Schoße von Vater<br />
Staat ein bequemes Leben führen zu können, sondern aus der Motivation,<br />
durch ein gerechteres Bildungswesen eine humanere Gesellschaft zu<br />
bekommen. War vielle<strong>ich</strong>t etwas naiv, verdient aber ganz und gar n<strong>ich</strong>t,<br />
mit Massenmördern auf eine Stufe gestellt zu werden.<br />
Provinz Rheinland-Pfalz<br />
Einen verdammt harten Job haben die KollegInnen unserer „großen<br />
Schwester“ „Erziehung und Wissenschaft“. Verdammt hart deshalb, weil die<br />
vielfältigen Erwartungen, denen sie s<strong>ich</strong> aus den verschiedenen Fachgruppen,<br />
Regionen und gewerkschaftspolitischen Strömungen ausgesetzt sehen,<br />
eigentl<strong>ich</strong> unerfüllbar sind. Irgendwer fühlt s<strong>ich</strong> garantiert auf die Füße<br />
getreten oder vernachlässigt - so wie wir jetzt. Dennoch gibt es immer wieder<br />
Bemühungen, allen gerecht zu werden, neuerdings durch Sonderseiten,<br />
in denen die spezifischen Themen diverser Sparten angesprochen werden.<br />
Löbl<strong>ich</strong> auch eine Serie, in der die Charakteristika der Bildungspolitik in<br />
den verschiedenen Bundesländern dargestellt werden. In der letzten Ausgabe<br />
war nun Rheinland-Pfalz dran. Eigentl<strong>ich</strong> müsste man erwarten, dass dies<br />
in einer Gewerkschaftszeitung aus gewerkschaftl<strong>ich</strong>er Perspektive geschieht.<br />
Irrtum, vermutl<strong>ich</strong> ist bei uns Provinzlern in der <strong>GEW</strong> niemand dazu<br />
in der Lage, denn die E&W-Redaktion beauftragte einen FR-Redakteur<br />
mit dem Artikel.<br />
Die Folge: Journalistisch astrein gemacht, inhaltl<strong>ich</strong> aber aus rheinlandpfälzischer<br />
<strong>GEW</strong>-S<strong>ich</strong>t lückenhaft. Zwar wurde unser Landesvorsitzender<br />
ausführl<strong>ich</strong> im Zusammenhang mit der Kritik am Modell Realschule plus<br />
zitiert, bei zwei anderen zentralen bildungspolitischen Themen fehlten<br />
jedoch <strong>GEW</strong>-Aspekte: So lobenswert die Vielzahl von Ganztagsschulen in<br />
Angebotsform auch ist, wir propagieren nach wie vor verpfl<strong>ich</strong>tende Ganztagsschulen<br />
mit rhythmisierten Strukturen und sehen additive Angebote nur<br />
als die zweitbeste Lösung. Bundesweit herausragend ist s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> auch das<br />
Programm zur frühen Förderung. Nur wird dieses - so sagen unsere Experten<br />
- scheitern, wenn die notwendigen Ressourcen fehlen (vgl. den Artikel S. 4<br />
f. zur Forderung nach mehr Entlastung der Kita - Leitungen).<br />
Für diese kurzen Hinweise hätte schon noch Platz sein müssen.<br />
Günter Helfr<strong>ich</strong><br />
2<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
GASTKOMMENTAR<br />
8. MÄRZ 2008<br />
INTERNATIONALER FRAUENTAG<br />
Dorothea Schäfer, stellv.<br />
<strong>GEW</strong>-Landesvorsitzende<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
In meinem Arbeitszimmer hängt ein Plakat<br />
von 1976, signiert von Klaus Staeck. Es zeigt<br />
einen Blick in den Deutschen Bundestag. Es<br />
zeigt ausschließl<strong>ich</strong> Männer, Männer in Anzügen<br />
und mit Krawatten, Männer zuhörend<br />
oder nachdenkl<strong>ich</strong>. Es trägt die schl<strong>ich</strong>te<br />
Überschrift: „Jeder zweite Abgeordnete ist<br />
eine Frau.“<br />
S<strong>ich</strong>er ist die Situation heute anders. Wir<br />
Frauen haben viel erre<strong>ich</strong>t. Aber der internationale<br />
Frauentag hat auch heute seine<br />
Funktion als Protesttag n<strong>ich</strong>t verloren. Als<br />
gesellschaftl<strong>ich</strong>es Mahnmal weist er auf Menschenrechtsverletzungen,<br />
Benachteiligungen<br />
und Diskriminierungen von Mädchen und<br />
Frauen hin und hebt die geschlechtergerechte<br />
Gle<strong>ich</strong>stellung für Mädchen und Frauen auf<br />
die politische Agenda.<br />
„Deutschland weiterhin Entwicklungsland für Frauen!“<br />
- titelt Lissy Gröner, die frauenpolitische Sprecherin der<br />
Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE)<br />
im Europäischen Parlament, anlässl<strong>ich</strong> des aktuellen<br />
Ber<strong>ich</strong>ts zur Gle<strong>ich</strong>stellung von Frauen und Männern<br />
in der EU 2008. Und sie hat Recht. Nach dem Ber<strong>ich</strong>t<br />
ist die Beschäftigungsquote von Frauen zwar prinzipiell<br />
gestiegen, die Beteiligung an höherwertigen Stellen<br />
entspr<strong>ich</strong>t aber bei weitem n<strong>ich</strong>t dem Anteil der Frauen,<br />
die Universitätsabschlüsse haben und über ein besseres<br />
Bildungsniveau verfügen als Männer. Vor allem die Bezahlung<br />
ihrer Arbeit bleibt weit hinter der ihrer männl<strong>ich</strong>en<br />
Kollegen zurück.<br />
Im EU-Durchschnitt verdienen Frauen 15 Prozent weniger<br />
pro Arbeitsstunde, in Deutschland klafft die Schere<br />
in einigen Branchen sogar bis zu 30 Prozent auseinander.<br />
Deutschland schneidet im europäischen Vergle<strong>ich</strong> bei<br />
fast allen gemessenen Indikatoren schlecht ab und zeigt<br />
erhebl<strong>ich</strong>e Defizite bei der Gle<strong>ich</strong>stellung von Frauen<br />
und Männern.<br />
Während z. B. in Norwegen ein Gesetz zur Frauenförderung<br />
in der Wirtschaft geschaffen wurde, nach dem ein<br />
Unternehmen die Börsennotierung verliert, wenn n<strong>ich</strong>t<br />
mindestens 30 Prozent der Frauen im Aufs<strong>ich</strong>tsrat vertre-<br />
ten sind, hinkt Deutschland wieder einmal einer solchen<br />
Entwicklung hinterher. Elterngeld für Väter und damit<br />
die Mögl<strong>ich</strong>keit, zwei Monate länger Elterngeld beziehen<br />
zu können, ist s<strong>ich</strong>er ein Schritt in die r<strong>ich</strong>tige R<strong>ich</strong>tung.<br />
Insgesamt gibt es aber immer noch zu viele Appelle und<br />
freiwillige Vereinbarungen und zu wenig verbindl<strong>ich</strong>e<br />
gesetzl<strong>ich</strong>e Regelungen.<br />
Auch wenn es für<br />
die im Bildungsbere<strong>ich</strong><br />
Beschäftigten<br />
im Prinzip<br />
die gle<strong>ich</strong>e Bezahlung<br />
für Frauen<br />
und Männer<br />
gibt, ist die Benachteiligung<br />
offenkundig und<br />
vielfältig:<br />
• Frauen unterbrechen<br />
ihre<br />
Berufstätigkeit<br />
aufgrund der<br />
Familienplanung<br />
häufiger, arbeiten überproportional in Teilzeit und<br />
verz<strong>ich</strong>ten auf Beförderungsstellen, insbesondere auf<br />
Leitungspositionen.<br />
• In den schlechter bezahlten Erziehungsberufen in Kindergärten,<br />
Kindertagesstätten oder Jugendhilfeeinr<strong>ich</strong>tungen<br />
arbeiten überwiegend Frauen. Zum Teil müssen<br />
sie befristete Stellen annehmen und sind abhängig von<br />
der Verlängerung ihrer Verträge oder der Einr<strong>ich</strong>tung<br />
neuer Projekte.<br />
• Die Lehrkräfte an Grundschulen z.B. gehören zu den<br />
am schlechtesten bezahlten Lehrerinnen und Lehrern<br />
mit den geringsten Beförderungsmögl<strong>ich</strong>keiten. Selbst<br />
die Übernahme einer Schulleitungsstelle bringt wenig<br />
mehr Bezahlung, dabei aber viel mehr Arbeit und Verantwortung.<br />
Auch hier sind überwiegend Frauen betroffen.<br />
Es gibt viel zu tun - packen wir‘s an. Nehmen wir den<br />
Internationalen Frauentag zum Anlass, die Gle<strong>ich</strong>stellung<br />
der Geschlechter als w<strong>ich</strong>tiges Arbeitsgebiet für Frauen<br />
und Männer neu auf unsere Agenda zu setzen. Nehmen<br />
wir Gendermainstreaming endl<strong>ich</strong> ernst und wenden<br />
es an!<br />
Erstabdruck in: neue deutsche schule,<br />
Mitgliedermagazin der <strong>GEW</strong> NRW, Ausgabe 2/08<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
3
SOZIALPÄDAGOGIK<br />
Freistellung für Leitungstätigkeiten in Kindertagesstätten gefordert<br />
Rund 14.000 Unterschriften an Staatssekretärin Reiß übergeben<br />
Am 7. Februar haben Mitglieder der Gewerkschaft Erziehung<br />
und Wissenschaft Rheinland-Pfalz Staatssekretärin Vera<br />
Reiß vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und<br />
Kultur ca. 14.000 Unterschriften übergeben, mit denen Erzieherinnen<br />
und Eltern von Kindergartenkindern eine Gewerkschaftsforderung<br />
unterstützen.<br />
Fotos Titelseite und<br />
Seiten 4-5: <strong>GEW</strong><br />
„Im Personalschlüssel jeder Kindertageseinr<strong>ich</strong>tung<br />
muss mindestens eine viertel Stelle je Gruppe für Leitungstätigkeiten<br />
berücks<strong>ich</strong>tigt werden“, forderte der<br />
<strong>GEW</strong>-Vorsitzende Tilman Boehlkau. Um das zahlre<strong>ich</strong>e<br />
Engagement für diese Forderung s<strong>ich</strong>tbar zu machen,<br />
wurden die Listen als 330 Meter langer „gelber Tepp<strong>ich</strong>“<br />
vor dem MBWJK ausgerollt.<br />
„Immer wieder signalisieren uns Beschäftigte aus Kindertagesstätten,<br />
dass sie zur Umsetzung der hohen Ansprüche<br />
des Konzeptes „Zukunftschance Kinder - Bildung<br />
von Anfang an“ dringend bessere Rahmenbedingungen<br />
brauchen“, so Boehlkau bei der Übergabe der Unterschriften.<br />
In einem ersten Schritt für bessere Rahmenbedingungen<br />
legt die <strong>GEW</strong> dabei den Fokus auf die Leitungskräfte in<br />
den Kindertagesstätten. Die Gewerkschaft fordert geregelte<br />
und garantierte Zeitressourcen für Leitungstätigkeiten<br />
in diesen Einr<strong>ich</strong>tungen und will, dass die Personalschlüssel<br />
entsprechend erhöht werden.<br />
„Nur so kann landesweit gewährleistet werden, dass<br />
• Leitungskräfte mit ihrer Tätigkeit den hohen Ansprüchen<br />
an eine professionelle Kindertagesstättenarbeit<br />
gerecht werden und<br />
• die pädagogische Arbeit in den Gruppen sowie die<br />
Angebote zur individuellen Förderung der Kinder<br />
wunschgemäß stattfinden können“, stellte der <strong>GEW</strong>-<br />
Vorsitzende fest.<br />
Die zurzeit geltende Beliebigkeit bei der Personalbemessung<br />
bezügl<strong>ich</strong> Stunden für Leitungstätigkeit müsse durch<br />
eine verbindl<strong>ich</strong>e landesweite Regelung ersetzt werden, die<br />
eine Erhöhung der Personalschlüssel für Leitungstätigkeiten<br />
in Kindertagestätten um eine viertel Stelle je Gruppe<br />
vorsieht, so die Vorstellung der <strong>GEW</strong>.<br />
Größenordnungen zur Stundenbemessung für Leitungstätigkeiten,<br />
wie sie aus einem sogenannten Controlling-<br />
Papier, das im Jahr 2000 entwickelt worden ist, immer<br />
wieder zitiert werden, erteilt die <strong>GEW</strong> eine klare Absage.<br />
Viele zeitnahe Entwicklungen und Bedingungen in den<br />
Kindertagesstätten seien in dieser Vereinbarung n<strong>ich</strong>t<br />
berücks<strong>ich</strong>tigt, sodass das Papier als Grundlage zur Stundenbemessung<br />
für Leitungstätigkeiten n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>t.<br />
Boehlkau dazu: „Die Anforderungen an eine professionelle<br />
Leitungstätigkeit in Kindertagesstätten haben s<strong>ich</strong><br />
in den vergangenen Jahren außerordentl<strong>ich</strong> erhöht. Die<br />
Kindertagestätten erweitern ständig ihre Öffnungszeiten<br />
und nehmen immer mehr Kinder unter drei Jahren auf.<br />
Die Bildungsarbeit in den Kindertagesstätten wird regelmäßig<br />
weiterentwickelt. Es kommen Bildungsinhalte wie<br />
beispielsweise mathematische und naturwissenschaftl<strong>ich</strong>e<br />
Bildung neu hinzu. Andere Bere<strong>ich</strong>e wie Sprachförderung<br />
oder die Zusammenarbeit mit den Grundschulen<br />
werden ausgebaut. Zudem werden heute die Lern- und<br />
Entwicklungsschritte aller Kinder dokumentiert. Dies<br />
alles sind fachl<strong>ich</strong> anspruchsvolle und zeitintensive Aufgaben,<br />
für die die Leitung einer Einr<strong>ich</strong>tung besondere<br />
Verantwortung trägt.“<br />
„Wir wollen n<strong>ich</strong>t zusehen“, so Boehlkau weiter, „wie<br />
das wirkl<strong>ich</strong> gute inhaltl<strong>ich</strong>e Konzept ´Zukunftschance<br />
Kinder - Bildung von Anfang an` daran scheitert, dass die<br />
Bedingungen in den Einr<strong>ich</strong>tungen n<strong>ich</strong>t den Ansprüchen<br />
an die pädagogische Arbeit angepasst werden.“<br />
Die Forderungen der <strong>GEW</strong> kosteten zusätzl<strong>ich</strong>es Geld. Es<br />
sei aber feste Überzeugung der <strong>GEW</strong>, dass ein verbessertes<br />
Bildungswesen ohne deutl<strong>ich</strong>e zusätzl<strong>ich</strong>e Investitionen<br />
n<strong>ich</strong>t zu haben sei, erläuterte Boehlkau abschließend.<br />
Reiß: Leitung von Kindertagesstätten ist<br />
w<strong>ich</strong>tige Aufgabe und wird gefördert<br />
Eine Umfrage über den landesweiten tatsächl<strong>ich</strong>en<br />
Umfang der Leitungsfreistellung in den rund 2.500<br />
Kindertagesstätten landesweit soll klären, inwieweit die<br />
im Jahr 2000 von einer Arbeitsgruppe der katholischen<br />
Bistümer, der evangelischen Landeskirchen, des Städtetags<br />
und des Landkreistags erarbeitete Vereinbarung zur<br />
Freistellung für Leitungsaufgaben in Kindertagesstätten<br />
aktuell umgesetzt ist. Das kündigte Bildungs- und Jugendstaatssekretärin<br />
Vera Reiß anlässl<strong>ich</strong> der Übergabe<br />
der Unterschriftenliste für eine verstärkte Freistellung für<br />
4<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
SOZIALPÄDAGOGIK<br />
die Leitung von Kindertagesstätten durch die <strong>GEW</strong> an.<br />
Die Staatssekretärin unterstr<strong>ich</strong>: „Das Land fördert die<br />
Freistellung für Leitungsaufgaben in Kindertagesstätten,<br />
wenn die Träger dies wünschen und die kommunalen<br />
Jugendämter der Einsetzung von zusätzl<strong>ich</strong>em Erziehungspersonal<br />
zustimmen. Die Leitung von Kindertagesstätten<br />
ist aus S<strong>ich</strong>t der Landesregierung eine sehr<br />
w<strong>ich</strong>tige und verantwortungsvolle Aufgabe.“ Regelungen<br />
im Kindertagesstättengesetz und in der entsprechenden<br />
Durchführungsverordnung s<strong>ich</strong>erten daher den Trägern<br />
von Kindertagesstätten eine Landesförderung für zusätzl<strong>ich</strong><br />
eingestelltes Personal auch für Leitungsaufgaben.<br />
Maßstab für die Entscheidungen der Jugendämter und<br />
die Anerkennung von Zusatzpersonal durch das Landesjugendamt<br />
sei die im Jahr 2000 erarbeitete Vereinbarung<br />
der Träger von Kindertagesstätten und der Träger der<br />
Kinder- und Jugendhilfe, die für Leitungsaufgaben eine<br />
Basisanrechnung von sechs Wochenstunden (für Kindertagesstätten<br />
mit einer Gruppe) und von jeweils drei<br />
Stunden für jede weitere Gruppe festgeschrieben habe.<br />
„Es gibt allerdings keine verlässl<strong>ich</strong>en Daten darüber, in<br />
welchem Umfang diese Vereinbarung tatsächl<strong>ich</strong> umgesetzt<br />
ist“, sagte Vera Reiß.<br />
Dass in Kindertagesstätten die Entlastung für Leitungsaufgaben<br />
häufiger als unzure<strong>ich</strong>end empfunden werde, sei<br />
bekannt und werde auch durch die jetzige <strong>GEW</strong>-Aktion<br />
nochmals deutl<strong>ich</strong>, so die Bildungs- und Jugendstaatssekretärin.<br />
„Wir wollen mit der flächendeckenden Abfrage<br />
nun aber objektive und aktuelle Daten erheben. Die<br />
Abfrage und deren Ergebnisse fließen selbstverständl<strong>ich</strong><br />
in die Spitzengespräche mit Trägern und Kommunen<br />
über Verbesserungen bei der Umsetzung der Vereinbarung<br />
ein.“<br />
pms<br />
LANDESWEITE WARNSTREIKS IN DEN KINDERTAGESSTÄTTEN<br />
In vielen kommunalen Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz<br />
wurde am 20. Februar n<strong>ich</strong>t gearbeitet. Hunderte Erzieherinnen<br />
und Erzieher im ganzen Land sind dem Aufruf der <strong>GEW</strong><br />
gefolgt und nahmen an den Warnstreiks im öffentl<strong>ich</strong>en<br />
Dienst teil.<br />
Nachdem in der vorhergehenden Woche auch die dritte<br />
Runde der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des<br />
Bundes und der Kommunen ohne Ergebnis geblieben<br />
waren, haben die Gewerkschaften des öffentl<strong>ich</strong>en Dienstes<br />
zu Warnstreiks in den Kindertagesstätten aufgerufen,<br />
um den Forderungen nach 8 Prozent Gehaltserhöhung,<br />
mindestens aber 200 Euro mehr, bei einer tarifl<strong>ich</strong>en<br />
Laufzeit von einem Jahr für die Beschäftigten Nachdruck<br />
zu verleihen.<br />
In einigen Städten und Gemeinden, z.B. in Wittl<strong>ich</strong><br />
und Wörrstadt, wurden die Kindertagesstätten komplett<br />
oder überwiegend bestreikt, zum Teil wurden Notdienste<br />
einger<strong>ich</strong>tet. Rund 400 Erzieherinnen und Erzieher sind<br />
mit von der <strong>GEW</strong> organisierten Bussen oder privat nach<br />
Mainz angereist und haben s<strong>ich</strong> im Streikbüro der <strong>GEW</strong><br />
im DGB-Haus in der Kaiserstraße in die Streiklisten<br />
eingetragen.<br />
Bund und Kommunen haben 4 Prozent Tabellenlohnerhöhung<br />
und 1 Prozent Erhöhung des Leistungsentgelts<br />
angeboten, aber gestreckt und in mehreren Schritten<br />
über 24 Monate, sowie die Erhöhung der Arbeitszeit von<br />
derzeit 38,5 auf 40 Wochenstunden.<br />
„Die Beschäftigten sollen bei dem so genannten Arbeitgeberangebot<br />
noch drauflegen. Die geforderte Erhöhung<br />
der Arbeitszeit frisst die angebotene Lohnerhöhung mehr<br />
als auf“, erklärte Ilse Schaad, im <strong>GEW</strong>-Hauptvorstand für<br />
Tarifpolitik zuständiges Mitglied des Geschäftsführenden<br />
Vorstands, auf der Kundgebung der <strong>GEW</strong> im DGB-Haus.<br />
Die Stimmung bei den Erzieherinnen sei gereizt. Die<br />
Beschäftigten erwarteten spürbare Lohnzuwächse und<br />
lehnten das Arbeitgeberangebot als Zumutung ab. Die<br />
qualifizierte Arbeit der Erzieherinnen sei mehr wert, als<br />
die Arbeitgeber bisher zahlen. Auch die Eingruppierung<br />
neu eingestellter Erzieherinnen und Erzieher spiele in der<br />
laufenden Tarifrunde eine Rolle. Anschließend zogen die<br />
Streikenden in einem Demonstrationszug vom DGB-<br />
Haus zum Deutschhausplatz, dem Sitz des Kommunalen<br />
Arbeitgeberverbandes Rheinland-Pfalz, wo sie an einer<br />
Kundgebung mit der Gewerkschaft ver.di teilnahmen.<br />
pm<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
5
BILDUNGSPOLITIK<br />
LÄNGER GEMEINSAM LERNEN<br />
Das <strong>GEW</strong>-Jahresthema 2007 „Gemeinsam länger lernen<br />
- eine Schule für alle“ fand Ende vergangenen<br />
Jahres seinen Höhepunkt und seine Zusammenfassung<br />
im Heinr<strong>ich</strong> Pesch Haus in Ludwigshafen.<br />
Noch immer dominiere in Deutschland die Abschiebe-<br />
statt die Förderkultur, stellte der rheinland-pfälzische<br />
<strong>GEW</strong>-Vorsitzende Tilman Boehlkau in seiner<br />
Begrüßungsrede fest. „Wir machen die Kinder schulgerecht,<br />
n<strong>ich</strong>t die Schule kindgerecht und pressen<br />
Kinder nach wie vor in Schulschubladen.“ Es gebe 18<br />
Länder weltweit, in denen die Kinder schon sehr früh<br />
aufgeteilt werden: „16 davon liegen in Deutschland.“<br />
Die zahlre<strong>ich</strong>en Veranstaltungen zum <strong>GEW</strong>-Jahres-<br />
thema im Land hätten viele Impulse für ein längeres<br />
gemeinsames Lernen gebracht. Jetzt gelte es, die individuelle<br />
Förderung eines jeden Kindes mit modernen<br />
Lehr- und Lernmethoden zu verbinden.<br />
Hins<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> der Pläne zu einer veränderten Schulstruktur<br />
aus dem Bildungsministerium in Mainz bleiben<br />
nach Boehlkau eine Menge Fragen offen, z.B.:<br />
Wie wird die Lehrerausbildung dem neuen System<br />
angepasst? Was passiert mit den fragwürdigen Empfehlungen<br />
nach der 4. Klasse? Wie groß ist die<br />
Durchlässigkeit nach der Klasse 6?<br />
Gerade wegen der halbherzigen Reform aus Mainz,<br />
so Boehlkau, behalte die <strong>GEW</strong> ihr Hauptziel fest im<br />
Auge: Gemeinsam länger lernen in einer Schule für<br />
alle Kinder.<br />
psw<br />
WAS WIR VON ANDEREN LÄNDERN LERNEN KÖNNEN<br />
Fachvortrag von Renate Hendricks<br />
In ihrem Fachvortrag bei der bildungspolitischen Konferenz der<br />
<strong>GEW</strong> ließ die langjährige Schulelternbeiratsvorsitzende und<br />
heutige SPD-Landtagsabgeordnete in NRW, Renate Hendricks,<br />
erfolgre<strong>ich</strong>e Schulen aus aller Welt Revue passieren.<br />
„Es fasziniert m<strong>ich</strong>, wie man dort mit Kindern umgeht. Man<br />
schätzt sie um ihrer selbst willen. Jedes Kind ist willkommen,<br />
keines stört.“ Dies gelte auch für manche deutsche Schule, denn<br />
n<strong>ich</strong>t alle deutschen Schulen seien schlecht, z.B. die Bodenseeschule<br />
in Friedr<strong>ich</strong>shafen, eine katholische Privatschule. Jahrgangsklassen<br />
und 45-Minuten-Stunden gibt es dort n<strong>ich</strong>t, dafür viel freie<br />
Stillarbeit und vernetzten Unterr<strong>ich</strong>t, der die Grenzen der Fächer<br />
überschreitet. Tests machen die Kinder erst, wenn sie s<strong>ich</strong> fit fühlen,<br />
der Unterr<strong>ich</strong>t wird individualisiert. Der Lehrer ist Lernbegleiter<br />
und n<strong>ich</strong>t einer, der Wissen in Kinderköpfe füllt.<br />
Ein anderes Beispiel: die Max-Brauer-Schule in Hamburg, eine<br />
staatl<strong>ich</strong>e Gesamtschule mit 1200 Kindern aus 30 Nationen. Hier<br />
finden s<strong>ich</strong> alle Jahrgänge von der Vorschule bis zum Abitur, für<br />
Hendricks „Vielfalt als Re<strong>ich</strong>tum“. Für sie ist das Dilemma an<br />
unseren Schulen: „Was Lehrerinnen und Lehrer gelernt haben,<br />
können sie n<strong>ich</strong>t anwenden, denn die Kinder, für die sie ausgebildet<br />
wurden, gibt es n<strong>ich</strong>t“. Den Satz „Ihr Kind passt n<strong>ich</strong>t hierher“<br />
bekommen Eltern in Hamburg n<strong>ich</strong>t zu hören. Die Fiktion von<br />
der homogenen Gruppe ist für Hendricks das „Grundübel unseres<br />
Systems“. Die angebl<strong>ich</strong> überforderten Kinder würden einfach<br />
nach unten weitergere<strong>ich</strong>t“. In einem integrativen System dagegen<br />
bleibe der Schule gar n<strong>ich</strong>ts anderes übrig, als eine Lösung für<br />
jeden noch so schwierigen Fall zu finden - in anderen Ländern<br />
selbstverständl<strong>ich</strong>.<br />
FINNLAND: ZUWENDUNG FÜR JEDES EINZELNE<br />
KIND<br />
In Deutschland, so Hendricks, öffneten wir mit jeder Schulform<br />
eine neue Begabungsschublade, und die Hauptaufgabe in der vierten<br />
Klasse sei es, herauszufinden, welches Kind in welche Schublade<br />
passe. Wie halten es andere Länder mit der Schulstruktur? „Sämtl<strong>ich</strong>e<br />
PISA-Sieger trennen ihre Schüler sehr viel später. In Finnland,<br />
Japan oder Kanada müssen s<strong>ich</strong> die Lehrer deshalb stärker jedem<br />
ENTTÄUSCHUNG ÜBER EINE<br />
NICHT-REFORM<br />
Umfrage von Paul Schwarz bei der<br />
bildungspolitischen Konferenz<br />
„In spätestens fünf Jahren werden wir Bilanz ziehen, dass die Realschule<br />
plus das gle<strong>ich</strong>e Schicksal erleiden wird wie die Regionale Schule.<br />
Der Druck auf das Gymnasium wird zunehmen, immer mehr Eltern<br />
werden ihre Kinder auf dem Gymnasium anmelden. Die Gymnasien<br />
müssen s<strong>ich</strong> weiterentwickeln. Es kann n<strong>ich</strong>t sein, dass nach der 5.<br />
oder 6. Klasse viele Schüler abgeschult werden, weil die gymnasialen<br />
Klassen überfüllt sind und die Lehrkräfte den Kindern bezügl<strong>ich</strong> der<br />
individuellen Förderung n<strong>ich</strong>t gerecht werden können. Ich hätte mir aus<br />
Mainz einen flächendeckenden Ausbau der Integrierten Gesamtschule<br />
gewünscht mit einer gymnasialen Oberstufe. Ich habe mir von einer<br />
SPD-Regierung, die so gerne das Wort von der Chancengle<strong>ich</strong>heit im<br />
Munde führt, mehr erwartet als diese Halbherzigkeit.“<br />
Christine, Hauptschullehrerin<br />
„Als Form wird die Hauptschule abgeschafft, als Bildungsgang bleibt<br />
sie erhalten. Eine Mogelpackung. Mehr Mut, Frau Ahnen, denn die<br />
Probleme liegen n<strong>ich</strong>t im Vorschulbere<strong>ich</strong> und n<strong>ich</strong>t in der Oberstufe,<br />
sondern in der Sekundarstufe I, und hier wird alles so gelassen, wie es ist.<br />
Es ist schon traurig, was aus der SPD-Bildungspolitik geworden ist.“<br />
Rudolf, Hauptschullehrer<br />
„Wir brauchen das längere gemeinsame Lernen, wie es uns die erfolgre<strong>ich</strong>en<br />
PISA-Länder vormachen. In Rheinland-Pfalz laufen die<br />
6<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
BILDUNGSPOLITIK<br />
einzelnen widmen. Sogar in den Niederlanden mit seinem gegliederten<br />
Schulwesen gehen die meisten Schüler acht Jahre lang<br />
gemeinsam in eine Klasse.“<br />
Was die Tiere fressen, ist das Thema in diesem Biologieunterr<strong>ich</strong>t der<br />
2. Klasse in der finnischen Grundschule in Espoo.<br />
Schulen halten ihre Prüfungen zur selben Zeit. Noten gibt es ab<br />
Klasse 6. Sitzen bleiben kann man n<strong>ich</strong>t, allenfalls einzelne Kurse<br />
wiederholen, wenn das Ergebnis zu schlecht war. Das Geheimnis<br />
des finnischen Erfolgs, meint Hendricks, sei die Zuwendung, die<br />
jedes Kind von Lehrerinnen und Lehrern erfährt, aber auch von den<br />
anderen Menschen, die an der Schule arbeiten: Sonderpädagogen<br />
und Gesundheitsfürsorger, Schulassistenten und Stundenlehrer.<br />
KANADA: SCHÜLER INDIVIDUELL WAHRNEH-<br />
MEN<br />
Kanada lag bei PISA erneut weit vorn. Warum sind kanadische<br />
Schulen so erfolgre<strong>ich</strong>? Drei der Kinder von Renate Hendricks<br />
haben jeweils ein halbes Jahr lang eine kanadische Schule besucht.<br />
Allen kanadischen Schulen, so ihr Fazit, ist eines gemeinsam: der<br />
Schüler ist als Person w<strong>ich</strong>tig. Alle Schüler werden individuell<br />
wahrgenommen, Lehrer sind Unterstützer und Begleiter, n<strong>ich</strong>t<br />
Stoff- oder Wissensvermittler. Kanada ist genau wie Deutschland<br />
ein föderaler Staat, in dem jede Provinz ihr eigenes Bildungsministerium<br />
hat. Der entscheidende Unterschied zu Deutschland liegt in<br />
der Struktur: Kanadas Schulen sind Gesamtschulen. Sechs bis acht<br />
Jahr dauert die Grundschule, dann folgen drei Jahre Junior High<br />
School, die zwei Zweige haben. Der eine führt zum Studium, der<br />
In Finnland, ber<strong>ich</strong>tet Hendricks, beträgt die Schulpfl<strong>ich</strong>t neun<br />
Jahre, für Kinder mit großen Lernproblemen sind es elf, „anders<br />
als bei uns, wo die Schwächsten die kürzeste Ausbildung haben“.<br />
In den siebziger Jahren sahen s<strong>ich</strong> die Finnen viele Schulen an. Sie<br />
übernahmen schließl<strong>ich</strong> das System der DDR, das in der deutschen<br />
Strukturdebatte gern als „sozialistische Einheitsschule“ beschimpft<br />
wird. In Finnland betreuen Kindertagesstätten die Kinder ab dem<br />
ersten Lebensjahr. In die Vorschule gehen 98 Prozent aller Kinder,<br />
obwohl sie freiwillig ist, und die Hälfte lernt dort Lesen und<br />
Rechnen. Mit sieben Jahren kommen die Kinder in die neunjährige<br />
Gemeinschaftsschule und gehen anschließend auf ein Gymnasium<br />
oder eine Berufsschule. Die gymnasiale Oberstufe führt in zwei, drei<br />
oder vier Jahren zum Abitur, Prüfungen kann man wiederholen, um<br />
die Noten zu verbessern. Ab der 7. Klasse haben die Jugendl<strong>ich</strong>en<br />
regelmäßige Beratungsgespräche, weil sie selbst über ihre Schullaufbahn<br />
entscheiden. Die finnischen Schulen sind sehr selbstständig.<br />
Kerncurricula und Stundentafeln legt die Zentralbehörde für Unterr<strong>ich</strong>tswesen<br />
fest, Lehrpläne entwickeln die Schulen selbst. Alle<br />
Japans Lehrerzimmer sind keine Tabuzonen für Schüler. Jederzeit und<br />
überall sind die Lehrer ansprechbar. Kleine und hellhörige Wohnungen<br />
zwingen dazu, s<strong>ich</strong> in der Schule vorzubereiten und zu korrigieren.<br />
Jeder Lehrer hat einen Arbeitsplatz.<br />
Schularten nebeneinander her, von einer Integration sind wir weit<br />
entfernt.“<br />
Brigitte, Hauptschullehrerin<br />
„Wir kooperieren mit einer Realschule, warum machen wir daraus<br />
keine Integrierte Gesamtschule mit einer gymnasialen Oberstufe?<br />
Ich bin eine Verfechterin des integrierten Systems und des längeren<br />
gemeinsamen Lernens. Jetzt wird die Ausgrenzung der Hauptschüler<br />
noch schlimmer und die Durchlässigkeit nach unten noch stärker. Der<br />
Notendurchschnitt wird bei drei liegen und bedeutet für alle, die ihn<br />
n<strong>ich</strong>t schaffen, eine noch größere Ausgrenzung.“<br />
Gisela, Hauptschullehrerin<br />
„Es ist ein r<strong>ich</strong>tiger Schritt in die r<strong>ich</strong>tige R<strong>ich</strong>tung, aber er geht n<strong>ich</strong>t<br />
weit genug. Noch immer gibt es eine Zweigliedrigkeit. Wir aber wollen<br />
die Mehrgliedrigkeit abschaffen. Denn sie erschwert die Chancengle<strong>ich</strong>heit,<br />
es ist immer noch entscheidend, aus welchem Elternhaus man<br />
kommt, ob re<strong>ich</strong> oder arm.“<br />
Jana vom Vorstand der Landesschülervertretung.<br />
„Kenne nur die Schlagzeilen aus der Presse: Hauptschule wird abgeschafft.<br />
Der Grund, weshalb <strong>ich</strong> hier bin, ist, Hintergrundinformationen<br />
zu bekommen. Ich persönl<strong>ich</strong> bin gegen dieses gegliederte Schulsystem<br />
und habe mein Kind bewusst in der Gesamtschule angemeldet. Als Lehrerin<br />
er<strong>lebe</strong> <strong>ich</strong> die Nachteile des gegliederten Systems. Ich habe eine Klasse<br />
mit zahlre<strong>ich</strong>en Migrantenkindern, die z.T. sehr intelligent sind, die<br />
z.B. in Mathe ohne weiteres in das Gymnasium gehen könnten, die <strong>ich</strong><br />
aber aufgrund der sprachl<strong>ich</strong>en Schwäche n<strong>ich</strong>t dafür empfehlen kann.<br />
Die frühe Selektion nach der 4. Klasse fällt mir immer schwerer.“<br />
Stefanie, Grundschullehrerin<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
7
BILDUNGSPOLITIK<br />
andere zu einer technischen Fachschule oder direkt ins Berufs<strong>lebe</strong>n.<br />
Sitzen bleiben gibt es n<strong>ich</strong>t. Schwache Schüler werden versetzt<br />
und zusätzl<strong>ich</strong> gefördert. Jede Provinz evaluiert ihre Schulen mit<br />
regelmäßigen Tests.<br />
HOLLAND: WICHTIG IST DAS EIGEN-<br />
VERANTWORTLICHE LERNEN<br />
Das holländische Schulsystem ähnelt dem deutschen. Es gibt eine<br />
Grundschule und drei Sorten weiterführender Schulen. Der Unterschied<br />
liegt wohl im Wie: In der Ganztagsschule, in der durchgängig<br />
selbstständigen Schule, in der Zielorientiertheit und in der Kontrolle<br />
des Systems. In den Niederlanden kommen Kinder schon mit vier<br />
Jahren in die Vor-, mit fünf in die Grundschule. Diese besuchen sie<br />
bis zum 12. Lebensjahr, Der berufsvorbereitende Unterr<strong>ich</strong>t ist mit<br />
der deutschen Hauptschule zu vergle<strong>ich</strong>en. Der allgemein bildende<br />
Unterr<strong>ich</strong>t der Sekundarstufe bereitet ebenfalls auf den Beruf vor,<br />
führt aber nach Jahrgangsstufe 11 auch zum Studium an einer<br />
Fach(hoch)schule, ähnl<strong>ich</strong> der deutschen Realschule. W<strong>ich</strong>tig ist<br />
das eigenverantwortl<strong>ich</strong>e Lernen. Ein Dekan hilft den Jugendl<strong>ich</strong>en<br />
mit Tests, Informationen und persönl<strong>ich</strong>er Begleitung bei der Wahl<br />
des Profils und damit des Berufsziels, Beim vorwissenschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Unterr<strong>ich</strong>t - er entspr<strong>ich</strong>t dem deutschen Gymnasium - erwerben<br />
die Schüler nach Klasse 12 die Zulassung zum Studium. Die Universitäten<br />
melden den Schulen die Fortschritte der Studenten, so<br />
dass die Schulen Rückschlüsse auf ihren Unterr<strong>ich</strong>t ziehen können.<br />
Vom Staat bestellte Inspekteure überprüfen regelmäßig alle Einr<strong>ich</strong>tungen.<br />
Sie sprechen mit LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern,<br />
besuchen den Unterr<strong>ich</strong>t, testen Lehrstoff, didaktische Konzepte,<br />
Eigenverantwortung der Schülerschaft, Schulklima. Das Ergebnis<br />
wird veröffentl<strong>ich</strong>t.<br />
SÜDTIROL: KEINE ABSCHIEBUNG IN ANDERE<br />
SCHULFORMEN<br />
Südtirol lag bei PISA in der Spitzengruppe, weit vor Deutschland.<br />
Bis zum Abschluss der 8. Klasse lernen alle Kinder gemeinsam. Jede<br />
Schule ist für den Bildungserfolg ihrer Schüler verantwortl<strong>ich</strong>. Sie<br />
kann sie n<strong>ich</strong>t an eine andere Schulform abschieben. Die Schule<br />
versteht s<strong>ich</strong> als Schule für alle und integriert sowohl Kinder mit<br />
Behinderungen als auch Kinder aus anderen Ländern und Kulturen.<br />
Die Schulen entscheiden selbstverantwortl<strong>ich</strong> über Didaktik,<br />
Organisation, Verwaltung und Finanzen, außer beim Personal. Die<br />
Schulen überprüfen s<strong>ich</strong> regelmäßig durch Selbstevaluation. Jedes<br />
Kind und jeder Jugendl<strong>ich</strong>e wird seinen Fähigkeiten entsprechend<br />
gefordert und gefördert, alle erhalten individuelle Lernpläne und<br />
eine individuelle Bewertung. Wer Schwächen hat, wird gefördert,<br />
unterstützt und begleitet. Alle Schüler haben einen Lernberater oder<br />
eine Lernberaterin. Auch in Südtirol lernen die Kinder also sehr<br />
lange gemeinsam, Heterogenität gilt als Vorteil und Chance.<br />
DEUTSCHLAND: EINE STÄNDE- UND<br />
BEGABUNGSGESELLSCHAFT<br />
Und wie sieht es in Deutschland aus? Zwar werden, meint Renate<br />
Hendricks, Kinder heute n<strong>ich</strong>t mehr in einen Stand fürs Leben<br />
hineingeboren, „doch die Schule hat denselben Effekt. Statt des<br />
Ständestaats aus dem 19. Jahrhundert haben wir die Begabungsgesellschaft“.<br />
Eingeteilt werde nach wie vor, nur n<strong>ich</strong>t mehr in Arbeiter,<br />
Bauern- oder Bürgerkind, sondern in kognitiv begabt, normal<br />
begabt und praktisch begabt. Wie falsch diese Begabungstheorie sei,<br />
belege PISA. Die Studien zeigten, dass in allen Schulformen Kinder<br />
aller Begabungs- und Leistungsspektren sitzen. „Es ist schl<strong>ich</strong>t<br />
n<strong>ich</strong>t mögl<strong>ich</strong>, bei Zehnjährigen die Entwicklung der Begabung<br />
zweifelsfrei auszusagen, sonst gäbe es n<strong>ich</strong>t so viele falsche Zuordnungen.“<br />
Es fänden s<strong>ich</strong> Leistungsstarke an der Hauptschule und<br />
Leistungsschwache am Gymnasium. Eines könne man allerdings<br />
zuverlässig sagen: Wie s<strong>ich</strong> ein Kind entwickelt, hänge auch von der<br />
Schulform ab. „Am besten fördert der Besuch des Gymnasiums, am<br />
wenigsten gut ist der Besuch der Hauptschule bzw. der Förderschule.“<br />
So komme es zu der absurden Situation, dass Zehnjährige mit<br />
gle<strong>ich</strong>en kognitiven Voraussetzungen in unterschiedl<strong>ich</strong>en Schulen<br />
unterschiedl<strong>ich</strong> viel lernten und zwei Jahre später in ihrer Leistung<br />
und Kompetenz um Welten auseinander lägen.<br />
Hendricks: „Dass wir Deutsche uns so sehr an die Hierarchie der<br />
Schulformen klammern, hat etwas mit der Verteilung von Chancen<br />
zu tun. Die bürgerl<strong>ich</strong>en Familien wollen dieses Verteilungssystem<br />
für ihre Kinder behalten, denn ihnen nützt es. Die unterschiedl<strong>ich</strong>e<br />
Kultur an den verschiedenen Schulformen dient der Abgrenzung.“<br />
Die bildungstheoretische Argumentation entspringe dem Wunsch<br />
maßgebl<strong>ich</strong>er gesellschaftl<strong>ich</strong>er Kräfte, ein Oben und ein Unten zu<br />
definieren, was die Ordnungsstruktur der Gesellschaft zementiere.<br />
Denjenigen, die s<strong>ich</strong> für das derzeitige Schulsystem stark machten,<br />
sei vermutl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t klar, dass viele Hauptschulabsolventen früher<br />
oder später auf Transferleistungen des Staates angewiesen seien.<br />
„Zuerst hörte <strong>ich</strong> im Radio davon, dass die Hauptschule abgeschafft<br />
werde. Hat m<strong>ich</strong> etwas gewundert, so etwas n<strong>ich</strong>t von meiner Schulleiterin<br />
zu hören, sondern aus dem Radio. Da stimmt ja auch n<strong>ich</strong>t die<br />
Kommunikation zwischen Bildungsministerium und den Lehrkräften.<br />
Ich bin grundsätzl<strong>ich</strong> dafür, dass die Kinder mindestens bis zum Ende<br />
der 6. Klasse <strong>zusammen</strong> bleiben. Auf die Lehrerinnen und Lehrer<br />
kommen gewaltige Herausforderungen zu, z.B. wie <strong>ich</strong> innerhalb einer<br />
Klasse differenziere, wenn <strong>ich</strong> drei Lerngruppen ab der 3. Klasse habe,<br />
oder wie <strong>ich</strong> mit Heterogenität umgehe? Ich werde den Verdacht n<strong>ich</strong>t<br />
los, dass die Reformüberlegungen auch mit finanziellen Gründen zu<br />
tun haben. Man will Geld sparen und nennt das Reform. Was wir<br />
unbedingt bräuchten, ist eine neue Lehrerausbildung, um beispielsweise<br />
differenziert arbeiten zu können oder um das Schlagwort von der „Individuellen<br />
Förderung“ praktisch umsetzen zu können.“<br />
Susanne, Grund- und Hauptschullehrerin<br />
„Eine vertane Chance. Die wissenschaftl<strong>ich</strong>en Untersuchungen und die<br />
erfolgre<strong>ich</strong>en PISA-Länder zeigen, dass wir jedes Kind brauchen und<br />
jedes Kind gefördert und gefordert werden muss. In einem gegliederten<br />
System, wie wir es auch in Rheinland-Pfalz nach wie vor haben, ist dies<br />
n<strong>ich</strong>t mögl<strong>ich</strong>. Hier wird nur ständig aussortiert und abgeschoben. Ich<br />
finde es traurig, dass diese SPD-Regierung, die die absolute Mehrheit<br />
hat, n<strong>ich</strong>t den Mut findet, einen w<strong>ich</strong>tigen Schritt in die R<strong>ich</strong>tung<br />
einer Schule für alle zu tun.“<br />
Angelika, Grundschullehrerin<br />
„Traurig, diese so genannte Reform aus Mainz. Es gibt weiterhin<br />
einen Bere<strong>ich</strong>, wo die Hoffnungslosen unter s<strong>ich</strong> bleiben. Die Mehrgliedrigkeit<br />
bleibt erhalten, und mit den ständigen Gründungen der<br />
Privatschulen öffnet s<strong>ich</strong> die Schere zwischen Arm und Re<strong>ich</strong> noch<br />
8<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
BILDUNGSPOLITIK<br />
„Und wer bezahlt diese? Die Kinder derjenigen, die s<strong>ich</strong> ans alte<br />
Schulsystem klammern.“ Hendricks erinnert daran, dass noch in<br />
den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts 80 Prozent eines<br />
Jahrgangs in Deutschland die Volksschule besucht hätten. „Lehrerinnen<br />
und Lehrer konnten mit heterogenen Gruppen umgehen.<br />
In Zwergschulen wurde gar jahrgangsübergreifend unterr<strong>ich</strong>tet.<br />
Warum wollen wir dies alles vergessen?“ Rainer Domisch von der<br />
finnischen Schulbehörde sagt: „Der Begriff der ‚Einheitsschule‘<br />
wird in Deutschland immer noch gezielt als ideologische Waffe<br />
eingesetzt gegen alles, was nach längerer gemeinsamer Lernzeit aussieht.<br />
Wer so argumentiert, verstellt s<strong>ich</strong> die S<strong>ich</strong>t für die Zukunft<br />
mit Ängsten aus der Vergangenheit. Diese S<strong>ich</strong>tweise hat absolut<br />
n<strong>ich</strong>ts mit der skandinavischen Schule für alle zu tun, in der kein<br />
Kind verloren gehen darf.“ Und Renate Hendricks ergänzte am<br />
Ende ihres Vortrags: „Demokratisch und sozial gerecht ist nur eine<br />
Schule für alle“. Deutschland brauche Schulen, in denen Kinder<br />
zehn Jahre gemeinsam lernen, n<strong>ich</strong>t beschämt werden, aus Fehlern<br />
lernen, den ganzen Tag verbringen, alles haben, was sie zum Lernen<br />
brauchen, selbstbestimmt lernen, mitbestimmen können, Unterstützung<br />
bekommen, so viel sie brauchen, s<strong>ich</strong> an anspruchsvollen<br />
Aufgaben bewähren können und die Freude am Lernen für ihr<br />
ganzes Leben behalten.<br />
Paul Schwarz<br />
Grafik: Jörg Pfeiffer<br />
BÜNDNISPARTNER FÜR MEHR CHANCENGLEICHHEIT<br />
UND INDIVIDUELLE FÖRDERUNG<br />
Die nachmittägl<strong>ich</strong>e Podiumsdiskussion bei der bildungspolitischen<br />
Konferenz versammelte die unterschiedl<strong>ich</strong>sten<br />
Bündnispartner der <strong>GEW</strong>, die s<strong>ich</strong><br />
dem Thema „Länger gemeinsam lernen - notwendige<br />
Voraussetzungen für Chancengle<strong>ich</strong>heit und individuelle<br />
Förderung“ stellten. Die Moderation der großen<br />
Runde mit zehn TeilnehmerInnen hatte Frieder<br />
Bechberger-Derscheidt.<br />
Renate Hendricks erhielt als Erste das Wort. Sie stellte fest, dass das<br />
zersplitterte deutsche Schulsystem keine optimale Förderung der<br />
Kinder ermögl<strong>ich</strong>e, und betonte, die Mehrheit der Bevölkerung<br />
in Nordrhein-Westfalen reklamiere eine gemeinsame Schulform.<br />
Sie verwies auf den hohen Prozentsatz von RisikoschülerInnen,<br />
deren Kompetenzen mit 15 Jahren in Lesen und Mathematik n<strong>ich</strong>t<br />
ausre<strong>ich</strong>ten, eine qualifizierte berufl<strong>ich</strong>e Ausbildung erfolgre<strong>ich</strong> zu<br />
durchlaufen. Diese Situation beze<strong>ich</strong>nete sie als einen „volkswirtschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Wahnsinn“.<br />
Gabriele Weindel-Güdemann, Mitglied des rheinland-pfälzischen<br />
Landeselternbeirats, erklärte: „Wir brauchen längeres gemeinsames<br />
Lernen! …Das Selektieren bringt uns n<strong>ich</strong>t weiter.“ Mit Blick auf<br />
das Ende 2007 vorgestellte Schulentwicklungskonzept „Zweigliedrigkeit<br />
mit PLUS“ sieht sie viele Frageze<strong>ich</strong>en. Ganz pragmatisch<br />
empfahl sie jedoch: „Das Beste aus dem Modell machen und Punkte<br />
stützen, die wir bejahen.“<br />
Die Schülerin Bärbel Rösch, Mitglied der rheinland-pfälzischen<br />
Landesschülervertretung, kritisierte das jetzige vielgliedrige Schul-<br />
weiter, eine Entwicklung, die s<strong>ich</strong> unter Rot-Grün verstärkt hat. Ein<br />
Skandal! Und damit einher verstärkt s<strong>ich</strong> der Zusammenhang zwischen<br />
sozialer Herkunft und Bildungschancen. Was ist aus der Sozialdemokratie<br />
geworden?“<br />
Wolfgang, Regionale Schule<br />
„Die Reform in Rheinland-Pfalz ist sehr hasenherzig. So haben wir mit<br />
der Realschule plus (wer ist nur auf diesen blöden Namen gekommen?)<br />
eine weitere Schulart in Rheinland-Pfalz. Dieses Land hat die meisten<br />
Schularten in Deutschland. Für die Schülerinnen und Schüler ändert<br />
s<strong>ich</strong> gar n<strong>ich</strong>ts.“<br />
Helmut, Hauptschullehrer<br />
Schule zu machen? Länger gemeinsam lernen in einer Schule für alle<br />
Kinder- das ist die Zukunft und n<strong>ich</strong>t die Realschule plus.“<br />
Klaus-Peter, Hauptschullehrer<br />
„Keine glückl<strong>ich</strong>e Entscheidung, weil damit dem Gymnasium noch<br />
mehr Schüler in die Arme getrieben werden. Die Schule in Rheinland-<br />
Pfalz wird n<strong>ich</strong>t weiterentwickelt, wie <strong>ich</strong> das erwartet habe.“<br />
Doris, Realschullehrerin<br />
„Ich fürchte, meine Hauptschulkollegen werden s<strong>ich</strong> als Lehrer 2. Klasse<br />
fühlen, wenn sie in der Realschule plus unterr<strong>ich</strong>ten.“<br />
Brigitte, Hauptschullehrerin<br />
„Die IGS ist in Rheinland-Pfalz eine erfolgre<strong>ich</strong>e Schule. Was hätte<br />
näher gelegen, als diese IGS mit gymnasialer Oberstufe zur Haupt-<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
9
BILDUNGSPOLITIK<br />
Leben nützl<strong>ich</strong> zubringen“ könnten. Die Realisierung dieses auch<br />
heute noch geltenden pädagogischen Grundsatzes forderte er für<br />
unsere Schulen ein. Enttäuscht musste er jedoch feststellen: „Zur<br />
Förderung jedes einzelnen Schülers fehlt in der Schule die Zeit.“ Er<br />
hob hervor; dass er mit der <strong>GEW</strong> „in Fragen der Chancengle<strong>ich</strong>heit“<br />
einig sei.<br />
Nils Wiechmann, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, bekannte:<br />
„Ich bin ein leidenschaftl<strong>ich</strong>er Bündnispartner für eine Schule für<br />
alle.“ Dem neuen rheinland-pfälzischen Schulreformschritt konnte<br />
er n<strong>ich</strong>ts Positives abgewinnen. Für ihn bedeute er n<strong>ich</strong>ts anderes als<br />
eine „Zementierung des bisherigen Schulsystems“. Er verlangte ein<br />
längeres gemeinsames Lernen, mehr Selbstständigkeit für die einzelnen<br />
Schulen und eine bessere individuelle Förderung. Er merkte<br />
allerdings auch an, dass die IGS n<strong>ich</strong>t die r<strong>ich</strong>tige Schule für alle sein<br />
könne, da sie das dreigliedrige Schulsystem abbilden müsse.<br />
Die Podiumsteilnehmer: erste von links Renate Hendricks, vierte von<br />
links: Staatssekretärin Vera Reiss.<br />
system heftig: „Ich finde unser System n<strong>ich</strong>t begabungsgerecht: die<br />
reinpassen, haben Glück; die besser sind, erhalten viele Fördermaßnahmen;<br />
die schlechter sind, fallen unter den Tisch.“ Sie geißelte<br />
die „grausame Selektierungswut“ und forderte eine Schule für alle;<br />
eine Schule, die niemand Schaden zufüge und allen die gle<strong>ich</strong>en<br />
Chancen gewähre.<br />
Dr. Dirk Hannowsky von der Landesvereinigung rheinland-pfälzischer<br />
Unternehmerverbände stellte deutl<strong>ich</strong> heraus, welchen<br />
Bedarf an jungen Leuten die Unternehmen haben. Sie brauchten<br />
Heranwachsende, die qualifizierte Abschlüsse vorwiesen, die in der<br />
Lage seien, selbstständig zu denken und zu handeln, die über eine<br />
entwickelte Sozialkompetenz verfügten, s<strong>ich</strong> auf neue Rahmenbedingungen<br />
einstellen und neuen Gegebenheiten anpassen könnten.<br />
Diesem Bedarf hätten die Schulen entgegenzukommen. Folger<strong>ich</strong>tig<br />
formulierte er als zentrale Frage. „Welche Rahmenbedingungen in<br />
den Schulen können das?“ Als Kriterium der Beurteilung des Schulund<br />
Bildungssystems nannte er den Ausspruch des Ex-Bundeskanzlers<br />
Helmut Kohl: „W<strong>ich</strong>tig ist, was hinten rauskommt.“ Damit<br />
kennze<strong>ich</strong>nete er eine streng outputorientierte Schulperspektive<br />
der Wirtschaft.<br />
Bernhard Nacke, Leiter des Katholischen Büros in Mainz, gab an,<br />
dass zur Zeit in Rheinland-Pfalz 75 Schulen in katholischer Trägerschaft<br />
arbeiteten. Mit Blick auf das längere gemeinsame Lernen<br />
verwies er auf die zahlre<strong>ich</strong>en integrierten Orientierungsstufen<br />
an diesen Schulen. Zur einen Schule für alle gäbe es noch keine<br />
eindeutige Position, meinte er und stellte fest, dass auch in der<br />
Dreigliedrigkeit gute Arbeit geleistet werden könne. Das neue Schulentwicklungskonzept<br />
bewertete er als Versuch der Landesregierung,<br />
den unterschiedl<strong>ich</strong>en ein- und mehrgliedrigen Schulkonzepten<br />
irgendwie gerecht zu werden. Er erklärte: „Vielle<strong>ich</strong>t ist das, was<br />
die Landesregierung macht, ein Mittelweg.“<br />
Helmut Foth, evangelischer Pfarrer i.S. und Fachberater für Gymnasien,<br />
begann mit Zitaten aus Schriften des tschechischen Pädagogen<br />
Johann Amos Comenius, der im 17. Jahrhundert lebte und<br />
als Begründer der neuzeitl<strong>ich</strong>en Erziehungslehre gilt. Comenius<br />
forderte, die „Menschen alle so zu fördern, dass sie das gegenwärtige<br />
Vera Reiß, Staatssekretärin im MBWJK, betonte, ein ganz zentrales<br />
Anliegen der rheinland-pfälzischen Bildungspolitik sei es, den starken<br />
Zusammenhang von Schulleistungen und sozioökonomischem<br />
Hintergrund aufzubrechen. Sie stellte Maßnahmen heraus, die eine<br />
größere Chancengerechtigkeit zum Ziel haben: der Schwerpunkt<br />
„frühe Bildung“ in den Kindertagesstätten, die Err<strong>ich</strong>tung von<br />
Ganztagsschulen, das gebührenfreie Erststudium und das neue<br />
Konzept der Zweigliedrigkeit mit PLUS. Sie erklärte die beiden mögl<strong>ich</strong>en<br />
Ausprägungsformen der Realschule plus: einmal die integrativ<br />
arbeitenden Regionalen Schulen, zum anderen die kooperierenden<br />
Realschulen. Sie verwies auf das Projekt „Keiner ohne Abschluss“<br />
und auf die Mögl<strong>ich</strong>keit des Erwerbs der Fachhochschulreife auf<br />
einer Realschul-Oberstufe.<br />
Sybilla Hoffmann, stellvertretende <strong>GEW</strong> Landesvorsitzende, machte<br />
unmissverständl<strong>ich</strong> klar, dass die <strong>GEW</strong> eine Schule für alle fordere<br />
und dass die Zweigliedrigkeit kein Schritt in die r<strong>ich</strong>tige R<strong>ich</strong>tung<br />
sein könne. Als Gründe führte sie die fragwürdige Empfehlungspraxis<br />
der Grundschule, das Trennen der SchülerInnen in demselben<br />
Alter wie bisher, das Festhalten am bisherigen Begabungskonzept<br />
an. Sie bemängelte, dass die <strong>GEW</strong> n<strong>ich</strong>t in die Diskussion über die<br />
Weiterentwicklung der Schulstruktur eingebunden worden war.<br />
Die anschließende Diskussion kreiste hauptsächl<strong>ich</strong> um das neue<br />
rheinland-pfälzische Schulentwicklungskonzept „Zweigliedrigkeit<br />
mit PLUS“. Die vorherrschende Meinung war: N<strong>ich</strong>t mutig genug<br />
und zu kurz gesprungen. Ein Teilnehmer meinte: „Solange ein Lehrer<br />
sagen kann, du gehörst n<strong>ich</strong>t zu uns, ist das kein gutes System.“<br />
Gefordert wurde ein neues Denken, ein Denken, das Kinder mit<br />
allen Kräften integrieren und fördern, n<strong>ich</strong>t woanders hinschicken<br />
will. Abgelehnt wurde das verbreitete Begabungskonzept, das s<strong>ich</strong><br />
anmaßt, Kinder schon in frühen Jahren „begabungsgerecht“ in<br />
praktisch und intellektuell Begabte trennen zu können. Verbalisiert<br />
wurde aber auch die Empörung vieler RealschullehrerInnen, die das<br />
Modell des Zusammengehens von Hauptschule und Realschule<br />
ablehnen. Anges<strong>ich</strong>ts der harten Kritik schlug Vera Reiß vor, s<strong>ich</strong><br />
mit VertreterInnen der <strong>GEW</strong> <strong>zusammen</strong>zusetzen, damit sie das<br />
neue Schulentwicklungskonzept vollständig erläutern könne. Dieses<br />
Gesprächsangebot wird die <strong>GEW</strong> s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> annehmen, sofern sie<br />
n<strong>ich</strong>t nur als kopfnickende Zuhörerin, sondern als mitgestaltende<br />
Kraft gefragt ist.<br />
Gerlinde Schwarz<br />
10<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
SCHULEN<br />
ZAUBERTRICKS AUF DEM STUNDENPLAN<br />
Grundlage ist oft die Mathematik<br />
Möbiusband, Gedankenlesen und Metall durchdringen - Zauberer<br />
verblüffen Kinder und Erwachsene gle<strong>ich</strong>ermaßen mit<br />
ihren „magischen“ Fähigkeiten. Doch hinter den Tricks stecken<br />
fast immer naturwissenschaftl<strong>ich</strong>e Gesetze und Phänomene.<br />
Wer sie kennt, kann die Kunststücke schnell imitieren -<br />
und lernt den Schulstoff wie von selbst.<br />
Zaubertricks<br />
motivieren Kinder<br />
und fördern<br />
soziale Kompetenzen,<br />
fachl<strong>ich</strong>es<br />
Können<br />
und Kreativität.<br />
(c)MEV und<br />
Klett-Archiv<br />
Gebannt schauen die SchülerInnen einer Hamburger<br />
Schule auf die kleine Bühne des Schulfestes. Dort steht ihr<br />
Mitschüler Moritz im schwarzen Umhang und behauptet,<br />
er könnte einen Papierring so zerschneiden, dass zwei<br />
ineinander verschlungene Ringe entstehen. Und in der<br />
Tat gelingt der Zaubertrick.<br />
Wie hat Moritz das gemacht? Sein Mathematiklehrer<br />
Sven Korthaase kennt die Antwort. Was aussah wie ein<br />
Papierring, war in Wirkl<strong>ich</strong>keit ein Möbiusband. Ein<br />
Papierstreifen wird ein-, zweimal oder noch öfter gedreht,<br />
bevor der Ring geklebt wird. So entsteht eine so genannte<br />
n<strong>ich</strong>t orientierte Fläche mit nur einem Rand. Weil die<br />
beim Zerschneiden entstehenden Formen schwer vorherzusagen<br />
sind, wirkt der Trick wie Zauberei.<br />
Magie in der Schule<br />
Immer öfter stehen solche Zaubertricks auf dem Stundenplan.<br />
Ob im Mathematik- und Physikunterr<strong>ich</strong>t, ob<br />
in Kunst, Musik oder Deutsch, mit Zauberkunststücken<br />
können Kinder le<strong>ich</strong>t zum Lernen motiviert werden.<br />
Zaubersprüche und Kostüme, Bühnendekoration und<br />
Musik sind für eine Zaubershow ebenso w<strong>ich</strong>tig wie<br />
Fingerfertigkeit und schnelles Denken. Zauberprojekte<br />
treffen deshalb die Interessen aller Schüler einer Klasse<br />
und eignen s<strong>ich</strong> auch für den jahrgangsübergreifenden<br />
Unterr<strong>ich</strong>t.<br />
„Die dem Menschen innewohnende Neugierde wird<br />
durch ein Kunststück geweckt“, sagt Korthaase. Jeden<br />
Zaubertrick, den er seinen SchülerInnen neu vorführt,<br />
lässt er zunächst von ihnen selbstständig erarbeiten.<br />
„Die Schülerinnen und Schüler suchen nach mögl<strong>ich</strong>en<br />
Lösungen für die Tricks und entwickeln für s<strong>ich</strong> oder<br />
in der Gruppe Lösungsstrategien, die dann diskutiert,<br />
weiter entwickelt und verworfen werden“, erklärt Sven<br />
Korthaase. Ist der Trick erst einmal durchschaut und soll<br />
vor Publikum vorgeführt werden, müssen Zaubersprüche<br />
erfunden, Präsentationen erdacht und Requisiten<br />
gebastelt werden.<br />
Zauberhafte Rechen-Kunst<br />
Grundlage vieler Zaubertricks ist die Mathematik. Was<br />
zum Beispiel oft aussieht wie Hellseherei, ist in Wirkl<strong>ich</strong>keit<br />
schl<strong>ich</strong>tes Kopfrechnen. Ein Beispiel? Aus einem Kartenspiel<br />
wird eine Karte entnommen. Wie oft muss man<br />
das Spiel nun durchschauen, um herauszufinden, welche<br />
Karte fehlt? Sven Korthaase und seine „Zauber“schüler<br />
brauchen dazu nur eine Minute.<br />
Jeder Spielkarte wird ein Zahlenwert zugeordnet: Sieben<br />
(7), Acht (8), Neun (9), Zehn (0), Bube (2), Dame (3),<br />
König (4) und Ass (1). Alle Karten <strong>zusammen</strong> haben dann<br />
den Wert 136. Beim ersten Durchsehen rechnet der Zauberer<br />
die Werte der vorhandenen Karten <strong>zusammen</strong> und<br />
zieht die Zahl von 136 ab. Er weiß dann genau, welches<br />
Bild fehlt. Beim zweiten Durchsehen muss er nun nur<br />
noch schauen, welche Farbe die fehlende Karte hat - die<br />
anderen drei sind ja noch im Spiel vorhanden.<br />
Ein Trick, der viel Übung erfordert. „Wenn Schülerinnen<br />
und Schüler einen Trick sehen und nach einer Erklärung<br />
suchen, wird ihnen erst bewusst, dass auch die Vorführung<br />
der Kunststücke mit Arbeit verbunden ist“, erzählt<br />
Korthaase, „dass Kunststücke einstudiert und trainiert<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
11
SCHULEN<br />
müssen.“ Mit Zauberprojekten üben die Schüler deshalb<br />
auch das strukturierte und zielorientierte Arbeiten.<br />
Keine Spielerei<br />
Seit Jahren beschäftigt s<strong>ich</strong> Korthaase mit dem Zauberunterr<strong>ich</strong>t<br />
in der Schule, organisiert Projekte und setzt die<br />
Zaubertricks systematisch in den Mathematik-Stunden<br />
ein. Auf Tagungen und Kongressen hat er seine Erfahrungen<br />
an Kollegen weitergegeben und ein Arbeitsheft<br />
„Mathematik. Zaubertricks“ mit über 20 mathematischen<br />
Zaubertricks herausgegeben. Arbeitsblätter als Kopiervorlage<br />
helfen Schülern beim Erschließen der Tricks<br />
und leiten zum selbstständigen Arbeiten an. Denn wenn<br />
Zaubertricks gezielt eingesetzt werden, können sie langfristig<br />
den Lernerfolg der Schüler s<strong>ich</strong>ern, ist Korthaase<br />
überzeugt. Die Kunststücke fördern soziale Kompetenzen,<br />
fachl<strong>ich</strong>es Können und Kreativität. Und sie motivieren<br />
auch lernschwache Schüler. „Mit der Motivation der<br />
Schülerinnen und Schüler steht und fällt der Lernerfolg.<br />
Noch so viele verschiedene und gut ausgeklügelte Unterr<strong>ich</strong>tsmethoden<br />
können keinen Lernerfolg garantieren,<br />
wenn ein Schüler n<strong>ich</strong>t motiviert ist.“<br />
dg<br />
Aus: Klett-Themendienst<br />
Medientipp<br />
Mathematik. Zaubertricks<br />
Band 2: Das Heft aus der Reihe „spielend lernen“<br />
enthält 22 mathematische Zaubertricks, mit denen<br />
Schüler von Klasse 5 bis 10 auf fast magische Weise<br />
Geometrie, Strahlensätze oder Kopfrechnen üben.<br />
Mit Bildern und Grafiken wird jeder Trick ausführl<strong>ich</strong><br />
erklärt. 14 Arbeitsblätter als Kopiervorlage helfen bei<br />
der Unterr<strong>ich</strong>tsvorbereitung oder geben Ideen für<br />
Vertretungsstunden.<br />
Ernst Klett Verlag, Mathematik Zaubertricks (Band 2),<br />
ISBN 978-3-12-722863-2, Preis 9,50 Euro<br />
GLOBALISIERUNG IM KLASSENZIMMER<br />
Ob Amerika, China oder Australien - Auslandserfahrungen<br />
sind für viele deutsche SchülerInnen längst eine Selbstverständl<strong>ich</strong>keit.<br />
Dabei immer im Fokus: der Ausbau der Sprachkenntnisse,<br />
das Verständnis für andere Kulturen und die persönl<strong>ich</strong>e<br />
Weiterentwicklung. W<strong>ich</strong>tig ist darum eine gute Vorbereitung.<br />
Kopfgymnastik in der Pause - für die 23 Schüler des Stuttgarter<br />
Ferdinand-Porsche-Gymnasiums und ihre Lehrerin<br />
Sonja Schanz war das schon ungewöhnl<strong>ich</strong>. Für die rund<br />
4.000 Schüler ihrer Partnerschule in Peking dagegen ge-<br />
Luke in Panama: Neben dem Ausbau der Sprachkenntnisse steht zunehmend<br />
das Verständnis für andere Kulturen und die persönl<strong>ich</strong>e Weiterentwicklung im<br />
Vordergrund. Foto: AFS<br />
hörten die Massagen von Augen und Nacken zum Alltag.<br />
Das haben Schanz und ihre Schüler erfahren, als sie dort<br />
im September 2006 für drei Wochen zu Besuch waren.<br />
„Wir waren sehr nervös, ob wir alles r<strong>ich</strong>tig machen“,<br />
ber<strong>ich</strong>tet die Lehrerin. Die Regeln einzuhalten sei den<br />
Schülern dann auch n<strong>ich</strong>t immer le<strong>ich</strong>t gefallen.<br />
Der Besuch in der Partnerschule, die der Renmin- Universität<br />
in Peking angeschlossen ist, soll die Schüler<br />
motivieren, s<strong>ich</strong> mit dem Land, seiner Gesch<strong>ich</strong>te und<br />
wirtschafl<strong>ich</strong>en Entwicklung auseinanderzusetzen - und<br />
natürl<strong>ich</strong> Chinesisch zu lernen. Mit Erfolg: Eine Schülerin<br />
will Chinesisch studieren, ein anderer Schüler hat s<strong>ich</strong> für<br />
einen Zivildienst in Peking entschieden.<br />
Organisationen<br />
Die Globalisierung hat deutsche Klassenzimmer längst erre<strong>ich</strong>t.<br />
Fast jeder dritte Student war nach den Befunden der<br />
17. Sozialerhebung aus dem Jahr 2003 schon einmal mit<br />
dem Schüleraustausch im Ausland. Programme, die dies<br />
ermögl<strong>ich</strong>en, gibt es viele: So bringt das Parlamentarische<br />
Patenschafts-Programm (PPP) des Deutschen Bundestags<br />
und des Kongresses der USA junge Leute beispielsweise<br />
für ein Jahr in die USA. Das Goethe-Institut stellt mit<br />
seinem Jugendaustausch-Programm Kontakt zwischen<br />
Jugendl<strong>ich</strong>en aus Russland, der Ukraine, Kasachstan,<br />
Kirgistan und Deutschland her. Das Deutsch-Französische<br />
Jugendwerk hat im vergangenen Jahr rund 70 000<br />
Kinder und Jugendl<strong>ich</strong>e bei ihrem grenzüberschreitenden<br />
Austausch mit dem Partnerland gefördert - ganze Klassen,<br />
aber auch einzelne Schüler. „Paris und Berlin waren dabei<br />
12<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
SCHULEN<br />
immer sehr gefragt“, ber<strong>ich</strong>tet Joëlle Bontems, die für den<br />
Schüleraustausch zuständig ist.<br />
Lernen mit allen Sinnen<br />
Lehrer können s<strong>ich</strong> in Seminaren, die das Jugendwerk<br />
anbietet, auf den Austausch vorbereiten. Sie lernen beispielsweise,<br />
wie man Hemmungen und Ängste bei den<br />
Schülern abbaut, ber<strong>ich</strong>tet Julia Gottuck, die s<strong>ich</strong> um die<br />
so genannte Sprachanimation kümmert.<br />
Auch Lehrerin Ingrid Hüniken, die am Emil-von-Behring<br />
Gymnasium in Großhansdorf Englisch und Französisch<br />
unterr<strong>ich</strong>tet und regelmäßig Schülergruppen auf dem<br />
Austausch mit der Partnerschule Lycée Sainte Thérèse<br />
in Rambouillet bei Paris begleitet, hat die Erfahrung gemacht,<br />
dass Vorbereitung w<strong>ich</strong>tig ist. „Ich würde immer<br />
empfehlen, vor dem Austausch mit der Gruppe kleine<br />
alltägl<strong>ich</strong>e Situationen zur Vorbereitung zu simulieren.“<br />
Schon in Kleinigkeiten würden s<strong>ich</strong> französische und<br />
deutsche Gepflogenheiten unterscheiden. „Beispielsweise<br />
überre<strong>ich</strong>t man der Gastmutter in Frankre<strong>ich</strong> den Blumenstrauß<br />
mit der Folie und wickelt die Blumen n<strong>ich</strong>t<br />
etwa aus.“ Für Hüniken ist es w<strong>ich</strong>tig, dass der Kontakt<br />
der Schüler n<strong>ich</strong>t über das Internet, sondern vor Ort<br />
stattfindet.<br />
Diese echten Begegnungen müssten erhalten bleiben,<br />
um das interkulturelle Lernen mit allen Sinnen zu ermögl<strong>ich</strong>en.<br />
Schüler entwickeln Selbstbewusstsein<br />
und Reife<br />
Begegnungen von Schülern vor Ort ermögl<strong>ich</strong>t beispielsweise<br />
der American Field Service - AFS Interkulturelle<br />
Begegnungen e.V., die nach eigenen Angaben größte<br />
und älteste Jugendaustauschorganisation weltweit. Ob<br />
in Mexiko, Italien, Südafrika, Japan oder Australien -<br />
die Organisation bietet Schülern Austauschprogramme<br />
auf jedem Kontinent an. Rund 1 400 Schüler reisen in<br />
diesem Jahr mit dem AFS in die Welt. Ein Drittel von<br />
ihnen fährt in die USA. Auch Brasilien, Argentinien,<br />
Italien, Thailand und China sind beliebte Ziele für ein<br />
Schuljahr im Ausland. Der Blick r<strong>ich</strong>te s<strong>ich</strong> zunehmend<br />
„gen Osten“. „Das macht im Lebenslauf viel her“, sagt<br />
AFS-Sprecherin Annika Wolfgram.<br />
Vorkenntnisse in den Sprachen müssen die Schüler, die<br />
bei der Abreise zwischen 15 und 18 Jahren alt sein sollten,<br />
n<strong>ich</strong>t unbedingt haben. „Manche können tatsächl<strong>ich</strong><br />
außer Hallo kaum ein Wort“, ber<strong>ich</strong>tet sie. Doch zu<br />
Beginn des Auslandsaufenthaltes bekommen die Schüler<br />
einen Crashkurs in der Landessprache. Ohne gute<br />
Sprachenkenntnisse ist noch keiner zurückgekommen.<br />
Und: Es sind n<strong>ich</strong>t nur die Sprachkenntnisse, die Schüler<br />
im Ausland entwickeln. Die jungen Leute werden auch<br />
selbstständiger, selbstbewusster und sie entwickeln eine<br />
erste interkulturelle Kompetenz. „Mütter sagen oft, sie<br />
schicken Jungs los und bekommen junge Männer zurück“,<br />
sagt Wolfgram. Schüler mit Auslandserfahrung seien im<br />
Schnitt ein Jahr reifer als ihre Mitschüler, die zuhause<br />
geblieben sind. Dennoch sei auch ein bisschen Heimweh<br />
immer dabei.<br />
Osten im Trend<br />
Sankt Petersburg und Moskau sind die Hauptziele<br />
der Schulklassen, die mit Unterstützung der Stiftung<br />
DeutschRussischer Jugendaustausch nach Russland<br />
reisen. „Manche Gruppen fahren auch nach Sibirien“,<br />
ber<strong>ich</strong>tet Mathias Burghardt, Referent für den Schulbere<strong>ich</strong><br />
und die Sprachförderung. Die Stiftung wurde im<br />
Jahr 2006 vom Bund, der Stadt Hamburg und privaten<br />
Trägern gegründet. „Unser Ziel ist es, mehr Jugendl<strong>ich</strong>e<br />
in Deutschland für Russland zu interessieren - und umgekehrt“,<br />
ber<strong>ich</strong>tet Burghardt. Russischkenntnisse sind<br />
keine unbedingte Voraussetzung für die Förderung durch<br />
die Stiftung. „Es sind auch Schulgruppen dabei, die kein<br />
Russisch können“, ber<strong>ich</strong>tet Burghardt.<br />
Auch die 18 Jahre alte Karen aus Paderborn konnte<br />
die Landessprache n<strong>ich</strong>t, als sie im Jahr 2005 mit rund<br />
30 Mitschülerinnen des Gymnasiums St. M<strong>ich</strong>ael aus<br />
Paderborn nach Mezöbereny in Ungarn gefahren ist.<br />
Immerhin: „Unsere Gastschüler haben erstaunl<strong>ich</strong> gut<br />
Deutsch gesprochen“, ber<strong>ich</strong>tet sie. An der Partnerschule,<br />
dem Petöfi-Sandor-Gymnasium, werde Deutsch als erste<br />
Fremdsprache unterr<strong>ich</strong>tet. Den Schülerinnen aus Paderborn<br />
sei es dagegen mehr darum gegangen, eine andere<br />
Kultur kennen zu lernen und neue Freundschaften zu<br />
schließen, erzählt Karen.<br />
Für Schüler gibt es zahlre<strong>ich</strong>e Mögl<strong>ich</strong>keiten, s<strong>ich</strong> zu<br />
informieren - beispielsweise auf Messen. Eine davon<br />
findet jedes Jahr in Großhansdorf bei Hamburg statt.<br />
In diesem Jahr werden dort am 15. September rund 40<br />
Aussteller über den Austausch mit den USA, Kanada<br />
und anderen Ländern informieren. Im Internet bietet<br />
die Seite www.rausvonzuhaus.de der Fachstelle für Internationale<br />
Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland<br />
e.V. (IJAB) vielfältige Informationen: Erfahrungsber<strong>ich</strong>te,<br />
Finanzierungsmögl<strong>ich</strong>keiten, Länderinformationen und<br />
Beschreibungen der einzelnen Programme. Einen Blick<br />
wert ist auch das Forum: Hier geben Teilnehmer ihre<br />
Erfahrungen mit Austauschprogrammen an Interessierte<br />
weiter.<br />
Aus: Klett-Themendienst<br />
Sie heißen Loic, Amy oder Chris - man kennt sie nur vom<br />
Foto und von ein paar Mails - und soll doch schon in wenigen<br />
Tagen bei ihnen wohnen. Genau für diese Situation<br />
hat PONS die Reihe „Erste Hilfe Schüleraustausch“ für<br />
Frankre<strong>ich</strong>, Großbritannien und die USA entwickelt. In den<br />
kleinen Ratgebern finden die Schüler alle w<strong>ich</strong>tigen sprachl<strong>ich</strong>en<br />
und kulturellen Infos, um im Gastland anzukommen<br />
und gle<strong>ich</strong> klarzukommen, ohne in ein Fettnäpfchen zu<br />
treten. Mit den w<strong>ich</strong>tigsten Wörtern und Sätzen meistert<br />
man - trotz der Nervosität - die ersten Gespräche zum<br />
Thema Hobby, Familie und Heimatstadt souverän. PONS<br />
Erste Hilfe Schüleraustausch Frankre<strong>ich</strong>, Großbritannien<br />
oder USA, Preis jeweils 5,00 Euro<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
13
SCHULISCHE ERFAHRUNGEN BEKANNTER RHEINLAND-PFÄLZER<br />
HORIZONT ENDET NICHT AN DER AUSSENLINIE<br />
Im Gespräch mit den FCK-Profis Bohl, Kotysch und Henel<br />
Genau so stellt man s<strong>ich</strong> das vor: Das kleine, gepflegte italienische<br />
Ristorante in der Kaiserlauterer Altstadt ist in der<br />
Mittagszeit gut besetzt, die quirligen Kellner wissen gle<strong>ich</strong>,<br />
wo sie die zu einem Interview mit FCK-Jungprofis angereisten<br />
Redaktionsvertreter der <strong>GEW</strong>-Zeitung zu platzieren haben.<br />
Eine Nische ist reserviert, wo trotz des hohen Geräuschpegels<br />
das durch den Spielerberater M<strong>ich</strong>ael Serr ermögl<strong>ich</strong>te<br />
Gespräch problemlos über die Bühne gehen kann. Positive<br />
Überraschung: Neben den angefragten Spielern Sascha Kotysch<br />
und Steffen Bohl kommt gle<strong>ich</strong> auch noch Christian<br />
Henel als dritte FCK-Nachwuchshoffnung mit.<br />
Pünktl<strong>ich</strong> erscheinen die drei jungen Pfälzer, allesamt<br />
auf den ersten Blick gle<strong>ich</strong>ermaßen locker, uneitel und<br />
bescheiden; rundum sympathisch. Wer da am Tisch sitzt<br />
und zwischen zwei Trainingseinheiten das Mittagessen<br />
mit einem Pressetermin verbunden hat, merken auch<br />
die kleinen Fans rasch, die mit Autogrammwünschen<br />
an denTisch eilen. Kaum zu glauben, wie viele Kinder in<br />
Lautern an einem normalen Wochentag im FCK-Dress<br />
und mit Autogrammblock durch die Gegend wuseln.<br />
Das Eis ist nach anfängl<strong>ich</strong>er Zurückhaltung schnell<br />
gebrochen. Klar, Gespräche mit der Presse sind immer so<br />
eine Sache, gerade dann, wenn es fußballerisch mal n<strong>ich</strong>t<br />
gut läuft. Und dann noch mit einer Zeitschrift, in der es<br />
um „Erziehung und Wissenschaft“ geht. Wer will schon<br />
erzogen und wissenschaftl<strong>ich</strong> durchleuchtet werden …<br />
Aber es geht ja um rein persönl<strong>ich</strong>e schulische Erfah-<br />
rungen, die bei jungen Männern zwischen 19 und 23<br />
natürl<strong>ich</strong> noch sehr präsent sind, zumal die Schulzeit - so<br />
die Erklärung von M<strong>ich</strong>ael Serr - für junge Talente mit der<br />
Perspektive einer Profikarriere sehr w<strong>ich</strong>tig ist, da s<strong>ich</strong> hier<br />
noch am ehesten ein fester Freundeskreis erhalten lässt,<br />
auch wenn man wegen der zweifachen Anspannung durch<br />
Schule und Training ansonsten kaum Zeit hat, das zu tun,<br />
was Jugendl<strong>ich</strong>e in ihrer Freizeit gerne so treiben.<br />
Der Ernst des Lebens in der Grundschule<br />
Überraschend gle<strong>ich</strong> die Antworten auf die Erfahrungen<br />
im vorschulischen Bere<strong>ich</strong> und in der Grundschule nach<br />
dem Hinweis, dass bisherige - weitaus ältere - Gesprächspartner<br />
dieser Interviewreihe s<strong>ich</strong> an warmherzige Ordensschwestern<br />
im Kindergarten und strenge Lehrkräfte<br />
dann in der früher so genannten Volksschule erinnerten.<br />
Auch Jahrzehnte später war das in der Vorder- und der<br />
Nordpfalz wohl so ähnl<strong>ich</strong>. Der Kindergarten sei - so<br />
Sascha Kotysch - im Vergle<strong>ich</strong> zur Grundschule weitaus<br />
lockerer gewesen; eine Meinung, die auch Steffen Bohl<br />
und Christian Henel teilen. Also doch der „Ernst des<br />
Lebens“ trotz aller didaktischer Grundschulreformen.<br />
Angesprochen auf die umstrittene frühe Trennung der<br />
Kinder schon nach der 4. Klasse und die Frage, wie diese<br />
oft belastende Entscheidung bei ihnen gelaufen sei, ist<br />
die Antwort nun gar n<strong>ich</strong>t überraschend, sondern eher<br />
typisch. Der Freundeskreis sei es gewesen, der die Wahl<br />
der Schulart bestimmt habe. Bei Steffen Bohl war das<br />
BERATUNG FÜR DIE KARRIEREPLANUNG<br />
M<strong>ich</strong>ael Serr<br />
Eigentl<strong>ich</strong> ist das unbestritten: Menschen brauchen in ganz<br />
unterschiedl<strong>ich</strong>en Lebenssituationen Beratung. Steuerberatung,<br />
Schulberatung, Eheberatung, Drogenberatung etc.,<br />
alles Aufgabenfelder, die in unserer Gesellschaft positiv<br />
besetzt sind.<br />
Aber Spielerberatung, auch noch von Fußballprofis? Imagemäßig<br />
rangiert dieser Beruf zweifellos noch weit hinter wenig<br />
beliebten Gruppen wie Journalisten, Gewerkschaftsfunktionären<br />
oder Politikern. Darauf angesprochen, widerspr<strong>ich</strong>t<br />
M<strong>ich</strong>ael Serr: „Bei allen Spielern, die unter professionellen<br />
Bedingungen Fußball spielen, ist das überhaupt n<strong>ich</strong>t der<br />
Fall.“ Er weiß, von wem diese Vorurteile geschürt werden:<br />
vor jenen abgezockten Vereinsvorständen, denen es ein Dorn<br />
im Auge ist, dass ihre oft jungen und noch unerfahrenen<br />
Verhandlungspartner kompetente Interessensvertreter an<br />
ihrer Seite wissen.<br />
Und kompetent im Fußballgeschäft ist M<strong>ich</strong>ael Serr wahrl<strong>ich</strong>.<br />
Einst im FCK-Tor die elegante Alternative zum rustikalen<br />
Gerry Ehrmann, hat der Südpfälzer auch Jahre danach n<strong>ich</strong>ts<br />
von seiner positiven Aura verloren. Charmant im Auftreten,<br />
kritisch - reflektierend in seinen Aussagen und elaboriert im<br />
Ausdruck, beschreibt er sein umfassendes Tätigkeitsfeld, bei<br />
dem es um weitaus mehr geht, als mögl<strong>ich</strong>st gute Verträge<br />
auszuhandeln. Serr verfügt über das psychologische Gespür,<br />
die ambivalente Lebenssituation gerade von Nachwuchsprofis<br />
klug zu analysieren. Als ehemaliger Profifußballer hat er den<br />
Weg, den die jungen Spieler noch vor s<strong>ich</strong> haben, bereits<br />
beschritten und verfügt über Kenntnisse auf dem weltweiten<br />
Fußballmarktplatz. Als Berater mehrerer Fußballprofis im<br />
In- und Ausland kann er seine Erfahrung sehr gut an die<br />
jungen Spieler weitergeben. Da ist auf der einen Seite die<br />
privilegierte Lage, schon in jungen Jahren viel Geld verdienen<br />
und Ruhm einheimsen zu können, die aber auf der anderen<br />
Seite in der bekanntl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t unproblematischen Altersphase<br />
der Pubertät bzw. der Adoleszens mit vielen Einschränkungen<br />
und Belastungen verbunden ist.<br />
Hier einen väterl<strong>ich</strong>en, verständnisvollen Freund als Berater<br />
an der Seite zu wissen, ist für die Nachwuchsstars äußerst<br />
hilfre<strong>ich</strong>. Dass Steffen Bohl, Sascha Kotysch und Christian<br />
Henel in unserem Gespräch so positiv rüber kamen, könnte<br />
reiner Zufall sein, aber durchaus auch mit dem positiven<br />
Einfluss ihres Beraters zu tun haben.<br />
gh<br />
14<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
SCHULISCHE ERFAHRUNGEN BEKANNTER RHEINLAND-PFÄLZER<br />
eine Regionale Schule, die ihn in die Berufsfachschule<br />
und dann in die Höhere Berufsfachschule führte, wo<br />
er die Fachhochschulreife erwerben konnte. Bei Sascha<br />
Kotysch und Christian Henel führte der Weg direkt aufs<br />
Gymnasium, das Kotysch aufgrund der s<strong>ich</strong> anbahnenden<br />
Profikarriere mit dem mittleren Bildungsabschluss verließ,<br />
während Henel gerade das Abi am Sportgymnasium in<br />
Kaiserslautern gemacht hat, was eine s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />
einfache Doppelbelastung bedeutete. Der Freundeskreis<br />
hat also die Schulwahl bestimmt; Rückfrage diesbezügl<strong>ich</strong><br />
an Sascha Kotysch: „Und was wäre gewesen, wenn<br />
Ihre Clique geschlossen auf die Hauptschule gewechselt<br />
wäre?“ Antwort ohne Zögern: „Dann wäre <strong>ich</strong> trotzdem<br />
ins Gymnasium gegangen!“<br />
Steffen Bohl<br />
Sascha Kotysch<br />
Christian Henel<br />
Freundeskreis im Vordergrund<br />
Irgendwie haben s<strong>ich</strong> dann alle drei letztl<strong>ich</strong> erfolgre<strong>ich</strong><br />
durch die Schulzeit „gemogelt“, wie sie selbst sagen. Im<br />
Vordergrund habe der Freundeskreis gestanden, der heute<br />
noch sehr w<strong>ich</strong>tig ist, da sie dort „ganz normal“ behandelt<br />
werden, wie Steffen Bohl betont. Ansonsten erinnern sie<br />
s<strong>ich</strong> an das, woran s<strong>ich</strong> die meisten normalen jungen<br />
Leute bei ihrer Schulzeit erinnern: dass man manchmal<br />
notgedrungen spicken musste, dass die Klassenfahrten<br />
z.B. nach Spanien absolute Highligts waren und dass<br />
natürl<strong>ich</strong> der Sportunterr<strong>ich</strong>t - hier insbesondere alle<br />
Formen von Ballsport - am meisten Spaß gemacht hat.<br />
Nach diesen eher flapsigen Antworten durchaus ernste<br />
Reaktionen auf die Frage, was schlechte und was gute<br />
Lehrkräfte ausmache. Als Abiturient noch ganz nahe<br />
an diesem Thema dran ist Christian Henel, der manche<br />
Lehrkräfte unverblümt als „Horror“ beze<strong>ich</strong>net. Die Umkehrung<br />
liegt für alle drei auf der Hand: Gute Lehrkräfte<br />
sorgen für entspannte Stimmung, werden respektiert,<br />
sind lustig und bringen dennoch fachl<strong>ich</strong> viel rüber. Die<br />
aktuelle Hirnforschung lässt grüßen …<br />
Interesse an pädagogischem Beruf<br />
Die Schulzeit ist für alle vorbei, der Weg zum Berufssportler<br />
beschritten. Nun kann eine Profikarriere als Fußballer<br />
aber auch ganz schnell z. B wegen einer schweren Verletzung<br />
scheitern. Einen Bürojob als Alternative kann s<strong>ich</strong><br />
da keiner vorstellen, irgendwie sollte die Berufstätigkeit<br />
in solch einem Falle oder auch nach der Karriere etwas<br />
mit Sport zu tun haben. W<strong>ich</strong>tig sind der Kontakt mit<br />
Menschen und die Abwechslung. Gar n<strong>ich</strong>t abgeneigt sind<br />
die jungen Fußballstars gegenüber einer pädagogische Arbeit:<br />
Sascha Kotysch haben es Grundschulkinder angetan,<br />
Steffen Bohl interessiert s<strong>ich</strong> seit seiner BBS-Zeit für ein<br />
BWL-Studium in Kombination mit Sport und Christian<br />
Henel denkt ernsthaft darüber nach, Sportwissenschaft<br />
sowie ein weiteres Fach zu studieren, falls das mit dem<br />
Profifußball vereinbar sein sollte.<br />
Drei junge Männer also, deren Horizont n<strong>ich</strong>t an der<br />
Außenlinie endet. S<strong>ich</strong>er deshalb, weil sie fest in ihren<br />
Familien verwurzelt sind und auch schon die Schattenseiten<br />
des Lebens gesehen haben wie beispielsweise Steffen<br />
Bohl bei seiner Arbeit mit Behinderten im Zivildienst oder<br />
Christian Henel bei einem Praktikum im Krankenhaus.<br />
Erfahrungen - so ihr Berater M<strong>ich</strong>ael Serr -, die der Persönl<strong>ich</strong>keitsbildung<br />
dienen und damit wiederum w<strong>ich</strong>tig<br />
für eine stabile Profikarriere sind.<br />
hh + gh<br />
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<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
15
AUS ANDEREN BUNDESLÄNDERN<br />
INTEGRATIVE GRUNDSCHULE IN HAMBURG IST POLITISCH BEDROHT<br />
Fatales bildungspolitisches Signal für die deutsche Bildungslandschaft<br />
Dass in Deutschland Kinder mit Behinderungen und<br />
mit sozialer Benachteiligung auch durch das Schulsystem<br />
benachteiligt und ausgegrenzt werden, hat der<br />
UN- Menschenrechtskommissar Vernor Muñoz in<br />
seinem offiziellen Ber<strong>ich</strong>t deutschen Politikern kritisch<br />
vorgehalten. Eine jüngst von der UN-Vollversammlung<br />
verabschiedete Konvention fordert von den Mitgliedsstaaten<br />
die vollständige, diskriminierungsfreie Einbeziehung/Inklusion<br />
von Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>en mit<br />
Behinderungen in das allgemeine Schulsystem. Vor dem<br />
Hintergrund einer insgesamt unterentwickelten Integrationspolitik<br />
in Deutschland sind die bildungspolitischen<br />
Vorgänge in Hamburg kein lokales Ereignis. Wenn das<br />
für die Bundesrepublik beispielhafte Hamburger Integrationskonzept<br />
in seinem Bestand bedroht ist, dann<br />
sind dramatische Rückschritte für die Integrationspolitik<br />
weit über Hamburg hinaus zu befürchten.<br />
Hamburg hat bildungspolitisch gezeigt, wie der Weg von<br />
der integrativen zu einer inklusiven Grundschule aussehen<br />
könnte. Ab1984 erstritten Elterninitiativen zunächst<br />
die Einr<strong>ich</strong>tung von Integrationsklassen für Kinder mit<br />
geistiger und körperl<strong>ich</strong>er Behinderung bzw. mit Sinnesschädigungen.<br />
1991 kam als zweites Kernelement die<br />
Integrative Regelklasse auf Initiative von Schulen dazu.<br />
Anstelle der traditionellen Sonderschulüberweisungen<br />
sollte im Schulversuch erprobt werden, Kinder aus sozialen<br />
Brennpunkten mit Lern- und/oder Sprachproblemen<br />
sowie mit Verhaltensauffälligkeiten bis zum Ende der<br />
Grundschulzeit integrativ zu fördern.<br />
Bis heute ist daran konzeptionell einmalig, dass die integrative<br />
Förderung an den 36 Grundschulen im Schulversuch<br />
n<strong>ich</strong>t abhängig gemacht wird von einem förml<strong>ich</strong>en<br />
Feststellungsverfahren. Kinder müssen n<strong>ich</strong>t erst als<br />
behindert diagnostiziert, kategorisiert und etikettiert werden,<br />
da die zusätzl<strong>ich</strong>en sonderpädagogischen Ressourcen<br />
für die Schulen n<strong>ich</strong>t an die Zahl der förderbedürftigen<br />
Kinder gebunden ist. Der Grundgedanke der Inklusion,<br />
dass das Schulsystem so ausgestattet sein muss, dass es<br />
den individuellen Förderbedürfnissen aller Kinder im<br />
wohnortnahem Einzugsbere<strong>ich</strong> gerecht wird, wird durch<br />
eine sonderpädagogische Grundausstattung der Schulen<br />
für Kinder in benachteiligten Lebenslagen realisiert.<br />
Leider fehlte der SPD der Mut, die Integrative Regelklasse<br />
trotz langjähriger erfolgre<strong>ich</strong>er Erprobung gesetzl<strong>ich</strong><br />
abzus<strong>ich</strong>ern und das Konzept in die Fläche zu bringen<br />
bei gle<strong>ich</strong>zeitigem Auslaufen der entsprechenden Sonderschulen.<br />
Seit dem Regierungswechsel in Hamburg ist<br />
die Integration dort zum machtpolitischen Spielball der<br />
CDU geworden. Aus ihrer S<strong>ich</strong>t stellen die 36 Grundschulen<br />
mit Integrativen Regelklassen im Schulversuch<br />
wegen ihrer privilegierten Ausstattung gegenüber den<br />
übrigen 215 Hamburger Grundschulen ein „Gerechtigkeitsproblem“<br />
dar. Zunächst plante sie, aus allen Schulen<br />
des Schulversuchs die sonderpädagogischen Ressourcen<br />
abzuziehen, um über die Einr<strong>ich</strong>tung von Diagnose- und<br />
Förderzentren „gezielt und diagnosegeleitet“ den Einsatz<br />
der sonderpädagogischen Mittel „gerecht“ zu verteilen.<br />
Die Proteste der betroffenen Schulen, Lehrer und Eltern<br />
sorgten dafür, dass nur eine „kleine“ Lösung zum Zuge<br />
kam: Mit dem Schuljahr 2007/2008 sind 2 Förderzentren<br />
als Schulversuch einger<strong>ich</strong>tet worden, um die angebl<strong>ich</strong>e<br />
„Gerechtigkeitslücke“ zunächst in den Pilotregionen zu<br />
schließen.<br />
In den sogenannten Integrativen Förderzentren, die der<br />
Verband für Sonderpädagogik (vds) maßgebl<strong>ich</strong> konzeptionell<br />
mitentwickelt hat, entscheiden wieder Sonderpädagogen<br />
über den „r<strong>ich</strong>tigen“ Förderort für Schüler<br />
und Schülerinnen mit Lernproblemen. Schon vorab<br />
sind die Integrations- und Segregationsquoten festgelegt<br />
worden. Ein Drittel der Schüler mit Förderbedarf soll<br />
im Förderzentrum unterr<strong>ich</strong>tet werden. Integration gibt<br />
es n<strong>ich</strong>t für alle. Sie bleibt gebunden an den individuumsbezogenen<br />
Etikettierungsprozess. Damit erhält s<strong>ich</strong><br />
über die Selektion in der Grundschule das eigenständige<br />
Sonderschulsystem.<br />
Dass die Integrativen Regelklassen nach der Bürgerschaftswahl<br />
im nächsten Jahr unter einer CDU- geführten Regierung<br />
abgeschafft werden sollen, kann als s<strong>ich</strong>er gelten. Eine<br />
Große Anfrage der CDU bereitet diese Entscheidung vor.<br />
Dabei wird versucht, das eigentl<strong>ich</strong>e ideologische Anliegen<br />
mit dem Verweis auf die Wissenschaft zu tarnen. Um die<br />
Leistungsfähigkeit und pädagogische Sinnhaftigkeit der<br />
Integrativen Regelklassen in Frage zu stellen, beruft s<strong>ich</strong><br />
die CDU-Fraktion auf wissenschaftl<strong>ich</strong>e Ergebnisse, die<br />
im Rahmen der Studie über „Kompetenzen und Einstellungen<br />
von Schülerinnen und Schülern am Ende der<br />
Jahrgangsstufe 4 in Hamburger Grundschulen“ (KESS 4)<br />
gewonnen wurden. Zitiert wird aus der Studie allerdings<br />
nur, was der Politik gefällt: Die Leistungsergebnisse der<br />
Grundschulen mit Integrativen Regelklassen seien n<strong>ich</strong>t<br />
günstiger ausgefallen als die vergle<strong>ich</strong>barer Grundschulen<br />
ohne den zusätzl<strong>ich</strong>en Ressourceneinsatz.<br />
Aber genau die Frage der Vergle<strong>ich</strong>barkeit ist höchst<br />
strittig. Im Rahmen der Querschnittsanalyse konnten<br />
die Lernausgangslagen der Kinder an den vergl<strong>ich</strong>enen<br />
Schulen n<strong>ich</strong>t ermittelt und zum Bezugsrahmen für faire<br />
Leistungsvergle<strong>ich</strong>e gemacht werden. Nur einer Längsschnittuntersuchung<br />
ist vorbehalten, über die tatsächl<strong>ich</strong>e<br />
Lernentwicklung von Schülern an allen Hamburger<br />
Grundschulen Auskunft zu geben.<br />
Auch wird seitens der CDU-Politiker ignoriert, dass die<br />
KESS- Studie positiv die gelungene soziale Integration<br />
herausstellt. Den Integrationsklassen und Integrativen<br />
Regelklassen wird attestiert, dass auch Kinder mit Leistungsschwächen<br />
s<strong>ich</strong> dort wohlfühlen und ein positives<br />
Selbstbild entwickeln. Dies ist umso beachtenswerter,<br />
als die Ergebnisse der „World Vision“- Kinderstudie<br />
16<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
BILDUNG INTERNATIONAL<br />
bei den meisten sozial benachteiligten Kindern ein eher<br />
pessimistisches Selbstkonzept festgestellt hat. Die Ersetzung<br />
der individuellen Lernber<strong>ich</strong>te durch vergle<strong>ich</strong>ende<br />
Ziffernzeugnisse in den Hamburger Integrationsklassen,<br />
wie es die Schulbehörde mit diesem Schuljahr vorschreibt,<br />
ist daher ein geradezu sträfl<strong>ich</strong>er Anschlag auf das gute<br />
Klassenklima im Gemeinsamen Unterr<strong>ich</strong>t.<br />
Wesentl<strong>ich</strong> aber ist, dass die in Teilen umstrittenen Untersuchungsergebnisse<br />
in gar keinem Fall die Alternative<br />
der Förderzentren begründen und rechtfertigen. N<strong>ich</strong>t<br />
nur aus menschenrechtl<strong>ich</strong>er S<strong>ich</strong>t gilt der Anspruch der<br />
Einbeziehung aller Kinder in eine gemeinsame Schule<br />
für alle. Auch wissenschaftl<strong>ich</strong> ist erwiesen, dass die<br />
effektivste Förderung der Kinder mit Behinderung und<br />
Benachteiligung am besten unterr<strong>ich</strong>tsintegriert in den<br />
allgemeinen Schulen gelingt.<br />
Mit dem Konzept der Integrativen Grundschule und<br />
ihren zwei Kernelementen, der Integrationsklasse und<br />
der Integrativen Regelklasse, lässt s<strong>ich</strong> zwar das bestehende<br />
selektive Sekundarschulsystems n<strong>ich</strong>t aufheben.<br />
Dazu bedarf es einer politischen Entscheidung. Aber wir<br />
hätten, was n<strong>ich</strong>t wenig ist, eine Grundschule, die s<strong>ich</strong><br />
im Sinne der UN-Konvention entwickelt, und ein solides<br />
pädagogisches Fundament für ein längeres gemeinsames<br />
Lernen über die Grundschulzeit hinaus.<br />
Brigitte Schumann<br />
ifenici@aol.com<br />
NORWEGEN: HOCH GELOBT UND TIEF GEFALLEN?<br />
Eine Einordnung der PISA-Ergebnisse 2006<br />
In dem jüngsten PISA - Ranking ist Norwegen mit<br />
seinen Schülerleistungen deutl<strong>ich</strong> unter den OECD-<br />
Durchschnitt gerutscht und von Deutschland überholt<br />
worden. Haben s<strong>ich</strong> all die getäuscht oder s<strong>ich</strong> etwas<br />
vorgemacht, die in der Vergangenheit mit Begeisterung<br />
von der Qualität des inklusiven norwegischen Schulsystems<br />
ber<strong>ich</strong>tet haben?<br />
Auch nach den Fallstudien des internationalen Comenius-Projekts<br />
EU-MAIL, das den praktischen Umgang mit<br />
Heterogenität im Schulalltag in verschiedenen europäischen<br />
Ländern vergle<strong>ich</strong>end unter die Lupe nahm, zählen<br />
norwegische Schulen zu denen, die pädagogisch bewusst<br />
die Herausforderung der Heterogenität annehmen. In<br />
der Philosophie, der Schulorganisation, Struktur und<br />
Lernkultur konnten die EU-MAIL-Forscher große Übereinstimmungen<br />
zwischen norwegischen und finnischen<br />
Schulen feststellen mit dem besonderen Unterschied, dass<br />
Norwegen keine Sonderschulen mehr kennt.<br />
Inklusion stärkt die Gesellschaft<br />
Lassen wir uns n<strong>ich</strong>t von jenen täuschen, die aus dem<br />
Ranking ableiten, dass Deutschland bildungspolitisch<br />
mit der Ablehnung der Inklusion und dem Festhalten an<br />
selektiven Schulstrukturen auf einem guten gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Weg ist. In der Anerkennung der Vielfalt und der<br />
Unterschiedl<strong>ich</strong>keit in der Gemeinsamkeit, einem der<br />
w<strong>ich</strong>tigsten von der UNESCO formulierten Lernziele<br />
für das Leben im 21. Jahrhundert, ist das norwegische<br />
Bildungssystem vorbildl<strong>ich</strong>. Die UNESCO zählt Norwegen<br />
zu den Ländern, die für das Wohlbefinden aller<br />
Kinder und Jugendl<strong>ich</strong>en einen hohen Standard in den<br />
Schulen erre<strong>ich</strong>t haben. Während das deutsche Schulsystem<br />
soziale Segregation vertieft sowie Aussonderung und<br />
Exklusion produziert, leistet das norwegische Schulsystem<br />
einen hervorragenden Beitrag zur sozialen Kohäsion und<br />
zur Solidarität. Dies spiegelt s<strong>ich</strong> auch in der gesamtgesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Zustimmung zu einer Schule für alle in<br />
Norwegen wider.<br />
Ganz selbstverständl<strong>ich</strong> haben auch Schüler und Schülerinnen<br />
mit den schwersten Behinderungen ihren Platz<br />
in der norwegischen Gesamtschule. Im Rahmen eines<br />
von FESCH (Forum Eltern und Schule) organisierten<br />
Studienseminars in Halden im Herbst 2007 konnten s<strong>ich</strong><br />
die Teilnehmer/innen selbst davon überzeugen, dass diese<br />
Gruppe im Zentrum der Bemühungen um bestmögl<strong>ich</strong>e<br />
Unterstützung steht. Einbeziehung und gle<strong>ich</strong>wertige<br />
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gelten der<br />
Kommune Halden ausdrückl<strong>ich</strong> als Gradmesser für die<br />
Qualität des kommunalen Schulangebots. Liebevolle<br />
Zuwendung im normalen Schulalltag geschieht n<strong>ich</strong>t<br />
zufällig. Sie entsteht aus Situationen gelebter Solidarität<br />
mit denen, die auf Hilfe angewiesen sind, und sie beweist,<br />
dass demokratische Wertevermittlung in norwegischen<br />
Schulen n<strong>ich</strong>t nur auf dem Papier gelingt. Anne Ratzki<br />
hat dies am Beispiel von Emely beschrieben, die sie als<br />
schwer mehrfach behindertes Mädchen in der Grundstufe<br />
der norwegischen Gesamtschule traf. Wenn Emely aus<br />
therapeutischen Gründen während der Schulzeit Bäder<br />
bekam, war sie gewohnt, von Freundinnen aus ihrer Klasse<br />
begleitet zu werden.<br />
Während alle PISA - Ber<strong>ich</strong>te dokumentieren, dass Migrantenkinder<br />
der zweiten Generation systematisch im<br />
deutschen Schulsystem abgehängt und zurückgelassen<br />
werden, wird Norwegen von deutschen PISA - Forschern<br />
dafür gelobt, „eine mehr oder weniger offene Balance zwischen<br />
Umgangssprache in der Familie und Beherrschung<br />
der Verkehrssprache“ herzustellen (PISA 2000, 394).<br />
Unter welchen schulischen Bedingungen die Integration<br />
von Zuwanderern gelingt, konnten die Teilnehmer/innen<br />
des o. g. Studienseminars in Halden an der Os skole in<br />
Erfahrung bringen. Schüler/innen, die direkt aus dem<br />
Ausland kommen oder die mangelnde Kenntnisse in Norwegisch<br />
besitzen, bekommen in einer Aufnahmeklasse bis<br />
zu einem Jahr lang intensiven Unterr<strong>ich</strong>t in Norwegisch,<br />
dabei werden durchschnittl<strong>ich</strong> 20 Stunden Norwegisch<br />
pro Woche unterr<strong>ich</strong>tet. Bei Bedarf werden Kinder in der<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
17
BILDUNG INTERNATIONAL<br />
Aufnahmeklasse von Muttersprachenlehrkräften unterstützt.<br />
Gle<strong>ich</strong>zeitig sind sie von Anfang an Schüler/innen<br />
von Stammklassen, wo sie am Unterr<strong>ich</strong>t der praktischen<br />
und künstlerischen Fächer teilnehmen. Beim Wechsel von<br />
der Aufnahmeklasse in die Stammklasse werden die Schüler<br />
und Schülerinnen individuell begleitet. Sie bekommen<br />
dann Förderunterr<strong>ich</strong>t in Norwegisch <strong>zusammen</strong> mit<br />
mehreren Schülern und Schülerinnen. Die Erteilung von<br />
Muttersprachenunterr<strong>ich</strong>t ist selbstverständl<strong>ich</strong>.<br />
Leistungsminderung durch Politikfehler<br />
Es ist abwegig anzunehmen, dass die Inklusion eine leistungsmindernde<br />
Wirkung hat. Hinter dem Absturz im<br />
Ranking stecken vor allem politische Fehler in der Implementation<br />
und der Steuerung von Bildungsreformen.<br />
Diese Fehler sind aufgedeckt und nachgewiesen worden in<br />
einer Evaluationsstudie, die im Auftrag des Ministeriums<br />
für Bildung unter der wissenschaftl<strong>ich</strong>en Leitung von<br />
Peder Haug durchgeführt und 2003 veröffentl<strong>ich</strong>t wurde.<br />
Es handelt s<strong>ich</strong> dabei um eines der aufwändigsten und<br />
ehrgeizigsten Projekte. Immerhin waren 75 Wissenschaftler<br />
und 20 Institutionen an einer Untersuchung beteiligt.<br />
Der Auftrag bestand darin, die allgemeine Qualität in der<br />
Primar- und Sekundarstufe der 10jährigen norwegischen<br />
Pfl<strong>ich</strong>tschule zu ermitteln. Des Weiteren sollte der Einfluss<br />
der Curriculumreform von 1997 auf die Erfordernisse<br />
eines individualisierten Unterr<strong>ich</strong>ts in einer inklusiven<br />
Schule untersucht werden.<br />
Der Evaluationsber<strong>ich</strong>t stellt fest, dass Politik und Verwaltung<br />
auf der staatl<strong>ich</strong>en Ebene es an der angemessenen<br />
Ausgestaltung des Reformvorhabens (Überfrachtung der<br />
Curricula, Mangel an Lehrerfortbildung, fehlendes Monitoring)<br />
haben fehlen lassen, während die kommunale<br />
Ebene, die in Norwegen für die Umsetzung von Reformen<br />
vor Ort zuständig ist, s<strong>ich</strong> mit sehr unterschiedl<strong>ich</strong>em<br />
Engagement und Interesse daran beteiligte.<br />
Der Ber<strong>ich</strong>t listet kritisch die daraus resultierenden Mängel<br />
wie folgt auf:<br />
1. Die Varianz in der allgemeinen Qualität von Schule<br />
ist sehr groß, so dass von Qualitäten gesprochen werden<br />
muss. Zusammengefasst lautet das Urteil: Viele Schulen<br />
arbeiten mit geringfügigen Anpassungen an die Reform<br />
traditionell, wie sie es immer schon getan haben, näml<strong>ich</strong><br />
im Sinn eines Klassenunterr<strong>ich</strong>ts mit wenig Individualisierung.<br />
Einige Schulen haben s<strong>ich</strong> im Sinne der Reform<br />
schülerorientiert weiterentwickelt, und eine Gruppe von<br />
Schulen macht ein bisschen von beidem.<br />
2. Die Überforderung gegenüber den neuen methodischen<br />
und didaktischen Reformansprüchen eines an den<br />
einzelnen Schüler angepassten Unterr<strong>ich</strong>ts hat bei einigen<br />
Lehrern dazu geführt, dass sie das Feld den Schülern<br />
überlassen. Sie sind n<strong>ich</strong>t klar und eindeutig in ihren<br />
Leistungsanforderungen und geben auch dann positives<br />
feedback, wenn es dafür keinen Grund gibt.<br />
3. Demzufolge profitieren im fachl<strong>ich</strong>en Kompetenzerwerb<br />
die Schüler/innen am meisten, die s<strong>ich</strong> am besten<br />
der Schule als sog. normale Schüler anpassen können.<br />
Schüler und Schülerinnen, die von der Normalnorm<br />
abwe<strong>ich</strong>en, kommen systematisch zu kurz. In dem<br />
Maße, wie die Lernsituation für diese verbessert wird,<br />
ist zu erwarten, dass die allgemeinen Lernergebnisse s<strong>ich</strong><br />
insgesamt verbessern.<br />
4. Die Primarstufe entspr<strong>ich</strong>t - bezogen auf die Unterr<strong>ich</strong>tsmethoden<br />
- weitgehend dem Reformanspruch<br />
auf Individualisierung des Lernens. Hier ist auch die<br />
Zusammenarbeit der Kollegen und die Zufriedenheit der<br />
Schüler/innen am größten. Es ist an der Zeit, dass der<br />
Sekundarbere<strong>ich</strong> nachzieht.<br />
Auch die Teilnehmer/innen der FESCH - Studienfahrt<br />
hatten übrigens nach Unterr<strong>ich</strong>tshospitationen den<br />
persönl<strong>ich</strong>en Eindruck, dass die Primarstufe in ihrer<br />
Unterr<strong>ich</strong>tspraxis der Sekundarstufe konzeptionell überlegen<br />
ist.<br />
Gefährl<strong>ich</strong>e Politisierung der<br />
PISA - Ergebnisse<br />
2006 hat wieder eine neue curriculare Reform begonnen.<br />
Die Basiskompetenzen sollen vor allem stärker<br />
gefördert werden, und zwar in allen Unterr<strong>ich</strong>tsfächern.<br />
Das Curriculum ist kompetenzbasiert. Dem Vernehmen<br />
nach kritisiert die Lehrerschaft, dass ohne genügende<br />
Unterstützung eine Reform die nächste jagt. Befürchtet<br />
wird außerdem, dass durch die Gewinner-Verlierer-Rhetorik<br />
der PISA- Rezeption in der norwegischen Politik<br />
die Neigung wachsen könnte, in eine Reformhektik zu<br />
verfallen, die wir in Deutschland schon als „Testeritis“<br />
negativ kennen gelernt haben. Von Inklusionsforschern<br />
wie Anne-Lise Arnesen am Ostfold College in Halden<br />
wird stattdessen gefordert, das Abschneiden in PISA-Tests<br />
n<strong>ich</strong>t zu dem einzigen Qualitätsmaßstab zu machen,<br />
zumal bei PISA die Stärken des norwegischen Systems ja<br />
gar n<strong>ich</strong>t erfasst werden.<br />
Es wird interessant sein, die durch die jüngste PISA-Studie<br />
ausgelöste bildungspolitische Debatte mit ihren politischen<br />
Konsequenzen in Norwegen zu verfolgen. FESCH<br />
wird auch 2008 ein Studienseminar mit der Mögl<strong>ich</strong>keit<br />
anbieten, die Entwicklung in norwegischen Schulen vor<br />
Ort zu erkunden.<br />
Brigitte Schumann<br />
ifenici@aol.com<br />
18<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
HOCHSCHULEN<br />
VERSETZUNG GEFÄHRDET<br />
Reform des Mainzer Lehramtsstudiums steht auf der Kippe<br />
Bei der Akkreditierung der neuen bildungswissenschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Studiengänge an der Uni Mainz, die das pädagogische Begleitstudium<br />
für angehende LehrerInnen ablösen sollen, sind<br />
erhebl<strong>ich</strong>e Schwierigkeiten aufgetreten. Die zuständige Akkreditierungskommission<br />
hat das Verfahren ausgesetzt.<br />
Demzufolge bleibt der Uni maximal ein Jahr Zeit, um<br />
das Konzept für die bildungswissenschaftl<strong>ich</strong>en Studiengänge<br />
zu überarbeiten und erneut vorzulegen. Wird<br />
diese Frist versäumt, so ist das Akkreditierungsverfahren<br />
gescheitert. Bei der Einführung der neuen, zweistufigen<br />
Studienstruktur mit den Abschlüssen Bachelor und Master<br />
soll die Akkreditierung gewährleisten, dass strukturelle<br />
und qualitative Standards eingehalten werden. Dabei<br />
überprüft eine Gruppe von GutachterInnen die geplanten<br />
Studiengänge anhand fachl<strong>ich</strong>er Ges<strong>ich</strong>tspunkte und<br />
fächerübergreifender Vorgaben.<br />
Konzeptionelle Mängel<br />
Das für die Aussetzung des Verfahrens maßgebl<strong>ich</strong>e<br />
Gutachten enthält erschreckende Feststellungen: Das<br />
vorgesehene Studienangebot kann von den beteiligten<br />
Instituten mit den vorhandenen Ressourcen überhaupt<br />
n<strong>ich</strong>t bereitgestellt werden. Zudem ist von eklatanten<br />
Mängeln in der Konzeption die Rede: Sowohl für die<br />
Beratung der Studierenden als auch für die Abs<strong>ich</strong>erung<br />
qualitativer Standards mangele es an überzeugenden Konzepten.<br />
Zu den Prüfungen stellt das Gutachten fest: „Die<br />
vorgesehenen Leistungsanforderungen stehen häufig mit<br />
den Zielen und den Inhalten der Lehrangebote in keinem<br />
erkennbaren Zusammenhang.“<br />
Nach Einschätzung der GutachterInnen ist die Vernetzung<br />
psychologischer, pädagogischer und soziologischer<br />
Elemente n<strong>ich</strong>t gelungen. Die Konzeption kommt offenbar<br />
über eine bloße Aneinanderreihung der Studieninhalte<br />
n<strong>ich</strong>t hinaus und verfehlt das Ziel, eine vernetzte, an<br />
den übergeordneten Bildungszielen des bildungswissenschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Studiums orientierte Gesamtkonzeption für<br />
die neuen Studiengänge zu entwickeln. Auch für eine<br />
Verbindung der bildungswissenschaftl<strong>ich</strong>en Angebote mit<br />
den Schulpraktika und den fachdidaktischen Angeboten<br />
- also mit der Ausbildung der Lehramtsstudierenden zur<br />
Vermittlung der Inhalte ihrer künftigen Unterr<strong>ich</strong>tsfächer<br />
- fehlen überzeugende Konzepte.<br />
Die Mögl<strong>ich</strong>keit einer berufl<strong>ich</strong>en Neuorientierung nach<br />
Abschluss des Bachelor-Studiums ist kaum gegeben: Der<br />
Eintritt in das Berufs<strong>lebe</strong>n stellt nach dem Erwerb dieses<br />
definitionsgemäß berufsqualifizierenden Abschlusses<br />
keine realistische Perspektive dar. Auch die Bedingungen<br />
für einen Übertritt in das Masterstudium anderer Fächer<br />
sind äußerst ungünstig. In dem Gutachten wird deshalb<br />
gefordert, die Mögl<strong>ich</strong>keiten für den Übergang in andere<br />
Studiengänge zu verbessern, wenn Studierende das Ziel<br />
aufgeben, den Beruf als LehrerIn auszuüben.<br />
Unzure<strong>ich</strong>ende Ausstattung<br />
Mit den vorgesehenen Proseminaren im Bachelorstudiengang,<br />
die für eine Gruppengröße von 60 Studierenden<br />
konzipiert sind, und mit dem ausschließl<strong>ich</strong>en Angebot<br />
von Pfl<strong>ich</strong>tveranstaltungen ohne die Mögl<strong>ich</strong>keit einer<br />
individuellen Schwerpunktbildung sind die Voraussetzungen<br />
für einen akzeptablen Studienverlauf denkbar<br />
ungünstig. Der zentrale Kritikpunkt der GutachterInnen<br />
ist jedoch, dass die zur Verfügung stehenden personellen<br />
Ressourcen n<strong>ich</strong>t einmal ausre<strong>ich</strong>en, um einen so konzipierten<br />
Studiengang durchzuführen.<br />
Auch die Ausstattung mit Räumen und die technische<br />
Ausstattung entsprechen n<strong>ich</strong>t den Erfordernissen.<br />
Das Gutachten „kommt zu der Einschätzung, dass zur<br />
Durchführung des Studiengangs n<strong>ich</strong>t genügend viele<br />
und genügend große Räume zur Verfügung stehen. Dies<br />
verhindert die Durchführbarkeit des Studiengangs und<br />
muss dringend verändert werden.“<br />
Die Einführung neuer bildungswissenschaftl<strong>ich</strong>er<br />
Studiengänge ist ein zentrales Element der Reform<br />
der LehrerInnenbildung in Rheinland-Pfalz. Daher ist<br />
davon auszugehen, dass die bisherigen Ergebnisse des<br />
Akkreditierungsverfahrens und dessen weiterer Verlauf<br />
im Bildungsministerium mit großer Aufmerksamkeit zur<br />
Kenntnis genommen werden.<br />
Mittlerweile deutet s<strong>ich</strong> an, dass die an der Gestaltung des<br />
bildungswissenschaftl<strong>ich</strong>en Studiums beteiligten wissenschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Einr<strong>ich</strong>tungen mit zusätzl<strong>ich</strong>en Landesmitteln<br />
in die Lage versetzt werden, ein angemessenes Studienangebot<br />
einzur<strong>ich</strong>ten. Dieses soll den ambitionierten<br />
und in fachl<strong>ich</strong>en Kreisen weithin unumstrittenen Zielen<br />
der Reform der LehrerInnenbildung Rechnung tragen.<br />
Gunther Heinisch<br />
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<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
19
ESSAY<br />
„ICH LEBE NICHT ALLEIN ZUSAMMEN“ - SYSTEMIK ALS HALTUNG<br />
- Von Prof. Dr. Rolf Arnold -<br />
Systemisches Denken und Handeln, setzt Wissen, Fähigkeiten<br />
und Selbstreflexivität voraus. Alle drei Dimensionen<br />
hängen eng miteinander <strong>zusammen</strong>. Man muss etwas darüber<br />
wissen, wie Systeme zustande kommen und nach<br />
welchen inneren Mechanismen sie s<strong>ich</strong> entwickeln, um<br />
s<strong>ich</strong> von den linear-mechanistischen Vorstellungen, die unser<br />
Denken und Handeln im Alltag bestimmen, allmähl<strong>ich</strong><br />
lösen zu können. Dabei mutet einem die neuere Systemtheorie<br />
einige Ernüchterungen zu, indem sie uns „eine<br />
wunderbare Lektion in Bescheidenheit“ (Jaeger 1998, S.<br />
163) erteilt. Auf ihrer Basis kann eine Haltung wachsen,<br />
die uns ganzheitl<strong>ich</strong>er, achtsamer und in unseren Stellungnahmen<br />
und Aktionen „dosierter“ und damit auch systemisch<br />
wirksamer werden läst. Diese Haltung ist der Kern<br />
jegl<strong>ich</strong>er systemischer Professionalität in der Initiierung<br />
und Begleitung von Veränderungsprozessen.<br />
Systemische Kompetenz<br />
und Haltung<br />
Das systemische Wissen ist ein erkenntnis-<br />
und wahrnehmungstheoretisches<br />
sowie neuerdings auch hirnphysiologisches<br />
Wissen um die Konstruktivität<br />
sowie Selbstbezügl<strong>ich</strong>keit dessen, was<br />
wir sehen. Wenn wir erkennen, blicken<br />
wir durch unsere Erfahrungen, die uns<br />
sehend, aber auch zugle<strong>ich</strong> blind machen.<br />
Systemisches Know how ist ein<br />
Wissen über diese Zusammenhänge, das<br />
jedoch nur zu einem „aktiven Wissen“<br />
werden kann, wenn es seinen gelebten Ausdruck in bestimmten<br />
Fähigkeiten findet:<br />
• So bleiben die Kenntnisse über die konstitutive Rolle der eigenen<br />
Beobachtung solange ein totes Wissen, solange es n<strong>ich</strong>t mit den<br />
Fähigkeiten verbunden wird, Vertrautes aufzugeben und die eigene<br />
Stimme des Bescheidwissens verstummen zu lassen.<br />
• Und auch das Wissen um die Unmögl<strong>ich</strong>keit der Intervention<br />
bleibt solange eine theoretische Beschreibung, solange wir n<strong>ich</strong>t<br />
in der Lage sind, aktiv unsere Fähigkeiten zum S<strong>ich</strong>-Einlassen auf<br />
Überraschendes und Unges<strong>ich</strong>ertes zu <strong>lebe</strong>n.<br />
• Schließl<strong>ich</strong> ist das systemische Wissen eine Art Meta- bzw. Prozesswissen,<br />
ein Know how to know, kein Know how: Es beschreibt n<strong>ich</strong>t<br />
die Wirkl<strong>ich</strong>keit selbst, sondern die Mechanismen, in denen diese<br />
s<strong>ich</strong> uns zu zeigen vermag. Wir können deshalb mit ihr festgelegt<br />
oder elegant umgehen, indem wir uns irritieren lassen und irritieren<br />
oder lieb gewonnene Erfahrungen um jeden Preis festhalten oder<br />
diese loslassen.<br />
Aus diesen Überlegungen lassen s<strong>ich</strong> Grundlinien einer systemischen<br />
Handlungskompetenz ableiten, die auch und gerade für<br />
pädagogische Handlungs<strong>zusammen</strong>hänge in der Unterr<strong>ich</strong>ts- und<br />
Schulentwicklung von grundlegender Bedeutung sind. Pädago-<br />
gisches Handeln wurde in den zurückliegenden Jahrhunderten<br />
immer wieder als ein auch selbsteinschließendes Handeln in den<br />
Blick genommen. Lehrerinnen und Lehrer üben keinen nüchternen<br />
Beruf aus. Sie bringen ihre berufl<strong>ich</strong>e Handlungen vielmehr mit<br />
ihrer eigenen Person dar - ein Sachverhalt, der den Lehrberuf auch<br />
manchem als einen „unmögl<strong>ich</strong>en Beruf“ (Adorno) erscheinen lässt.<br />
Dies bedeutet, dass s<strong>ich</strong> eine pädagogisch professionellen Kompetenz<br />
im Sinne einer systemischen Haltung n<strong>ich</strong>t wie ein professioneller<br />
Mantel um die Schultern legen lässt, sondern zugle<strong>ich</strong> auch ein<br />
tief durchspürter Ausdruck der eigenen Lebenspraxis sein muss.<br />
Nur, wer in seiner Persönl<strong>ich</strong>keit auch die Fähigkeiten reifen lassen<br />
konnte, s<strong>ich</strong> überraschender Komplexität zu stellen, ohne Angst<br />
und mit innerer Kraft auf die Lesarten des Gegenübers zu lauschen<br />
und immer wieder neue Versuche zu unternehmen, mit diesem<br />
in einen konstruktiven Dialog einzutreten, sie zu beraten und zu<br />
begleiten, der kann auch mit Menschen, für deren Entwicklung<br />
er professionell zuständig ist, fördernd und immer auch zu ihren<br />
inneren Bedingungen sowie fragend umgehen.<br />
Dem Fragen kommt in einer systemisch-pädagogischen Praxis<br />
eine grundlegende Bedeutung zu - auch hier ist es Sokrates, der die<br />
Kunst des Fragens kultivierte und in seiner Pädagogik der Irritation<br />
praktizierte. Für ihn war es - ganz im Sinne des systemisch-konstruktivistischen<br />
Paradigmas -<br />
„(...) n<strong>ich</strong>t gut, die Menschen im Wahne ihres Wissens zu belassen; denn<br />
in ihm unterlaufen und blockieren sie, worin auch noch das Wissen<br />
und das Wissenwollen seinen Anfang und seinen Ort hat: im Fragen<br />
und Denken. In eben dieses Fragen und Denken die Menschen zurück<br />
zu holen, sie hierfür in der skeptischen Irritierung und Negierung<br />
ihres dogmatischen Wissens, Halbwissens oder starren Meinens, falls es<br />
der Prüfung n<strong>ich</strong>t standhält, freizugeben, das könnte der Impetus für<br />
Sokrates´ Handeln gewesen sein“ (Fischer 2004, S.130).<br />
Systemisches Fragen ist ganz in diesem Sinne ein irritierendes Fragen.<br />
Es ist darauf bezogen, der kommunikativen Bedeutung festgefahrener<br />
Meinungen oder als schwierig empfundener Verhaltensweisen<br />
auf die Spur zu kommen. Anders als Sokrates fragen Systemiker<br />
jedoch n<strong>ich</strong>t nur, wie das Gegenüber seine Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen<br />
selbst versteht, es ist auch darauf ger<strong>ich</strong>tet, in Erfahrung<br />
zu bringen, wie dieses Gegenüber die mit seinem Verhalten<br />
verbundenen Erwartungen und Beobachtungen seines Umfeldes<br />
einschätzt und beurteilt: „Was denkst Du, Kurt, was es bei Claudia<br />
auslöst, wenn Du sagst, dass D<strong>ich</strong> der Unterr<strong>ich</strong>t langweilt und<br />
Du deshalb anfängst, D<strong>ich</strong> mit Ihr über anderes zu unterhalten?“<br />
Oder an einen anderen Schüler gewandt könnte eine systemische<br />
Frage lauten: „Was denkst Du, Stephan, wie Hannelore s<strong>ich</strong> fühlt,<br />
wenn Kurt sie während des Unterr<strong>ich</strong>ts in ein Gespräch verwickelt?“<br />
Durch ein solches Fragen können „neue Informationen im System<br />
(enstehen)“ (von Schlippe/ Schweitzer 2002, S.141), und „bei allen<br />
Beteiligten werden so neue S<strong>ich</strong>tweisen und Denkprozesse angeregt“<br />
(ebd.). Zugle<strong>ich</strong> wird kann so ein Verständnis für die systemische<br />
Eingebundenheit des Verhaltens entstehen.<br />
Das systemische Denken und Handeln ist eine Bewegung im Bewusstsein<br />
der ganzheitl<strong>ich</strong>en Eingebundenheit des eigenen Er<strong>lebe</strong>ns<br />
20<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
ESSAY<br />
Wissen<br />
• Wissen darüber, wie wir erkennen und wissen<br />
• Wissen darüber, welche Rolle dabei unsere Erfahrungen und die<br />
Muster unseres Denkens und Fühlens spielen<br />
• Wissen über die Unmögl<strong>ich</strong>keit von Intervention<br />
• Prozesswissen über die mögl<strong>ich</strong>en Formen der Irritation zur Verflüssigung<br />
von Starrem und zur Strukturierung von Flüssigem<br />
Fähigkeiten<br />
• die Fähigkeit zur selbständigen und angepassten Nutzung und<br />
Weiterentwicklung des eigenen Kompetenzportfolios<br />
• die Fähigkeit zur Aufgabe des Vertrauten und zum Einlassen<br />
auf Neues<br />
• die Fähigkeit die eigene Stimme des Bescheidwissens verstummen<br />
zu lassen und unvoreingenommen zu denken<br />
• die Fähigkeit zum Aufbruch und Abschied („Loslassen“)<br />
Selbstreflexivität<br />
• um die eigene Beobachterposition wissen<br />
• sein eigens Echo kennen<br />
• die eigenen bevorzugten Denk- und Fühlprogramme kennen<br />
• aus Fehlern und Scheitern lernen<br />
• Feedback wertschätzen und nutzen<br />
Abbildung:<br />
Elemente einer systemischen<br />
Handlungskompetenz<br />
Haltung<br />
• sokratische Fragehaltung<br />
• pädagogische Gelassenheit<br />
• Selbstkritikfähigkeit<br />
• Ressourcen- und Potenzialorientierung („Subjektorientierung“)<br />
• Unwirksamkeitstoleranz<br />
• Humor und Optimismus<br />
und Tuns. Wer systemisch denkt und handelt, der weiß um die Rolle<br />
seiner Beobachterposition und der ist auch in der Lage, behutsam<br />
mit dem umzugehen, was er wahrnimmt bzw. besser: für wahr<br />
nimmt. Er kennt die festlegende Wirkung seiner inneren Bilder,<br />
und er weiß zudem, dass die Kommunikation für das Gegenüber<br />
n<strong>ich</strong>t bei Null startet, sie ist vielmehr bereits stets im Gange und<br />
beginnt n<strong>ich</strong>t erst, wenn wir hinzutreten. Schülerinnen und Schülern<br />
kommen aus Elternhäusern und Milieus, in denen miteinander<br />
kommuniziert wird. Diese Jugendl<strong>ich</strong>en treten in den schulischen<br />
Erfahrungsraum ein, in dem ihnen die bereits ebenfalls schon immer<br />
typischen Formen des Miteinander-Redens („Unterr<strong>ich</strong>tsgespräch“)<br />
als vorhandene - gewissermaßen vorgefertigte - Routinen begegnen,<br />
in die sie s<strong>ich</strong> kommunikativ einfädeln müssen. Diese prinzipielle<br />
Fremdheit des anderen und seiner Kommunikationsweisen kann<br />
schier unüberwindbar werden, wenn wir es mit Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>en<br />
zu tun haben, die aus anderen kulturellen Kontexten<br />
in unsere Schulen kommen. Aber auch die Milieus der deutschen<br />
Schülerinnen und Schüler, die oft als „gefährdete Jugendl<strong>ich</strong>e“<br />
beze<strong>ich</strong>net werden, sind den Beobachtungen der Lehrkräfte genauso<br />
verschlossen wie die türkischer, italienischer oder anderer<br />
Herkunftskultur. Besonders anges<strong>ich</strong>ts solcher Situationen wird uns<br />
ein systemischer Mechanismus bewusst, der stets die Wirksamkeit<br />
unserer pädagogischen Arbeit begrenzt:<br />
Wahrnehmen ist Beobachten, d.h. ein „Für-wahr-Nehmen“. Ein<br />
Beobachter kann nur das beobachten, was er wahrzunehmen<br />
vermag, das andere bleibt ihm verborgen. Insofern ist jede Beobachtung<br />
eine selektive Beobachtung. Der andere bleibt uns fremd<br />
- eine Feststellung, die wir uns insbesondere bei den folgenre<strong>ich</strong>en<br />
pädagogischen Beobachtungen, den Beurteilungen, stets vor Augen<br />
führen müssen.<br />
Auch den Lehrerinnen und Lehrern begegnet Schule als eine bereits<br />
im Gang befindl<strong>ich</strong>e Kommunikation - ein interaktives Rauschen<br />
und ein Sprachspiel -, in die sie hineinsozialisiert wurden und an<br />
dessen Fortdauern sie s<strong>ich</strong> mit ihrem eigenen kommunikativen<br />
Handeln beteiligen. Durch subtilste Mechanismen trägt das System<br />
Schule dafür Sorge, dass auch nur so kommuniziert wird, wie<br />
dies die im System übl<strong>ich</strong> ist. Nur allmähl<strong>ich</strong> verändern s<strong>ich</strong> diese<br />
in kommunikative Routinen eingebetteten schulischen Lern- und<br />
Kooperationskulturen.<br />
Die Kommunikation „gehört“ den Lehrerinnen und Lehrern nur<br />
sehr eingeschränkt, sie ist n<strong>ich</strong>t bloßer Ausdruck eigener Mitteilungsbedürfnisse<br />
und auch keine Form der Übermittlung von<br />
Informationen, und ebenso wenig ist die Erre<strong>ich</strong>ung eines Konsenses<br />
ihr vornehml<strong>ich</strong>er Zweck. Über die Kommunikation sind<br />
wir miteinander verbunden, selbst wenn wir uns n<strong>ich</strong>t verstehen<br />
können - dies scheint das Entscheidende zu sein. Durch Kommunikation<br />
entstehen Gemeinschaft und Gesellschaft, in denen um<br />
gemeinsame Sinnzuschreibungen in einer Weise gerungen wird,<br />
als sei ein wirkl<strong>ich</strong>er Konsens erre<strong>ich</strong>bar. Doch dieser kann n<strong>ich</strong>t<br />
erre<strong>ich</strong>t werden, da dann die Kommunikation zum Erliegen käme<br />
und das soziale System sein Bindemittel verlieren würde - so die<br />
scharfsinnige Analyse von Niklas Luhmann. Seine Arbeiten haben<br />
uns deutl<strong>ich</strong> jedoch vor Augen geführt, dass das kommunikative<br />
Ringen um Konsens das konstitutive Merkmal von Gesellschaft ist,<br />
n<strong>ich</strong>t der Konsens selbst (vgl. Luhmann 2002, S. 288ff).<br />
Kommunikation ist der Stoff, aus dem soziale Systeme bereits vor<br />
unserem Eintritt bestehen. Indem wir uns in die etablierten Kommunikationsweisen<br />
einfädeln, werden wir zu Mitgliedern eines<br />
Systems und nehmen an dessen kontinuierl<strong>ich</strong>en Bemühen um<br />
Sinnklärung und Sinnfortschreibung teil. Aus welchem geteilten<br />
Sinn besteht unsere Schule, mein didaktisches Konzept oder mein<br />
erzieherischer Ansatz - so ließe s<strong>ich</strong> fragen?<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
21
ESSAY<br />
Für den Systemiker oder die Systemikerin bedeutet dies, dass für sie<br />
die Kommunikation das ist, was es zu fördern und zu erhalten gilt,<br />
n<strong>ich</strong>t das Rechthaben und Bescheidwissen in der Kommunikation<br />
selbst. Sie wissen um die Begrenztheit ihrer eigenen Deutungen<br />
und sind deshalb weniger darum bemüht, Ratschläge zu geben als<br />
vielmehr Selbstklärungsprozesse („Suchbewegungen“) zu initiieren.<br />
Systemiker sind Veränderungsspezialisten, und Veränderung ist<br />
stets Lernen, wie auch Lernen Veränderung ist. Ihnen ist bewusst,<br />
dass man soziale Systeme nur wandeln kann, indem man die<br />
Kommunikationsweisen in ihnen ändert. Und auch der Sinn, um<br />
den die Organisation mehr oder weniger bewusst ringt, ist durch<br />
Visionen, Leitbilder und Konzepte beeinflussbar. Plötzl<strong>ich</strong> laufen<br />
die Interaktionen n<strong>ich</strong>t mehr in den eingefahrenen Gleisen des Minimalkonsens,<br />
sondern werden durch die gezielte Enttäuschung des<br />
„Weiter-so-wie-bisher“ durchkreuzt. Dies zeigt auch das bekannte<br />
Beispiel der Rütlischule in Berlin-Neukölln - ein Beispiel, das durch<br />
die Presse ging.<br />
Beispiel:<br />
Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule hatten s<strong>ich</strong> mit diesem Hilferuf<br />
an den Berliner Senat und die Öffentl<strong>ich</strong>keit gewandt. Sie<br />
kapitulierten vor dem Sachverhalt, dass sie in ihrer Arbeit keinerlei<br />
pädagogische Resonanz bei den ihnen anvertrauten Schülerinnen<br />
und Schülern mehr erre<strong>ich</strong>en konnten. Ihr Hilferuf benennt drei<br />
Problemebenen, die Siegfried Arnz, Oberschulrat in Berlin, mit<br />
folgenden Worten beschreibt:<br />
• Viele Schüler - insbesondere muslimische Jungen - haben keinerlei<br />
Respekt vor den in der Schule wirkenden Erwachsenen.<br />
• Die Erwachsenen finden keinen Weg, diese Schüler zur Akzeptanz<br />
von Schule zu bewegen und erre<strong>ich</strong>en die Eltern n<strong>ich</strong>t.<br />
• Die Lehrkräfte fühlen s<strong>ich</strong> <strong>allein</strong> gelassen und beklagen fehlende<br />
Unterstützung.“ (Arnz 2007, S.30)<br />
Und in der Tat kann n<strong>ich</strong>t übersehen werden, dass die Hauptschule,<br />
um die es hier geht, für eine Entwicklung steht, in der dieser<br />
Schultyp zum Auffangbecken der unteren 10 Prozent Jugendl<strong>ich</strong>er<br />
geworden ist. Dieser Trend wurde bildungspolitisch zwar bemerkt,<br />
aber n<strong>ich</strong>t wirkl<strong>ich</strong> ernst genommen. Sozialpädagogisch eingebettet<br />
Konzepte, eine Unterr<strong>ich</strong>tsdidaktik, welche an der Lebenswelt<br />
dieser vielfach fremden Jugendl<strong>ich</strong>en anknüpft sowie eine zugewandte<br />
Unterstützungs- und Beratungsstruktur für diese n<strong>ich</strong>t nur<br />
multikulturell spezifische Klientel wurden nur selten entwickelt.<br />
Unbeschulbare Jugendl<strong>ich</strong>e einerseits und Burn-Syndrom beim<br />
Lehrpersonal andererseits sind deshalb die nach wie vor verbreiteten<br />
Erscheinungen. Diese sind Ausdruck einer systemischen Dynamik,<br />
als deren Ursprung Arnz die kontinuierl<strong>ich</strong>e und massierte Erfahrung<br />
„geringster Selbstwirksamkeit“ (ebd., S.31) identifiziert - eine<br />
Einschätzung, welche auch Brigitte Pick, die langjährige Leiterin der<br />
Rütlischule in ihrem Buch „Kopfschüsse“ beschreibt. Sie möchte<br />
mit ihren Erfahrungsschilderungen zeigen,<br />
„(...) dass die vorverurteilten Jugendl<strong>ich</strong>en Schicksale verkörpern, dass<br />
sie andauernd Versuche unternehmen, s<strong>ich</strong> zu befreien, dass sie Freundschaft<br />
und Liebe suchen, dass sie dabei allerdings n<strong>ich</strong>t sehr erfolgre<strong>ich</strong><br />
sind“ (Pick 2007, S.10) -<br />
eine Wahrnehmung der Jugendl<strong>ich</strong>en, welche die offizielle Lesart,<br />
insbesondere die durch Presse und Medien verbreitete, n<strong>ich</strong>t zu<br />
teilen vermag. Dort war und ist u.a. die Rede von „Terrorschülern“,<br />
wodurch den Schülerinnen und Schülern ein Label mit eindeutiger<br />
Schuldzuweisung verpasst wurde, während die Verhältnisse<br />
selbst n<strong>ich</strong>t in den Blick gerieten - eine bequeme, aber auch recht<br />
unterkomplexe S<strong>ich</strong>t der Dinge. Gegen dieses Label begannen die<br />
Rütlischüler s<strong>ich</strong> erfolgre<strong>ich</strong> zu wehren, indem sie - unter einer<br />
neuen Leitung - mit einem Antiaggressionstraining, Partnerschaften<br />
mit Wirtschaftsunternehmen und öffentl<strong>ich</strong>en Einr<strong>ich</strong>tungen, dem<br />
Projekt „Wahlpfl<strong>ich</strong>t-AG Boxen“ einem Workshop der Showgruppe<br />
„Young Americans“ sowie dem Projekt „Rütli Wear“ auf s<strong>ich</strong><br />
aufmerksam machten und die Schülerinnen und Schüler dort zu<br />
packen verstand, wo diese anzusprechen waren: ihrer Ehre. Viele<br />
waren entschlossen, nun allen zu zeigen, dass etwas in ihnen steckt<br />
und s<strong>ich</strong> gegen die veröffentl<strong>ich</strong>ten Labels zur Wehr zu setzen. In<br />
einem Erfahrungsber<strong>ich</strong>t über die gemeinsame Show ist über dieselben<br />
Schülerinnen und Schüler, die zuvor ihre Lehrkräfte zu dem<br />
erwähnten Hilferuf gebracht hatten, zu lesen:<br />
„Wir lernten in den Altersgruppen Tanzformationen, sangen einzeln<br />
und im Chor, machten Improvisationsspiele, sprachen über Gefühle. Die<br />
Young Americans eroberten die Herzen der Lernenden. Sie trösteten,<br />
bauten auf, ermunterten, zeigten den SchülerInnen ihre Wertschätzung<br />
und erzielten dadurch Ausdauer und Erfolg. Mit Störungen gingen sie<br />
souverän um. Nur einmal war es erforderl<strong>ich</strong>, dass ein Schüler einen<br />
Workshop verlassen musste. Auch dieser Schüler konnte später wieder<br />
integriert werden.<br />
Die Aufregung vor der Show war groß. Auf der Generalprobe ging noch<br />
vieles durcheinander. Doch die Young Americans schafften es, alles auf<br />
den Punkt zu bringen. Die individuelle Betreuung der Soloauftritte,<br />
das An-die-Hand-Nehmen von SchülerInnen und LehrerInnen durch<br />
die Young Americans stärkten den Mut und das Selbstbewusstsein. Die<br />
SchülerInnen waren fasziniert vom ersten Teil der Show, den die Young<br />
Americans uns Rütlis gewidmet hatten. Eine Musical-Show, die die<br />
Arena mit über 900 ZuschauerInnen in ihren Bann zog. Auch unsere<br />
Show erre<strong>ich</strong>te die Gäste, Ergriffenheit auf beiden Seiten, am Ende<br />
Tränen beim Abschiednehmen. (...)<br />
Die Beteiligung der Schülerschaft lag bei 90 Prozent, die der LehrerInnen<br />
bei 75 Prozent. Insgesamt können wir sagen, dass diese drei Tage<br />
eine überwältigende Erfahrung für unsere Schulgemeinschaft war. Die<br />
Begegnung von SchülerInnen und LehrerInnen auf einer Ebene - als<br />
Lernende - schafft eine neue Atmosphäre in der Schule, die s<strong>ich</strong> positiv<br />
auf den Schulalltag auswirkt. Die gemeinsamen Erlebnisse werden<br />
erinnert, Bilder und Videoclips ausgetauscht, Schülerzeitungen entstehen.<br />
Wir wollen die Bedürfnisse nach Tanz und Gesang aufnehmen<br />
und auch AGs mit professionellen Anleitern organisieren“ (Eggelbrecht<br />
2006, S.2).<br />
Dieses Beispiel enthält alles, was vom Standpunkt einer systemischen<br />
Pädagogik anges<strong>ich</strong>ts „kritischer Schulmilieus“ (Baumert) oder<br />
„kippender Schulen“ (Arnz 2007) wirkl<strong>ich</strong> verantwortungsvoll zu<br />
vertreten ist. Es geht n<strong>ich</strong>t zunächst um eine veränderte Haltung<br />
der Schülerinnen und Schüler, sondern um eine veränderte Haltung<br />
der Lehrerinnen und Lehrer. Wenn diese das Bild, das sie von ihrer<br />
Klientel haben, verändern, können s<strong>ich</strong> auch die Schülerinnen<br />
und Schüler verändern und aus der Festlegung durch dieses Bild<br />
heraustreten.<br />
Schulischer Wandel und die Veränderung überlieferter Lernkulturen<br />
setzen keine veränderte Haltung der Schülerinnen und<br />
Schüler voraus, sondern bedürfen einer gewandelten Haltung<br />
der Lehrkräfte. Diese müssen offener gegenüber den Systemiken<br />
22<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
ESSAY<br />
ihres Gegenübers und des pädagogischen Feldes werden. Und sie<br />
müssen um die festlegende Wirkung ihrer eigenen Bilder vom<br />
Gegenüber und dessen Mögl<strong>ich</strong>keiten wissen.<br />
Diese festlegenden Wirkungen unserer Bilder vom anderen hat<br />
Max Frisch verschiedentl<strong>ich</strong> in seinen Texten thematisiert. In seinen<br />
Tagebüchern findet s<strong>ich</strong> eine Aufze<strong>ich</strong>nung mit dem Titel „Du sollst<br />
Dir kein Bildnis machen“ (Frisch 1985), in dem es heißt:<br />
„Man hat darauf hingewiesen, das Wunder jeder Prophetie erkläre<br />
s<strong>ich</strong> teilweise schon daraus, dass das Künftige, wie es in den Worten<br />
eines Propheten erahnt scheint und als Bildnis entworfen wird, am<br />
Ende durch eben dieses Bild verursacht, vorbereitet, ermögl<strong>ich</strong>t oder<br />
mindestens befördert worden ist (...).<br />
Kasandra, die Ahnungslose, die scheinbar Warnende und nutzlos<br />
Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Urteil, das sie vorausklagt?<br />
Dessen Bildnis sie entwirft.<br />
Irgendeine fixe Meinung unserer Freunde, unserer Eltern, unserer<br />
Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes<br />
Leben steht unter der heiml<strong>ich</strong>en Frage: Erfüllt es s<strong>ich</strong> oder erfüllt<br />
es s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirne gebrannt,<br />
und man wird ein Orakel n<strong>ich</strong>t los, bis man es zur Erfüllung bringt.<br />
Dabei muss es s<strong>ich</strong> durchaus n<strong>ich</strong>t im geraden Sinne erfüllen; auch im<br />
Widerspruch zeigt s<strong>ich</strong> der Einfluss, darin, dass man n<strong>ich</strong>t sein will,<br />
wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wir<br />
es durch den anderen.<br />
Eine Lehrerin sagte einmal meiner Mutter, niemals in ihrem Leben<br />
werde sie stricken lernen. Meine Mutter erzählte uns jenen Ausspruch<br />
sehr oft; sie hat ihn nie vergessen, nie verziehen; sie ist eine leidenschaftl<strong>ich</strong>e<br />
und ungewöhnl<strong>ich</strong>e Strickerin geworden, und alle die Strümpfe<br />
und Mützen, die Handschuhe, die Pullover, die <strong>ich</strong> jemals bekommen<br />
habe, am Ende verdanke <strong>ich</strong> sie <strong>allein</strong> jenem ärgerl<strong>ich</strong>en Orakel!...“<br />
(ebd., S.28f).<br />
Es gibt in der Literatur kaum eine treffendere Beschreibung der<br />
systemischen Wirkungen, die von Festlegungen ausgehen können.<br />
Diese können einengen oder zum Widerstand mobilisieren - dies ist<br />
das Spektrum der mögl<strong>ich</strong>en, n<strong>ich</strong>t-linearen Effekte von dem, was<br />
wir erzieherisch deuten und tun. Unsere Deutungen jedoch sind<br />
w<strong>ich</strong>tige Bausteine unseres Selbst. Dieses können und wollen wir<br />
nur selten wirkl<strong>ich</strong> aufgeben. Zu groß ist unsere Angst davor, dass<br />
ein neuer Blick auf das uns Vertraute uns überraschen und es uns<br />
die Sprache verschlagen könnte. Echtes In-Beziehung-Treten und<br />
pädagogisch professionelles Wahrnehmen, Denken und Handeln<br />
jedoch ist ohne ein Herauswachsen aus den vertrauten Deutungen<br />
kaum mögl<strong>ich</strong>. Denn ohne dieses Heraustreten kommen wir im<br />
Gegenüber immer nur in Kontakt mit uns selbst bzw. mit dem, was<br />
wir in den anderen hineinsehen. So bleibt der „schwierige Schüler“<br />
der „schwierige Schüler“, wir stellen ihn beständig selbst wieder mit<br />
her. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Wir sind<br />
„in gewissem Grade wirkl<strong>ich</strong> das Wesen (sind), das die anderen in uns<br />
hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind die<br />
Verfasser der anderen; wir sind auf eine heiml<strong>ich</strong>e und unentrinnbare<br />
Weise verantwortl<strong>ich</strong> für das Ges<strong>ich</strong>t, das sie uns zeigen, verantwortl<strong>ich</strong><br />
n<strong>ich</strong>t für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir<br />
sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege<br />
stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein<br />
weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt“<br />
(ebd., S.29).<br />
Aus diesen Überlegungen ergibt s<strong>ich</strong> eine weitere Hauptkritik an<br />
den vielfach vorherrschenden Versuchen, das Erzieherische linear<br />
zu fassen. Der schl<strong>ich</strong>te Gedanke, dass dort, wo Disziplinprobleme<br />
bestehen, Disziplinierung angezeigt sei und zu den erwünschten<br />
Effekten führe (vgl. Bueb 2006), ist s<strong>ich</strong> seiner festlegenden Implikationen<br />
n<strong>ich</strong>t bewusst. Bereits die Beze<strong>ich</strong>nung des Verhaltens<br />
eines Gegenübers als „undizipliniert“ entstammt einer typisierenden<br />
Brille, mit der man nur sieht, was man sieht. Von daher könnte<br />
man in Anlehnung an Frisch sagen: „Die Disziplinpädagogik ist<br />
es, die den undisziplinierten Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>en im Wege<br />
stehen, und zwar dadurch, dass ihre Meinung, der andere sei undiszipliniert,<br />
ein weiteres Glied in der Kette ist, die ihn fesselt und<br />
langsam erwürgt“. So erzeugt s<strong>ich</strong> die Disziplinpädagogik ihren<br />
eigenen Gegenstand und auch ihre eigene Berechtigung. Und einer<br />
systemischen Pädagogik bleibt auch n<strong>ich</strong>t verborgen, dass es die<br />
Disziplinpädagogen selbst sind, die hier „das Problem“ darstellen<br />
bzw. in die erzieherischen Situationen mitbringen. In diesem Sinne<br />
stellte bereits der bekannte Schulpraktiker und Pädagoge in seinem<br />
weit verbreiteten Buch „Techniken des Lehrerverhaltens fest:<br />
„Lehrer, die glauben, ihre Schüler dauernd kontrollieren zu müssen,<br />
werden (hoffentl<strong>ich</strong>!) immer Disziplinprobleme haben! Jeder Lehrer,<br />
der an das Märchen glaubt, dass Schüler im Gle<strong>ich</strong>schritt lernen, sollte<br />
Disziplinschwierigkeiten haben!“(Grell 1995, S.202).<br />
Dem ist n<strong>ich</strong>ts hinzuzufügen. Es ist der systemische pädagogische<br />
Blick, der hier implizit enthalten ist. Grell weiß um die selbst erfüllende<br />
Prophezeiung unserer Wahrnehmung. Er weiß, dass die Bilder<br />
und Typisierungen, die wir uns vom Gegenüber entwerfen, dieses<br />
Gegenüber auch festlegen und wir uns so die Realität mit erschaffen,<br />
der wir dann mit den selben Mustern zu Leibe zu rücken versuchen,<br />
wie denen, die uns diese Realität als das erscheinen ließen, als das<br />
sie uns erscheint. Hier hilft nur eines: Man muss aus den eigenen<br />
Mustern der bevorzugten Wahrnehmung aussteigen, statt diese noch<br />
in Bücher zu publizieren und ihnen so eine Wirkung zu verleihen,<br />
die mit dazu beiträgt, dass die Erziehungskultur in Deutschland so<br />
bleibt, wie sie ist. Dies ist die eigentl<strong>ich</strong>e Erziehungskatastrophe,<br />
über die es nachzudenken lohnt. Diese Erziehungskatastrophe ist<br />
letztl<strong>ich</strong> das Ergebnis einer tiefen Selbstgerechtigkeit und somit<br />
Ausdruck von eigenen Ängsten und eigener Schwäche. Der nüchterne<br />
und aufmerksame Blick auf das Geschehen ist ihr fremd, zu<br />
laut ist das eigene Rauschen im Denken, Fühlen und Handeln der<br />
eifernden Pädagogen.<br />
Das „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006) arbeitet zudem auf eine<br />
subtile Weise auch mit der Opferbrille. Eltern, Lehrerinnen und<br />
Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher sind für ihn die Opfer<br />
der Undiszipliniertheit. Ihre Erziehungshandlungen haben deshalb<br />
auch den Charakter einer berechtigten Verteidigungsreaktion. Diese<br />
Argumentationsmuster hat etwas Selbstgerechtes. Das Opfer ist<br />
immer in der „guten Rolle“. Opfer stehen in einer Schulddistanz,<br />
die nur schwer wirkl<strong>ich</strong> ausgegl<strong>ich</strong>en werden kann, man müsste ja<br />
dann die selbstgerechten Typisierungen aufgeben. Deshalb ist es der<br />
„schuldige“ Teil, der s<strong>ich</strong> irgendwann ganz entziehen muss, dann<br />
erlischt die Beziehung und mit ihr jegl<strong>ich</strong>e Erziehungswirksamkeit.<br />
Entziehen können s<strong>ich</strong> Kinder und Jugendl<strong>ich</strong>e oft n<strong>ich</strong>t, da sie<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
23
ESSAY<br />
der lange Arm der Erziehung fast überall zu erre<strong>ich</strong>en vermag. Sie<br />
können s<strong>ich</strong> gle<strong>ich</strong>wohl innerl<strong>ich</strong> entziehen, und die Unwirksamkeit<br />
der Erziehung, über die Bueb u.a. klagen, ist oft das Ergebnis einer<br />
solchen „inneren Kündigung“. Doch diese ihrerseits ist auch Folge,<br />
n<strong>ich</strong>t nur Ursache einer Beziehungslosigkeit im pädagogischen<br />
Verhältnis zwischen Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>en einerseits und den<br />
Erziehungsverantwortl<strong>ich</strong>en andererseits.<br />
Erziehung gelingt nur durch Beziehung, d.h. ein In-Beziehung-<br />
Treten mit denen, denen die Erziehung gelten soll. Es genügt n<strong>ich</strong>t,<br />
resigniert festzustellen, dass diese Jugendl<strong>ich</strong>en n<strong>ich</strong>t in Beziehung<br />
treten wollen. Die erzieherische Beziehung ist vielmehr eine professionelle<br />
Bringschuld der Lehrer. Um mit schwierigen Schülerinnen und<br />
Schülern in Kontakt zu kommen, müssen immer wieder neu und<br />
phantasievoll Wege gesucht werden. Die „Befriedung“ schwieriger<br />
Schulen durch Disziplinierungsmaßnahmen vergangener Zeiten<br />
führen hingegen ins Abseits und tragen ungewollt zur Verschärfung<br />
der Abseitsfalle, in der die Schüler und Schülerinnen „kritischer<br />
Schulmilieus“ s<strong>ich</strong> zumeist befinden - Schülerinnen und Schüler,<br />
die in förderl<strong>ich</strong>en Kontexten zu vielem in der Lage sind, wie die<br />
Beispiele zeigen. Es ist die Aufgabe professioneller ErzieherInnen<br />
und LehrerInnen, ständig neue und phantasievolle Wege der Ansprache<br />
zu suchen. Resignation ist oft genug auch Ausdruck eigener<br />
Begrenzungen, n<strong>ich</strong>t nur objektiv „schlechter“ Verhältnisse.<br />
Dieses Rüttli-Beispiel zeigt, dass Lehrersein als geradezu konstitutives<br />
Merkmal des Lehrerberufs genau dieses N<strong>ich</strong>t-Festgelegtsein<br />
enthält. Lehrerinnen und Lehrer müssen wandlungskompetent<br />
sein, sie müssen s<strong>ich</strong> die Welt immer auch wieder neu und anders<br />
vorstellen können. Im Vordergrund ihres Bemühens stehen der<br />
Dialog und die Beziehung, wobei sie s<strong>ich</strong> stets der Tatsache bewusst<br />
sind, dass Kommunikation letztl<strong>ich</strong> etwas Flirrendes ist und<br />
bleibt. Sie ist dann erfolgre<strong>ich</strong>, wenn sie weiter geht und bei den<br />
Beteiligten den Eindruck stärkt, dass Verständigung immer wieder<br />
neu mögl<strong>ich</strong> ist. Dieses Bewusstsein ist Ausdruck einer Haltung,<br />
die in ihrem Kern eine pädagogische Haltung ist. Eben so wenig,<br />
wie Kommunikation der bloßen Übermittlung von Informationen<br />
dient, so wenig dient das pädagogische Handeln der bloßen Anpassung<br />
an gesellschaftl<strong>ich</strong>e Erwartungen. Es kommt vielmehr darauf<br />
an, die nachwachsende Generation für beides zu stärken: für die<br />
Teilnahme an der gesellschaftl<strong>ich</strong>en Kommunikation und für die<br />
Wahrnehmung und die Gestaltung des Eigenen.<br />
Unterr<strong>ich</strong>t und Erziehung sind Gelegenheiten, in denen Kommunikation<br />
geübt, Beziehung geübt und Dialogfähigkeit gefördert<br />
werden können.<br />
Die Haltung eines systemischen Pädagogen oder einer systemischen<br />
Pädagogin lässt s<strong>ich</strong> in der Form eines Code of Ethics beschreiben,<br />
der die grundlegenden systemisch-ethischen Elemente beschreibt,<br />
denen ein professionelles Handeln in pädagogischen Kontexten<br />
verpfl<strong>ich</strong>tet ist.<br />
Systhemia -<br />
ein Netzwerk für die Schulpraxis<br />
Lehrerinnen und Lehrer sowie Schulleitungen können ihre Kompetenzen<br />
zum Umgang mit Komplexität durch Weiterbildung,<br />
Beratung und Coaching entwickeln.<br />
Systhemia ist ein Zusammenschluss von systemisch arbeitenden<br />
Pädagogen, Trainern und Beratern, die u.a. folgende Ausbildungen<br />
sowie Beratungen organisieren:<br />
Systemische Pädagogik<br />
In zwölf eintägigen Modulen lernen Sie den systemischen Ansatz<br />
im Blick auf Unterr<strong>ich</strong>ts- und Schulentwicklung kennen, übern<br />
systemische Methoden und entwickeln so eine systemisch-pädagogische<br />
Haltung.<br />
Systemische Schulentwicklung<br />
Lehrkräfte und Schulen benötigen auf dem Weg zur eigenverantwortl<strong>ich</strong>en<br />
Schule Begleitung, Beratung und eine auf ihre Bedürfnisse<br />
zugeschnittene Weiterbildung und Prozessbegleitung. In<br />
einem sechsstufigen Prozess werden Schulentwicklungsprozesse<br />
vor Ort angebahnt, begleitet und Ziel führend gestaltet.<br />
Erziehungsentwicklung<br />
Schulentwicklung ist auch Erziehungsentwicklung. Lehrerinnen<br />
und Lehrer benötigen ebenso wie Eltern vielfach Rat und Begleitung<br />
beim Ausstieg aus den bekannten Eskalationsspiralen<br />
im Umgang mit „schwierigen“ Schülerinnen und Schülern.<br />
Schulen müssen zudem ihre Programme auch im Hinblick<br />
auf die Erziehungsfrage profilieren. In Workshops sowie durch<br />
individuelles Coaching werden entsprechende Entwicklungen<br />
professionell begleitet.<br />
Näheres: www.systhemia.com<br />
DER EID DES SYSTEMAGOS<br />
Als Pädagoge bin <strong>ich</strong> in erster Linie der Entfaltung der inneren Kräfte<br />
und Mögl<strong>ich</strong>keiten meiner Schülerinnen und Schüler verpfl<strong>ich</strong>tet. Meine<br />
Aufgabe ist es, ihre Kompetenzen so zu fördern und zu entwickeln,<br />
dass sie mit den Situationen, Fragen und Problemen, die ihr Leben für<br />
sie bereit halten wird, mögl<strong>ich</strong>st konstruktiv und erfolgre<strong>ich</strong> umgehen<br />
können. Ich klage n<strong>ich</strong>t über die „Schwierigkeiten“, die sie mir dabei<br />
machen, sondern weiß, dass <strong>ich</strong> genau für die systemisch intelligente<br />
Lösung solcher Schwierigkeiten zuständig bin.<br />
Zugle<strong>ich</strong> bin <strong>ich</strong> Erwartungen der Gesellschaft und curricularen<br />
Vorgaben ausgesetzt, die mir Ziele vorgeben und den Rahmen meiner<br />
Mögl<strong>ich</strong>keiten bestimmen. Ich habe aufgehört, über die Einengungen<br />
durch diesen Rahmen zu lamentieren, und erkannt, dass <strong>ich</strong> <strong>allein</strong><br />
dafür verantwortl<strong>ich</strong> bin, diesen Rahmen sinnvoll zu nutzen oder in<br />
einer lähmenden Unwirksamkeit zu erstarren.<br />
Deshalb verpfl<strong>ich</strong>te <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong>, mein pädagogisches Handeln in Zukunft<br />
gemäß folgender Eins<strong>ich</strong>ten zu gestalten:<br />
• Ich habe erkannt, dass <strong>ich</strong> den schulischen Rahmen noch n<strong>ich</strong>t wirkl<strong>ich</strong><br />
ausgelotet habe und mir der Verweis auf seine Vorgaben oft nur<br />
dazu diente, andere Wege, vor denen <strong>ich</strong> Angst habe und die <strong>ich</strong> für<br />
unmögl<strong>ich</strong> halte, n<strong>ich</strong>t zu versuchen. Ich weiß, dass im Außen nur sein<br />
darf, was im Inneren bereits existiert, weshalb <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> verstärkt um<br />
die Überwindung dieser inneren Bilder, die m<strong>ich</strong> und andere festlegen,<br />
kümmere und m<strong>ich</strong> bemühe, meine didaktische und erzieherische<br />
Phantasie zu entfalten (Selbstveränderungs-Credo).<br />
24<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
ESSAY / GESELLSCHAFT<br />
• Ich höre jetzt auf, inhaltl<strong>ich</strong>e Vorgaben nur zu erledigen, sondern<br />
bemühe m<strong>ich</strong> stets darum, meinen Schülerinnen und Schülern eine<br />
wirkl<strong>ich</strong>e Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu<br />
ermögl<strong>ich</strong>en (Ermögl<strong>ich</strong>ungsdidaktisches Credo).<br />
• Ich habe erkannt, dass <strong>ich</strong> als Lehrer nur erzieherisch wirksam<br />
sein kann, wenn <strong>ich</strong> mit den Schülerinnen und Schülern wirkl<strong>ich</strong> in<br />
Beziehung trete und die eigenen Bilder, mit denen <strong>ich</strong> sie identifiziere,<br />
auflöse und loslasse. Erziehung geschieht durch Beziehung und nur<br />
durch Beziehung (erzieherisches Credo).<br />
Deshalb schwöre <strong>ich</strong>,<br />
• stets die mir anvertrauten Menschen als Fremde zu respektieren<br />
und ihnen in dem Bewusstsein zu begegnen, dass meine Beobachtung<br />
von ihnen nur das zu erkennen vermag, was meine Beobachtung zu<br />
erkennen vermag,<br />
• sie niemals zu kränken oder zu entmutigen, sondern einzig und<br />
<strong>allein</strong> (auch und gerade bei den von mir als „schwierig“ empfundenen<br />
Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>en) nach Wegen zu suchen, auf denen sie<br />
ihre Selbstwirksamkeit erfahren und spüren können,<br />
• stets die Verständigung mit den mir anvertrauten Menschen zu<br />
suchen und dafür zu sorgen, dass sie s<strong>ich</strong> mit den gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />
Erwartungen (von Lehrplan und Curriculum) auseinandersetzen<br />
und ihr Eigenes gestalten können,<br />
• den Schülerinnen und Schülern ein Vorbild für Fehlertoleranz,<br />
Menschl<strong>ich</strong>keit, wertschätzenden Umgang und Solidarität zu sein<br />
und ihnen durch meine gelebte Zuwendung zu zeigen, dass jeder<br />
Mensch über spezifische Potenziale verfügt, die es zu entdecken und<br />
zu entfalten gilt,<br />
• m<strong>ich</strong> in der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen um die<br />
Beschreitung neuer didaktischer und erzieherischer Wege zu bemühen<br />
und die professionelle Selbstreflexion im Team zu stärken sowie die<br />
Entwicklung unserer Schule zu einem Ort der Kompetenzentwicklung<br />
und der menschl<strong>ich</strong>en Reifung zu fördern.<br />
Literatur:<br />
Arnold, R.: Selbstcoaching - Oder: Führen mit Gefühl. Mit einem Methoden-ABC.<br />
Wiesbaden 2008 (im Druck)-<br />
Arnold, R.: Aberglaube Disziplin. Heidelberg 2007.<br />
Arnz, S.: Wenn Schulen kippen und Ordnungen <strong>zusammen</strong>brechen. In: Pädagogik,<br />
1/2007, S.30-33.<br />
Bueb, B.: Lob der Disziplin. Eine Streitschrift. 8. Auflage. Berlin 2006.<br />
Eggebrecht, P.: Rütli tanzt - ein Geschenk bewegt die Schule. In: blz - Die Mitgliederzeitschrift<br />
der <strong>GEW</strong> Berlin, 7/8 (2006) (www.gew-berlin.de/blz/6063.htm).<br />
Fischer, W.: Sokrates pädagogisch. Würzburg 2004.<br />
Frisch, M.: Tagebuch 1946-1949. Frankfurt 1985.<br />
Grell, J.: Techniken des Lehrerverhaltens. Weinheim und Basel 1995.<br />
Jaeger, H.: Komplexe Systeme. Eine Schule der Bescheidenheit. In: Kursbuch 98: Chaos.<br />
Berlin 1989, S.149-163.<br />
Luhmann, N.: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. von Baecker, D. Heidelberg<br />
2002.<br />
Luhmann, N.: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt<br />
1984.<br />
Horster, D.: Niklas Luhmann. München 1997.<br />
Pick, B.: Kopfschüsse. Wer PISA n<strong>ich</strong>t versteht, muss mit RÜTLI rechnen. Hamburg<br />
2007.<br />
von Schlippe, A./ Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung.<br />
Göttingen 2002.<br />
GESELLSCHAFT<br />
Sozialstudien im Fußballstadion<br />
NACHWUCHS AUF DEN RÄNGEN<br />
Dass elterl<strong>ich</strong>e Interessen die kindl<strong>ich</strong>e Entwicklung ganz<br />
entscheidend prägen, ist eine Binsenweisheit. Positiv wie<br />
negativ. Sport, zumal aktiver, ist in vielerlei Hins<strong>ich</strong>t von<br />
immenser Bedeutung. „In einem gesunden Körper ein<br />
gesunder Geist“, die antike Weisheit hat nach wie vor<br />
Gültigkeit und bewahrheitet s<strong>ich</strong> immer wieder: Entgegen<br />
dem Klischee von den vergeistigten „Oberschülern“ und<br />
den durchtrainierten „Volksschülern“ beweist die praktische<br />
Erfahrung den Zusammenhang von Bildungsniveau<br />
und sportl<strong>ich</strong>en Aktivitäten. (So kommt es n<strong>ich</strong>t von<br />
ungefähr, dass viele Fußballprofis höhere Bildungsabschlüsse<br />
haben.)<br />
Die Betonung liegt auf „Aktivitäten“. Wenn Eltern ihre<br />
Kinder gle<strong>ich</strong> nach der Geburt zum Mitglied in ihrem<br />
Lieblingsverein machen, ist das witzig, sagt aber noch<br />
gar n<strong>ich</strong>ts darüber aus, ob diese später mal übergew<strong>ich</strong>tig<br />
auf den Rängen stehen oder rank und schlank auf dem<br />
Spielfeld laufen. Gar n<strong>ich</strong>t witzig übrigens, wenn die<br />
Fußballbegeisterung absurde Ausmaße annimmt. S<strong>ich</strong> als<br />
werdender Vater vom Stadionssprecher über die Geburt<br />
seines Kindes informieren zu lassen - wie anderswo schon<br />
erlebt, beim FSV Oggersheim aber Gott sei Dank noch<br />
n<strong>ich</strong>t -, lässt die Massen zwar grölen, ist aber nur durch<br />
und durch peinl<strong>ich</strong> für den solchermaßen kurzzeitig in<br />
den Mittelpunkt Gerückten.<br />
Auch im Ludwigshafener Südweststadion kann man den<br />
Fußballnachmittag als Familienevent mit Mama, Papa<br />
und Kids im entsprechenden Outfit beobachten. Sieht<br />
putzig aus und verbindet die Generationen, aber kleineren<br />
Kindern wird n<strong>ich</strong>t wirkl<strong>ich</strong> ein Gefallen damit getan: Die<br />
toben näml<strong>ich</strong> naturgemäß lieber selbst durch die Gegend,<br />
als das Geschehen auf dem Rasen passiv zu verfolgen. Es<br />
spr<strong>ich</strong>t für die Fußballfreunde, dass sie das manchmal<br />
doch recht nervige Gewusele geduldig ertragen.<br />
Auch Jugendl<strong>ich</strong>e interessiert häufig anderes als das<br />
sportl<strong>ich</strong>e Geschehen. Partystimmung mit re<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong><br />
Alkoholzufuhr und folgl<strong>ich</strong> wenig Durchblick bezügl<strong>ich</strong><br />
des sportl<strong>ich</strong>en Geschehens ist im Fanblock teilweise eher<br />
angesagt als konzentrierte Spielbeobachtung. In der Provinz<br />
zum Glück noch n<strong>ich</strong>t angekommen ist, was in den<br />
großen Arenen schon gar n<strong>ich</strong>t mehr auffällt: Transparente<br />
bzw. Schilder junger weibl<strong>ich</strong>er Fans mit eindeutigen<br />
Offerten: „Scholli, <strong>ich</strong> will ein Kind von Dir!“, hieß es<br />
früher noch einigermaßen dezent. „Schweini, f... m<strong>ich</strong>“,<br />
wird heutzutage unverblümt angeboten...<br />
gh<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
25
GESELLSCHAFT<br />
Landesschülervertretung:<br />
VERZERRTES BILD VON JUGENDLICHEN<br />
„Jugendgewalt“ wird momentan in allen Medien diskutiert. Die Art,<br />
wie dies geschieht, lässt ein sehr verzerrtes Bild von Jugendl<strong>ich</strong>en im<br />
Allgemeinen und insbesondere solchen mit „Migrationshintergrund“<br />
entstehen. Unserer Meinung nach sollten all diese Diskussionen mit<br />
konkreten Forderungen gefüllt werden, die weiter gehen als eine<br />
Herabsetzung der Strafmündigkeit oder härteren Strafvollzug - beziehungsweise<br />
viel weiter vorne anfangen. Näml<strong>ich</strong> bei den Jugendl<strong>ich</strong>en<br />
selbst, die anges<strong>ich</strong>ts dessen, dass es um sie geht, viel zu wenig gefragt<br />
und gehört werden.<br />
Als LandesschülerInnenvertretung sind wir der Ans<strong>ich</strong>t, dass dieses Thema<br />
von der Politik und den Medien auf die falsche Weise aufgegriffen<br />
wird, wobei diese die Jugendl<strong>ich</strong>en und ihre tatsächl<strong>ich</strong>en Probleme<br />
deutl<strong>ich</strong> zu oft außer Acht lassen. Unserer Meinung nach werden<br />
in den Diskussionen verschiedene bedeutende Aspekte weitestgehend<br />
ignoriert, deren W<strong>ich</strong>tigkeit wir an dieser Stelle noch einmal besonders<br />
betonen wollen.<br />
Die Tatsache, dass s<strong>ich</strong> Jugendl<strong>ich</strong>e anscheinend vermehrt gewalttätig<br />
verhalten, hat mit S<strong>ich</strong>erheit viele verschiedene Ursachen. Oft sind<br />
jedoch diejenigen, die Gewalt ausüben, n<strong>ich</strong>t nur Täter, sondern auch<br />
Opfer. Denn auch die Zahl der Jugendl<strong>ich</strong>en, die durch ihre Eltern<br />
Gewalt erfahren, ist in den letzten Jahren weiter gestiegen. Wir halten es<br />
für ungerechtfertigt, von jungen Menschen zu verlangen, dass sie in der<br />
Lage sind, Konflikte gewaltfrei zu lösen, wenn sie nie die Chance hatten,<br />
dies in ihrem Elternhaus oder ihrem engeren Umfeld zu lernen.<br />
Einen weiteren Grund für die verstärkte Gewaltbereitschaft der Jugendl<strong>ich</strong>en<br />
sehen wir in der großen Veruns<strong>ich</strong>erung und Zukunftsangst,<br />
der s<strong>ich</strong> manche von ihnen in unserer Gesellschaft ausgesetzt fühlen.<br />
In diesem Zusammenhang wird oft von dem hohen Anteil straffällig<br />
gewordener SchülerInnen mit Mitgationshintergrund gesprochen. Viel<br />
auffälliger sollte es allerdings sein, wie viele Jugendl<strong>ich</strong>e, die straffällig<br />
werden, keinen Schulabschluss und keine Ausbildungsstelle haben. Da<br />
wir wissen, dass dies gerade bei ausländischen Jugendl<strong>ich</strong>en öfter der Fall<br />
ist, muss man die Zusammenhänge in einem neuen Kontext sehen.<br />
Wir glauben, dass Jugendl<strong>ich</strong>e mit Migrationshintergrund nur deshalb<br />
in der Statistik als häufiger straffällig erscheinen, weil sie einen großen<br />
Teil der Jugendl<strong>ich</strong>en ohne<br />
Schulabschluss ausmachen.<br />
Für Jugendl<strong>ich</strong>e ohne Zukunftsperspektive<br />
ist der Weg<br />
in die Gewalt oft vorbestimmt;<br />
unser Schulsystem sorgt dafür,<br />
dass schon während der<br />
Schulzeit bei ihnen ein großer<br />
Sozialneid entsteht und<br />
ihnen das Gefühl der Chancenlosigkeit<br />
vermittelt wird.<br />
Die Ergebnisse der jüngsten<br />
IGLU- und PISA-Studien<br />
bestätigen dies. Man kann<br />
durchaus Verständnis dafür<br />
aufbringen, dass es schwer<br />
fällt, die Gesetze einer Gesellschaft<br />
zu respektieren, von<br />
der man s<strong>ich</strong> abgeschoben und<br />
zurückgewiesen fühlt.<br />
Letztl<strong>ich</strong> ist so die ungerechte Struktur unseres Schulsystems für die<br />
Situation und auch die Gewaltbereitschaft jener Jugendl<strong>ich</strong>en als<br />
mitverantwortl<strong>ich</strong> anzusehen. Unserer Meinung nach ist dies durchaus<br />
ein Grund, noch einmal über die jetzigen Zustände nachzudenken und<br />
diese in Frage zu stellen.<br />
Momentan wird auch in den Medien über die w<strong>ich</strong>tige Funktion der<br />
Schule vor allem im Zusammenhang mit Prävention viel ber<strong>ich</strong>tet.<br />
Dies halten wir für r<strong>ich</strong>tig, denn die Schule ist schließl<strong>ich</strong> der einzige<br />
Ort, wo Schüler und Schülerinnen zu erre<strong>ich</strong>en sind - auch bevor sie<br />
tatsächl<strong>ich</strong> strafmündig sind.<br />
In verschiedenen Medien wurden in den letzten Wochen Präventionsprojekte<br />
an unterschiedl<strong>ich</strong>en Schulen vorgestellt und Mögl<strong>ich</strong>keiten<br />
aufgezeigt, Jugendl<strong>ich</strong>en Konfliktbewältigung näher zu bringen. Dabei<br />
handelt es s<strong>ich</strong> in der Regel um Projekte, die seit langem mit Erfolg an<br />
diesen Schulen durchgeführt werden - und gerade das sollte Anlass zur<br />
Verwunderung sein. Da es s<strong>ich</strong> bei der so genannten „Jugendgewalt“<br />
anscheinend um ein w<strong>ich</strong>tiges Thema handelt und Politiker nach<br />
Mögl<strong>ich</strong>keiten suchen, diese zu reduzieren und zu „bekämpfen“, sollte<br />
es doch inzwischen selbstverständl<strong>ich</strong> sein, dass Präventionsprojekte an<br />
Schulen durchgeführt werden. Dem ist jedoch n<strong>ich</strong>t so, denn stets wird<br />
über Schulen mit solchen Methoden ber<strong>ich</strong>tet, als handle es d<strong>ich</strong> dabei<br />
um lobenswerte Pilotprojekte, Einzelfälle und Vorbilder.<br />
Die Landesregierung sollte s<strong>ich</strong> anges<strong>ich</strong>ts der Situation unserer Ans<strong>ich</strong>t<br />
nach verpfl<strong>ich</strong>tet fühlen, Präventionsprojekte an allen Schulen zu einem<br />
Standard zu machen. Es gibt genug Beispiele gelungener Gewaltbekämpfung<br />
und genug Mögl<strong>ich</strong>keiten, diese in den Schulalltag einzubinden.<br />
Es ist bedauernswert, dass diese trotzdem oft weiterhin nur durch das<br />
Engagement einzelner Lehrerinnen und Lehrer oder Vertretungen der<br />
Schülerinnen und Schüler ins Leben gerufen werden können. Solch ein<br />
Einsatz ist natürl<strong>ich</strong> durchaus lobenswert, kann allerdings n<strong>ich</strong>t an jeder<br />
Schule stattfinden, und es bleibt fragl<strong>ich</strong>, ob tatsächl<strong>ich</strong> die Schulen, an<br />
denen es besonders nötig ist, erre<strong>ich</strong>t werden.<br />
Wir finden es ungerechtfertigt, die „Jugend von heute“ als eine gewaltbereite<br />
und intolerante zu beze<strong>ich</strong>nen, wenn n<strong>ich</strong>t die nötigen<br />
Bemühungen da sind, allen Schülerinnen und Schülern die Chance<br />
zu geben, Konfliktbewältigung<br />
zu lernen. Wir wünschen uns<br />
deswegen einen verstärkten<br />
Einsatz von vorbildl<strong>ich</strong>en<br />
Projekten zur Gewaltprävention<br />
an allen Schulen in<br />
Rheinland-Pfalz, denn nur<br />
so kann die Politik zeigen,<br />
dass es beim Thema „Jugendgewalt“<br />
tatsächl<strong>ich</strong> um die<br />
betroffenen Jugendl<strong>ich</strong>en geht.<br />
Mit der Institutionalisierung<br />
Gewalt vorbeugender Projekte<br />
an Schulen wäre zudem ein<br />
weiterer Schritt in R<strong>ich</strong>tung<br />
Chancengle<strong>ich</strong>heit getan.<br />
lsv<br />
26<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
SeniorInnen<br />
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, LIEBE ERIKA, ZUM RUNDEN GEBURTSTAG!<br />
Erika Schmitt-Neßler feiert am 21. März 2008 ihren 70. Geburtstag<br />
Kaum zu glauben, liebe Erika, dass du<br />
schon 70 Jahre jung wirst. Du bist das<br />
<strong>lebe</strong>nde Beispiel für die „Jungen Alten“<br />
in der <strong>GEW</strong>.<br />
Bis 2004 (seit 1986) hast du dem<br />
Landesvorstand der <strong>GEW</strong> Rheinland-<br />
Pfalz als Stellvertretende Vorsitzende<br />
zur Verfügung gestanden. Aber du hast<br />
d<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t auf das „Altenteil“ zurück<br />
gezogen, sondern du arbeitest weiterhin<br />
engagiert in der Arbeitsgruppe „Junge<br />
Alte“ mit und bringst deine Ideen in<br />
den Geschäftsführenden Vorstand ein.<br />
Deine gewerkschaftl<strong>ich</strong>e Erfolgsarbeit hast du in dem ehemaligen<br />
Kreisvorstand St. Goarshausen begonnen, wurdest dann zur Bezirksfachgruppensprecherin<br />
Grundschulen im <strong>GEW</strong>-Bezirk Koblenz<br />
gewählt und warst dann neun Jahre Landesfachgruppensprecherin<br />
Grundschulen, bevor du d<strong>ich</strong> als Stellvertretende Vorsitzende der<br />
<strong>GEW</strong> Rheinland-Pfalz in die Pfl<strong>ich</strong>t nehmen ließest.<br />
Deine Herzensangelegenheit war aber die Personalratsarbeit: Zunächst<br />
für vier Jahre im Kreispersonalrat St. Goarshausen und von<br />
DIE <strong>GEW</strong> GRATULIERT …<br />
im April 2008<br />
zum 70. Geburtstag<br />
Frau Ute Kliewer<br />
04.04.1938<br />
Von-Wieser-Str. 10 · 67159 Friedelsheim<br />
Frau Dorothee Weiss<br />
10.04.1938<br />
Auf er Lück 2 · 55743 Hintertiefenbach<br />
Herrn Wernfried Schreiber<br />
11.04.1938<br />
Alb.-Schweitzer-Str. 4 · 65549 Limburg<br />
Herrn Herbert Rahm<br />
22.04.1938<br />
Glockenstr. 71 · 67655 Kaiserslautern<br />
zum 75. Geburtstag<br />
Frau Hannelore Hauck<br />
02.04.1933<br />
In den Borngärten 20 · 55296 Gau-<br />
Bischofsheim<br />
Frau Hannelore Schindler<br />
23.04.1933<br />
Hebbelstr. 14 · 55543 Bad Kreuznach<br />
zum 80. Geburtstag<br />
Herrn Karl Heinz Seibel<br />
20.04.1928<br />
Zeppelinstr. 9 · 76829 Landau<br />
Herrn Erik Schwartz<br />
23.04.1928<br />
Schuckertstr. 19 · 67063 Ludwigshafen<br />
Herrn Karl Alsentzer<br />
29.04.1928<br />
Steinstr. 4 · 55424 Münster-Sarmsheim<br />
zum 85. Geburtstag<br />
Herrn Emil Bernhard<br />
04.04.1923<br />
In den Buchen 13 · 66957 Ruppertsweiler<br />
1984 - 2003 im Hauptpersonalrat für die staatl<strong>ich</strong>en Lehrerinnen<br />
und Lehrer an Grund-, Haupt- und Regionalen Schulen. Dabei hast<br />
du, durch deinen enormen Einsatz und Bekanntheitsgrad drei Mal<br />
die Mehrheit in diesem Personalrat für die <strong>GEW</strong> gewonnen- das<br />
ist vor dir niemandem gelungen!<br />
In allen deinen Funktionen hast du immer den Überblick behalten,<br />
ausgle<strong>ich</strong>end gewirkt und für die Kolleginnen und Kollegen immer<br />
ein offenes Ohr gehabt. Du konntest/kannst zuhören, die Argumente<br />
r<strong>ich</strong>tig abwägen und daraus für die Betroffenen die r<strong>ich</strong>tigen<br />
Schlüsse ziehen. Auch in schwierigen Situationen hast du nie deine<br />
Ruhe verloren - und das war auch gut so.<br />
Liebe Erika, die <strong>GEW</strong> Rheinland-Pfalz gratuliert dir recht herzl<strong>ich</strong><br />
zu deinem runden Geburtstag!<br />
Diesen Glückwünschen schließe <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> gerne an, denn <strong>ich</strong> habe<br />
dir viel zu verdanken: deine vorbehaltlose Unterstützung - <strong>zusammen</strong><br />
mit Bettina Gerhard - hat mir die Arbeit in der <strong>GEW</strong> immer<br />
erle<strong>ich</strong>tert.<br />
Wir hoffen und wünschen, dass du weiterhin aktiv die <strong>GEW</strong> begleitest<br />
und noch viele Ideen einbringen kannst. Bleib gesund und<br />
behalte deinen Optimismus.<br />
Herzl<strong>ich</strong>en Glückwunsch!<br />
Tilman Boehlkau<br />
Frau Ruth Müller<br />
04.04.1923<br />
Anilinstr. 5 · 67454 Haßloch<br />
zum 86. Geburtstag<br />
Frau Ingeborg Hoffmann<br />
13.04.1922<br />
Maximilianstr. 4 · 76829 Landau<br />
Herrn Er<strong>ich</strong> Udandt<br />
23.04.1922<br />
Josef-Haydn-Str. 4 (bei Reinhard) · 68165<br />
Mannheim<br />
Frau Selma Panitz<br />
30.04.1922<br />
Klosterstr. 29 · 66953 Pirmasens<br />
zum 89. Geburtstag<br />
Frau Henni Henneicke<br />
21.04.1919<br />
Baumschulenweg 6 · 66538 Neunkirchen<br />
zum 92. Geburtstag<br />
Frau Anna Müller<br />
05.04.1916<br />
Phil.-Mayer-Str. 11a · Seniorenzentrum ·<br />
67304 Eisenberg<br />
Der Landesvorstand<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
27
TIPPS + TERMINE<br />
BÜCHERTIPPS VON ANTJE FRIES<br />
Von Tinte und Feder<br />
Eine kreative Fundgrube für den Kunstunterr<strong>ich</strong>t, aber<br />
auch Freiarbeitsphasen oder eine AG ist Kirsten Schönfelders<br />
Heft „Kunst mit Feder, Tinte und Papier“: Es gibt<br />
Rezepte zum Herstellen von Tinte, Feder, Naturfarben<br />
und Papier, und der historische Rückblick erklärt, wie<br />
die Arbeit im Skriptorium des Mittelalters ablief. Dazu<br />
können dann prächtige Bucheinbände und kunstvolle<br />
Initialen entstehen. Auch für Piraten, Freunde chinesischer<br />
Schriftze<strong>ich</strong>en und Geheimschriften ist jede Menge Entdeckenswertes<br />
im Kopiervorlagen-Heft enthalten.<br />
Kirsten Schönfelder: Kunst mit Feder, Tinte und<br />
Papier. Kempen 2007. 48 Seiten, 15,90 Euro. ISBN<br />
978-3-86740-053-4<br />
Spaß an der Farbe<br />
„Malen lernen mit Kindern“ von Astrid Friedr<strong>ich</strong> klingt<br />
beinahe zu banal, um als Unterr<strong>ich</strong>tsmaterial aufzufallen.<br />
Aber der Titel ist das reine Understatement: Vom Farbkreis<br />
über Kontraste bis zur geschickten Bildkomposition<br />
bewegen s<strong>ich</strong> die allgemeinen Informationen, und erste<br />
Übungen beschäftigen s<strong>ich</strong> mit Farbfeldern und Kontrasten.<br />
Unterschiedl<strong>ich</strong>ste Techniken werden<br />
P1_185x130_2c_2_95 20.12.2007 10:31 Uhr Seite 1<br />
vorgestellt<br />
und auch für völlig fachfremd Unterr<strong>ich</strong>tende bestens<br />
erklärt, sodass der Einstieg und die Umsetzung le<strong>ich</strong>t<br />
sind. Der systematische Einstieg in die Malerei beinhaltet<br />
auch Angaben zu Zeit- und Materialbedarf und jeweils<br />
die detaillierte Vorgehensweise. Ein Kriterienkatalog zur<br />
Leistungsbewertung bei den komplexeren Aufgaben ist<br />
zudem sehr hilfre<strong>ich</strong>.<br />
Astrid Friedr<strong>ich</strong>: Malen lernen mit Kindern. Kemoen<br />
2007. 80 Seiten, 19,90 Euro. ISBN 978-3-86740-<br />
048-0<br />
Sinn oder Unsinn?<br />
„Was liest Du denn da?“, fragte mein Mann entsetzt.<br />
„Schulstrafen? Sonst noch was?“ Zugegeben, der Titel<br />
von Wolfgang Kindlers neuem Buch klingt ganz schön<br />
hart, aber hinter dem Cover findet s<strong>ich</strong> allerlei Sinnvolles:<br />
Zunächst werden die Vorurteile gegenüber Strafen<br />
benannt, deren Effizienz beschrieben und rechtl<strong>ich</strong>e<br />
Grundlagen aufgezeigt, bevor es um Sinn und Unsinn<br />
von Strafen geht: Kindler begründet gut und schlägt<br />
praktikable Lösungen für LehrerInnen, SchülerInnen und<br />
Eltern vor. Ein absolut nützl<strong>ich</strong>er Praxisband! Aber wir<br />
waren mit unserer häusl<strong>ich</strong>en Debatte noch gar n<strong>ich</strong>t am<br />
Ende: „Stell dir vor, in deiner 8. Klasse dudeln dauernd<br />
die Handys. Und, was machst du?“ „Na, abnehmen!“<br />
„Diebstahl!“ „Verbieten!“ „Ach, und das klappt?“ „Keine<br />
2,95%.*<br />
LBS-Bauspardarlehen mit<br />
In Kombination mit einer Sparkassen-Baufinanzierung**<br />
bis zu 25 Jahre Zinss<strong>ich</strong>erheit.<br />
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Zu wenig Platz? Wir helfen.<br />
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Sie fühlen s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t mehr wohl zu Hause? Dann liegt das vielle<strong>ich</strong>t auch daran, dass Sie noch Miete zahlen. Nutzen<br />
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S<br />
28<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
TIPPS + TERMINE<br />
Ahnung!“ Na eben, und genau deshalb ist Kindlers Buch<br />
n<strong>ich</strong>t nur für Berufsanfänger ein Gewinn.<br />
Wolfgang Kindler: Wenn Sanktionen nötig werden:<br />
Schulstrafen. Warum, wann und wie? Mülheim 2007.<br />
158 Seiten, 16,80 Euro. ISBN 978-3-8346-0324-1<br />
Herausforderung Sexualkunde<br />
„Sexualpädagogik in interkulturellen Gruppen“ von<br />
Meral Renz ist für Schüler von 12 bis 18 gedacht. Es<br />
beinhaltet Informationen, Methoden und Arbeitsblätter,<br />
um die Herausforderung Sexualkunde besser zu<br />
meistern. Dabei beschreibt sie zunächst, wie Sexualität<br />
in verschiedenen Sprachen und der Kommunikation<br />
allgemein überhaupt vorkommt. Die Begegnung mit<br />
dem Anderssein, dem Fremden, Vorurteilen gegenüber<br />
anderen Religionen und Sitten sind Thema, bevor es<br />
um die eigentl<strong>ich</strong>e Körper- und Sexualaufklärung geht:<br />
Körperl<strong>ich</strong>es Hygieneverständnis, übertragbare Krankheiten,<br />
Verhütungsmittel. Von der Kontaktanzeige über die<br />
Hochzeit bis hin zum Reizthema Homosexualität streift<br />
Renz alle w<strong>ich</strong>tigen Dinge. Arbeitsblätter sind direkt bei<br />
jedem Kapitel eingefügt, und der Anhang bietet neben<br />
Begriffs- und Fragekarten zum Material auch sämtl<strong>ich</strong>e<br />
Lösungen zu den Arbeitsblättern und eine umfangre<strong>ich</strong>e<br />
Liste mit Literatur und Internetadressen.<br />
Erfolg im Streifenkleid<br />
Sie kommt bescheiden daher, seit Urzeiten im gle<strong>ich</strong>en gestreiften<br />
Outfit, gelegentl<strong>ich</strong> ein bisschen quietschend, aber<br />
immer gut gelaunt: Die Tigerente wurde am 15. März<br />
dreißig Jahre alt! Zum ersten Mal tauchte sie 1978 in „Oh,<br />
wie schön ist Panama!“ auf, und n<strong>ich</strong>t nur dieses Kinderbuch<br />
aus Janoschs Feder ist aus Kita und Grundschule (und natürl<strong>ich</strong><br />
sämtl<strong>ich</strong>en Kinderzimmern!) n<strong>ich</strong>t mehr wegzudenken.<br />
Mittlerweile rollt die Tigerente durch diverse Janosch-Bücher,<br />
ist Star einer Ze<strong>ich</strong>entrickserie und hat sogar einen eigenen<br />
Club im Kinderfernsehen. Das deutsche Kinderhilfswerk<br />
kürte die Tigerente sogar zur Botschafterin für das Recht auf<br />
Spiel. Grund genug für den Beltz-Verlag, die sechsbändige<br />
„Panama-Reihe“ neu aufzulegen: Eine schwarz-gelb gestreifte<br />
Geburtstagsedition fasst dreißig Jahre Erfolg <strong>zusammen</strong>.<br />
Herzl<strong>ich</strong>en Glückwunsch, Tigerente!<br />
Meral Renz: Sexualpädagogik in interkulturellen<br />
Gruppen. Mülheim 2007. 212 Seiten, 22 Euro. ISBN<br />
978-3-8346-0335-7<br />
Achtung Eltern!<br />
Gerade in der Grundschule ist es w<strong>ich</strong>tig, in der Elternarbeit<br />
einerseits zu kooperieren, andererseits auch Grenzen<br />
zu setzen. Dabei will Antje Bostelmann mit ihrem neuen<br />
Buch „Achtung Eltern!“ helfen, indem sie verschiedene<br />
Autoren das klassische Verständnis von Elternarbeit hinterfragen<br />
und innovative Strategien zur Zusammenarbeit<br />
entwickeln lässt. Anhand von 18 „Baustellen“, typischen<br />
Spannungsfeldern zwischen Lehrern und Eltern (wie etwa<br />
„Wird hier auch gelernt?“ oder „Ich dachte, Sie sind Lehrerin...!“),<br />
wird direkt aus der Praxis ein Problem beschrieben<br />
und eine gute Lösung vorgeschlagen. Professioneller<br />
Umgang auch mit dreisten und beratungsresistenten<br />
Eltern (und die soll‘s geben!) kann jetzt besser klappen,<br />
denn wirkl<strong>ich</strong> alle Facetten der Elternarbeit werden<br />
beleuchtet. Allein die Lektüre kann schon helfen: Guck<br />
an, andere kriegen auch solche Dinge um die Ohren gehauen!<br />
Obendrein ist das Werk grafisch aufgelockert mit<br />
„Stolperstein-“ und „Tipp“-Kästen gestaltet, viele Fotos<br />
kommen dazu und besonders gut gefallen die Karikaturen<br />
von Natascha Welz, die vergrößert ins Lehrerzimmer<br />
gehören und den Lehreralltag verschönern!<br />
Antje Bostelmann: Achtung Eltern! Mülheim 2007. 129<br />
Seiten, 19,50 Euro. ISBN 978-3-8346-0310-4<br />
Wie guter Unterr<strong>ich</strong>t gelingt:<br />
PISA-FILM VON PAUL SCHWARZ<br />
Sechs Wochen reisten Paul und Gerlinde Schwarz im<br />
Auftrag der OECD mit einem Kamerateam rund um die<br />
Welt. Der PISA - Blick r<strong>ich</strong>tete s<strong>ich</strong> auf die Länder Finnland,<br />
Japan, Kanada, Mexiko und Deutschland. Daraus<br />
entstand ein 105minütiger Film „Science for tomorrow.<br />
Impressions for successful schools around the world. PISA<br />
2006“, der äußerst aufschlussre<strong>ich</strong>e, bemerkenswerte,<br />
beispielhafte und wegweisende Einblicke in gelungene<br />
Bildungsarbeit an staatl<strong>ich</strong>en und allgemeinbildenden<br />
Schulen bietet. Der Film in englischer Sprache ging in<br />
alle OECD-Länder und ist dort stark nachgefragt. „Der<br />
Film wird sehr gelobt“, so der PISA-Koordinator der<br />
OECD, Prof. Andreas Schle<strong>ich</strong>er. Er kostet 20,00 Euro<br />
plus Versandkosten (mail@tevau.com).<br />
Auch eine deutsche Fassung ist jetzt auf der Didacta<br />
in Stuttgart vorgestellt worden: „Wissen der Zukunft.<br />
Eindrücke von erfolgre<strong>ich</strong>en Schulen auf der ganzen<br />
Welt. Pisa 2006“. Der Film ist mit Booklet über den<br />
Beltz-Verlag bzw. über die Buchhandlungen zum Preis<br />
von 19,95 Euro erhältl<strong>ich</strong>.<br />
Red.<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
29
TIPPS + TERMINE<br />
ÄNGSTEN KOMPETENT FRAU/HERR WERDEN<br />
Bei den neuesten Veröffentl<strong>ich</strong>ungen unseres <strong>GEW</strong>-Kollegen<br />
Dr. Peter Schlegel handelt es s<strong>ich</strong> um ein dreibändiges<br />
Set. Die einzelnen Bände sind als Sachbücher herausgegeben<br />
und inhaltl<strong>ich</strong> in s<strong>ich</strong> abgeschlossen. Sie können je<br />
nach Interesse einzeln bezogen werden. In dieser Ausgabe<br />
wird zunächst der erste Band vorgestellt.<br />
Einführung in das Thema: Der Erfolg versprechende<br />
Umgang mit Ängsten wird von sozialpädagogischen und<br />
psychosozialen Fachkräften als notwendig betrachtet.<br />
Viele Situationen können so beängstigend sein, dass sie<br />
vermieden, aufgeschoben oder nur mit großer Überwindung<br />
bewältigt werden. Mit Ängsten qualifiziert<br />
umgehen zu können ist eine w<strong>ich</strong>tige Kompetenz für den<br />
berufl<strong>ich</strong>en und privaten Lebensbere<strong>ich</strong>. Das Sachbuch<br />
gibt wissenswerte Informationen und Hilfen zu Ängsten.<br />
Dies beinhaltet nützl<strong>ich</strong>e Tipps, Hinweise, Strategien,<br />
Methoden und Praktiken.<br />
Aufbau und Inhalt: Die Ausführungen im ersten Band<br />
sind in fünf Kapitel unterteilt:<br />
Was sind Ängste und Sorgen? Gefühle: ein Buch mit<br />
sieben Siegeln? Welche Erklärungen und Aufschlüsse gibt<br />
es für Ängste? Welche Funktionen haben Ängste? Sind<br />
Menschen ängstl<strong>ich</strong>e Wesen?<br />
Zielgruppe: Die Ausführungen sind für alle nützl<strong>ich</strong>,<br />
die in einem pädagogischen, psychosozialen oder beraterischen<br />
Beruf tätig sind oder s<strong>ich</strong> in der Ausbildung<br />
dazu befinden. Denn Ängste nehmen in Curriculum<br />
und Ausbildung n<strong>ich</strong>t den Stellenwert ein, der für eine<br />
umfassende berufsbezogene Vorbereitung nötig wäre.<br />
Darüber hinaus r<strong>ich</strong>ten s<strong>ich</strong> die Ausführungen an alle<br />
Personen, die unnötige Ängste in den Griff bekommen<br />
und überwinden möchten.<br />
Wertung: „Ängsten kompetent Frau/Herr werden“ ist<br />
übers<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>, anschaul<strong>ich</strong> und plausibel aufgebaut und<br />
strukturiert. Nach jedem Kapitel erfolgt eine kurze Zusammenfassung.<br />
Die gesamten Informationen werden<br />
dadurch noch einmal auf den Punkt gebracht. Lobenswert<br />
ist der prägnante und aussagekräftige Rückblick am Ende<br />
des ersten Bandes. Der gestalterische Aufbau ist geprägt<br />
durch ein durchgängiges Schriftbild mit guten, einheitl<strong>ich</strong><br />
gestalteten Grafiken und Schaubildern. Als günstig erweist<br />
s<strong>ich</strong> der regelmäßige Praxisbezug. Viele konkrete Beispiele<br />
aus den berufl<strong>ich</strong>en und privaten Bere<strong>ich</strong>en machen die<br />
Ausführungen <strong>lebe</strong>ndig und greifbar. Vorteilhaft ist, dass<br />
die 545 Seiten des gesamten Sets n<strong>ich</strong>t in einer einzelnen<br />
Veröffentl<strong>ich</strong>ung, sondern in drei einzelnen Bänden<br />
herausgegeben sind. Der Leser ist somit n<strong>ich</strong>t darauf<br />
angewiesen, ein umfangre<strong>ich</strong>es Kompendium oder teures<br />
Handbuch zu erwerben.<br />
Dienl<strong>ich</strong> ist auch, dass am Ende des ersten Bandes ein<br />
inhaltsre<strong>ich</strong>er Ausblick auf die anderen Bände aufgeführt<br />
ist. Abgerundet wird das Ganze durch ein umfangre<strong>ich</strong>es<br />
Literaturverze<strong>ich</strong>nis. Das Format (21,5x13,5) erweist s<strong>ich</strong><br />
als handl<strong>ich</strong> und hat trotzdem die erforderl<strong>ich</strong>e Größe für<br />
die Darstellungen.<br />
Fazit: Die aktuelle Publikation ist theoretisch und prak-<br />
tisch gle<strong>ich</strong>ermaßen fundiert. Die Sprache ist sachl<strong>ich</strong><br />
und zugle<strong>ich</strong> sehr <strong>lebe</strong>ndig. Immer wieder erlebt man<br />
Aha-Effekte. Es sollte in jedem Bücherschrank von pädagogischen,<br />
sozialpädagogischen oder psychosozialen<br />
Fachkräften sowie interessierten Personen in Griff- und<br />
Augenhöhe stehen.<br />
Der Autor: Dr. Peter Schlegel, Diplom-Pädagoge, Diplom-Religionspädagoge,<br />
Europäisches Zertifikat über<br />
die Universitätsausbildung in Sozialarbeit, Lehrer für<br />
Berufsbildende Schulen, qualifizierte Weiterbildung<br />
in systemischer Therapie und Beratung; zunächst acht<br />
Jahre Berufserfahrung in der sozialen Arbeit, ab 1994<br />
beschäftigt in der Ausbildung von Erziehern, Heilerziehungspflegern<br />
und Heilpädagogen sowie in der Bildung<br />
und Beratung von benachteiligten jungen Erwachsenen;<br />
ferner tätig als Dozent, Berater und im Coachingbere<strong>ich</strong>;<br />
Kontakt: dr.p.schlegel@gmx.de<br />
Weitere Veröffentl<strong>ich</strong>ungen: Das Handbuch der Elternarbeit,<br />
Bildungsverlag Eins, 2004.<br />
gh<br />
Schlegel, Peter: Ängsten kompetent Frau/Herr werden,<br />
Band 1, Ängste, Gefühle, Erklärungen und Funktionen,<br />
Parlerverlag, ca. 162 Seiten, Euro 14,80 (D), 2007.<br />
LESEPETER<br />
Im März 2008 erhält<br />
den LesePeter das Sachbuch:<br />
Al Gore<br />
Eine unbequeme Wahrheit -<br />
Klimawandel geht uns alle an<br />
München: cbj 2007<br />
207 Seiten, 14,95 Euro (ab 10)<br />
Mit beeindruckenden, großformatigen Fotos von Landschaften,<br />
Tieren, Pflanzen, Städten und dem nächtl<strong>ich</strong>en<br />
Himmel sowie mit aussagekräftigen, schematischen<br />
Darstellungen und Grafiken macht der Autor auf die<br />
bereits s<strong>ich</strong>tbaren Anze<strong>ich</strong>en einer Klimaveränderung<br />
aufmerksam und fordert dringende Maßnahmen von<br />
allen, denen unsere Erde Heimat ist.<br />
Das Buch eignet s<strong>ich</strong> zur Behandlung des zukunftsträchtigen<br />
Themas bereits in der Grundschule sowie in allen<br />
weiterführenden Schulen.<br />
30<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008
TIPPS UND TERMINE / KREIS UND REGION<br />
ALS FORSCHER UNTERWEGS<br />
Kinder sind kleine Forscher. Sie wollen ihre Umwelt<br />
mit Hand und Fuß, Augen und Ohren, Haut und Haar<br />
erfahren und erforschen. Sie stellen gerne Fragen und<br />
lernen so, ihre Lebenswelt differenzierter wahrzunehmen,<br />
zu begreifen und zu werten.<br />
Die neuen Bände aus der Reihe Oldenbourg Kopiervorlagen<br />
bringen den Kindern wesentl<strong>ich</strong>e Inhalte des<br />
Sachunterr<strong>ich</strong>ts kreativ und spielerisch nahe. Handlungskarten<br />
laden ein zum Sammeln von Informationen, zum<br />
Experimentieren, Bauen und Spielen - in vielen kleinen<br />
Projekten innerhalb und außerhalb des Klassenraumes.<br />
Die Kinder lernen, ihre Erlebnisse zu präsentieren, sie<br />
erhalten Würdigung für ihre Arbeit und den Ansporn,<br />
weiterzumachen.<br />
Alle Arbeitsmaterialien lassen s<strong>ich</strong> mühelos kopieren<br />
und werden von methodisch-didaktischen Hinweisen<br />
ergänzt. Sie können im regulären Klassenunterr<strong>ich</strong>t, in<br />
Freiarbeitsphasen oder auch als vorbereitende Hausaufgaben<br />
verwendet werden.<br />
pm<br />
Anna Merzinger: Sachunterr<strong>ich</strong>t kreativ im 3. Schuljahr,<br />
Band 123, 64 S., zahlr. Kopiervorlagen, 1-seitig<br />
bedruckt, in der praktischen Heftmappe, ISBN 978-3-<br />
486-00406-9, 17,80 Euro<br />
Sachunterr<strong>ich</strong>t kreativ im 4. Schuljahr, Band 124, 64 S.,<br />
zahlr. Kopiervorlagen, 1-seitig bedruckt, in der praktischen<br />
Heftmappe, ISBN 978-3-486-00407-6, 17,80<br />
Oldenbourg Schulbuchverlag München 2007<br />
KREIS UND REGION<br />
KV Ludwigshafen / Speyer<br />
Otto Leiner für 60 Jahre<br />
Mitgliedschaft geehrt<br />
Mitgliederversammlungen mit Jubilarehrungen sind Familientreffen<br />
n<strong>ich</strong>t unähnl<strong>ich</strong>. Aber ganz ohne Politik geht es auch bei einer<br />
solchen Familienfeier n<strong>ich</strong>t.<br />
Helmut Thyssen sprach in seinem Grußwort für den Bezirk Rheinhessen-Pfalz<br />
das leidige Thema der Schulstrukturreform an. Er<br />
befürchtet, dass durch die Einr<strong>ich</strong>tung der „RS Plus“ das bewährte<br />
BBS-System schweren Schaden nehmen wird und gle<strong>ich</strong>zeitig die<br />
„RS Plus“ zum Scheitern verurteilt ist.<br />
Aber auch die vorhandenen Bildungsdefizite, die mangelhafte Integration<br />
und die verschleppte bzw. verweigerte Besoldungserhöhung<br />
im Öffentl<strong>ich</strong>en Dienst waren Themen seines Grußwortes.<br />
Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand jedoch die Ehrung der<br />
vielen JubilarInnen. Geehrt wurden KollegInnen für 25, 30, 40, 50<br />
und 60 Jahre <strong>GEW</strong>- bzw. Gewerkschaftszugehörigkeit.<br />
Die Kollegen A. Jantzer und H. Steuer wurden für 40 Jahre, R.<br />
Herzig und W. Kern für 50 Jahre Mitgliedschaft in der <strong>GEW</strong> bzw.<br />
einer Gewerkschaft geehrt. Auf 60 Jahre Gewerkschaftszugehörigkeit<br />
brachte es nur einer: der langjährige Kreisvorsitzende des<br />
Kreisverbandes Ludwigshafen / Speyer Otto Leiner. Kollege Leiner<br />
erklärte seine lange Mitgliedschaft in der Gewerkschaft- sie ist<br />
länger als ein <strong>GEW</strong>-Kreis überhaupt existiert- damit, dass er vor<br />
seiner Lehrerausbildung einen „r<strong>ich</strong>tigen“ Beruf erlernt habe. Als<br />
er 1947 im Re<strong>ich</strong>sbahnausbesserungswerk seine Lehre begann, war<br />
es noch übl<strong>ich</strong>, dass man mit dem Ausbildungsvertrag auch gle<strong>ich</strong><br />
das Eintrittsformular zur entsprechenden Industriegewerkschaft<br />
unterschrieb.<br />
Die vielen, vielen JubilarInnen, die für 25 bzw. 30 Jahre <strong>GEW</strong>-<br />
Zugehörigkeit geehrt wurden, können leider aus Platzgründen hier<br />
n<strong>ich</strong>t aufgelistet werden.<br />
Kollege Thyssen, der die Ehrungen vornahm, rief für die entsprechenden<br />
Jahre die entscheidenden bildungspolitischen Ereignisse<br />
ins Gedächtnis: Von den Bestrebungen zur Gründung eines Lehrervereins<br />
vor 60 Jahren, ersten Bestrebungen zur Reduzierung der<br />
Stundendeputate und einer Erhöhung der Besoldung vor 50 über<br />
die erste Schulstrukturreform mit der Einführung der Hauptschule<br />
1968, der Änderung der 2. Phase der LehrerInnenbildung vor 30<br />
bis zur beginnenden Lehrerarbeitslosigkeit vor 25 Jahren. Außer<br />
den Ehrenurkunden erhielten die JubilarInnen auch ein typisch<br />
pfälzisches Geschenk: ein Weinpräsent.<br />
Wie s<strong>ich</strong> das für eine gelungene Jubilarehrung gehört, kam auch<br />
die Kultur n<strong>ich</strong>t zu kurz. Wolfgang Schuster und Tom Kunzmann<br />
sorgten mit Gitarre, Bluesharp und Gesang für die Blues-musikalische<br />
Umrahmung.<br />
Mit einem kalten Buffet, Getränken nach Wahl und vielen Gesprächen,<br />
die meist mit „Weißt Du noch?“ oder „Kannst Du D<strong>ich</strong> noch<br />
erinnern?“ begannen, schloss das große <strong>GEW</strong>-Familientreffen<br />
U.K / Foto: Gerald Hebling<br />
Impressum <strong>GEW</strong>-ZEITUNG Rheinland-Pfalz<br />
(117. Jahrgang)<br />
Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Rheinland-Pfalz, Neubrunnenstr. 8, 55116<br />
Mainz, Tel.: 0 61 31 28988-0, Fax: 0 61 31 28988-80, E-mail: gew@gew-rlp.de<br />
Redaktion: Günter Helfr<strong>ich</strong> (verantw.), Paul Schwarz (Stellvertr./Bildungspolitik), Ursel Karch (Gewerkschaftspolitik),<br />
Karin Helfr<strong>ich</strong> (Außerschulische Bildung),<br />
Redaktionsanschrift: <strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz, Postfach 22 02 23, 67023 Ludwigshafen, Tel./<br />
Fax: 06 21 564995, e-mail: <strong>GEW</strong>ZTGRL1@aol.com oder gew-zeitung-rlp@web.de<br />
Verlag und Anzeigen, Satz und Druck: Verlag Pfälzische Post GmbH, Winzinger Str. 30, 67433 Neustadt<br />
a.d.W., Tel.: 063 21 8 03 77; Fax: 0 63 21 8 62 17; e-mail: vpp.nw@t-online.de<br />
Manuskripte und Beiträge: Die in den einzelnen Beiträgen wiedergegebenen Gedanken entsprechen<br />
n<strong>ich</strong>t in jedem Falle der Ans<strong>ich</strong>t des <strong>GEW</strong>-Vorstandes oder der Redaktion. Für unverlangt eingesandte<br />
Manuskripte oder zugemailte Daten wird keine Gewähr übernommen.<br />
Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten; für N<strong>ich</strong>tmitglieder jährl<strong>ich</strong> Euro 18,-- incl. Porto +<br />
MWSt. (Bestellungen nur beim Herausgeber.) Kündigung 3 Monate vor Ablauf des Kalenderjahres. Im<br />
anderen Falle erfolgt stillschweigend Verlängerung um ein weiteres Jahr.<br />
Anzeigenpreisliste Nr. 13 beim Verlag erhältl<strong>ich</strong>. Redaktionsschluss: jeweils der 1. des Vormonats.<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />
31
ZEITGEIST<br />
VORZUGSBEHANDLUNG<br />
Als Referendarin (und sozial eingestellter<br />
Mensch) trat <strong>ich</strong> nur<br />
ungern einer privaten Krankenkasse<br />
bei. Aber das Angebot war<br />
so günstig und der Vers<strong>ich</strong>erungsagent<br />
so betörend, dass <strong>ich</strong><br />
n<strong>ich</strong>t widerstehen konnte. Nach<br />
wortre<strong>ich</strong>er Beratung war <strong>ich</strong> stolze<br />
Besitzerin eines Kaffeebechers,<br />
eines Bausparvertrags mit 80<br />
Jahren Laufzeit, einer Haftpfl<strong>ich</strong>tvers<strong>ich</strong>erung<br />
für Hochseekapitäne<br />
und Starfighter-Piloten und einer<br />
Autounfallvers<strong>ich</strong>erung, obwohl<br />
<strong>ich</strong> nur ein Fahrrad besaß. Und<br />
<strong>ich</strong> war Privatpatientin. Warum sollte <strong>ich</strong> auch mit meinem<br />
mäßigen Einkommen in einer gesetzl<strong>ich</strong>en Kasse<br />
das Vierfache zahlen? Meine Eltern (Kassenpatienten)<br />
borgten mir ab und zu widerstrebend Geld, damit <strong>ich</strong><br />
meine Arztrechnungen begle<strong>ich</strong>en konnte. Um das Ausfüllen<br />
der Erstattungsanträge zu erlernen, besuchte <strong>ich</strong><br />
einige Fortbildungen. Mittlerweile ist die Beihilfestelle<br />
großzügiger geworden. Früher schickten sie einem die<br />
Anträge zurück, wenn ein Komma fehlte oder ein Posten<br />
falsch nummeriert war. Auf diese Weise dauerte es<br />
Monate, ehe man einen Pfennig zurückbekam. Damals<br />
erstattete einem die staatl<strong>ich</strong>e Beihilfe aber immerhin fast<br />
die Hälfte der Ausgaben, heute ist es, wenn’s hochkommt,<br />
gerade mal ein Drittel. Brillen und Hüftgelenke zählen<br />
dabei zum Privatvergnügen und sind n<strong>ich</strong>t beihilfefähig.<br />
Aber da die Lehrergehälter ständig steigen, lässt s<strong>ich</strong> das<br />
locker verkraften.<br />
Ich gewann interessante Einblicke in das ärztl<strong>ich</strong>e Kassenwesen.<br />
Meine nette Hautärztin bekam für ihre gründl<strong>ich</strong>e<br />
Behandlung müde 30 Euro, während der Arzt mit den<br />
schicken Apparaten gle<strong>ich</strong> 300 Euro kassierte, weil er mit<br />
seinem Ultraschallgerät mal eben über meine Schilddrüse<br />
gefahren war. Ein kurzer Telefonanruf erschien in den<br />
Rechnungen als „ausführl<strong>ich</strong>e Beratung“. Das Ausstellen<br />
von Rezepten ist für den Arzt natürl<strong>ich</strong> auch zeitintensiv<br />
und mühsam, deshalb entsprechend teuer. Portokosten<br />
treiben die Belastungen für eine Arztpraxis an den Rand<br />
des Ruins, deshalb muss <strong>ich</strong> sie auch dann bezahlen,<br />
wenn <strong>ich</strong> einen frankierten Rückumschlag beigelegt habe.<br />
Grundsätzl<strong>ich</strong> sind meine Behandlungen immer besonders<br />
schwierig, so dass die Kosten höher angesetzt werden<br />
müssen. Der Arzt, der mir nach zehn Jahren Kreuzberg<br />
eine Verordnung für autogenes Training ausfüllen sollte,<br />
liquidierte beachtl<strong>ich</strong>e Beträge für eine mehrstündige<br />
psychoanalytische Betreuung. Als <strong>ich</strong> empört widersprach,<br />
erhielt <strong>ich</strong> einen freundl<strong>ich</strong>en Brief, dass <strong>ich</strong> in meiner<br />
seelischen Verfassung gar n<strong>ich</strong>t mitbekommen könnte,<br />
wie lieb und lange er s<strong>ich</strong> mit mir befasst habe.<br />
Ja, <strong>ich</strong> finde es auch ungerecht, dass <strong>ich</strong> schneller Termine<br />
bekomme und m<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t vier Stunden im Wartezimmer<br />
langweilen muss. Manchmal gibt es für Privatpatienten<br />
sogar einen Extra-Raum mit Kaffeemaschine, Entspannungsmusik<br />
und Sonnenbank. Ich muss nur etwas müde<br />
aussehen, schon möchte m<strong>ich</strong> der Arzt vier Wochen lang<br />
krank schreiben. Meine Schwester (Kassenpatientin) dagegen<br />
wird fiebernd, hustend und röchelnd zurück an ihren<br />
Arbeitsplatz geschickt: „Reißen Sie s<strong>ich</strong> mal ein bisschen<br />
<strong>zusammen</strong>!“ Mein seniler Daumen wird in Vollnarkose,<br />
mit Gipsschiene zum wochenlangen Ruhighalten und<br />
mit Krankengymnastik saniert. Meine andere Schwester<br />
(Kassenpatientin) hat dieselben Verschleißerscheinungen,<br />
wird kurz lokal betäubt, mit Heftpflaster und dem<br />
Hinweis entlassen, dass sie das operierte Glied ordentl<strong>ich</strong><br />
beanspruchen soll. Sie lacht s<strong>ich</strong> schlapp, als sie hört,<br />
dass <strong>ich</strong> mit Bewegungsgymnastik und Lymphdrainage<br />
behandelt werde.<br />
In einem großen Krankenhaus gibt es ein revolutionäres<br />
Programm für vollschlanke Menschen. Ich hoffe auf ein<br />
Wundermittel und darf von der Ernährungsberatung bis<br />
hin zur Psychosomatik alle Abteilungen durchlaufen.<br />
Eine Psychologin fragt m<strong>ich</strong> nach meiner Zufriedenheit<br />
am Arbeitsplatz. Ich denke an meine neue Schulleiterin<br />
mit dem krankhaften Kontrollzwang und unterdrücke ein<br />
paar Tränen. Sofort möchte m<strong>ich</strong> die Ärztin für vierzehn<br />
Tage stationär aufnehmen. Nur zur Beobachtung. Aber<br />
<strong>ich</strong> habe den dumpfen Verdacht, dass <strong>ich</strong> als Privatpatientin<br />
gern eingehend und zeitintensiv behandelt werde,<br />
auch wenn es vielle<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t zwingend notwendig ist. In<br />
der Schule segle <strong>ich</strong> eine Treppe hinunter, weil <strong>ich</strong> wütend<br />
meine laute Klasse jage. Mit dem umgeknickten Fuß soll<br />
<strong>ich</strong> in die Computerröhre. Meine Freundin (Ärztin) verrät<br />
mir, dass die Therapie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t ändert, egal, ob das<br />
Kreuzband angerissen ist oder n<strong>ich</strong>t. Also vermeide <strong>ich</strong> es,<br />
m<strong>ich</strong> mit meinen klaustrophobischen Ängsten auseinanderzusetzen.<br />
Ich will auch n<strong>ich</strong>t ins Sanatorium, weil mein<br />
Schultergelenk klemmt. Und an meinen schönen blauen<br />
Augen wird n<strong>ich</strong>t gelasert! Die Krücken, die <strong>ich</strong> für den<br />
verstauchten Fuß kaufen musste, stehen im Keller rum<br />
- falls Sie welche brauchen sollten, wenden<br />
Sie s<strong>ich</strong> an die Redaktion. Kassenpatienten<br />
bekommen Krücken übrigens geliehen.<br />
Der junge Zahnarzt beugt s<strong>ich</strong> mit seiner<br />
Lupe über meine Mundhöhle und verkündet<br />
begeistert, dass er fast alles herausreißen<br />
möchte, was seine Vorgänger mühsam<br />
gebastelt haben. „Bei Ihnen habe <strong>ich</strong> mindestens<br />
ein Jahr lang zu tun!“ Seine Augen<br />
funkeln. Im Vorraum druckt der Computer<br />
schon die Kostenvoranschläge aus. Für das<br />
Geld kaufe <strong>ich</strong> mir lieber einen Lexus.<br />
Achtung: Dieser Text ist eine Satire. Eine<br />
Satire arbeitet bewusst einseitig, übertrieben und verzerrt,<br />
um bestimmte Dinge zuzuspitzen und zu kritisieren. Eine<br />
Satire ist kein differenzierter und objektiver Sachtext, der<br />
Wert auf ausgewogene Aussagen legt. Aus Angst vor ihrem<br />
Zahnarzt und ihrer Orthopädin möchte die Autorin dennoch<br />
lieber anonym bleiben. (Der Redaktion liegt der Name von<br />
Gabriele Frydrych allerdings vor.)<br />
32<br />
Beilage zur E&W:<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008