17.11.2013 Aufrufe

Die Nichtbeachtung der Lucy Hutchinson

Die Nichtbeachtung der Lucy Hutchinson

Die Nichtbeachtung der Lucy Hutchinson

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Bericht | Text: Melanie Kelter | Fotos: lydiardhouse.blogspot.de<br />

<strong>Die</strong> <strong>Nichtbeachtung</strong> <strong>der</strong> <strong>Lucy</strong> <strong>Hutchinson</strong><br />

<strong>Die</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung einer tollen Frau<br />

22<br />

Haben Sie den Namen <strong>Lucy</strong> <strong>Hutchinson</strong><br />

schon einmal gehört? Falls nicht,<br />

gehören Sie einer überwältigenden<br />

Mehrheit an, <strong>der</strong> die wahrscheinlich<br />

meistgelesene englische Schriftstellerin<br />

des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts nicht bekannt ist.<br />

Aus guten Gründen. Dabei lohnt es sich,<br />

das außergewöhnliche Leben und Werk<br />

dieser Frau etwas näher kennen zu<br />

lernen.<br />

1620 wird <strong>Lucy</strong> als Tochter von Sir Allen<br />

Apsley, einem Kaufmann und Hofbeamten,<br />

und Lady <strong>Lucy</strong> St. John geboren. In<br />

ihrer Autobiographie erwähnt sie, dass<br />

sie in Kindheitstagen die Puppen ihrer<br />

Spielkameradinnen zerbrach und statt<br />

<strong>der</strong> üblichen Puppenspiele lieber Latein<br />

lernte – worin sie übrigens ihren älteren<br />

Bru<strong>der</strong> Allen spielend leicht ausstach.<br />

Auch als junge Frau weigert sie sich,<br />

weiblichen Klischees zu entsprechen:<br />

Sie zeigt großes Interesse an Sprache(n),<br />

Literatur und Schriftstellerei und gibt sich<br />

ganz dem Studieren hin – im Gegensatz<br />

zu ihren stickenden, tanzenden und ansonsten<br />

eher ungebildeten Geschlechtsgenossinnen.<br />

Als Ehemann kommt<br />

konsequenterweise nur John <strong>Hutchinson</strong><br />

in Frage, <strong>der</strong> sich in sie verliebt, weil sie<br />

in dem Ruf steht, Gedichte zu schreiben,<br />

und ihre Lateinbücher stets bei sich trägt.<br />

In ihrer Ehe wird sich John als für seine<br />

Zeit ganz und gar untypischer Mann entpuppen,<br />

<strong>der</strong> <strong>Lucy</strong>s Schreiben gegenüber<br />

lebenslang äußerst positiv eingestellt ist.<br />

Ein berührendes Zeugnis seiner Unterstützung,<br />

ohne die <strong>Lucy</strong> wohl kaum als<br />

Schriftstellerin hätte arbeiten können,<br />

ist ein zeitgenössisches Doppelportrait<br />

<strong>der</strong> beiden, das John mit Schwert zeigt<br />

– Zeichen dafür, dass er eine wichtige<br />

Rolle im englischen Bürgerkrieg gespielt<br />

hat – und <strong>Lucy</strong> mit einem Lorbeerkranz,<br />

<strong>der</strong> schriftstellerische Leistungen symbolisiert.<br />

Aus dieser Ehe, die offensichtlich<br />

nicht auf einer damals üblichen Zweckgemeinschaft,<br />

son<strong>der</strong>n Liebe und Respekt<br />

füreinan<strong>der</strong> beruht, gehen acht Kin<strong>der</strong><br />

hervor. Doch auch ihre Mutterschaft hält<br />

<strong>Lucy</strong> nicht davon ab, <strong>der</strong> Tätigkeit des<br />

Schreibens weiterhin nachzugehen, die<br />

damals als aufsässig, unbescheiden und<br />

vor allem unweiblich verrufen ist. Selbst<br />

als Witwe – im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t ist dies<br />

das Lebensstadium einer Frau, in dem<br />

sie ohne einen kontrollierenden und<br />

beschützenden Ehemann ihre Existenzberechtigung<br />

verliert – schreibt sie weiter<br />

bis zu ihrem Tod im Jahr 1681, ist also<br />

durchaus weiterhin und öffentlich existent.<br />

Darüber hinaus inszeniert sie sich in<br />

ihrem Spätwerk skandalöserweise auch<br />

noch als potentiell sexuell aktive ältere<br />

Singlefrau sowie als selbstbewusste und<br />

alleinige Besitzerin von John <strong>Hutchinson</strong>s<br />

Anwesen.<br />

Interessanterweise beurteilen Kritiker<br />

sie trotz dieser sehr unzeitgemäßen<br />

Lebensführung meist als frömmelnde Puritanerin,<br />

die die gottgegebene weibliche<br />

Unterlegenheit verteidigt und sich lediglich<br />

über ihren Status als Ehefrau einer<br />

historischen Persönlichkeit definiert. <strong>Die</strong><br />

zweifelhafte Bewertung von Persönlichkeit<br />

und Biographie zeigt deutliche<br />

Parallelen zu <strong>der</strong> <strong>Nichtbeachtung</strong> ihres<br />

äußerst facettenreichen schriftstellerischen<br />

Werkes. <strong>Lucy</strong> <strong>Hutchinson</strong> hat unter<br />

an<strong>der</strong>em die erste jemals geschriebene<br />

komplette englische Übersetzung von<br />

Lucretius’ De Rerum Natura vorgelegt<br />

übrigens ein höchst atheistisches Werk,<br />

das die stets hervorgehobene tiefe Religiosität<br />

<strong>der</strong> Übersetzerin in Frage stellt.<br />

Außerdem hat sie die Biographie ihres<br />

Ehemannes geschrieben, die innerhalb<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

zu einem essentiellen Standardwerk<br />

avanciert ist und sie somit zu <strong>der</strong> wohl<br />

meistgelesenen Autorin ihrer Epoche<br />

gemacht hat. Trotzdem ist <strong>Hutchinson</strong> <strong>der</strong><br />

Leserschaft außerhalb von einem kleinen<br />

Kreis spezialisierter WissenschaftlerInnen<br />

völlig unbekannt. Und selbst in<br />

jenem Kreis erscheint sie zumeist nur<br />

als Randnotiz zur Lebensgeschichte ihres<br />

Ehemannes. Dass nach ihrem Tod nicht<br />

einmal eine Gedenkstätte erbaut wurde<br />

und dafür auch heute die Motivation<br />

fehlt, zeigt deutlich, wie wenig ihr Gesamtwerk<br />

erforscht und gewürdigt wird.<br />

Im Kontext dieser <strong>Nichtbeachtung</strong> stellt<br />

ihr im Jahr 1679 veröffentlichtes Gedicht<br />

Or<strong>der</strong> and Disor<strong>der</strong> einen beson<strong>der</strong>en<br />

Extremfall dar. Das epische Gedicht lässt<br />

sich als „weibliches“ Gegenstück zu<br />

John Miltons berühmtem Paradise Lost<br />

von 1667 interpretieren: Beide Dichter<br />

erzählen die biblische Schöpfungsgeschichte<br />

in Reimen, waren Puritaner und<br />

befürworteten als Monarchiegegner ein<br />

englisches Parlament. Im Gegensatz zu<br />

Miltons konventionell frauenfeindlicher<br />

Darstellung <strong>der</strong> Eva wird <strong>Hutchinson</strong>s<br />

Eva durch subtile Strategien vor allem<br />

die Last <strong>der</strong> Erbsünde von den Schultern<br />

genommen.<br />

Indem die Autorin den Originaltext<br />

umschreibt und Textstellen weglässt,<br />

hinzufügt o<strong>der</strong> umstellt, verteilt sie die<br />

Schuld am Sündenfall gerecht zwischen<br />

<strong>der</strong> weiblichen und dem männlichen<br />

Beteiligten. Damit rehabilitiert sie die<br />

biblische Urahnin aller Frauen mit einer<br />

ganz weltlichen Absicht: Sie nimmt jenen<br />

den Wind aus den Segeln, die Evas alleinige<br />

Schuld an <strong>der</strong> Vertreibung aus dem<br />

Paradies als Rechtfertigung dafür benutzen,<br />

die Frau dem Mann zu unterwerfen.<br />

<strong>Hutchinson</strong> leistete also offensichtlich<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen geschlechterspezifische<br />

Ideologien ihrer Zeit. Trotzdem erhält<br />

ihr Gedicht nicht nur äußerst wenig<br />

Beachtung, son<strong>der</strong>n wird in <strong>der</strong> Literatur<br />

sogar eher abfällig als Billigung von Frauenfeindlichkeit<br />

und als blasser Abklatsch<br />

von John Miltons Paradise Lost erwähnt,<br />

wobei interessanterweise wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong><br />

frühfeministische Ansatz ihres Gedichtes<br />

unterschlagen o<strong>der</strong> sogar in sein Gegenteil<br />

verkehrt wird.


Bedenkt man, dass eine Frau im 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong>artig kühne Gedanken<br />

zu Papier gebracht hat, muss man sich<br />

unweigerlich einmal mehr fragen, aus<br />

welchem Grund <strong>Lucy</strong> <strong>Hutchinson</strong> entwe<strong>der</strong><br />

mit Missachtung o<strong>der</strong> Ignoranz<br />

begegnet wird. Zum Teil ergibt sich dies<br />

sicherlich allgemein aus <strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong><br />

sie lebte und schrieb: Das 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

war geprägt von Frauenverachtung und<br />

sah für Frauen ein Leben <strong>der</strong> Demut, Stille<br />

und Gehorsamkeit vor. Falls sie sich dennoch<br />

in den männlich besetzten Raum<br />

<strong>der</strong> Intellektualität vorwagten, wurde die<br />

Tugendhaftigkeit <strong>der</strong> Autorinnen in den<br />

Vor<strong>der</strong>grund gerückt, um ihre Bemühungen<br />

sogleich zu verharmlosen. <strong>Die</strong> Werke<br />

von Frauen konnten sich also von vorneherein<br />

nicht mit denen von Männern<br />

messen, weil sie unter ganz unterschiedlichen<br />

Voraussetzungen bewertet und<br />

meist gar nicht ernst genommen wurden.<br />

Speziell für <strong>Lucy</strong>s Fall ist jedoch auch zu<br />

berücksichtigen, dass das Gedicht Or<strong>der</strong><br />

and Disor<strong>der</strong>, das sie als äußerst mo<strong>der</strong>ne<br />

und beherzte Schriftstellerin zeigt<br />

und damit ihren bie<strong>der</strong>en Ruf wi<strong>der</strong>legt,<br />

anonym veröffentlicht wurde. Während<br />

an<strong>der</strong>e AutorInnen des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

in ihren Schriften gewöhnlich ihre Loyalität<br />

zu König Charles II. ausdrückten, hatte<br />

<strong>Lucy</strong> <strong>Hutchinson</strong> als Monarchiegegnerin<br />

und Systemkritikerin ständig die Todesstrafe<br />

zu befürchten. Als Folge wurde<br />

das Gedicht einem Mann zugeschrieben<br />

– genauer gesagt ihrem Bru<strong>der</strong>. Dass <strong>Lucy</strong><br />

<strong>Hutchinson</strong> die tatsächliche Verfasserin<br />

war, wurde erst 1995 herausgefunden.<br />

Dabei stellte sich auch heraus, dass<br />

das Gedicht mit ausdrücklich weiblicher<br />

Stimme erheblich von männlichen<br />

Nachfahren manipuliert worden ist: In<br />

mindestens zwei fremden Handschriften<br />

wurden Verän<strong>der</strong>ungen und Streichungen<br />

im Manuskript vorgenommen. Allein<br />

die nachträgliche Bevormundung durch<br />

die „Korrekturen“ zeigt den niedrigen<br />

Stellenwert, <strong>der</strong> dem schriftstellerischen<br />

Schaffen einer Frau beigemessen wurde.<br />

Jedoch spricht auch die Tatsache für<br />

sich, dass <strong>Lucy</strong> <strong>Hutchinson</strong> als Urheberin<br />

des Gedichtes vergessen wurde, obwohl<br />

sich das Werk die ganze Zeit im Besitz<br />

ihrer Familie befand. Zumindest ihre<br />

ersten Nachfahren werden also von ihrer<br />

Urheberschaft gewusst haben, und so ist<br />

es <strong>der</strong> gönnerhaften und nachlässigen<br />

Verwaltung ihres Nachlasses geschuldet,<br />

dass ihre Urheberschaft so lange unbekannt<br />

geblieben ist. Ob die damaligen<br />

Nachfahren ebenso verfahren wären,<br />

und ob die heutigen Kritiker ebenso<br />

argumentieren würden, wenn <strong>Lucy</strong> ein<br />

Lucas gewesen wäre?<br />

<strong>Die</strong> Konsequenz dieser geschlechterabhängigen<br />

gegensätzlichen Beurteilung<br />

zeigt sich heute jedenfalls eindrücklich:<br />

Während viele männliche Autoren des 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts fraglos zu den Gallionsfiguren<br />

<strong>der</strong> englischen Literatur zählen,<br />

ist <strong>Hutchinson</strong> in völlige Vergessenheit<br />

geraten. Und für den Fall, dass Sie das<br />

Ganze für ein Problem einer längst<br />

vergangenen, rückständigen Zeit halten:<br />

Nicht einmal die ohnehin äußerst geringe<br />

Anzahl weiblicher Nobelpreisträger findet<br />

sich heute in gängigen Kanones wie<strong>der</strong>,<br />

die in Schule und Uni als literarische<br />

Klassiker und Vorbil<strong>der</strong> behandelt werden.<br />

John Milton dagegen schon. #<br />

23

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!