Semantik II
Semantik II
Semantik II
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
„Einführung in die deutsche<br />
Sprachwissenschaft“ (V)<br />
<strong>Semantik</strong> <strong>II</strong>
Gliederung<br />
1) Merkmalssemantik<br />
2) Prototypensemantik<br />
3) Prinzip der sprachlichen Relativität (Sapir/Whorf-Hypothese)<br />
4) Wörter im syntaktischen Verbund
Merkmalssemantik<br />
Mann<br />
Frau<br />
Kind<br />
Bulle<br />
Kuh<br />
Kalb<br />
Widder<br />
Schaf<br />
Lamm<br />
Eber<br />
Sau<br />
Ferkel<br />
+ männlich<br />
- weiblich<br />
+ weiblich<br />
- männlich<br />
+/- weiblich<br />
+/- männlich<br />
+ erwachsen + erwachsen - erwachsen
Merkmalssemantik<br />
Fluss<br />
Bach<br />
Kanal<br />
Graben<br />
See<br />
Tümpel<br />
Teich<br />
Becken<br />
fließend<br />
+<br />
+<br />
+<br />
+<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
natürlich<br />
+<br />
+<br />
-<br />
-<br />
+<br />
+<br />
-<br />
-<br />
klein<br />
-<br />
+<br />
-<br />
+<br />
-<br />
+<br />
-<br />
+<br />
[Beispiel aus Franz Hundsnurscher, Neuere Methoden der <strong>Semantik</strong>, 2.,<br />
durchges. Aufl. (Tübingen 1971), S. 42]
Merkmalssemantik<br />
Merkmalgewinnung durch stufenweise Ausdifferenzierung:<br />
Bsp. Truhe<br />
Semantisches Merkmal Abgrenzung z.B. gegenüber ...<br />
-------------------------------------------------------------------------------------<br />
[+ zählbar, + konkret, -belebt] Milch, Liebe, Mensch<br />
[+ Artefakt] Stein<br />
[+ Funktion: Behälter] Werkzeug, Fahrzeug<br />
[+ Material: Holz] Kessel, Tasche, Topf<br />
[+ Verwendung: als Möbel] Kiste, Korb, Trog<br />
[+ relative Größe: groß] Kassette<br />
[+ aufklappbarer Deckel] Schrank<br />
[Beispiel aus Franz Hundsnurscher, Neuere Methoden der <strong>Semantik</strong>, 2., durchges.<br />
Aufl. (Tübingen 1971), S. 42f.]
Merkmalssemantik<br />
Probleme der Merkmalsanalyse:<br />
- keine systematischer Katalog semantischer Merkmale, sondern adhoc-Bestimmungen<br />
(+ aufklappbarer Deckel!)<br />
- z.T. kontinuierliche Übergänge zwischen Merkmalen (groß-klein:<br />
nicht binär bestimmbar)<br />
Weitere Schwierigkeit: Polysemie<br />
Bsp.: Wurzel<br />
1) der in der Erde befindliche Teil einer Pflanze<br />
2) Ursprungsstelle eines Organs (Zahnwurzel)<br />
3) regional: Synonym zu Möhre/Karotte<br />
4) figürlich: Ursache, Grund<br />
5) Mathematik: diejenige Zahl, deren zweite, dritte bis nte Potenz die<br />
Zahl a ist (Quadratwurzel)<br />
6) Sprachwissenschaft: Stamm-Morphem<br />
usw.
Prototypensemantik<br />
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) über Spiele:<br />
"Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir Spiele nennen. Ich meine<br />
Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. Was ist diesen<br />
gemeinsam? ... wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht sehen, was allen<br />
gemeinsam ist, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften sehen. [...] Sind<br />
sie alle unterhaltend? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es<br />
überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden?<br />
Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren,<br />
aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist<br />
dieser Zug verschwunden. [...] Man kann sagen, der Begriff 'Spiel' ist ein<br />
Begriff mit verschwommenen Rändern."<br />
- Schwierigkeit, ein klares definitorisches Kriterium für SPIEL anzugeben<br />
- Kategorie SPIEL als ein Netz von Ähnlichkeiten: Familienähnlichkeiten<br />
- Schwierigkeit, Spiele von Nicht-Spielen abzugrenzen (Kampf, Sport):<br />
unscharfe Ränder: keine klare Grenzen zwischen See und Teich,<br />
Strauch und Baum, Tasse und Becher usw.
Prototypensemantik<br />
Familienähnlichkeiten<br />
[im Freien]<br />
[2 Spieler]<br />
[am Tisch]<br />
Aus: J. Aitchison, Words in the mind. An introduction to the mental lexicon. Oxford 1987. S. 48.
Unscharfe Ränder<br />
Prototypensemantik
Prototypensemantik<br />
Unscharfe Ränder<br />
Abgrenzung zu Theke?
Prototypensemantik<br />
Unscharfe Ränder<br />
Abgrenzung zu Kommode?
Prototypensemantik<br />
Prototyp<br />
Prototyp = mentale Repräsentation eines typisches Mitglieds einer<br />
Kategorie (Waschtisch, Schreibtisch, Ladentisch = untypische Mitglieder)
Prototypensemantik<br />
Beispiel: VOGEL<br />
Prototypisch: Rotkehlchen<br />
periphere Mitglieder der<br />
Kategorie: Strauß, Pinguin<br />
Der prototypische Vogel hat<br />
Federn (1), legt Eier (2), kann<br />
fliegen (3), kann singen (4), ist<br />
kleiner als ein Hund (5).<br />
> Die Merkmale (3)-(5) gelten<br />
nicht für Strauß und Pinguin.<br />
Gewichtung der Merkmale: (1)<br />
und (2) sind zentraler als (3)-(5).<br />
= Differenzierung der Merkmalstheorie:<br />
Merkmale sind unterschiedlich<br />
gewichtet.
Prototypensemantik<br />
Indizien für die Existenz von semantischen Prototypen:<br />
- Zentrale Mitglieder einer Kategorie werden im Experiment<br />
übereinstimmend schneller genannt als periphere Mitglieder<br />
(HAUSTIER: Nennung von Hund und Katze, nicht von Kanarienvogel<br />
und Goldfisch)<br />
- Vagheitsindikatoren bei weniger typischen Mitgliedern einer Kategorie:<br />
Streng genommen ist der Pinguin ein Vogel, eigentlich ist auch ein<br />
Professor ein Lehrer, ein Iglu ist so eine Art Haus ...
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
dt. Finger<br />
jap. yubi<br />
dt. Zeh<br />
[Beispiele nach Sebastian Löbner, <strong>Semantik</strong> (Berlin/New York 2003), S. 231]
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
dt. Finger<br />
jap. yubi<br />
dt. Zeh<br />
jap. mizu 'kaltes Wasser'<br />
dt. Wasser<br />
jap. yu 'warmes Wasser'<br />
[Beispiele nach Sebastian Löbner, <strong>Semantik</strong> (Berlin/New York 2003), S. 231]
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
dt. Finger<br />
jap. yubi<br />
dt. Zeh<br />
jap. mizu 'kaltes Wasser'<br />
dt. Wasser<br />
jap. yu 'warmes Wasser'<br />
dt. Baum<br />
engl. tree<br />
jap. ki<br />
dt. Holz dt. Wald<br />
jap. mori<br />
engl. wood<br />
[Beispiele nach Sebastian Löbner, <strong>Semantik</strong> (Berlin/New York 2003), S. 231]
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
> unterschiedliche Kategorisierung von Begriffen in den<br />
Einzelsprachen<br />
= Grundproblem des Übersetzens<br />
Edgar A. Poe, The Fall of the House of Usher<br />
- engl. Original: a sense of insufferable gloom<br />
mansion of gloom<br />
- dt. Übersetzung von Arno Schmidt:<br />
ein Gefühl unleidlicher Düsternis<br />
Herrensitz der Verfinsterung<br />
- dt. Überssetzung von Cramer-Neuhaus/Gröger/Steiner:<br />
eine Empfindung unerträglicher Melancholie<br />
Haus der Schwermut
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
dt. ich habe Kopfschmerzen<br />
frz. j'ai mal à la tête 'ich habe Schlimm am Kopf'<br />
russ. u menya bolit golova ' an mir schmerzt Kopf'<br />
jap. atama ga ita-i 'Kopf ist weh'<br />
> unterschiedliche grammatische Konstruktionen zur<br />
Wiedergabe von Empfindungen in verschiedenen Sprachen
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
Position des linguistischen Relativismus ("Sprachdeterminismus"):<br />
These: Unser Denken wird von den Strukturen unser<br />
Muttersprache determiniert.<br />
Benjamin Lee Whorf<br />
(1897-1941)<br />
Edward Sapir<br />
(1884-1939)
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
"Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren<br />
und ihnen Bedeutungen zuschreiben, das ist weitgehend<br />
davon bestimmt, dass wir an einem Abkommen beteiligt sind,<br />
sie in dieser Weise zu organisieren - einem Abkommen, das für<br />
unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt und in den Strukturen<br />
unserer Sprache kodifiziert ist. Dieses Abkommen ist natürlich<br />
nur ein implizites und unausgesprochenes, aber sein Inhalt ist<br />
absolut obligatorisch; wir können überhaupt nicht sprechen,<br />
ohne uns der Ordnung und Klassifikation des Gegebenen zu<br />
unterwerfen, die dieses Übereinkommen vorschreibt."<br />
(Whorf 1963, Sprache-Denken-Wirklichkeit; zit. n. Löbner 2003, S. 242)<br />
Traditionslinie: Wilhelm von Humboldt (1762-1835)<br />
Jede Sprache ist kennzeichnend für den Geist (die Vorstellungswelt)<br />
des Volkes, das sie spricht.
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
Berühmter Mythos: Die Eskimos kennen 40 Wörter für Schnee.<br />
(Tatsächlich wohl nur 2 Grundwörter: qanik 'fallender Schnee', aput<br />
'liegender Schnee', alles andere sind Zusammensetzungen oder<br />
Ableitungen davon.)<br />
Vgl. dazu z.B.: http://www.uni-koblenz.de/~klemm/fachblogstexte.pdf<br />
Nebelbezeichnungen im Färöischen<br />
- toka (Nebel)<br />
- skadda (dicker, kalter, feuchter Nebel mit Wind)<br />
- pollamjörki (legt sich in vereinzelten Flocken über Land und Meer)<br />
- mjörki (trockener Nebel, wenn ansonsten die Sonne scheint)
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
Ausdrücke für Löcher in der Aborigine-Sprache Pintupi<br />
- yarla (ein Loch in einem Gegenstand)<br />
- pirti (ein Loch im Boden)<br />
- pimki (ein durch eine Felsplatte gebildetes Loch)<br />
- kartalpa (ein kleines Loch im Boden)<br />
- yulpilpa (ein flaches, von Ameisen bewohntes Loch)<br />
- mutara (ein spezielles Loch in einem Speer)<br />
- nyarrkalpa (der Bau kleiner Tiere)<br />
- pulpa (Kaninchenbau)<br />
- makampa (der Bau eines Goanna [Eidechsenart])<br />
- katarta (ein Loch, das ein Goanna hinterlässt, wenn es nach der<br />
Überwinterung den Boden durchbricht)<br />
(Quelle: David Crystal, Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache, 1993, S. 15)
Prinzip der sprachlichen Relativität<br />
Aber:<br />
(1) Möglichkeit der Umschreibung von Begriffen, die es in unserer<br />
Sprache nicht gibt ('warmes Wasser', 'nicht mehr durstig', 'weicher<br />
Schnee' usw.)<br />
(2) grundsätzliche Möglichkeit, alles zu übersetzen<br />
(3) Möglichkeit, sich etwas vorzustellen, für das es kein Wort gibt<br />
(4) Möglichkeit, unabhängig von den verbalen Kategorien der eigenen<br />
Sprache zu denken:<br />
- frz. bois sowohl für 'Holz' als auch für 'kleiner Wald'<br />
> trotzdem können auch Franzosen zwischen dem<br />
Material und dem Wäldchen unterscheiden<br />
- dt. Die Sonne geht auf<br />
> trotzdem müssen wir nicht glauben, dass sich<br />
tatsächlich die Sonne bewegt (dtv-Atlas, S. 25)
Wörter im syntaktischen Verbund<br />
'erwachen'<br />
'wachsam sein'<br />
'staunen'<br />
'mit jmd. flirten'<br />
sich etwas klarmachen'<br />
'planen'<br />
'ungläubig staunen'<br />
'plötzliche Erkenntnis haben'<br />
'verschwinden'<br />
die Augen aufschlagen<br />
die Augen offenhalten<br />
große Augen machen<br />
schöne Augen machen<br />
sich etwas vor Augen führen<br />
etwas ins Auge fassen<br />
seinen Augen nicht trauen<br />
wie Schuppen von den Augen fallen<br />
aus den Augen gehen<br />
Idiomatische Wendungen<br />
festgefügte Wortgruppe, lexikalisiert, ganzheitliche Bedeutung,<br />
keine Austauschbarkeit der Komponenten (*Das bringt mich auf die<br />
Pappel, *die Gabel abgeben, *etwas durch die Nelke sagen, *viel<br />
Federlesens machen, *er hat lange gefackelt)
Wörter im syntaktischen Verbund<br />
ranzige _______, faule ________, saure _________<br />
(z.B. ranzige Butter, faule Eier, saure Milch, aber nicht *saure Butter,<br />
*ranzige Eier, *faule Milch)<br />
blonde _______, brünette _________<br />
(nur mit Haare, aber nicht *blonde Banane, *brünette Kommode)<br />
gesetzter ________<br />
(nur mit Herr, aber nicht *gesetzte Dame)<br />
= Kollokationen<br />
usuelle, durch den Sprachgebrauch vorgegebene, erwartbare<br />
Wortverbindung
Wörter im syntaktischen Verbund<br />
Patrouille<br />
Die Steine feinden<br />
Fenster grinst Verrat<br />
Äste würgen<br />
Berge Sträucher blättern raschlig<br />
Gellen<br />
Tod.<br />
August Stramm<br />
Fenster grinst Verrat.<br />
- syntaktische Abweichung: grinsen ist einwertig und kann eigentlich<br />
kein Objekt bei sich haben<br />
- semantische Abweichung: grinsen verlangt eigentlich ein Subjekt mit<br />
dem Merkmal [+ menschlich] = Verletzung von semantischen<br />
Selektionsbeschränkungen<br />
Ähnlich bei: Äste würgen, Berge blättern raschlig, Sträucher gellen Tod