Gaiserwald - Kirchenbote
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DerGlocken-Experte<br />
Hans Jürg Gnehm hat im Auftrag<br />
des Bundesamtes für Kultur<br />
Glockeninventare für Kantone<br />
erstellt. Auch dasjenige der<br />
Stadt St.Gallen ist von ihm<br />
so habe ich 1986 die Kirchenvorsteherschaft<br />
Affeltrangen, meinem jetzigen<br />
Wohnsitz, überzeugen können,<br />
im Rahmen der Renovation der Kirche<br />
das Geläute um eine neue kleinste<br />
Glocke zu erweitern.<br />
zusammengetragen worden.<br />
Herr Gnehm, warum haben Sie Glocken<br />
gern?<br />
Glocken sind oft alt und bergen Zeitgeschichte<br />
und Geschichten in sich.<br />
Sie sind fern, zwischen Himmel und<br />
Erde irgendwie entrückt in einer eigenen<br />
Welt, trotzdem sind sie im Alltag<br />
präsent. Obwohl sie massiv und<br />
schwer sind, lassen sie sich ganz leicht<br />
bewegen und es braucht nur ein<br />
leichtes Anschlagen, eine Vibration<br />
oder ein Luftzug, um ihnen einen<br />
Ton zu entlocken. Ihr Klang ist<br />
machtvoll und weithin hörbar.<br />
Seit wann haben Sie Glocken gern?<br />
Mein Grossvater war Siegrist in meiner<br />
Heimat- und damaligen Wohngemeinde<br />
im Tösstal. Aber weder er<br />
Was gefällt Ihnen besonders an Glocken?<br />
Der Klang. Mehr als 50 Prozent des<br />
Glockenklangs entsteht durch die<br />
Umgebung. Es kommt sehr darauf<br />
an, ob die Glocken in einem offenen<br />
oder geschlossenen Turm hängen<br />
und aus welchem Material dieser ist.<br />
Dann auch das, was das Geläute<br />
zum Ausdruck bringt: Glocken rufen<br />
zusammen, sei es zum Gottesdienst,<br />
zu einer Hochzeit oder Beerdigung.<br />
Sie läuten nach einer bestimmten<br />
Ordnung immer gleich. Durch diese<br />
Läutordnung geben Glocken Botschaften<br />
weiter. So ist zum Beispiel<br />
bei einer Beerdigung am Geläute hörbar,<br />
ob ein Mann oder eine Frau verstorben<br />
ist. Glocken melden aber<br />
auch Bedrohungen. Auf vielen Spritzenhäuschen<br />
oder alten Schulhäusern<br />
finden sich Glöckchen, die früher<br />
vor allem eingesetzt wurden, um<br />
Hans Jürg Gnehm: Schon auf seinen<br />
Kinderzeichungen waren Glocken.<br />
wie das Läutwerk abgestimmt ist, hat<br />
dies grossen Einfluss auf den Eindruck,<br />
den ein Geläute hinterlässt.<br />
Welches ist Ihr Lieblingsgeläute?<br />
Das Geläute der eigenen Kirche ist<br />
vermutlich immer das Schönste. Es<br />
ist verbunden mit Erinnerungen und<br />
eng verknüpft mit dem eigenen Leben.<br />
Es ist nicht die musikalische<br />
Reinheit eines Geläutes, welches die-<br />
«Einer<br />
auch he<br />
«Obwohl Glocken massiv und schwer sind, lassen sie sich ganz leicht beweg<br />
es braucht nur ein leichtes Anschlagen, eine Vibration oder ein Luftzug, um<br />
einen Ton zu entlocken.»<br />
noch sonst jemand in der Familie<br />
hatte eine besondere Beziehung<br />
zu Glocken. Meine Liebe zu den<br />
Glocken hat sich zuerst in Zeichnungen<br />
geäussert. Wie die anderen Buben<br />
habe ich im Kindergarten Eisenbahnen<br />
und Flugzeuge gemalt. Im<br />
Gegensatz zu ihnen waren auf meinen<br />
Zeichnungen immer auch noch<br />
Kirchen und Glockentürme zu sehen.<br />
Als Jugendlicher habe ich dann allerdings<br />
nicht mehr über meine Freude<br />
an Glocken gesprochen, da dies vermutlich<br />
ziemlich uncool gewesen wäre.<br />
Die Liebe dazu aber ist geblieben:<br />
den Ausbruch eines Feuers zu melden.<br />
Jede Glocke hat einen Spruch.<br />
Das häufigste Thema der Glockensprüche<br />
ist Frieden. Evangelische<br />
Glocken sind nicht heilig. Sie haben<br />
keine eigene Botschaft, sondern sind<br />
«Dienerinnen» für das Glaubensleben.<br />
Glocken haben oft Verzierungen.<br />
Faszinierend sind die Männerfratzen<br />
an der Aufhängung der Glocken. Es<br />
gibt entweder Frauenköpfe, Engel<br />
oder eben Männerfratzen. Spannend<br />
ist auch das Technische: je nachdem,<br />
ses speziell schön macht, es ist die Beziehung,<br />
die man dazu hat. Abgesehen<br />
davon ist das Geläute der<br />
St.Laurenzen-Kirche in St.Gallen ein<br />
besonders Schönes. Es ist ein Dur-<br />
Geläute auf die Töne G, H, D, G, H.<br />
Die schönste Glocke ist wohl die<br />
Herrgottsglocke in Herisau. Sie kam<br />
vor rund 200 Jahren aus dem ehemaligen<br />
Kloster Salem ins Appenzell. Ihr<br />
Klang hat eine unverwechselbare Fülle,<br />
ihr Nachhall ist machtvoll, aber<br />
nicht erdrückend, sie klingt selbstbewusst<br />
und voll ernster Zuversicht.<br />
Interview: Annina Policante<br />
Die Glocken –<br />
eine Nostalgie<br />
Glocken sind ein beliebtes<br />
Thema. Schillers «Lied von der<br />
Glocke», 1800 erschienen, ist aus<br />
dem Schulunterricht präsent. In<br />
über 400 Versen besingt Schiller,<br />
wie die Glocken das Leben einer<br />
Gemeinschaft begleiteten und<br />
strukturierten. Es ist ein Blick in<br />
eine untergegangene Welt. In<br />
einem Beitrag schreibt die Literaturkritikerin<br />
Angelika Overath:<br />
«Solange der christliche Tagesablauf<br />
noch Gültigkeit hatte,<br />
zeigten die Glocken nicht nur die<br />
Zeit an, sondern erinnerten an<br />
eine Gemütshaltung, die alle zu<br />
dieser Stunde einnehmen würden.»<br />
Gemeint ist: Die klingende<br />
Botschaft vom Kirchturm<br />
erinnerte an den gemeinsamen<br />
Bezugspunkt «Gott». Zudem<br />
verkündeten die Glocken die<br />
Extreme menschlichen Lebens:<br />
Die Feuerglocke einerseits,<br />
das Dankesläuten nach der<br />
gebannten Gefahr anderseits.<br />
Und das Totenglöcklein war eine<br />
«Veröffentlichung» der Trauer<br />
um Verstorbene.<br />
Das Buch von Alain Corbin<br />
Wer in diese Welt eintauchen<br />
will, greift zum Buch «Die Sprache<br />
der Glocken» des französischen<br />
Historikers Alain Corbin.<br />
Darin findet sich nicht nur eine<br />
schöne Darstellung des einst-<br />
<strong>Kirchenbote</strong> Kanton St.Gallen / September 2010–Februar 2011