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V. Sackville-West. - Oeko-Net

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FEUILLETON<br />

Jenseits der Konventionen<br />

Vita <strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong> – Publikationen anlässlich ihres 50. Todestages<br />

250<br />

Anlässlich des 50. Jahrestags des Todes der<br />

englischen Schriftstellerin Vita <strong>Sackville</strong>-<br />

<strong>West</strong> hat sich eine so überraschende wie passende<br />

Konstellation deutschsprachiger Publikationen<br />

ergeben: ein Roman über sie, ein Roman von<br />

ihr selbst und eine Auswahl aus der Korrespondenz<br />

mit ihrem Mann, dem Diplomaten und<br />

Schriftsteller Harold Nicolson. Orlando –soNigel<br />

Nicolson in der Einleitung zur englischen Ausgabe<br />

des Briefwechsels seiner Eltern – sei »der<br />

längste und bezauberndste Liebesbrief« der Literatur.<br />

Virginia Woolf, damals bereits eine bekannte<br />

Autorin, hatte ihn 1928 seiner Mutter, Vita<br />

<strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong>, gewidmet. Die beiden Frauen verband<br />

eine intime, zeitweise leidenschaftliche<br />

Freundschaft. Vita bewunderte die ungekünstelte,<br />

geistig erregende und schöne Intellektuelle, Virginia<br />

war beeindruckt von der geschmeidigen,<br />

abenteuerlustigen und Glanz verbreitenden Aristokratin.<br />

Die zehn Jahre jüngere Vita entstammte<br />

einem der ältesten Adelsgeschlechter Englands.<br />

Schloss Knole in Kent, in dessen ahnengeschmückten<br />

Wänden sie aufwuchs, war ihren Vorfahren<br />

einst von Königin Elisabeth I. übereignet worden.<br />

Obgleich einziges Kind des dritten Barons Lionel<br />

<strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong> war sie als Frau von der Erbfolge<br />

ausgeschlossen. Virginia machte das palastähnliche<br />

Kindheitsparadies Vitas mit seinen sagenhaften<br />

sieben Innenhöfen, den 52 Treppenhäusern,<br />

»Hunderten von Rauchfängen«, 365 Zimmern<br />

und weitläufigen Ländereien zum zentralen Schauplatz<br />

ihres Romans. Auf immer war der Herrensitz<br />

nun mit der geliebten Freundin verbunden<br />

durch ein literarisches Werk, das zu Virginia<br />

Woolfs erfolgreichstem Buch wurde.<br />

Fantasie und Realität, literarische und biografische<br />

Unkonventionalität verschmolzen darin<br />

zu einer Parodie auf herkömmliche Vorstellungen<br />

von Leben und Identität, von Raum und Zeit.<br />

Orlando bewegt sich durch dreieinhalb Jahrhunderte,<br />

wechselt den Epochen entsprechend seinen<br />

Lebensstil, seinen Charakter, ja sogar sein<br />

Geschlecht, ohne dabei sein dichterisches Ich je<br />

aufzugeben, und wird dabei nur etwa zwanzig<br />

Jahre älter.<br />

Die fantastische Romanze beginnt im 16.<br />

Jahrhundert, im »merry old England« Elisabeths I.,<br />

und endet mit dem zwölften Glockenschlag der<br />

Mitternacht »am Donnerstag, dem elften Oktober<br />

neunzehnhundertachtundzwanzig« – dem Tag,<br />

an dem das Buch erschien. Der Roman steckt voller<br />

scherzhafter Anspielungen auf Vita <strong>Sackville</strong>-<br />

<strong>West</strong> und ihre Vorfahren, auf ihre vielen Affären,<br />

ihre wagemutigen Reisen und ihr dichterisches<br />

Schaffen, ohne dass die Atmosphäre von Überschwang<br />

und Übermut je kippte und der Eindruck<br />

einer Preisgabe von Privatem entstünde. Am Hofe<br />

James I. tritt Orlando beispielsweise als Galan<br />

auf, der sich unsterblich in die russische Prinzessin<br />

Sascha verliebt – eine tragikomische Satire<br />

auf Vitas ekstatische Liebesaffäre mit Violet Trefusis,<br />

aus der sie ihr Mann erst nach Jahren zu<br />

befreien vermochte. Später schließt Orlando, aus<br />

tiefem Schlaf als Frau erwacht, sich umherziehenden<br />

Zigeunern an – ein versteckter Hinweis auf<br />

Vitas Großmutter, eine zu ihrer Zeit berühmte<br />

spanische Tänzerin, die mit dem zweiten Baron<br />

Lionel <strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong> mehrere illegitime Kinder<br />

hatte, darunter Vitas Mutter Victoria. Während<br />

der ganzen Reise, die Orlando schließlich – erfüllt<br />

von Sehnsucht nach den heimischen Hügeln und<br />

Wäldern – nach England zurückführt, trägt er<br />

oder auch sie ein workinprogress, die Dichtung<br />

»Die Eiche«, bei sich. Auch dies eine Anspielung<br />

einerseits auf Vitas damaligen Wohnsitz »Sevenoaks«<br />

(Siebeneichen), andererseits auf ihr Langpoem<br />

»The Land«, ein traditionelles Schäfergedicht,<br />

für das sie mit dem renommierten Hawthorne-Preis<br />

ausgezeichnet wurde.<br />

Virginia Woolfs zuerst 1928 publizierter Roman<br />

wurde insgesamt vier Mal ins Deutsche<br />

übertragen: 1929 von Karl Lerbs. 1942 kam es auf<br />

die Verbotsliste des nationalsozialistischen Propagandaministeriums;<br />

1961 erschien die dreißig<br />

Jahre lang gültige Fassung von Herberth und<br />

Marlys Herlitschka. Gemessen an den beiden folgenden<br />

recht wortgetreuen Übersetzungen von<br />

Brigitte Walitzek (1990) und Melanie Waltz<br />

(2012) handelt es sich bei der Herlitschka-Übertragung<br />

um eine ganz im Duktus der damaligen<br />

(Virginia Woolf nahen) Zeit verfassten, eher<br />

freien Version.<br />

Hier nur zwei kleine, beliebige Beispiele zur<br />

Verdeutlichung der Unterschiede: Woolfs Vergleich<br />

»shy as a little girl behind her mother’s cottage<br />

door« wird bei den Herlitschkas zu »scheu<br />

wie ein kleines Mädchen hinter den Schürzenbändern<br />

der Mutter«. Bei Brigitte Walitzek heißt<br />

es: »schüchtern wie ein kleines Mädchen hinter<br />

der Katentür seiner Mutter«, bei Melanie Walz:<br />

»schüchtern wie ein kleines Mädchen hinter der<br />

Tür der Bauernkate seiner Mutter«. Eine einzeln<br />

dastehende Zeile lautet auf Englisch: »He blushed<br />

deeply.« Bei den Herlitschkas heißt es: »Er errötete<br />

tief.« Bei Walitzek: »Er wurde über und über rot.«<br />

Bei Walz: »Er errötete zutiefst.« Im ersten Beispiel<br />

würde man wohl der letzten, im zweiten<br />

eher der ersten oder zweiten Version zustimmen.<br />

Wie auch immer: flüssig und gut lesbar sind alle<br />

drei Fassungen.<br />

Einen ersten faszinierenden Eindruck von den<br />

Realitäten, die Virginia Woolf bei Orlando inspirierten,<br />

vermittelt eine von Barbara von Becker<br />

herausgegebene Auswahl aus dem Briefwechsel<br />

einer ungewöhnlichen Ehe. Von den 10500 erhaltenen<br />

Briefen seiner Eltern hatte Nigel Nicolson<br />

1992 mehr als eineinhalb Tausend publiziert.<br />

81davonsindnun–leiderohneNicolsonsaufschlussreiche<br />

Anmerkungen und ohne zuverlässige<br />

Kennzeichnung von Kürzungen – auf<br />

Deutsch zusammengestellt. Doch auch so wird<br />

das in mehrfacher Hinsicht Ungewöhnliche dieses<br />

Verhältnisses deutlich. Ungewöhnlich ist dieser<br />

in erstaunlicher Offenheit und in großem gegenseitigem<br />

Vertrauen geführte briefliche Dialog,<br />

der eine sich über ein halbes Jahrhundert erstreckende<br />

Ehe auf Distanz ermöglichte. Ungewöhnlich<br />

ist zugleich das Verhältnis eines heterosexuellen<br />

Paares, das nach der Geburt zweier Söhne<br />

einander eng verbunden blieb, bei gleichzeitiger<br />

gegenseitiger Tolerierung homosexueller Beziehungen<br />

und teils separater Vorlieben. Gleichzeitig<br />

anrührend und elitär-narzisstisch wirkt dies, wie<br />

Vita einmal selbst formuliert, »seltsame, distanzierte,<br />

intime, mystische Verhältnis, das wir einem<br />

außenstehenden Menschen niemals erklären<br />

können«.<br />

In einem ihrer ersten Briefe zählte 1912 die<br />

20-jährige Vita dem sechs Jahre älteren, als Diplomat<br />

nach Konstantinopel entsandten Harold freimütig<br />

ihre Laster und Tugenden auf. Das beginnt<br />

mit »Ich langweile mich nie« und endet: »Ich<br />

denke, es sollte uns leicht fallen, uns gegenseitig<br />

zu fördern.« Beide Eigenschaften fehlen der Heldin<br />

ihres zwanzig Jahre später erschienenen Romans<br />

Family History vollkommen. Evelyn Jarrold,<br />

die Protagonistin des nun in einer neu bearbeiteten<br />

Übersetzung unter dem Titel Eine Frau von<br />

vierzig Jahren erschienenen Romans, hat sich<br />

nach dem frühen Tod ihres Mannes dem mondänen<br />

Leben von dessen neureicher Familie angepasst.<br />

Ihr 17-jähriger Sohn Dan soll einmal seinen<br />

Großvater beerben, der es mit Fleiß, List und<br />

Energie zu einem bedeutenden Industriemagnaten<br />

gebracht hat.<br />

Unabhängig voneinander lernen Mutter und<br />

Sohn Miles Vane Merrick kennen, einen jungen,<br />

kritischen, umsichtigen Gutsbesitzer und sozial<br />

engagierten Politiker. Für Dan, dem der Zeitvertreib<br />

der gehobenen Mittelschicht verhasst ist,<br />

wird er zum großen Vorbild, für Evelyn zur ersten<br />

wirklichen Liebe ihres Lebens. Er erscheint wie<br />

die Verkörperung einer neuen freieren und gerechteren<br />

Gesellschaft. Doch so leidenschaftlich<br />

und tief die Liebe zwischen Evelyn und dem jungen<br />

Miles auch ist, sie führt zu keinem gegenseitig<br />

förderlichen Verhältnis. Ohne Bildung aufgewachsen<br />

ist Evelyn einzig von dem Verlangen erfüllt,<br />

dem Mann, den sie liebt, alles zu geben. Weil<br />

sie ihn aber auch ganz besitzen möchte, ist sie eifersüchtig<br />

auf seine Arbeit, seine Freunde, seine<br />

Kommune 6/2012


BÜCHERWELT<br />

Kommune 6/2012<br />

vielfältigen Aktivitäten. Ihre Liebe wird zur Tyrannei<br />

und scheitert. Das wird von der Autorin<br />

auf traditionelle Weise erzählt und rührte Harold<br />

zu Tränen. Dieser und andere Romane Vita <strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong>s<br />

erschienen in Virginia und Leonard<br />

Woolfs Verlag, der Hogarth Press, verkauften sich<br />

gut und trugen wesentlich zur Konsolidierung<br />

des Verlags bei.<br />

Die drei Publikationen, so zufällig ihr Zusammentreffen<br />

ist, zeigen gerade in ihrer Verschiedenartigkeit:<br />

Wenn Liebende mit literarischen<br />

Unbekannte in der Erinnerung<br />

Spuren jüdischen Lebens in Neukölln<br />

Arthur Wiener, Pauline Wiener – ich kannte sie<br />

nicht. Aber sie hätten meine Nachbarn sein<br />

können – wie heute Türken, Araber, Afrikaner,<br />

Vietnamesen meine Nachbarn sind.<br />

Arthur und Pauline wurden am 31.8.1942<br />

nach Theresienstadt deportiert. Arthur war 80<br />

Jahre, Pauline 84 – er bei Kattowitz (in Hohenlohenhütte),<br />

sie in Sangerhausen (Thüringen) gebürtig.<br />

Arthur Wiener ermordet am 19.9.1942 in Theresienstadt,<br />

Pauline Wiener am 2.11.1942. Die beiden<br />

hatten vier Kinder. Zwei Söhne sind 1915 »für<br />

das deutsche Vaterland gefallen«. Ein Sohn und<br />

eine Tochter sind »unbekannt evakuiert«. »Evakuiert«<br />

heißt in der Sprache der Nazis: deportiert.<br />

Ihre Wohnung Herrfurthstr. 5 war im »Quergebäude<br />

I, ptr.«, 2 Zimmer, Küche und W.C. Miete:<br />

Reichsmark 33,00. Hier wohnte Arthur Wiener<br />

seit 1909. Um diese Zeit ist die Herrfurthstr., Rixdorf,<br />

bebaut worden, damals noch nicht Neukölln,<br />

und das Ehepaar Wiener war unter den ersten<br />

Mietern, die das Haus bezogen. Arthur W. war<br />

Händler von Beruf. Er hatte später in seiner Zweizimmer-Wohnung<br />

einen Untermieter aufgenommen,<br />

Georg Goldstaub, von dem er 1942 notierte:<br />

»Jude, Arbeiter bei Siemens & Halske, hat Miete<br />

für Monat August bezahlt (15 RM). Wandert nicht<br />

aus.« Am 1. August 1942 erhielt Arthur Wiener<br />

die amtliche Mitteilung, dass sein gesamtes Vermögen<br />

»Auf Grund des § 1 des Gesetzes über die<br />

Einziehung kommunistischen Vermögens … in<br />

Verbindung mit dem Gesetz über die Einziehung<br />

volks- und staatsfeindlichen Vermögens« eingezogen<br />

wird.<br />

Arthur Wiener wurde aufgefordert, eine »Vermögenserklärung«<br />

abzugeben. Ein Vermögen<br />

besaß er nicht. So listete er seine Habseligkeiten<br />

aus Küche, Wohn- und Schlafzimmer auf. Vom<br />

28. August 1942 liegt ein Schreiben der Gestapo<br />

Mitteln miteinander kommunizieren, entsteht<br />

dabei für das Publikum höchst Lesenswertes und<br />

eine Lektüre, die Intensität der Gefühle garantiert.<br />

Wera Schneefeld<br />

Virginia Woolf: Orlando. Roman. Aus dem Englischen von Melanie<br />

Walz, Berlin (Insel Verlag) 2012 (304 S., 21,95 )<br />

Vita <strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong>, Harold Nicolson: In der Ferne so nah. Briefwechsel<br />

einer ungewöhnlichen Liebe. Hrsg. v. Barbara von<br />

Becker, Hamburg (Verlag Hoffmann und Campe) 2012 (125<br />

S., 12,00 )<br />

Vita <strong>Sackville</strong>-<strong>West</strong>: Eine Frau von vierzig Jahren. Roman. Aus<br />

dem Englischen von Theodor und Jutta Knust, Berlin (Edition<br />

Eberbach) 2012 (432 S., 24,80 )<br />

vor, handschriftlich ausgefüllt: »Bei der Zustellung<br />

des Schreibens der Geh. Staatspolizei an<br />

Herrn Arthur Israel Wiener im Haus Große Hamburgerstr.<br />

26 wurde der Empfänger nicht angetroffen.«<br />

In der Großen Hamburgerstraße war ein<br />

Sammellager für Juden, die auf ihre Deportation<br />

warteten. Arthur und Pauline Wiener aber waren<br />

unterwegs nach Theresienstadt, am 31. August<br />

1942, zusammen mit 98 anderen Juden aus Berlin.<br />

Paul Celan schrieb in einem Gedicht, das wie<br />

Arthur Wiener gewidmet scheint:<br />

Über Kattowitz<br />

bist du gekommen, am Anhalter<br />

Bahnhof<br />

floss deinen Blicken ein Rauch zu,<br />

der war schon von morgen.<br />

Das erinnert an das »Grab in den Lüften« aus dem<br />

berühmten Gedicht »Todesfuge«, und das ist der<br />

Grund, warum an Arthur und Pauline Wiener, die<br />

keinen Grabstein haben, durch einen Stolperstein<br />

erinnert werden soll.<br />

Jahre darauf erschien ein Buch über Juden in<br />

Neukölln. Arthur und Pauline Weber kommen darin<br />

nicht vor, außer im dokumentierten Neuköllner<br />

Gedenkbuch über die ermordeten Juden des<br />

Stadtviertels. Und doch fügt sich ihr Schicksal in<br />

die Berichte über Leben, Vertreibung und Tod der<br />

Juden in Neukölln ein.<br />

Neukölln war rot, SPD und KPD die stärksten<br />

Fraktionen im Rathaus, aber die Roten waren<br />

nicht viel anders als die bürgerlichen Antisemiten:<br />

Am 10. September 1920 schreibt ein »kommunistischer<br />

Arbeiterkorrespondent« über die »Blutsauger<br />

des deutschen Volkes im Scheunenviertel«.<br />

Das Berliner Tagblatt erscheint am 18.10.1920 mit<br />

der Schlagzeile: »Die Schieber im Scheunenviertel«,<br />

die Zeitschrift Zeitbilder schreibt: »Die Börse<br />

für den wilden Gold- und Silberhandel in der Grenadierstraße<br />

in Berlin«, auch Scheunenviertel,<br />

das als ostjüdisches Wohngebiet in Berlin-Mitte<br />

bei allen, von Kommunisten bis Bürgerlichen, in<br />

Verruf war.<br />

Neukölln wurde 1920 der Stadt Berlin angeschlossen.<br />

1925 wohnten im Berliner Stadtviertel<br />

über 290 000 Bürger, darunter ein Prozent jüdischen<br />

Glaubens. Allerdings waren im roten Viertel<br />

viele aus der Gemeinde ausgetreten und hatten<br />

sich von der Religion abgewandt. In ganz Berlin<br />

lebten 1925 172 672 Juden. Manche Juden zogen<br />

fort aus Neukölln, nach Wilmersdorf und andere,<br />

bessere Gegenden, denn es war nicht »fein«, in<br />

Neukölln zu wohnen, einem proletarischen Milieu.<br />

Und wenn schon in Neukölln, dann wohnte man<br />

in den besseren Teilen des Viertels – Britz, Buckow<br />

oder Rudow.<br />

Das Buch Zehn Brüder waren wir gewesen ...<br />

erzählt vielfältig und kenntnisreich Geschichten<br />

jüdischer Lebensschicksale, vom Trödlergehilfen<br />

bis zur Emigration eines Neuköllner Arztes in<br />

den spanischen Bürgerkrieg. Ein US-Emigrant,<br />

früher in Neukölln lebend, sagt:»Die deutschen<br />

Nazis, die liefen nach dem Krieg ganz gebückt<br />

und mit einem Stock und alten Klamotten herum.<br />

Nachdem sie sahen, dass ihnen nichts passiert, da<br />

waren sie plötzlich wieder gesund und liefen aufrecht.«<br />

Dass auch von der Nachkriegsgeschichte erzählt<br />

wird, ist sehr nützlich: Inhaber und Geschäftsleitung<br />

einer Produktionsstätte für Gaswagen<br />

(»Gaubschat-Fahrzeugwerke Neukölln«) hatten<br />

sich in »ruhigere Gefilde abgesetzt«. Immerhin<br />

waren mit drei Gaswagen dieser Firma 97000 Opfer<br />

»verarbeitet« worden.<br />

Die sogenannte Wiedergutmachung ist ein<br />

gemischtes Kapitel. Zwar rechnete die BRD 1953<br />

mit Kosten von 1 Milliarde DM. Mitte der Sechzigerjahre<br />

setzte man sie auf 40 Milliarden DM.<br />

Trotzdem suchte man sie so niedrig wie möglich<br />

zu halten: Wer einen Judenstern tragen musste,<br />

erhielt 5 DM pro Tag. Entschädigungssätze für<br />

Traumatisierung gab es nicht. Bestimmte Gruppen,<br />

wie Kommunisten, blieben von der Entschädigung<br />

ganz ausgeschlossen. Kurt Chraplewski<br />

sagt in einem Interview: »Ich bin durch die ganze<br />

Zeit in meiner Entwicklung gehemmt ... Ich habe<br />

mich selbst ziemlich isoliert und bin menschenscheu<br />

geworden ... Wenn ich mit jemand neu in<br />

Berührung komme, weiß ich ja nie, wen ich da vor<br />

mir habe. Am liebsten würde ich jeden fragen:<br />

Was hast du im Dritten Reich gemacht? Ich komme<br />

nicht darüber hinweg.« Peter Mosler<br />

Dorothea Kolland (Hrsg.): »Zehn Brüder waren wir gewesen<br />

…« Spuren jüdischen Lebens in Neukölln, Berlin (Hentrich &<br />

Hentrich Verlag) 2 2012 (608 S., 335 Abb., 29,90 )<br />

251


FEUILLETON<br />

Die Verlockung der Grenzdurchbrüche<br />

Erzählt in Jörg Saders »Unter Tage«<br />

Du bist also zurückgekehrt?‹ Fest umfasst er<br />

die Stäbe. Er lehnt, als suche er Schutz, den<br />

Kopf an die Mauer unterhalb des Fensters. Modergeruch<br />

entströmt ihr. ›Warum … Warum bist<br />

du zurückgekehrt?‹« Der Gefragte wird die Stimme<br />

im Kopf nicht mehr los, bis er es in seiner ehemaligen<br />

Gefängniszelle nicht mehr aushält.<br />

Die Mehrheit der Erzählungen in Jörg Saders<br />

Unter Tage sind Teil eines Geflechtes, das sich<br />

erst allmählich erschließt. Da ist der Junge, dessen<br />

Lehrer im Auftrag des Direktors dafür sorgt,<br />

dass er nach der achten Klasse abgehen muss.<br />

Ein anderes Mal zieht es zwei Lehrlinge magisch<br />

zum Brandenburger Tor, einem verbotenen Ort,<br />

zwischen dessen Säulen sie vier, fünf Jahre zuvor<br />

problemlos hindurch spazieren konnten. Ein Icherzähler<br />

lässt hautnah miterleben, wie er nachts<br />

ins Sperrgebiet schleicht, wo ein Kradmelder<br />

Verdacht schöpft, ihn verfolgt. Das Ende bleibt<br />

offen. – Aus einer späteren Erzählung ist zu erfahren,<br />

wie einer an der Grenze in eine Salve lief.<br />

Ein anderer hatte mehr Glück, er löste einen Signaldraht<br />

aus: »Ein wahrer Hagel von Leuchtraketen<br />

war das, mon Dieu.«<br />

Unter Tage, im Kupferbergwerk bleibt wiederum<br />

offen, ob der Strafgefangene dem Druck des Offiziers<br />

nachgegeben und den Fluchtversuch zweier Häftlinge<br />

verraten hat. Zigaretten jedenfalls hat er genommen.<br />

Glück haben jene Gefangenen, die in zwei Busse<br />

steigen dürfen. Das Licht im Ort im Talgrund erscheint<br />

ihnen wie eine wunderbare Einladung. Dann<br />

fallen sie sich in die Arme. Sie sind frei gekauft.<br />

Die Namen der Hauptfiguren wechseln, doch<br />

erscheinen ihre Erlebnisse wie die Teile einer Biografie.<br />

Die Nähe zur Vita ihres Autors ist wohl<br />

nicht von ungefähr.<br />

Jörg Sader, 1945 in Erfurt geboren, wird für die<br />

Elite-Internatsschule in Wickersdorf abgelehnt, weil<br />

sein Vater im <strong>West</strong>en lebt. Er macht eine Lehre als<br />

Plakatmaler und arbeitet als Jungredakteur bei der<br />

CDU-Zeitung Thüringer Tagblatt. Nach sechs Wochen<br />

Grundwehrdienst desertiert er und wird beim<br />

Fluchtversuch an der Grenze festgenommen. Nach<br />

vierzehn Monaten wird der Häftling aus der Kupfermine<br />

Volkstedt freigekauft. Heute lebt und arbeitet<br />

Jörg Sader als Rhetorikdozent und freier Autor in<br />

Frankfurt am Main. Er ist Vorsitzender des Autorenkreises<br />

der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Eine thematisch ganz andere Geschichte erzählt<br />

beeindruckend sensibel aus der Sicht einer<br />

Autorin und ihrer Figur Anna die Dreiecksgeschichte<br />

mit ihrem verstorbenen Mann, einem<br />

Maler, und einem Kunstsammler, der bei ihr<br />

übernachtet. Hier offenbart sich eine Psyche aus<br />

Begehrlichkeiten und Rivalitäten, gehoben in eine<br />

Gleichzeitigkeit, wie das nur Literatur vermag.<br />

Nur beim letzten Text unter dem Titel »Farbsturz<br />

– Fragment«, in dem reale Räume bedrohlich von<br />

surrealen Räumen durchschnitten werden, fragt der<br />

Leser sich, warum wird hier nicht zu Ende erzählt?<br />

Denn was Jörg Sader insgesamt vorlegt, sind packende,<br />

mehrschichtig irisierende, mitunter irritierende<br />

Geschichten, denen eins gemein ist: eine hohe<br />

Kunst des Erzählens. Udo Scheer<br />

Jörg Sader: Unter Tage. Erzählungen, Hagen-Berchum (Eisenhut<br />

Verlag) 2011 (132 S., 14,90 ).<br />

Foto: Cornelia Hollaender<br />

252<br />

Kommune 6/2012

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