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Albanien: Schweigen und Sprechen - Oeko-net.de

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TAGE IN ALBANIEN<br />

HILDEGARD SÜHLING / ERNST KÖHLER<br />

<strong>Schweigen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sprechen</strong><br />

Im h<strong>und</strong>ertsten Jahr <strong>de</strong>r Unabhängigkeit <strong>Albanien</strong>s<br />

Kommune 6/2012<br />

Die Geschichte <strong>de</strong>r Verfolgten <strong>de</strong>s kommunistischen<br />

Regimes ist noch nicht geschrieben.<br />

Die Kernschubla<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Geheimdienstes<br />

sind verschlossen. »Vergangenheitsbewältigung«<br />

hat sich seit 1991 noch keine albanische<br />

Regierung zur Aufgabe gemacht. Während<br />

die Opfer <strong>de</strong>s alten Regimes in einem<br />

politisch gewollten Abseits stehen, müssen<br />

sich gut ausgebil<strong>de</strong>te <strong>und</strong> couragierte junge<br />

Leute mit einer neuen politischen Machtsphäre<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen – wenn sich <strong>de</strong>nn<br />

etwas bewegen soll in <strong>de</strong>r Opposition.<br />

Ge<strong>de</strong>nken ohne Erinnerung<br />

Anfang November stirbt Limak Bejko in Tirana.<br />

Im Rahmen eines Hungerstreiks <strong>de</strong>r ehemaligen<br />

Verfolgten <strong>de</strong>s kommunistischen Regimes<br />

hatte er sich selbst in Flammen gesetzt. Der<br />

Protest richtete sich gegen die Verschleppung<br />

bereits bewilligter Entschädigungszahlungen.<br />

Aber <strong>Albanien</strong> ist nicht Tibet. <strong>Albanien</strong> erwartet<br />

mit Anspannung eine Entscheidung zur Aufnahme<br />

als Beitrittskandidat <strong>de</strong>r EU. Der Tod<br />

Limak Bejkos erschüttert auch ein Land, das<br />

sich schon mitten in <strong>de</strong>n Feierlichkeiten zum<br />

h<strong>und</strong>ertjährigen Jubiläum seiner staatlichen<br />

Unabhängigkeit befin<strong>de</strong>t.<br />

Dieses Jubiläum muss hier mehr sein als ein<br />

flacher Ritus o<strong>de</strong>r ein arbeitsfreier Tag. Wochen<br />

vor <strong>de</strong>m eigentlichen Nationalfeiertag am<br />

28. November sehen wir überall in <strong>de</strong>r Stadt vielfältige<br />

Zeichen ziviler Aktivität: ein Filmfestival<br />

mit be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n albanischen Filmen <strong>de</strong>r<br />

letzten Jahre; Konferenzen in <strong>de</strong>n Universitäten;<br />

politisch hochkomplexe <strong>und</strong> fragwürdige<br />

Ehrungen im Parlament; Folkloreveranstaltungen<br />

<strong>und</strong> Beflaggung.<br />

Uran Butka, Mitte 60, Exparlamentarier,<br />

Historiker <strong>und</strong> Autor brisanter Bücher über<br />

<strong>de</strong>n Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> die Bewegung »Balli<br />

Kombetar« (rechte, anti-kommunistische albanische<br />

Nationalbewegung) bringt uns vollends<br />

auf die dunkle Seite dieses politischen<br />

Ge<strong>de</strong>nkens. Für ihn steht dieses Staatsgebil<strong>de</strong><br />

auf unterschlagenem, historischem Terrain. Er<br />

spricht von »einer jahrzehntelangen Enteignung<br />

<strong>de</strong>r Geschichte, die bis heute anhält«. Sein<br />

jüngstes Buch widmet sich <strong>de</strong>r empirischen<br />

Erforschung bislang systematisch vertuschter<br />

Verbrechen <strong>de</strong>r albanischen Kommunisten an<br />

Albanern an<strong>de</strong>rer politischer Orientierung am<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zweiten Weltkriegs. Als wir zu begreifen<br />

beginnen, dass die aktuellen politischen<br />

Fronten im Lan<strong>de</strong> ihre Ursprünge in <strong>de</strong>n Massakern<br />

von damals haben, verwan<strong>de</strong>lt sich Butka<br />

zusehends aus einem strapazierten Interviewpartner<br />

in einen politischen Moralisten.<br />

Im »Institut für die Erforschung <strong>und</strong> Dokumentierung<br />

<strong>de</strong>r Verbrechen <strong>de</strong>s Kommunismus«<br />

(ISKK) wird mit Intensität, aber dürftigen<br />

Mitteln daran gearbeitet, das Schicksal<br />

aller Opfer <strong>de</strong>r kommunistischen Diktatur zu<br />

dokumentieren. Das staatliche Institut besteht<br />

erst seit einem Jahr <strong>und</strong> ist in einer heruntergekommenen<br />

Villa untergebracht. Die 15 Angestellten<br />

<strong>und</strong> ihr Direktor erhalten lediglich<br />

ein kleines albanisches Durchschnittsgehalt –<br />

zu wenig zum Leben <strong>und</strong> zu viel zum Sterben.<br />

Darüber hinaus stehen ihnen keinerlei finanzielle<br />

Mittel für ihre Projekte zur Verfügung.<br />

Es sind dies vor allem zwei: eine »Enzyklopädie«<br />

mit <strong>de</strong>n Kurzbiografien aller Opfer <strong>de</strong>r<br />

kommunistischen Diktatur – <strong>de</strong>r erste Band (A–<br />

C) soll En<strong>de</strong> dieses Jahres erscheinen; ein lan<strong>de</strong>sweiter<br />

Schulwettbewerb zur Sammlung<br />

von familiären Zeugnissen zum Thema: »Als<br />

sie meinen Großvater abholten ...«<br />

Direktor Agron Tufa, Professor für Literatur<br />

<strong>de</strong>r Universität Tirana, beharrt darauf, dass<br />

sein Institut per Gesetz freien, unbegrenzten<br />

<strong>und</strong> »unverzögerten« Zugriff auf alle Archivmaterialien<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s hat. Er räumt aber im<br />

Laufe <strong>de</strong>s Gesprächs ein, dass die Kerndokumente<br />

– nämlich die <strong>de</strong>r Geheimdienste –<br />

überhaupt noch nicht geöff<strong>net</strong> wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Man kann hinzufügen, dass bis auf einen kleinen<br />

Kreis aus <strong>de</strong>r ehemaligen Nomenklatura<br />

niemand weiß, wo sich die Materialien befin<strong>de</strong>n.<br />

Sogar in diesen exklusiven Zirkeln hatte<br />

niemand ein Gesamtbild – eine ingeniöse Herrschaftspraxis<br />

<strong>de</strong>s Diktators Enver Hoxha.<br />

Für Thomas Schrapel, <strong>de</strong>n Leiter <strong>de</strong>s Büros<br />

<strong>de</strong>r Konrad-A<strong>de</strong>nauer-Stiftung in Tirana, ist<br />

daher das Institut auch nur ein »Feigenblatt<br />

<strong>de</strong>r Regierung«. Aber das Wort ist hier ganz<br />

unzynisch gemeint. Die KAS ist weit <strong>und</strong> breit<br />

<strong>de</strong>r einzige Sponsor <strong>de</strong>s Instituts. Und <strong>de</strong>r finanzielle<br />

Aspekt ist noch nicht einmal alles.<br />

Die <strong>de</strong>utsche Unterstützung holt das Institut ein<br />

kleines bisschen aus seiner politischen Randständigkeit<br />

heraus.<br />

»Vergangenheitsbewältigung« ist ganz <strong>und</strong><br />

gar keine Herzensangelegenheit <strong>de</strong>r Regierung<br />

Sali Berishas (Demokratische Partei mit kleineren<br />

Koalitionspartnern). Seit <strong>de</strong>r Öffnung<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s 1991 hat sich noch je<strong>de</strong> albanische<br />

Regierung um dieses heikle Themenfeld herumgedrückt.<br />

<strong>Albanien</strong> ist in dieser Hinsicht<br />

<strong>de</strong>r Nachzügler in Osteuropa. Aber <strong>de</strong>r Druck<br />

wächst auch hier. Nicht nur die vielen internationalen<br />

Berater <strong>und</strong> Organisationen drängen<br />

die politischen Instanzen in diese Richtung.<br />

Auch erhebliche Teile <strong>de</strong>r Bevölkerung verlangen<br />

eine öffentliche Aufarbeitung <strong>de</strong>r einzigartigen,<br />

lang währen<strong>de</strong>n kommunistischen Ära<br />

in <strong>Albanien</strong>. Sie wollen eine Anerkennung <strong>de</strong>r<br />

Lei<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Demütigungen unter <strong>de</strong>r Diktatur.<br />

Sie wollen »Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit«. Berisha,<br />

<strong>de</strong>r selbst zum Umfeld von Enver Hoxha<br />

gehörte <strong>und</strong> persönlich kaum ein Interesse an<br />

<strong>de</strong>r rückhaltlosen Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Fakten haben<br />

dürfte, sieht sich genötigt, <strong>de</strong>n Druck mit<br />

kosmetischen Maßnahmen abzufangen. Es<br />

dürfte nicht falsch sein, auch die Etablierung<br />

<strong>de</strong>s ISKK als ein scheinbares Entgegenkommen<br />

zu werten. Ob diese Strategie dann wirklich<br />

aufgeht, bleibt abzuwarten.<br />

113


ZUR ZEIT<br />

114<br />

be gier.<strong>de</strong><br />

Das ist unglaublich: Die Patres exkulpieren<br />

sich gegenseitig, Nazis randalieren vor<br />

Schän<strong>de</strong>rhütten, von <strong>de</strong>r Parkeisenbahn<br />

Wuhlhei<strong>de</strong> zu Berlin fallen die kindlichen Eisenbahner<br />

mit signalroten Rosetten von <strong>de</strong>n<br />

Wägelchen. Aber Das En<strong>de</strong> von Alice, ein<br />

Buch über das stärkere Begehren in Fantasie<br />

<strong>und</strong> Praxis, von <strong>de</strong>r Amerikanerin A.M. Homes,<br />

ist erst jetzt bei uns erschienen, 20 Jahre,<br />

nach<strong>de</strong>m es in <strong>de</strong>n USA für Aufregung gesorgt<br />

hatte. Für eine Aufregung, die produktiver<br />

hätte sein können, als es die Abheftung<br />

<strong>de</strong>s Elends im Verwaltungsakt ist.<br />

Chappy sitzt seit 23 Jahren im Gefängnis,<br />

weil er die min<strong>de</strong>rjährige Alice gemetzelt hat.<br />

Er träumt von vorzeitiger Entlassung. Und er<br />

träumt von einer nicht mehr ganz so min<strong>de</strong>rjährigen<br />

jungen Frau, die ihm Briefe schreibt<br />

<strong>und</strong> in sexuelle Fantasien treibt. Kann aber<br />

auch sein, dass er das sich alles selbst schreibt,<br />

um seine Sehnsucht fortzuspinnen. Je<strong>de</strong>nfalls<br />

um erst mal ausgiebig zu wichsen. Wie die zartesten<br />

erotischen Schwingungen <strong>und</strong> Schlingungen<br />

aufs bestialische En<strong>de</strong> von Alice zulaufen,<br />

ist von dramatischer Konsequenz. Und<br />

die Mahnungen an die Briefpartnerin, nicht<br />

zu früh die Stimulanzien frischen Fleisches<br />

zu verplempern, lassen ahnen, dass Chappy<br />

noch <strong>de</strong>r alte Genießer ist. Nie wür<strong>de</strong> jemand,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Text unaufgemacht gelesen, auf die<br />

I<strong>de</strong>e kommen, er stamme von einer min<strong>de</strong>stens<br />

feschen Frau. Da wette ich meine Beachbarbie<br />

für. Das liegt nicht nur daran, dass es<br />

in Chappys Litanei kein verräterisches Winkelchen<br />

eines schönen<strong>de</strong>n Kompromisses <strong>und</strong> so<br />

gar kein Auflo<strong>de</strong>rn eines weiblichen Rachefeuers<br />

gibt. Die Frau hat das Inlett <strong>de</strong>s Mannes<br />

genau abgefühlt. Es liegt auch daran, dass<br />

Homes das verschwiemelt-nebulöse »weibliche<br />

Begehren« unserer Frauenstellerinnen <strong>de</strong>rgestalt<br />

in <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n rammt, dass es – auch<br />

als kindliches Begehren – mit Chappy neugierig,<br />

fiebernd, dreckig kommunizieren kann.<br />

Immer vorausgesetzt, Chappy besorgt sich diese<br />

Therapie nicht nur selbst. Aber spätestens<br />

seine Kindheitserinnerungen mit <strong>de</strong>r flauschigen,<br />

trinken<strong>de</strong>n Mutter im Pool, mit <strong>de</strong>r erflehten<br />

kleinen Faust in <strong>de</strong>r Mutter, bewegen<br />

<strong>de</strong>n Leser doch dazu, auch <strong>de</strong>m Pädomonster<br />

einen fachgerechten Vorlauf zuzugestehen.<br />

Will Self, geschätzter Londoner Autor,<br />

Ex-Punk <strong>und</strong> einst Mitbegrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Band<br />

»The Abusers« (!), hatte im New Statesman so<br />

geschrieben: »Der Gr<strong>und</strong>, warum sich Kritiker<br />

<strong>und</strong> Leser über ein so vorzüglich geschriebenes,<br />

ernsthaftes <strong>und</strong> wichtiges Buch empören,<br />

ist, dass sie selbst es erregend fin<strong>de</strong>n.« – Das<br />

nicht nur unseren Nazis. Wilhelm Pauli<br />

A. M. Homes: Das En<strong>de</strong> von Alice. Roman. Aus <strong>de</strong>m amerikanischen<br />

Englisch übersetzt von Ingo Herzke, Köln<br />

(Verlag Kiepenheuer & Witsch) 2012 (304 S., 19,99 )<br />

Fortsetzung von Seite 113 Ein Lustrationsgesetz<br />

für <strong>Albanien</strong> wäre ein maßgeblicher Schritt in<br />

die gefor<strong>de</strong>rte Richtung. Eine entsprechen<strong>de</strong><br />

Gesetzesvorlage passierte mit Mühe das Parlament.<br />

Präsi<strong>de</strong>nt Bamir Topi, Vorgänger <strong>de</strong>s gegenwärtigen<br />

Präsi<strong>de</strong>nten Bujar Nishani, weigerte<br />

sich, das Gesetz zu unterzeichnen, das<br />

dann vor das Verfassungsgericht gelangte <strong>und</strong><br />

dort erneut zurückgewiesen wur<strong>de</strong>.<br />

Gezim Peshkepia, Jahrgang 1940, Vorstandsmitglied<br />

<strong>de</strong>s ISKK, sagt uns im Gespräch,<br />

warum das Gesetz so elementar wichtig ist. Er<br />

begrün<strong>de</strong>t es mit seiner Erfahrung am eigenen<br />

Leib. Peshkepia verbrachte acht Jahre im Internierungslager<br />

Balsh (bei Fier, südlich von<br />

Tirana). Ein speziell auf ihn angesetzter »Ermittler«<br />

(albanisch: hetues) hat ihn immer wie<strong>de</strong>r<br />

schwer gefoltert. Der Name <strong>de</strong>s Mannes<br />

lautet Kosta Gazeli. Der gleiche Mann beklei<strong>de</strong>te<br />

nach 1991 verschie<strong>de</strong>ne hohe Positionen<br />

in <strong>de</strong>n staatlichen Institutionen. Er war Mitglied<br />

<strong>de</strong>r Zentralen Wahlkommission <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s –<br />

für <strong>Albanien</strong> ein sehr wichtiges Machtzentrum.<br />

Er lehrte Strafrecht an <strong>de</strong>r staatlichen Universität<br />

<strong>und</strong> ist dann in <strong>de</strong>n diplomatischen<br />

Dienst gegangen. Gezim Peshkepia kann nicht<br />

ertragen, seinen skrupellosen Peiniger in <strong>de</strong>rmaßen<br />

hohen Staatsfunktionen zu sehen. Ein<br />

Lustrationsgesetz wür<strong>de</strong> diese weitverbreitete<br />

personelle Kontinuität abbrechen. Nach Peshkepia<br />

kommt das Gesetz aber nicht vom Fleck,<br />

weil es im parteipolitischen Lagerkampf zerrieben<br />

wird. Die jeweilige Regierung, die im<br />

Zugzwang ist, ein solches Gesetz vorzulegen,<br />

wird vom jeweiligen oppositionellen Lager regelmäßig<br />

bezichtigt, es lediglich als Keule zur<br />

Vernichtung <strong>de</strong>s Gegners zu missbrauchen. So<br />

läuft es im Gr<strong>und</strong>e mit allen Reformansätzen.<br />

Die heutige politische Elite <strong>Albanien</strong>s ist mental<br />

<strong>und</strong> habituell im Kommunismus geprägt<br />

wor<strong>de</strong>n <strong>und</strong> betrachtet weiterhin <strong>de</strong>n Gegner<br />

als Feind, <strong>de</strong>r mit allen Mitteln bekämpft <strong>und</strong><br />

ausgeschaltet wer<strong>de</strong>n muss. Es gibt bislang<br />

keine Basis für zwischenparteiliche Kompromisse<br />

im Interesse <strong>de</strong>s Gemeinwohls.<br />

Nicht einmal feiern wollen sie gemeinsam.<br />

Die traditionelle Stadt <strong>de</strong>s Unabhängigkeitstags<br />

ist Vlora. Aber sie ist auch eine Hochburg<br />

<strong>de</strong>r oppositionellen Sozialisten (Partei Edi Ramas).<br />

Das Regierungslager wird sich hier<br />

nicht nach seinem Gusto präsentieren können.<br />

Daher feiert es lieber in Tirana.<br />

Du hast keine Chance, also nutze sie! –<br />

Versprengte Demokraten in <strong>Albanien</strong><br />

Keti Bazhdari, Anfang 30, wirkt auf uns wie<br />

eine junge Frau aus <strong>de</strong>m Westen, leger geklei<strong>de</strong>t,<br />

schnörkellos, selbstbewusst im Auftreten.<br />

Sie ist eine Unternehmerin in Shkodra,<strong>de</strong>r wichtigsten<br />

Stadt <strong>de</strong>s albanischen Nor<strong>de</strong>ns. Mit 19<br />

schon hat sie ein Textilunternehmen gegrün<strong>de</strong>t,<br />

das in Zusammenarbeit mit italienischen<br />

Partnern modische Unterwäsche produziert.<br />

Das Geschäft läuft. Diese Existenzbasis gibt<br />

Bazhdari eine seltene Autonomie <strong>de</strong>s politischen<br />

Han<strong>de</strong>ls.Man muss sie nämlich als Grenzgängerin<br />

bezeichnen. In einem seit zwei Jahrzehnten<br />

verhärteten politischen Umfeld hat<br />

sie sich eine bemerkenswerte politische Stellung<br />

erarbeitet: als Frau in einer Männerdomäne;<br />

als Rebellin in <strong>de</strong>r Sozialistischen Partei,<br />

die sich im Nor<strong>de</strong>n zu<strong>de</strong>m im Abseits befin<strong>de</strong>t.<br />

Seit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kommunistischen Regimes<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Öffnung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s 1991 hat<br />

hier die Demokratische Partei von Sali Berisha<br />

die absolute Vorherrschaft. Und diese unangefochtene<br />

Macht hat durchdringen<strong>de</strong> <strong>und</strong> <strong>de</strong>struktive<br />

Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche<br />

Leben: Knebelung <strong>de</strong>r Presse;<br />

Aufblähung <strong>de</strong>r Lokalverwaltung, die das magere<br />

Budget auffrisst; zementiertes politisches<br />

Lager<strong>de</strong>nken. Müßige Verwaltungsangestellte<br />

lungern in <strong>de</strong>n Cafés herum <strong>und</strong> machen Stimmung.<br />

Kommt jemand auf die allseits belasten<strong>de</strong><br />

Misswirtschaft zu sprechen, sieht er sich<br />

sogleich als »Kommunist« diffamiert. Ein Gruselszenario<br />

<strong>de</strong>r Aufdringlichkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Einschüchterung.<br />

Kritik kann so nicht laut wer<strong>de</strong>n.<br />

Von öffentlichem Protest ganz zu schweigen.<br />

Aber die beson<strong>de</strong>re Exponiertheit Keti Bazhdaris<br />

wird erst <strong>de</strong>utlich, wenn man weiß, dass<br />

sie aus einer Familie stammt, die unter <strong>de</strong>m<br />

Kommunismus verfolgt wor<strong>de</strong>n ist. Ihr Vater<br />

war viele Jahre in einem kommunistischen<br />

Konzentrationslager <strong>de</strong>s Hoxha-Regimes gefangen.<br />

Dass Bazhdari sich ausgerech<strong>net</strong> in <strong>de</strong>r<br />

Partei engagiert, die als Erbin <strong>de</strong>r kommunistischen<br />

Partei gilt, ist im Gr<strong>und</strong>e eine unerhörte<br />

Grenzüberschreitung – in einer Gesellschaft<br />

<strong>de</strong>r versteinerten parteipolitischen Spaltung.<br />

Zunächst hat Bazhdari die Parteiorganisation<br />

in Shkodra geleitet. Jetzt arbeitet sie in<br />

<strong>de</strong>r Parteizentrale in Tirana, wo sie sich für die<br />

Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s albanischen Gulags einsetzt.<br />

Im Rahmen einer Kommission, die sie selbst<br />

ins Leben gerufen o<strong>de</strong>r besser in <strong>de</strong>r Partei<br />

durchgesetzt hat. Offensichtlich erstarrt diese<br />

junge Politikerin nicht vor <strong>de</strong>n etablierten Fronten,<br />

son<strong>de</strong>rn geht einfach dorthin, wo sie die<br />

besseren Verwirklichungschancen für ihre politischen<br />

I<strong>de</strong>en sieht.<br />

Jetmir Shpuza, Anfang 40, hat nach vielen<br />

Jahren die Sozialistische Partei verlassen, in<br />

<strong>de</strong>r er zeitweise auch hohe Ämter beklei<strong>de</strong>t<br />

hat. Im Gespräch berichtet er von einem tief<br />

greifen<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Partei nach rückwärts.<br />

Kommune 6/2012


TAGE IN ALBANIEN<br />

Kommune 6/2012<br />

Anfang <strong>de</strong>r Neunzigerjahre habe er als<br />

junger Mann eine Partei im Aufbruch erlebt.<br />

Überhaupt hätten damals junge Menschen<br />

echte Zugkraft <strong>und</strong> echten Einfluss<br />

dort besessen. Heutzutage spiele ein Zwanzigjähriger<br />

in <strong>de</strong>r Partei keine Rolle mehr.<br />

Er könne eigentlich nur noch dort eintreten.<br />

Er müsse dort sogar eintreten, wenn er<br />

Aussicht auf einen Arbeitsplatz <strong>und</strong> eine<br />

Zukunft haben möchte. Bis vor einigen Jahren<br />

habe er seine Hoffnung noch auf Edi<br />

Rama, <strong>de</strong>n Parteiführer <strong>de</strong>r Sozialistischen<br />

Partei, gesetzt. Inzwischen habe er sie aufgegeben.<br />

Shpuza sieht die Glaubwürdigkeit<br />

<strong>de</strong>r Partei vor allem durch wenige, namentlich<br />

bekannte, schwerreiche Figuren<br />

ramponiert. Diese Leute – für Shpuza sind<br />

sie »Kriminelle« – hätten sich in die Parteispitze<br />

eingekauft. Auch Edi Rama ist<br />

offensichtlich nicht <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r auf sie<br />

verzichten kann o<strong>de</strong>r sie anzutasten bereit<br />

wäre. Machtlosigkeit o<strong>de</strong>r Mangel an Format?<br />

Shpuza scheint hoffnungslos, aber<br />

ungebrochen. Er <strong>de</strong>nkt immer noch links,<br />

links<strong>de</strong>mokratisch. Im Moment versucht<br />

er sich als freier Journalist durchzuschlagen<br />

– mühsam genug. Ein konkreter Plan<br />

ist <strong>de</strong>r Aufbau eines Online-Forums.<br />

Man muss diese eigensinnigen <strong>und</strong> couragierten<br />

jungen Leute nicht unbedingt heroisieren,<br />

was sie nach ihrer ganzen eher<br />

nüchternen <strong>und</strong> reflexiven Haltung auch<br />

gar nicht wünschen dürften. Aber ihre Zirkel-<br />

<strong>und</strong> Verbindungslinien sind schmal,<br />

vielleicht sogar inselhaft, sicher ungeschützt.<br />

Soweit sie innerhalb <strong>de</strong>r Partei agieren, befin<strong>de</strong>n<br />

sie sich auf einer Gratwan<strong>de</strong>rung.<br />

Bleiben sie die zielbewusste Kraft, die sie<br />

sind? O<strong>de</strong>r lassen sie sich als Kö<strong>de</strong>r missbrauchen<br />

für die Fischzüge <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n<br />

Wahlen (Juni 2013) – bei <strong>de</strong>nen allein<br />

200 000 junge Neuwähler angesprochen<br />

wer<strong>de</strong>n wollen? Soweit diese versprengten Demokraten<br />

außerhalb <strong>de</strong>r Partei bleiben, müssen<br />

sie schon fast <strong>de</strong>n Habitus von Lebenskünstlern<br />

o<strong>de</strong>r freischweben<strong>de</strong>n Intellektuellen annehmen.<br />

Ob das auf Dauer ihrem politischen<br />

Engagement zuträglich ist, sei dahingestellt.<br />

Der politische Stellenwert dieser fragilen<br />

Opposition kann schlecht beurteilt wer<strong>de</strong>n ohne<br />

Blick auf das politische Gesamtbild <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s.<br />

Eine Mittelschicht, wie sie etwa in Russland<br />

die neuen Formen <strong>de</strong>r Opposition gegen<br />

das Putin-Regime hervorbringt, gibt es in <strong>Albanien</strong><br />

bislang so gut wie gar nicht. Die breite<br />

Bevölkerungsmehrheit ist restlos beansprucht<br />

vom täglichen Überlebenskampf. Nach Frank<br />

Hantke, <strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>s Büros <strong>de</strong>r Friedrich-<br />

Fotos: Hil<strong>de</strong>gard Sühling<br />

Ebert-Stiftung in Tirana, haben die Menschen<br />

in <strong>Albanien</strong> seit 1991 »ganz bestimmt eines<br />

gelernt: es gibt keine Solidarität mehr. Je<strong>de</strong>r ist<br />

auf sich gestellt. Je<strong>de</strong>r muss für sich selbst sorgen.<br />

Alle Solidarsysteme sind weggebrochen.«<br />

Ihre elementaren Lebensinteressen müssen die<br />

Menschen schon an<strong>de</strong>rs sichern: Im Krankenhaus,<br />

in <strong>de</strong>r Schule, bei <strong>de</strong>r Arbeitssuche. Nichts<br />

geht ohne Schmiermittel, aber woher sollen diese<br />

kommen? Auf dieser bo<strong>de</strong>nlosen Verzweiflung<br />

grün<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n großen Parteien ihre<br />

Machtbauten, samt ihren Klientel- <strong>und</strong> Patronage-Systemen.<br />

Bildlich gesprochen han<strong>de</strong>lt es<br />

sich dabei um zwei feindliche Mag<strong>net</strong>fel<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>ren Sog sich die Menschen überantworten –<br />

müssen, weil sie sonst nichts haben.<br />

Nicht einmal die internationalen Organisationen<br />

vor Ort mit ihren bisherigen Projekt<strong>und</strong><br />

Finanzierungskonzepten sind da ein Ausweg.<br />

Sie stützen typischerweise, wenn auch<br />

möglicherweise ungewollt, die herrschen<strong>de</strong>n<br />

Eliten. Es hat sich da ein Modus <strong>de</strong>s Gebens<br />

<strong>und</strong> Nehmens eingespielt. Die lokale (möglichst<br />

englischsprachige) Seite bietet erstklassige Projektbeschreibungen<br />

mitsamt transparenter Abrechnung.<br />

Die internationale Seite hingegen<br />

bringt erfolgreich ihre <strong>de</strong>rzeitigen politischen,<br />

höchst korrekten »key points« unter, kann damit<br />

das Mutterhaus zufrie<strong>de</strong>nstellen <strong>und</strong> auch<br />

auf eine Vertragsverlängerung hoffen. Die ganze<br />

kostspielige Zusammenarbeit in schwin<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r<br />

Höhe über <strong>de</strong>m Volk. <br />

115

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