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Leseprobe: Die industrielle Revolution - Matriarchat und Patriarchat

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<strong>Die</strong> <strong>industrielle</strong> <strong>Revolution</strong><br />

Voraussetzung für die <strong>industrielle</strong> <strong>Revolution</strong> in England war die Ausplünderung seiner Kolonien, vor<br />

allem Indiens – die dabei erzielten Gewinne waren so groß, dass sie den Aufbau der <strong>industrielle</strong>n<br />

Infrastruktur in England möglich machten.<br />

Kolonialismus <strong>und</strong> <strong>industrielle</strong> <strong>Revolution</strong><br />

<strong>Die</strong> erste Phase des Kolonialismus war der Handelskapitalismus, der auf den militärischen<br />

Eroberungen der Kolonialmächte beruhte. Dabei ging es um Monopole für überseeische Produkte –<br />

vor allem Gewürze -, die in Europa hohe Preise erzielen konnten. Zuerst vertrieben die Portugiesen<br />

die einheimischen Händler, dann die Holländer die Portugiesen, dann wurden die Engländer stärker<br />

<strong>und</strong> vertrieben die Holländer. Jede siegreiche Kolonialmacht hatte dann das Monopol <strong>und</strong> konnte die<br />

Preise diktieren.<br />

Nicht nur mit Genussmitteln wurde gehandelt, sondern auch mit Sklaven für die Plantagenwirtschaft.<br />

„Von 1783 bis 1793 verkauften die Sklavenhändler Liverpools 300.000 Sklaven für 15 Millionen Pf<strong>und</strong>,<br />

von denen ein ansehnlicher Teil zur Gründung von Industrieunternehmungen beitrug.“ 1 Krieg, Gewalt<br />

<strong>und</strong> Plünderungen waren bewährte Methoden, indische Produkte für wenig Geld zu erwerben: „<strong>Die</strong><br />

englischen Händler nahmen den Bauern <strong>und</strong> Webern mit Gewalt ihre Produkte für ein Viertel ihres<br />

Wertes ab. Durch Gewalt zwangen sie die Bauern <strong>und</strong> Weber, 5 Rupies für englische Waren zu<br />

bezahlen, die in Wirklichkeit nur 1 Rupie wert sind.“ 2 Wer sich weigerte, wurde gefesselt, geprügelt<br />

<strong>und</strong> weggeschickt.<br />

Was hier im kleinen Maßstab geschildert wurde, führte insgesamt zur Zerstörung der indischen<br />

Textilindustrie. <strong>Die</strong> Textilstadt Dhaka (die heutige Hauptstadt von Bangladesh) war das Zentrum der<br />

indischen Textilmanufaktur, sie war „sehr viel fortgeschrittener, sehr viel produktiver als die englische.<br />

Indien war insgesamt reicher als England. Darum hatten die Engländer nichts Gleichwertiges<br />

anzubieten für einen ‚gleichwertigen Tausch’. Selbst nach der <strong>industrielle</strong>n <strong>Revolution</strong> gab es in Indien<br />

keinen Bedarf für englische Textilien.“ 3<br />

Daher schützte England seine Textilindustrie vor der indischen durch Einfuhrzölle von 70 – 80% oder<br />

durch direkte Einfuhrverbote. Ohne diese Maßnahme hätten die englischen Textilfabriken gar nicht<br />

erst in Betrieb genommen werden könne. Daran änderte auch die Phase des englischen Freihandels<br />

nichts, er war eine Einbahnstraße für den Export englischer Produkte, die umgekehrt durch hohe<br />

Importzölle geschützt blieben. <strong>Die</strong> USA als neokoloniale Nachfolger Englands betreiben auch heute<br />

noch die gleich Politik.<br />

England verbot seiner indischen Kolonie aber auch den direkten Handel mit den anderen<br />

europäischen Ländern, so dass die englische Textilindustrie durch ihren Vorsprung gegenüber dem<br />

europäischen Kontinent praktisch eine weltweite Monopolstellung innehatte. Auf die gleiche Art<br />

ruinierten die englischen Kolonialisten die indischen Manufakturen für die Herstellung von Eisen,<br />

Leder- <strong>und</strong> Kupferwaren.<br />

Millionen von indischen Handwerkern, Spinnern, Webern, Töpfern, Eisenschmelzern <strong>und</strong> Schmieden<br />

flüchteten nach dem von der Kolonialmacht herbeigeführten Bankrott ihrer Manufakturen auf das<br />

Land, das diesen Zustrom nicht verkraften konnte <strong>und</strong> ebenfalls verarmte. <strong>Die</strong> Armut der Inder <strong>und</strong> der<br />

rückständige Zustand der indischen Landwirtschaft waren also das Ergebnis rücksichtsloser kolonialer<br />

1 Mandel, zit. n. Mies 1992, 112<br />

2 Palme-Duett, zit. n. Mies 2005, 50<br />

3 Mies 2005, 52


Profitgier. Auf der Basis billiger Arbeitskräfte wurden dann Plantagen für den landwirtschaftlichen<br />

Export betrieben, die das englische Proletariat mit billigen Lebensmitteln versorgten, während die<br />

indische Bevölkerung hungern musste. Erzwungen wurde diese Exportabhängigkeit um jeden Preis<br />

durch einen riesigen Schuldenberg, den die East India Company Indien aufgebürdet hatte.<br />

Kaum weniger drastisch als die soziale, kulturelle <strong>und</strong> ökonomische Entfremdung <strong>und</strong> Entwurzelung<br />

eines Großteils der indischen Bevölkerung war das Los der englischen Handwerker <strong>und</strong> Bauern, die<br />

den gleichen Kulturschock erleiden mussten. Und das alles, damit die liberale englische Oberschicht<br />

ihr modernes Projekt einer totalen Marktwirtschaft verwirklichen konnte. Mit der <strong>industrielle</strong>n<br />

<strong>Revolution</strong> trat sie eine Lawine an Konsequenzen los, die heute zum Schicksal der Weltbevölkerung<br />

<strong>und</strong> der globalen Umwelt geworden ist. Der moderne Kapitalismus kann auch als Maschinerie der<br />

Heimatzerstörung bezeichnet werden, weil er immer mehr die Lebenswelt <strong>und</strong> die vielschichtigen<br />

Sinnbezüge der Heimat zerstört. Damit entfremdet er die Menschen von ihrer Heimat <strong>und</strong> Lebenswelt<br />

<strong>und</strong> macht sie abhängig von den Ersatzbefriedigungen einer dinglichen Warenwelt.<br />

Vom Handwerker zum Proletarier<br />

Friedrich Engels beschrieb 1845 in seiner Schrift "<strong>Die</strong> Lage der arbeitenden Klasse in England" - dem<br />

bis dahin einzigen systematische Werk zu diesem Thema - sehr anschaulich das Leben der<br />

englischen Weber vor der <strong>industrielle</strong> <strong>Revolution</strong>: "Vor der Einführung der Maschinen geschah die<br />

Verspinnung <strong>und</strong> Verwebung der Rohstoffe im Hause des Arbeiters. Frau <strong>und</strong> Töchter spannen Garn,<br />

das der Mann verwebte. <strong>Die</strong>se Weberfamilien lebten meist auf dem Lande, in der Nähe der Städte,<br />

<strong>und</strong> konnten mit ihrem Lohn ganz gut auskommen … Auf diese Weise führten (die Arbeiter) ein<br />

rechtschaffenes <strong>und</strong> ruhiges Leben, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer<br />

Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, <strong>und</strong><br />

verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für ges<strong>und</strong>e Arbeit in ihrem Garten oder Felde,<br />

eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, <strong>und</strong> konnten außerdem noch an den Erholungen<br />

<strong>und</strong> Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen <strong>und</strong> von einer acht- oder zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit<br />

war keine Rede." 4<br />

Eine neue Erfindung brachte diesen selbständigen Familienbetrieben zunächst noch mehr Aufträge<br />

<strong>und</strong> Einkommen: eine neue, vielfach effektivere Spinnmaschine - die sog. Jenny - ersetzte ab 1764<br />

das alte Spinnrad, so dass die Weber ihr Rohmaterial Garn billiger oder mit weniger Arbeit bekommen<br />

konnten. <strong>Die</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Verbilligung der gewebten Stoffe steigerte die Nachfrage <strong>und</strong> den<br />

Export ganz enorm, so dass die Weber insgesamt mehr verdienten <strong>und</strong> auch die Pachtverträge ihrer<br />

kleinen Äcker kündigten, um möglichst viel produzieren zu können. Damit aber waren sie mit Gedeih<br />

<strong>und</strong> Verderb der Marktwirtschaft ausgeliefert, die bald zum Ruin der Weber <strong>und</strong> anderer selbständiger<br />

Handwerker <strong>und</strong> Bauern führen sollte, wie im Folgenden gezeigt werden soll:<br />

<strong>Die</strong> Gier nach Profiten trieb die technische Entwicklung der Spinn- <strong>und</strong> Webtechnik wie in einem<br />

Treibhaus mit Riesenschritten voran. In wenigen Jahrzehnten vervielfachte sich die Produktivität der<br />

Spinn- <strong>und</strong> Webmaschinen, sie wurden bald mit Wasserkraft <strong>und</strong> später mit Dampfmaschinen<br />

angetrieben <strong>und</strong> in großen Fabriken zentralisiert, so dass die einfachen Spinner <strong>und</strong> Weber mit ihren<br />

veralteten <strong>und</strong> relativ unproduktiven Geräten immer mehr ins Hintertreffen gerieten <strong>und</strong> von der<br />

Dampfwalze der großkapitalistischen Industriebetriebe überrollt wurden. Es blieb ihnen nichts anderes<br />

übrig, also in diesen Fabriken unter erbärmlichen <strong>und</strong> erniedrigenden Arbeitsbedingen für die<br />

Fabrikherren zu schuften, der Arbeitstag erreichte bald die Grenzen des physisch überhaupt<br />

Möglichen <strong>und</strong> der Arbeitslohn sank bis zum absoluten Existenzminimum.<br />

4 Engels 1972


Besonders beliebt bei den Unternehmern war die Kinderarbeit - Kinder waren leicht zu lenken <strong>und</strong> die<br />

billigsten aller Arbeitskräfte, die immer mehr Erwachsene verdrängten. Wie es dann in den<br />

"Teufelsmühlen" der Textilfabriken zuging, erfüllte den Textilfabrikantensohn Friedrich Engels mit<br />

ehrlicher Empörung: „Und wenn man erst die Barbarei der einzelnen Fälle liest, wie die Kinder von<br />

den Aufsehern nackt aus dem Bette geholt, mit den Kleidern unterm Arm unter Schlägen <strong>und</strong> Tritten in<br />

die Fabrik gejagt wurden, wie ihnen der Schlaf mit Schlägen vertrieben, wie sie trotzdem über der<br />

Arbeit eingeschlafen, wenn man diese Infamien <strong>und</strong> Schändlichkeiten liest, alle auf den Eid bezeugt,<br />

durch mehrere Zeugen bestätigt, so soll man nicht entrüstet werden über diese Klasse, die sich mit<br />

Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> Aufopferung brüstet, während es ihr einzig <strong>und</strong> allein auf die Füllung ihrer<br />

Börsen ankommt?“ 5<br />

Entfremdete Arbeit, entfremdete Lebenswelt<br />

Der russische Dichter Maxim Gorki schilderte den Alltag des Fabrikarbeiters Ende des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts in Russland, den wir uns ähnlich in der Mitte dieses Jahrh<strong>und</strong>erts in Deutschland <strong>und</strong><br />

seinem Anfang in England vorstellen können: „Tagtäglich zitterten <strong>und</strong> brüllten in der rauchigen,<br />

öligen Luft über der Arbeitervorstadt die Töne der Fabriksirene, <strong>und</strong> ihrem Ruf gehorchend, kamen<br />

aus den kleinen grauen Häusern finstere Menschen, die ihre Muskeln durch Schaf nicht hatten<br />

erfrischen können, gleich erschreckten Schaben auf die Straße gelaufen. In der kalten Dämmerung<br />

schritten sie auf der ungepflasterten Straße zu den hohen Steinkäfigen der Fabrik, die sie mit<br />

gleichgültiger Sicherheit erwarteten <strong>und</strong> den schmutzigen Weg durch Dutzende fetter, gelber,<br />

quadratischer Augen erleuchtete. Heisere Rufe verschlafener Stimmen ertönten; grobe, böse<br />

Schimpfreden durchschnitten die Luft, während schwerer Maschinenlärm <strong>und</strong> das Brodeln des<br />

Dampfes den Menschen entgegen tönte.“ 6<br />

Abends dann die Erlösung: „Wieder war ein Tag von der Fabrik aufgezehrt, der Mensch war dem<br />

Grabe wieder einen Schritt näher gekommen, aber er sah jetzt den Genuss des Ausruhens, die<br />

Freuden der dunstigen Kneipe dicht vor sich <strong>und</strong> war zufrieden.“ 7 So verging ein Tag wie der andere,<br />

bis auf einen: den Sonntag. Dann „schlief man bis gegen zehn Uhr, dann zogen die Gesetzten <strong>und</strong><br />

Verheirateten ihre besten Kleider an <strong>und</strong> gingen zur Messe. Aus der Kirche kehrten sie nach Hause<br />

zurück, aßen Pasteten <strong>und</strong> schliefen wieder – bis zum Abend.“ Durch die unnatürlich langen<br />

Arbeitszeiten waren die Menschen so ermattetet, dass sie sogar den Sonntag brauchten, um ihr<br />

Schlafdefizit halbwegs auszugleichen. Schlimmer noch, „die durch Jahre aufgespeicherte Müdigkeit<br />

hatte den Menschen den Appetit genommen, <strong>und</strong> um essen zu können, tranken sie viel <strong>und</strong> reizten<br />

den Magen mit scharf beizendem Branntwein.“ 8<br />

<strong>Die</strong> Jugend begnügte sich nicht damit, am Sonntag für kurze Zeit Kleinbürger zu spielen, sie „saß in<br />

den Wirtschaften oder veranstaltete Tanzvergnügen beieinander, spielte Harmonika, sang hässliche,<br />

unanständige Lieder, tanzte, führte unflätige Reden <strong>und</strong> trank. Von der Arbeit schnell erschöpft,<br />

wurden die Menschen schnell berauscht, <strong>und</strong> in ihrer Brust erwachte eine unklare, krampfhafte<br />

Erregung, die nach einem Ausweg verlangte. Sie griffen krampfhaft nach jeder Möglichkeit, dieses<br />

Gefühl der Unruhe zu entladen, <strong>und</strong> fielen wegen der geringsten Kleinigkeit übereinander her … Am<br />

Feiertage kamen die jungen Leute spät nachts mit zerrissenen Kleidern nach Hause. Bisweilen<br />

brachten die Mütter <strong>und</strong> Väter die Burschen nach Hause. Sie hatten sie irgendwo an einem Zaun<br />

liegend auf der Straße oder sinnlos betrunken in der Kneipe aufgef<strong>und</strong>en. Sie schimpften die Kinder<br />

<strong>und</strong> prügelten sie roh; es schien den Alten aber ganz in Ordnung, dass die Jungen tranken <strong>und</strong><br />

5 Engels a.a.O.<br />

6 Maxim Gorki, zit. n. Kuczynski, Bd. 3, 144<br />

7 a.a.O., 145<br />

8 a.a.O., 148


Schlägereien anzettelten. Als die Väter jung waren, hatten sie auch getrunken <strong>und</strong> gerauft, <strong>und</strong> ihre<br />

Mütter <strong>und</strong> Väter hatten sie ebenfalls geprügelt.“ 9<br />

Manche Bedingungen führten zu nächtlichen Orgien, die das gesittete Bürgertum mit Entsetzen<br />

erfüllte: „Lagen die Spinnmühlen <strong>und</strong> Fabriken wie z. B. an der Wupper oft st<strong>und</strong>enweit von<br />

menschlichen Wohnorten entfernt, wer wollte dann bei Schnee <strong>und</strong> Kälte nach Hause? Es scharrten<br />

sich die Arbeiter die Flocken <strong>und</strong> Abfälle zusammen in die Ecken, die Lichter wurden ausgelöscht <strong>und</strong><br />

in den stauberfüllten Sälen begannen die entsetzlichsten Orgien, von deren wilder Lust die Kinder die<br />

Zuschauer abgaben … Am Tage wurde der Gr<strong>und</strong> zu den nächtlichen Ausschweifungen gelegt. Alles<br />

arbeitete unterschiedslos durcheinander: Kinder, halbwüchsige Burschen <strong>und</strong> Mädchen, Männer <strong>und</strong><br />

Frauen, in den überhitzten Räumen nur mit einem Hemde <strong>und</strong> Rock bekleidet … Einzelne Fabrikanten<br />

hielten sich hübsche Arbeiterinnen in der Fabrik, manche Werkmeister benutzten ihre Herrschaft, um<br />

den Mädchen alle Zugeständnisse zu entreißen“ 10 .<br />

Wenn es um die Arbeit <strong>und</strong> um den Profit ging, herrschte freilich ein strenges Regiment in der Fabrik.<br />

In der Maschinenfabrik „Koenig <strong>und</strong> Bauer“ bei Würzburg verhängte der Unternehmer zur „Erziehung“<br />

seiner Arbeiter empfindliche Geldbußen u. a. für folgende „Delikte“: „War Montag früh krank, wegen<br />

Schmuserei, wegen Heiraten 12 St<strong>und</strong>en gefehlt, auch noch verschlafen, wegen Schlägerei im<br />

Wirtshaus, einen Obstputzen durch das Fenster geworfen, wegen Vorwitz usw. 11 “. Natürlich gab es<br />

auch noch härtere Strafen, am schlimmsten war natürlich die Entlassung <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit, die den<br />

Arbeiter dem Hunger, schlimmstenfalls sogar dem Hungertod auslieferte, weil es ein soziales Netz<br />

damals überhaupt nicht gab. Schon geringe Verfehlungen konnten eine solche fristlose Kündigung<br />

nach sich ziehen, z. B. „Beschimpfung der Aufseher“, „bedeutende Verletzung des anvertrauten<br />

Arbeitsgerätes oder Arbeitsstoffes“, „beharrlicher Ungehorsam“.<br />

Alle diejenigen, die noch ein anderes Arbeiten kannten, versuchten bis zuletzt die Fabrikfron zu<br />

vermeiden. Ein Geselle schrieb über seine Erfahrungen in der Industrie: Es „ist überhaupt in einer<br />

Fabrik anders als in einem meisterischen Haus <strong>und</strong> kein Zusammenhalt nit unter den Gesellen. Läuft<br />

jeder seinen Weg <strong>und</strong> dreht sich nit viel nach dem anderen. Zudem gefällt mir die Arbeit nit, dieweil<br />

jeder den langen Tag die gleiche Arbeit verrichten muss <strong>und</strong> dabei das Ganze aus den Augen verliert.<br />

Ich mein immer, ich triebe mein Gewerb nur halb“ 12 .<br />

<strong>Die</strong> Fabrikarbeit hatte auch deshalb einen schlechten Ruf, weil sie die Nachfolgerin der Zwangsarbeit<br />

in zentralen Manufakturen <strong>und</strong> Arbeitshäusern waren, in die Verbrecher, Landstreicher, Bettler,<br />

Waisenkinder, arme allein stehende Mädchen <strong>und</strong> Huren mit Zwang eingewiesen wurden – oft wurden<br />

sogar richtige Razzien zu diesem Zweck veranstaltet. So waren die Insassen dieser Anstalten<br />

gesellschaftliche Außenseiter <strong>und</strong> diese Einschätzung übertrug sich auch auf die Fabrikarbeiter –<br />

auch sie waren der Zwangsarbeit des Kapitals ausgeliefert, auch sie mussten „öffentliche“ Arbeit<br />

leisten im Gegensatz zu den Produktionsfamilien. Besonders schlimm war die Verachtung der<br />

Fabrikarbeiterin, die in der gesellschaftlichen Hierarchie nur knapp oberhalb der Hure eingestuft<br />

wurde.<br />

Proletarische Charakterstruktur im Wandel<br />

<strong>Die</strong> Beschreibung des Proletarierlebens von Maxim Gorki macht deutlich, dass die Proletarier in der<br />

ersten Phase der Industrialisierung nur von oben beherrscht, aber noch in keiner Weise zivilisiert <strong>und</strong><br />

indoktriniert wurden, ähnlich wie beim Verhältnis von Bauern <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>herrn. Was sich änderte, war<br />

9 a.a.O., 149<br />

10 Thun, 174 f.<br />

11 zit. nach Kurz 1999, 137-138<br />

12 zit. nach Kuczynski, Bd. 3, 154


die im Vergleich zur selbstverwalteten Dorfgemeinschaft unerträgliche Arbeits- <strong>und</strong> Lebenssituation<br />

der Beherrschten, ein Kulturschock, wie er größer <strong>und</strong> schlimmer kaum vorstellbar ist. Daher auch der<br />

grenzenlose Hass, der sich in Prügeleien <strong>und</strong> Alkoholexzessen ausdrückte – die Menschen verrohten,<br />

d. h. ihre vorher nur schwach ausgebildete, patriarchal pervertierte 2. Charakterschicht verstärkte sich,<br />

so dass die darunter liegenden matriarchalen Ausdrucksmöglichkeiten unmittelbarer Liebes- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsbeziehungen immer mehr überdeckt wurden.<br />

<strong>Die</strong> „Orgien“ der deutschen Proletarier in den früh<strong>industrielle</strong>n Fabriken an der Ruhr, von denen<br />

bürgerliche Beobachter empört berichteten, sind wohl ähnlich zu verstehen – in einer solch<br />

unmenschlichen Umgebung verrohten auch die Lustgefühle <strong>und</strong> die Sexualität. „<strong>Die</strong> offensichtlichste<br />

Auswirkung des neuen Systems sei die Zerstörung des traditionellen Charakters ansässiger<br />

Bevölkerungen <strong>und</strong> deren Umwandlung in einen neuen Menschentyp – ungeschlachte, gefühllose<br />

Wesen, ohne Selbstachtung <strong>und</strong> Disziplin, für die sowohl der ungelernte Arbeiter als auch der<br />

Kapitalist sei“ 13<br />

<strong>Die</strong> Schilderung des Proletarierlebens von Gorki zeigt aber auch, wie sich erste Anzeichen der<br />

Verbürgerlichung im Arbeitermilieu breit machten: <strong>Die</strong> Verheirateten zogen Sonntags ihre besten<br />

Kleider an <strong>und</strong> flanierten durch die Straßen – sie eiferten dem Vorbild zivilisierter Menschen nach, in<br />

dieser Form zunächst nur äußerlich. Doch der Weg, durch Selbstbeherrschung <strong>und</strong> Triebverzicht eine<br />

zivilisierte Charakterstruktur aufzubauen, bot auch den Vorteil, die eigenen Aggressionen unter den<br />

Teppich zu kehren. Das bedeutete zwar kein glückliches Leben, aber zumindest eine gewisse<br />

Unempfindlichkeit gegen das eigene Leid – die charakterliche Panzerung vermeidet sowohl Lust als<br />

auch Unlust. Außerdem war sie die Voraussetzung für den Aufstieg der Proletarier als Vorarbeiter <strong>und</strong><br />

Meister. In den Arbeitervierteln wiederholte sich so ein sozialer Differenzierungsprozess, der schon die<br />

Dorfgemeinschaften in verschiedene soziale Schichten getrennt <strong>und</strong> so ihre gelebte<br />

Zwischenmenschlichkeit von innen zerstört hatte.<br />

Aufstand gegen die Herrschaft der Maschinen<br />

<strong>Die</strong> Bauern <strong>und</strong> Handwerkern, die aus einer zerfallenden Welt traditioneller Sinnbezüge <strong>und</strong><br />

Lebenszusammenhänge in die moderne Welt der hastig aus dem Boden gestampften Fabrikstädte<br />

geworfen wurden, standen einer unpersönlichen Maschinerie von Industriekapitalismus <strong>und</strong> den im<br />

Aufbau begriffenen Institutionen des modernen Staates gegenüber, kommandiert von einer elitären<br />

Oberschicht aus reichen Bürgern <strong>und</strong> Adeligen, die für die proletarischen Habenichtse nur<br />

Gleichgültigkeit oder Verachtung übrig hatten.<br />

Sie waren die Arbeitssklaven der modernen Zeit, die im Unterschied zur Antike nicht in einem<br />

persönlichen patriarchalen Abhängigkeitsverhältnis standen, das ihnen auch einen gewissen Freiraum<br />

<strong>und</strong> Schutz gewährte, sondern in einem sachlichen Abhängigkeitsverhältnis, das ihren<br />

Lebensrhythmus <strong>und</strong> ihre Arbeit viel gnadenloser <strong>und</strong> vollständiger unter Kontrolle hatte als es der<br />

Antike jemals gelungen war – die Aufseher <strong>und</strong> Antreiber des Industriekapitalismus waren aus Eisen<br />

<strong>und</strong> Stahl.<br />

Maschinen – Pädagogen aus Stahl<br />

<strong>Die</strong> Maschinen waren oft bewusst so konstruiert worden, den Arbeiter völlig der Fabrikdisziplin zu<br />

unterwerfen, sie waren praktisch stählerne Lern- <strong>und</strong> Disziplinierungsmaschinen. So gab der<br />

„Unternehmer-Philosoph“ Andrew Ure offen zu, dass die neuen Spinnmaschinen des Erfinders <strong>und</strong><br />

Unternehmers Arkwright vor allem dem Zweck dienten, „den Leuten ihren unsteten Arbeitstag<br />

abzugewöhnen <strong>und</strong> sie dazu zu bringen, sich mit der unveränderlichen Ordnung eines komplexen<br />

13 Robert Owen, zusammengefasst von Polanyi, 180


Automaten zu gewöhnen.“ 14 „<strong>Die</strong> Beaufsichtigung der Maschinen, das Anknüpfen zerrissener Fäden<br />

ist keine Tätigkeit, die das Denken des Arbeiters in Anspruch nimmt, <strong>und</strong> auf der anderen Seite wieder<br />

derart, dass sie den Arbeiter hindert, seinen Geist mit anderen Dingen zu beschäftigen“ 15 .<br />

„Arbeitsfreude“ war in der Tat ein Begriff, mit dem ein Fabrikant überhaupt nichts anfangen konnte,<br />

denn sein Etablissement verlangte genau das Gegenteil: dumpfe Ergebenheit, blinden Gehorsam <strong>und</strong><br />

sturen Alltagstrott – anders war die Arbeit auch nicht zu ertragen. Engels schreibt ganz richtig: „Nichts<br />

ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas tun zu müssen, was einem widerstrebt.<br />

Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto mehr muss ihm seine Arbeit verhasst sein. Weshalb<br />

arbeitet er denn? Aus Lust am Schaffen? Aus Naturtrieb? Keineswegs, er arbeitet um des Geldes<br />

willen, um einer Sache willen, die die mit dem Arbeiter gar nichts zu schaffen hat“ 16 .<br />

Das System der modernen Industrie ersetzte den physischen Zwang durch die Sachzwänge des<br />

Arbeitsmarktes <strong>und</strong> der <strong>industrielle</strong>n Maschinentechnik. Waren sie erst einmal verinnerlicht <strong>und</strong> zur<br />

Gewohnheit geworden, dann waren sie als Ausbeutungs- <strong>und</strong> Zwangssysteme kaum noch zu<br />

erkennen <strong>und</strong> arbeiteten völlig automatisch <strong>und</strong> unabhängig von persönlicher Willkür. Doch die neue<br />

Infrastruktur von Produktionsmitteln musste erst einmal aufgebaut, die Proletarier mit Gewalt <strong>und</strong><br />

ökonomischen Druck zur Unterwerfung unter das Diktat dieser Maschinerie gezwungen werden.<br />

Das moderne <strong>industrielle</strong> Wirtschaftssystem erwies sich letztlich zur Erzielung einer maximalen<br />

Arbeitsleistung <strong>und</strong> damit eines maximalen Profits viel besser geeignet als das personalintensive<br />

antike Sklavenhaltersystem auf der Basis von Peitsche <strong>und</strong> Eisenstachel, in dem die Produktivität der<br />

Sklaven dennoch sehr niedrig blieb.<br />

<strong>Die</strong> <strong>industrielle</strong> Arbeitsdisziplin ist heute längst selbstverständlich geworden, sie ist den Menschen in<br />

Fleisch <strong>und</strong> Blut übergangen – über Maschinenstürmer würde man nur noch lächeln. <strong>Die</strong> Geschichte<br />

ihrer gewaltsamen Erzwingung bildet eine ins Unbewusste abgesunkene Schicht, die aber gerade<br />

deshalb auch heute noch wirksam ist.<br />

Glanz <strong>und</strong> Elend des Industriekapitalismus<br />

<strong>Die</strong> Loslösung der kapitalistischen Megamaschine von allen sozialen <strong>und</strong> menschlichen Bindungen,<br />

von allen kooperativen Vereinbarungen <strong>und</strong> moralischen Werten war die direkte Folge der modernen<br />

Wirtschaftswissenschaft. Wie sagte doch ihr Prophet Smith so schön: "Es macht uns Vergnügen, die<br />

Vervollkommnung eines so schönen <strong>und</strong> großartigen Systems zu betrachten <strong>und</strong> wir sind nicht ruhig,<br />

bis wir jedes Hindernis, das auch nur mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören <strong>und</strong><br />

hemmen kann, beseitigt haben".<br />

70 Jahre nach diesen prophetischen Worten waren alle Hemmnisse beseitig <strong>und</strong> die Megamaschine<br />

zu einer beeindruckenden Größe <strong>und</strong> Gestalt herangewachsen, deren Faszination sich auch der<br />

überzeugte Sozialist Friedrich Engels nicht entziehen konnte: "Ich kenne nichts Imposanteres als den<br />

Anblick, den die Themse darbietet, wenn man von der See nach London Bridge hinauffährt. <strong>Die</strong><br />

Häusermassen, die Werften auf beiden Seiten, die zahllosen Schiffe an beiden Ufern entlang, - das<br />

alles ist so großartig, so massenhaft, dass man gar nicht zur Besinnung kommt <strong>und</strong> dass man vor der<br />

Größe Englands staunt." 17 .<br />

Engels erkannte ganz richtig, dass diese gigantische technisch-gesellschaftliche Maschinerie auf der<br />

anderen Seite viele sozial <strong>und</strong> menschlich entwurzelten Individuen voraussetzt, die sich ganz ihrer<br />

14 zit. nach Kurz 1999, 140<br />

15 Engels, zit. nach a.a.O., 141<br />

16 a.a.O., 136<br />

17 Engels 1972


Herrschaft unterwerfen: "Das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die<br />

menschliche Natur empört. <strong>Die</strong>se H<strong>und</strong>erttausende von allen Klassen <strong>und</strong> aus allen Ständen rennen<br />

aneinander vorüber, als ob sie gar nichts miteinander zu tun hätten ... <strong>Die</strong> brutale Gleichgültigkeit, die<br />

gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen (ist) das Gr<strong>und</strong>prinzip unserer<br />

heutigen Gesellschaft. <strong>Die</strong> Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes<br />

Lebensprinzip <strong>und</strong> einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze<br />

getrieben." 18<br />

<strong>Die</strong> „gefühllose Isolierung“, von der Engels sprach, war auch die Gefühllosigkeit <strong>und</strong> das Desinteresse<br />

der Oberschicht am Leben der arbeitenden Menschen, denen sie ihren Reichtum verdankte: Sie "sie<br />

will es sich nicht gestehen, dass die Arbeiter elend sind, weil sie, die besitzende, <strong>industrielle</strong> Klasse,<br />

die moralische Verantwortlichkeit für dieses Elend tragen müsste. Daher das spöttische Gesicht, das<br />

die gebildeten Engländer aufzusetzen pflegen, wenn man von der Lage der Arbeiter zu sprechen<br />

anfängt; daher die totale Unwissenheit über alles, was die Arbeiter angeht." 19 Auch heute ist das<br />

Leben des globalen Proletariats in den Slums der "Entwicklungsländer" terra incognita, unbekanntes<br />

Land für die Öffentlichkeit <strong>und</strong> die Massenmedien in den "fortschrittlichen" Industrieländern. Genaue<br />

<strong>und</strong> ungeschönte Informationen aus der Sicht der Betroffenen wird man weder im Fernsehen noch in<br />

der Masse der Publikumszeitschriften finden.<br />

<strong>Die</strong> Maschinenstürmer<br />

Bevor 1811 der Aufstand der Maschinenstürmer, der Ludditen begann, gab es schon viele spontane<br />

<strong>und</strong> aufrührerische Aktionen mit Brandstiftungen, Plünderungen, Maschinenzerstörungen,<br />

Demonstrationen <strong>und</strong> Drohbriefen, in denen sich das arbeitende Volk gegen die ständige<br />

Verschlechterung seiner Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen wehrte. Schon 1769 erließ das englische<br />

Parlament das erste Gesetz gegen die Zerstörung von Maschinen <strong>und</strong> Fabrikgebäuden, die ab 1758<br />

begann. In den so genannten Brotunruhen entstanden schon damals militante Bewegungen von<br />

deklassierten <strong>und</strong> verarmten Handwerkern. In einem gereimten Drohbrief von 1766 hieß es:<br />

“Wir sind eine kleine Armee von über 3000 - zum Kämpfen zusammengeschweißt.<br />

Und wenn die Dinge nicht billiger werden - dann, verdammt, zünden wir das Parlament an<br />

<strong>und</strong> machen alles besser auf Erden.“ 20<br />

1811 kam es dann zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, bei denen die Strumpfwirker von Nottingham<br />

mehr als 1000 Strumpfwirkstühle zerschlugen. In Yorkshire schlossen sich Tuchscherer gegen die<br />

Fabrikanten zusammen, ihr Kampf steigerte sich bis zum offenen Bürgerkrieg mit Toten <strong>und</strong><br />

Verw<strong>und</strong>eten, bei dem die Fabriken von Militär geschützt wurden. Als Vergeltung für die Erschießung<br />

von Arbeitern ermordeten Ludditen einen besonders verhassten Fabrikanten, der verkündet hatte, er<br />

wolle bis zu den Sattelgurten in Ludditenblut reiten. Erst nachdem die englische Armee massiv eingriff<br />

<strong>und</strong> das Parlament die Todesstrafe gegen Maschinenzerstörung verhängte, konnte der Aufstand<br />

niedergeschlagen werden.<br />

<strong>Die</strong> „Armee der Gerechten“ unter „General Ludd“ war damit zwar militärisch besiegt, die Aufstände<br />

gingen jedoch in kleinem Maßstab noch Jahrzehnte weiter. Noch 1831 endeten 31 Arbeiter auf dem<br />

Schafott, weil sie eine Papiermaschine zerstört hatten. Der General der Ludditen war wahrscheinlich<br />

eine mythologische Kunstfigur, hinter der sich die Arbeiter zusammenscharten, ihre Drohbriefe<br />

unterzeichneten sie stets mit „General Ludd“. Ähnliche Proteste gab es auch von Landarbeitern, die<br />

18 Engels a.a.O<br />

19 a.a.O.<br />

20 zit. n. Kurz 1999, 146


sich im Namen eines „Swing“ organisierten <strong>und</strong> vor allem die Felder <strong>und</strong> Scheunen unbarmherziger<br />

Gr<strong>und</strong>herren abfackelten.<br />

<strong>Die</strong> Militanz <strong>und</strong> Hartnäckigkeit der Auseinandersetzungen war nicht bloß durch die sich<br />

verschlechternden Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbedingungen der Handwerker <strong>und</strong> Arbeiter verursacht, sonst<br />

wäre auch im heutigen Deutschland schon längst ein Aufstand der Arbeitslosen gegen ihre<br />

zunehmende Verelendung losgebrochen. Entscheidend war das Bewusstsein der Menschen, die im<br />

Maschinensystem die Zerstörung ihrer alten Kultur <strong>und</strong> Lebenswelt erkannten.<br />

Den Ludditen ging es um mehr als nur um die Zerstörung von Maschinen, die ihre Arbeit wertlos<br />

machten. „<strong>Die</strong> Ludditen waren Erben überlieferter Dorfrechte, rechtlicher Gleichheitsvorstellungen, sie<br />

orientierten sich an einem moralischen Rechtsempfinden <strong>und</strong> an einem kulturellen Muster, das einen<br />

Rhythmus von Arbeit <strong>und</strong> Muße ebenso einschloss wie die Vorstellung eines gerechten Preises <strong>und</strong><br />

eines angemessenen Lohnes. <strong>Die</strong> Menschen wollten sich nicht an irgendein „freies Spiel der Kräfte“<br />

ausliefern, sie empfanden den Wirtschaftsliberalismus nicht als Freiheit, sondern als einen<br />

ungeheuren Betrug“ 21 .<br />

Von der herrschenden Klasse aus Bürgertum <strong>und</strong> Adel war keine Besserung zu erwarten, denn sie<br />

hatte dieses System ja gerade installiert <strong>und</strong> verteidigte es mit Zähnen <strong>und</strong> Klauen, weil es die<br />

Gr<strong>und</strong>lage ihres Einkommens <strong>und</strong> Reichtums war. Ähnliches galt von der Kirche, die auf der Seite der<br />

herrschenden Klasse stand. Es war ein Pfarrer, der öffentlich erklärte, Hunger <strong>und</strong> Elend hätten<br />

zusammen mit Kriegen <strong>und</strong> Epidemien die nützliche Funktion, die Erde von überflüssigen Menschen<br />

zu befreien. <strong>Die</strong> Rede ist von Robert Malthus, der mit seinem „Bevölkerungsgesetz“ zu den<br />

populärsten Autoren seiner Zeit gehörte.<br />

Der Protest gegen das moderne Wirtschaftssystem beschränkte sich beileibe nicht auf England. In<br />

Frankreich kam es 1830, 1834 <strong>und</strong> 1848 zum Aufstand der Lyoner Seidenweber, der tausende von<br />

Toten <strong>und</strong> Verletzte forderte, mehr als 10.000 Aufständische wurden massakriert, ins Gefängnis<br />

geworfen oder deportiert. Auch in Deutschland gab es zahlreiche Unruhen dieser Art, auch hier war<br />

der Widerstand von der gleichen Art. „<strong>Die</strong> Weber litten nicht mehr Not als alle übrigen Tagelöhner.<br />

War ihre Bedrängnis größer als die der bezeichneten Klassen, so kam sie zum großen Teil her aus<br />

ihrem Widerwillen gegen jede andere Arbeit. H<strong>und</strong>erte von Weberburschen <strong>und</strong> Webermägden<br />

würden vom Bauer bereitwillig in <strong>Die</strong>nst genommen worden sein, aber sie hätten streng arbeiten <strong>und</strong><br />

gehorchen müssen, <strong>und</strong> sie wollten doch nur soviel arbeiten als ihnen gefiel <strong>und</strong> nur solange als ihnen<br />

recht war.“ 22 .<br />

<strong>Die</strong> Solidarität von Männern <strong>und</strong> Frauen der Arbeiterschaft zeigte sich in ihren gemeinsamen<br />

Widerstandsaktionen. Oft war der Widerstand der Frauen noch wütender als der ihrer Männer,<br />

„niedere Frauen“ spielten schon in der französischen <strong>Revolution</strong> eine führende <strong>und</strong> antreibende Rolle.<br />

1831 klagte ein Staatsanwalt anlässlich eines Maschinensturms in Frankreich: „Und äußerst<br />

schmerzlich ist die Feststellung, das die Frauen besonders verbissen gegen die Nationalgarde<br />

gekämpft haben. Sie hatten die Schürzen voller Steine, <strong>und</strong> bald warfen sie selbst, bald haben sie die<br />

Steine zum Werfen weitergereicht. Es gibt besonders unter den Frauen schreckliche Kreaturen.“ 23 .<br />

<strong>Die</strong>se Aufstände dauerten etwa von 1750 bis 1850, also nur solange, als sich der moderne<br />

Kapitalismus noch nicht durchgesetzt hatte <strong>und</strong> im Bewusstsein <strong>und</strong> im unbewussten Habitus der<br />

Arbeiter verankert war. Immer noch waren Abkömmlinge matriarchaler Traditionen <strong>und</strong> Lebensweisen<br />

vorhanden, die dem Druck des <strong>Patriarchat</strong>s widerstanden, ohne sich von ihm befreien zu können.<br />

21 a.a.O., 153<br />

22 zit. nach Kurz, 155<br />

23 zit. n. Kurz 156


Um Missverständnisse zu vermeiden: natürlich gehörte die Zerstörung von Fabriken nicht zu einem<br />

matriarchalen Traditionsbestand, den es zu dieser Zeit überhaupt nicht mehr gab. Gemeint sind hier<br />

nur auf das <strong>Matriarchat</strong> zurückreichende Gr<strong>und</strong>strukturen, etwa der direkte Zusammenhang von Arbeit<br />

<strong>und</strong> Leben <strong>und</strong> die Selbstbestimmung der Arbeitsinhalte. Solche Strukturelemente waren es, die trotz<br />

ihrer patriarchalen Verformungen <strong>und</strong> Überlagerungen die sozialen Bewegungen gegen den<br />

<strong>industrielle</strong>n Kapitalismus motivierten.<br />

Doch zu einer umfassenden, historisch begründeten Erkenntnis des modernen Systems <strong>und</strong> zu einer<br />

darauf aufbauenden gesellschaftlichen Alternative konnten sich die Proletarier nicht emporarbeiten, es<br />

fehlte ihnen die intellektuelle Unterstützung, die Marx <strong>und</strong> andere aus dem Bürgertum kommenden<br />

Intellektuellen der späteren Arbeiterbewegung brachten. <strong>Die</strong> Handwerker <strong>und</strong> Landarbeiter standen<br />

allein mit dem Rücken zur Wand gegen eine feindliche Welt, die sie entweder verachtete, ignorierte<br />

oder bekämpfte. Daher auch ihre Wut, die ihnen als einzige Alternative zur demütigen Hinnahme ihres<br />

Schicksals noch geblieben war.<br />

<strong>Die</strong> neue Maschinentechnik war so teuer <strong>und</strong> kapitalintensiv, dass eine genossenschaftliche Nutzung<br />

durch die Arbeiter kaum noch möglich war, auch wollten sie sich ja gerade dieser kapitalistischen<br />

Technik nicht unterordnen. <strong>Die</strong> Vorstellung einer anderen Welt, die in ihren Köpfen spukte, blieb<br />

verschwommen <strong>und</strong> ohne Ziel, weil die alte Welt, aus der sie kamen, schon in Trümmern lag.<br />

Liberale Herrschaft<br />

<strong>Die</strong> Einführung eines umfassenden marktwirtschaftlichen Systems in England ab 1830 war ein Projekt,<br />

das es sonst nirgendwo gab. <strong>Die</strong> liberalen Neuerer betraten wie später die bolschewistischen<br />

<strong>Revolution</strong>äre in Russland ein absolutes Neuland, sie standen vor Problemen, für deren Lösung es<br />

keinerlei Erfahrungswerte gab. Daher auch ihr geradezu fanatisches Festklammern an ihrem<br />

ideologischen Gr<strong>und</strong>bestand, der durch immer radikalere Theorien ergänzt wurde.<br />

<strong>Die</strong> marktwirtschaftlichen Reformen führten zu einem Turbo-Kapitalismus, einer rasant beschleunigten<br />

<strong>industrielle</strong>n <strong>Revolution</strong>, sie war „ein ökonomisches Erdbeben, das in weniger als fünfzig Jahren<br />

riesige Massen der englischen Landbevölkerung aus sesshaften Leuten in unstete Nomaden<br />

verwandelte … Nicht die wirtschaftliche Ausbeutung ist in diesem Fall die Ursache des Niedergangs,<br />

sondern der Zerfall des kulturellen Ambiente der Opfer. <strong>Die</strong> eigentliche Ursache (ihres) Niedergangs<br />

ist die tödliche Schädigung der Institutionen, in die (ihr) gesellschaftliches Sein eingebettet ist. Das<br />

Ergebnis ist der Verlust der Selbstachtung <strong>und</strong> der Maßstäbe.“ 24<br />

<strong>Die</strong>ser kulturelle Zerfall war vor allem das Ergebnis eines sachlich konstruierten <strong>und</strong> daher völlig<br />

kulturlosen Systems, das die alte Kultur <strong>und</strong> Lebenswelt ersatzlos zerstörte. <strong>Die</strong> Veränderungen<br />

passierten so schnell <strong>und</strong> waren für die Betroffenen so tief greifend, unausweichlich <strong>und</strong> endgültig,<br />

dass sie in ein soziales <strong>und</strong> kulturelles Vakuum gestoßen wurden, gegen dessen Existenz sie<br />

zunächst mit aller Kraft auflehnten, die ihnen nach diesem Schock geblieben war.<br />

Kurze Geschichte des Tauschhandels, der Märkte <strong>und</strong> der Marktwirtschaft<br />

Einen Austausch wertvoller <strong>und</strong> nützlicher Produkte gibt es schon in der Jungsteinzeit, als Feuersteine<br />

über h<strong>und</strong>erte von Kilometern transportiert <strong>und</strong> ausgetauscht wurden. Besonders beeindruckend war<br />

der Kula-Handel auf den Trobriand-Inseln, bei dem wertvolle Güter aller Art – ganz ohne<br />

Gewinnabsicht <strong>und</strong> ohne sie zu horten – ständig weitergegeben wurden: „die Freude an den<br />

erhaltenen Gütern geschieht ohne Feilschen <strong>und</strong> Schachern, ohne Tauschhandel oder<br />

24 Polanyi, 217


Tauschgeschäfte, <strong>und</strong> das Ganze wird ausschließlich durch Etikette <strong>und</strong> Magie geregelt.“ 25 Ähnliches<br />

berichtet die Überlieferung des pazifischen Seefahrervolks der Waitaha, die für solche rituellen<br />

Handelsfahrten oft tausende von Kilometern in der riesigen Wasserwüste des Pazifiks zurücklegten,<br />

um eine bestimmte winzige Insel anzusteuern – eine seemännische Leistung ersten Ranges, ohne<br />

dass sich dabei jemand bereicherte oder ausgenutzt fühlte, im Gegenteil: das Ganze war eine<br />

abenteuerliche <strong>und</strong> bereichernde Erweiterung ihres Lebenshorizonts.<br />

<strong>Die</strong> Ökonomie als abgetrennter <strong>und</strong> spezialisierter Lebensbereich war damals wie auch bis zum<br />

Beginn der Moderne unbekannt, wirtschaftliche Handlungen waren immer in gesellschaftliche <strong>und</strong><br />

kulturelle Beziehungen eingebettet. Das gilt auch für die Antike, allerdings wurde deren<br />

Gesellschaftszusammenhang durch die Auswirkungen der gewinnorientierten Geldwirtschaft auf eine<br />

große Belastungsprobe gestellt. Als stabilisierender Faktor stand aber immer die traditionelle Lebens-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsform des ganzen Hauses im Hintergr<strong>und</strong>, „Oikos“ genannt, was später den<br />

Wortursprung der „Ökonomie“ bildete.<br />

Auch wenn dieses ganze Haus im antiken Griechenland längst eine patriarchale Perversion des<br />

ganzen Hauses der matriarchalen Sippe darstellte – die Arbeit wurde fast ausschließlich von<br />

rechtlosen Sklaven geleistet –, so stand der überschaubare naturalwirtschaftliche Zusammenhang des<br />

ganzen Hauses im Gegensatz zum entfremdeten System der protokapitalistischen Geldwirtschaft.<br />

Aristoteles erkannte, dass „der Sinn des eigentlichen Haushalts die Produktion für den Gebrauch <strong>und</strong><br />

nicht für den Gewinn ist, aber eine zusätzliche Produktion für den Markt müsse die Autarkie des<br />

Haushalts nicht gefährden“. 26 Aristoteles hatte das Neue der geldvermittelten Marktwirtschaft<br />

treffsicher erkannt; seine moralische Verurteilung des Gewinnstrebens als alleiniger Selbstzweck des<br />

Wirtschaftens schützte vor allem im Mittelalter die Gesellschaft vor den negativen Auswirkungen der<br />

Geldwirtschaft.<br />

Auch im antiken Rom blieb die Institution des ganzen Hauses für die Oberschicht weitgehend intakt,<br />

wenngleich die Sklaverei im alten Rom gigantische Ausmaße annahm. Der Zusammenbruch der<br />

Geldwirtschaft im Imperium konnte durch die Ausweitung der haus- <strong>und</strong> naturalwirtschaftlichen<br />

Wirtschaftsweise aufgefangen werden, doch dies schwächte das politische System des Imperiums so<br />

sehr, dass es unter dem Ansturm der germanischen Völkerwanderung sehr bald zusammenbrach.<br />

Im Mittelalter entwickelten sich in den Städten zahlreiche Märkte, die jedoch dem gesellschaftlichen<br />

Leben untergeordnet blieben. Das zeigte sich auch darin, dass Fernhandel <strong>und</strong> Lokalhandel streng<br />

getrennt blieben <strong>und</strong> nicht zu einem gemeinsamen Markt zusammenwachsen konnten, so galt z. B. für<br />

fremde Kaufleute ein strenges Verbot des Einzelhandels. Vor allem die Lokalmärkte blieben in sich<br />

stabil <strong>und</strong> waren in zünftige <strong>und</strong> städtische Ordnungen eingebettet.<br />

Lokale Tauschmärkte – mit <strong>und</strong> ohne Geld – hat es in fast allen Kulturen der Erde gegeben <strong>und</strong> es<br />

gibt sie auch heute noch, ohne dass deswegen die Gesellschaft als Marktgesellschaft bezeichnet<br />

werden muss: „Lokale Märkte sind im Wesentlichen Nachbarschaftsmärkte, <strong>und</strong> obwohl sie für das<br />

Leben der Gemeinschaft wichtig sind, zeigten sich nirgendwo Anzeichen zu einer Reduzierung der<br />

bestehenden wirtschaftlichen Ordnung auf ihrer eigene Struktur.“ 27<br />

Geld <strong>und</strong> Märkte konnten sich erst dann zum System der Marktwirtschaft vereinigen, als die vorher<br />

dominante Kultur einer auf sich selbst bezogene <strong>und</strong> nur der Gewinnmaximierung verpflichtete<br />

Ökonomie untergeordnet wurde. Sogar die merkantilistische Wirtschaftspolitik des absolutistischen<br />

Staates „befreite den Handel nur vom Partikularismus (indem sie einen Binnenhandel auf nationaler<br />

25 Polanyi, 80<br />

26 a.a.O., 85<br />

27 a.a.O., 96


Ebene einrichtete), erweiterte aber gleichzeitig den Umfang der Reglementierung. Der<br />

selbstgenügsame Haushalt der schwer arbeitenden Bauern blieb weiterhin die Gr<strong>und</strong>lage des<br />

Wirtschaftssystems. <strong>Die</strong> Landwirtschaft wurde durch den Binnenhandel ergänzt – ein System relativ<br />

isolierter Märkte.“ 28<br />

In England führten die nationale Vereinheitlichung des Handwerkerstatuts (1563) <strong>und</strong> das<br />

Armenrechtsgesetz (1601) die Arbeit aus der Gefahrenzone heraus, in Frankreich beriefen sich<br />

Zünfte, Städte <strong>und</strong> Provinzen auf die Macht der Traditionen, so dass z. B. das Zunftrecht auf eine<br />

nationale Basis gestellt wurde, während die merkantilistische Staatsmacht Gesetze <strong>und</strong> Verordnungen<br />

bevorzugte. Arbeit <strong>und</strong> Boden, die Gr<strong>und</strong>lagen einer stabilen Lebenswelt, blieben im Absolutismus vor<br />

dem Chaos einer frühkapitalistischen Wirtschaftsmaschinerie verschont.<br />

Obwohl sich die liberale Definition von Wirtschaft bis 1800 in England weitgehend durchgesetzt hatte,<br />

suchte die regierende Oberschicht in der paternalistischen Tradition der Aristokratie die Arbeiter<br />

weiterhin vor absoluter Verelendung zu schützen <strong>und</strong> führte 1795 mit dem Speenhamland-Gesetz ein<br />

Kombilohn-System ein, bei dem der Staat den Arbeitern einen Lohnzuschuss gab, wenn ihr Lohn<br />

niedriger als das Existenzminimum war. Ein solches Gr<strong>und</strong>einkommen führte zu ständig sinkenden<br />

Löhnen, weil die Arbeiter auf jedem Fall vor dem Verhungern geschützt waren, umgekehrt wurden<br />

Arbeiter immer mehr zu Almosenempfängern, was ihre seelische Erniedrigung verstärkte. <strong>Die</strong><br />

Arbeitsproduktivität sank unter diesen Umständen immer mehr ab. Je mehr die destruktiven Folgen<br />

einer solchen halbherzigen Reform sichtbar wurden, desto radikaler <strong>und</strong> f<strong>und</strong>amentalistischer wurden<br />

die Forderungen der Oberschicht nach einer völligen Liberalisierung der Wirtschaft.<br />

Dazu kam noch ein zusätzlicher Faktor: <strong>Die</strong> Einführung immer größerer, teurer <strong>und</strong> komplizierter<br />

Maschinen in der Produktion verschaffte ihr ein Übergewicht über den Handel, während es zuvor<br />

genau umgekehrt gewesen war: der Handel bestimmte, was produziert werden sollte, das „Wie“ blieb<br />

den kleinen Handwerkern <strong>und</strong> Manufakturen überlassen. Für die neue Fabrikindustrie war ein<br />

einheitlicher nationaler Markt von existenzieller Bedeutung, ebenso ein zuverlässiger Nachschub<br />

motivierter Arbeiter; sie drängte daher auf die Vereinheitlichung der Märkte zu einem Marktsystem, die<br />

Abschaffung aller noch bestehenden Schutzmaßnahmen <strong>und</strong> Privilegien <strong>und</strong> auf eine völlige<br />

Liberalisierung des Arbeitsmarktes.<br />

Mit Erfolg – nach dem Sieg des Großbürgertums 1832 wurde die extremste Fassung einer<br />

Abschaffung des Armenrechts ohne Schonfrist durchgesetzt – der Hunger sollte in Zukunft die<br />

Arbeiter in die Fabriken treiben <strong>und</strong> sie für alle Zumutungen ihrer hemmungslosen Ausbeutung<br />

gefügig machen. Mit anderen Worten: sie wurden zu Waren gemacht.<br />

Ähnlich radikal war die Durchsetzung des Freihandels – notfalls sollte die englische Landwirtschaft<br />

geopfert werden, um das Existenzminimum <strong>und</strong> damit die Löhne der Arbeiter mit billig importierten<br />

Nahrungsmitteln aus den englischen Kolonien weiter senken zu können. All das diente dem Ziel der<br />

englischen Vormachtstellung auf dem Weltmarkt – eine marktf<strong>und</strong>amentalistische Vision, die einen<br />

selbstregulierenden Markt im Weltmaßstab vor Augen hatte, den es damals überhaupt noch nicht gab.<br />

Letztlich war das Ganze ein Vabanquespiel nach dem Motto „Alles oder Nichts“, ähnlich der<br />

Entscheidung von Perikles, alle Mittel im Kampf gegen die Perser auf den Bau einer riesigen Flotte<br />

von Kampfschiffen zu konzentrieren.<br />

Im England der 30er Jahre setzte sich jene unheilvolle Heilslehre eines totalen <strong>und</strong> nur seinem<br />

eigenen Mechanismus überlassenen Marktes durch, der alle Bereiche des Lebens umfassen sollte;<br />

die Gesellschaft wurde zu einer Marktgesellschaft, also zu einem Anhängsel des Marktsystems<br />

degradiert. <strong>Die</strong>ses System war nicht das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern<br />

28 a.a.O., 101


ewusster politischer Entscheidungen. Der Staat in der Hand der Industriebourgeoise musste massiv<br />

eingreifen, um die liberale Vision einer radikalen Trennung Gesellschaft <strong>und</strong> Ökonomie gegen<br />

zahlreiche Widerstände durchzusetzen.

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