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Roma, Sinti und Jenische in der Schweiz - La Prairie

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abzuschneiden. Immerh<strong>in</strong> g<strong>in</strong>g die Zahl <strong>der</strong> Todesstrafen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert allmählich<br />

zurück.<br />

Die Helvetik hatte auch versucht, unter Zerschlagung <strong>der</strong> alten örtlichen Privilegien-<br />

Abstufungen <strong>in</strong> Ehrlose, Fremde, H<strong>in</strong>tersässen, Tolerierte, Bürger <strong>und</strong> regimentsfähige<br />

Patrizier, das allgeme<strong>in</strong>e <strong>und</strong> gleiche Bürgerrecht für alle e<strong>in</strong>zuführen. Nach dem Sturz des<br />

helvetischen Regimes, <strong>in</strong> den Jahren <strong>der</strong> Restauration <strong>und</strong> <strong>der</strong> Regeneration, wurden die alten<br />

Privilegien neu <strong>in</strong>stalliert <strong>und</strong> diese „Neubürger“ vielfach wie<strong>der</strong> ausgegrenzt. Im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert wurden sie als „Heimatlose“ bezeichnet. Darunter fielen sowohl sesshafte als<br />

auch fahrende Bevölkerungsgruppen. Wer e<strong>in</strong>en Partner an<strong>der</strong>er Konfession heiratete, wer<br />

länger als 10 Jahre im Ausland weilte o<strong>der</strong> wer, wie viele <strong>Schweiz</strong>er, im Ausland Söldner<br />

war, verlor das Bürgerrecht. Die Behebung <strong>der</strong> die staatlichen Kontroll<strong>in</strong>stanzen irritierenden<br />

Papierlosigkeit dieser Menschen dauerte bei den Nichtsesshaften am längsten. Endlose<br />

Debatten <strong>der</strong> Tagsatzung führten nur zu halbherzigen E<strong>in</strong>bürgerungen e<strong>in</strong>iger Gruppen von<br />

sesshaften Bürgerrechtslosen durch e<strong>in</strong>ige Kantone. Luzern scheiterte 1843 mit se<strong>in</strong>em<br />

Vorschlag, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> lebenden „Vaganten“ gesamthaft <strong>in</strong> Frankreichs frisch eroberte<br />

Kolonie Algerien zu deportieren.<br />

Das Leben <strong>der</strong> Heimatlosen schil<strong>der</strong>ten Hector Malot („Heimatlos“), Gottfried Keller<br />

(„Romeo <strong>und</strong> Julia auf dem Dorfe“), Joseph Joachim („Lonny die Heimatlose“) <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />

literarisch.<br />

Der im Jahr 1848 unter liberal-revolutionären Auspizien entstandene <strong>Schweiz</strong>er B<strong>und</strong>esstaat<br />

erliess im Dezember 1850 das „Gesetz die Heimatlosigkeit betreffend“. Es machte Druck auf<br />

die Kantone <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>den, die papierlosen Fahrenden – es gab aber auch solche unter den<br />

Nichtsesshaften, die schon seit längerem <strong>Schweiz</strong>er Bürger waren – durch Anb<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>e<br />

Heimatgeme<strong>in</strong>de bürokratisch leichter erfassbar zu machen. Das Gesetz zielte auch auf die<br />

Sesshaftmachung <strong>der</strong> Fahrenden ab, <strong>in</strong>dem es ihnen verbot, ihren traditionellen<br />

Wan<strong>der</strong>gewerben im Familienverband nachzugehen, weil sie dies für schulpflichtige K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

nicht gestattete. Da aber praktisch jede fahrende Familiengruppe auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> im<br />

schulpflichtigen Alter hatte, musste sie entwe<strong>der</strong> diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Pflegefamilien o<strong>der</strong> bei<br />

älteren Verwandten unterbr<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Illegalität leben.<br />

Um die Identität <strong>und</strong> genaue Herkunft <strong>der</strong> landesweit verhafteten Fahrenden, die immer noch<br />

als „Vaganten“ bezeichnet wurden, genau festzustellen, wurden sie fotografiert.<br />

Diese Fotografien – eigentlich Daguerrotypien – wurden zusätzlich noch als Lithographien<br />

nachgedruckt. Die neu gegründetete B<strong>und</strong>esanwaltschaft teilte die „Vaganten“ e<strong>in</strong> <strong>in</strong> solche,<br />

die als <strong>Schweiz</strong>er e<strong>in</strong>zubürgern waren, weil sie o<strong>der</strong> ihre Vorfahren früher schon e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>er Bürgerrecht gehabt hatten o<strong>der</strong> weil sie o<strong>der</strong> ihre Vorfahren <strong>in</strong> <strong>Schweiz</strong>er<br />

Kirchenbüchern <strong>und</strong> Taufregistern nachgewiesen waren, <strong>und</strong> <strong>in</strong> solche, die als Auslän<strong>der</strong><br />

auszuweisen waren. Oft wurden bei diesem Selektionsverfahren Familien getrennt. Das fiel<br />

den Behörden umso leichter, als die Fahrenden zwar <strong>in</strong> Familien zusammenlebten, nicht<br />

verheiratet waren, da sie als Bürgerrechtslose gar nicht heiraten durften. Ihre Lebenspartner<br />

wurden abwertend „Beihälter“ genannt. Viele wurden auch unter Druck gesetzt, nach Nordo<strong>der</strong><br />

Südamerika auszuwan<strong>der</strong>n.<br />

An<strong>der</strong>e wurden, nach langen Wi<strong>der</strong>ständen seitens <strong>der</strong> Kantone <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>den, die sich<br />

teilweise jahrzehntelang dagegen sperrten, tatsächlich e<strong>in</strong>gebürgert. Dies jedoch meist <strong>in</strong><br />

mausarmen Berggeme<strong>in</strong>den, wo sie ke<strong>in</strong> Auskommen hatten, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e, weil sie mit <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>bürgerung ke<strong>in</strong>en Besitzanteil an den dortigen Alpen <strong>und</strong> Wäl<strong>der</strong>n zugesprochen erhielten.<br />

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