TEODORA DIMOVA Bulgarien Geboren 1960 in Sofia ... - Traduki
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Kneipe Schnaps zu tr<strong>in</strong>ken und uns <strong>in</strong> die sich vor unseren Augen abspielende Tragödie<br />
zu verlieben, die der Kneipenwirt und se<strong>in</strong>e Geliebte mit dem allergrößten Vergnügen<br />
aufführten, ohne Anstalten zu machen, damit aufzuhören, e<strong>in</strong> dilettantisches und vorhersagbares<br />
Drama, während der von ihnen adoptierte fünfjährige kle<strong>in</strong>e Junge auf zwei<br />
gegenüber von e<strong>in</strong>ander aufgestellten Sesseln schlief, schrie, redete und we<strong>in</strong>te, und sie<br />
beruhigten und umarmten ihn, heulten dabei Rotz und Wasser, und er wand sich, wollte<br />
aufwachen, fortlaufen, raus aus dem Zigarettenrauch, raus aus dem Alkoholdunst, wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
wollte er dorth<strong>in</strong> zurück, <strong>in</strong>s kristallene, eisige Sibirien, von wo er geholt worden<br />
war, und warum Sibirien, wirklich, warum Sibirien und wozu hatten sie ihn adoptiert,<br />
fragte ich drohend, und sie begannen erneut und immer wieder mit dem gleichen Uns<strong>in</strong>n,<br />
die immer gleichen Klischees, die sie offenbar berauschten, und Jura betrachtete sie verzückt,<br />
stellte Fragen, nickte, lächelte, wollte zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, wie absolut und ganz<br />
und gar sie <strong>in</strong> dieser Geschichte dr<strong>in</strong> war, ihrer Geschichte, wie unglaublich und erhaben<br />
sie sei, und ihre Blicke versuchten hartnäckig, mich davon zu überzeugen, dass e<strong>in</strong><br />
Schriftsteller an genau solche Orte gehen müsse, mit genau solchen Geschichten konfrontiert<br />
werden müsse, genau solche Charaktere beschreiben müsse, zu jedem ihrer Sätze<br />
nickte sie und sah mich beharrlich an, wollte mir noch e<strong>in</strong>mal ihre diesbezüglichen<br />
Gedanken e<strong>in</strong>flößen, ihre außergewöhnlichen Beobachtungen. Ich widersprach ihr nicht,<br />
wie gewöhnlich, und nickte ebenfalls eifrig, ich stimmte zu, weil mir unter dem E<strong>in</strong>fluss<br />
des Alkohols die Schicksale dieser beiden und ihres sibirischen K<strong>in</strong>des glänzendes Material<br />
und re<strong>in</strong>stes Gold zu se<strong>in</strong> schienen. Ich will nur sagen, dass es mich überhaupt nicht<br />
verwunderte, als Jura an jenem frühen Abend im August <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Wohnung gestürzt<br />
kam, alles um sie herum bewegte sich, funkelte, bebte vor Verblüffung und Erregung,<br />
ihre Augen waren weit aufgerissen, <strong>in</strong> ihrem Gesicht wechselten e<strong>in</strong>ander alle möglichen<br />
Ausdrücke ab, Glück oder Unglück gewannen abwechselnd die Oberhand, ich konnte<br />
nicht erahnen, was denn nun genau geschehen war entschuldige, dass ich dich fast e<strong>in</strong><br />
halbes Jahr lang nicht mehr angerufen habe, aber ich hatte e<strong>in</strong>fach überhaupt ke<strong>in</strong>e Zeit,<br />
du hast ja ke<strong>in</strong>e Ahnung, wie viele D<strong>in</strong>ge bei mir passiert s<strong>in</strong>d, ich weiß, entgegnete ich<br />
vollkommen lakonisch, ohne dieses ganze Feuer, von dem ihre Gesprächspartner für gewöhnlich<br />
angesteckt wurden, ich weiß, du hast e<strong>in</strong>e Stelle angetreten – hier ist es an der<br />
Zeit zu erläutern, dass Jura mit ihrer Großmutter zusammenlebte, die gleichzeitig auch<br />
me<strong>in</strong>e Großmutter ist, da me<strong>in</strong>e Mutter und Juras Mutter Schwestern waren. Me<strong>in</strong>e Mutter<br />
sowie auch unsere geme<strong>in</strong>same Großmutter konnten Juras Vater se<strong>in</strong>e unangebrachte<br />
Hochzeit e<strong>in</strong>fach nicht verzeihen, er sei e<strong>in</strong> <strong>in</strong> jeder Beziehung mittelmäßiger Kle<strong>in</strong>geist,<br />
so gehässig sprachen sie über ihn, er könne es sich nicht vorstellen, nach Hause zu<br />
kommen, ohne dass ihn dort e<strong>in</strong>e Zeitung, die Pantoffeln, e<strong>in</strong>e Frau, Schnaps, Salat und<br />
der Duft von frisch zubereiteten Speisen erwarteten. Alle, e<strong>in</strong>schließlich Jura, hielten die<br />
zweite Ehefrau ihres Vaters für so unsche<strong>in</strong>bar und banal, dass sie behaupteten, sie<br />
könnten sich ihr Gesicht überhaupt nicht merken, und Jura selbst sagte, dass sie nie sicher<br />
sei, ob sie, wenn sie e<strong>in</strong>ander auf der Straße trafen, die zweite Frau ihres Vaters<br />
oder irgende<strong>in</strong>e andere grüßte. An dieser zweiten Frau aus Nordwestbulgarien, wie Jura<br />
nie zu präzisieren versäumte, gab es nichts, was e<strong>in</strong>em gefallen oder auch nicht gefallen<br />
würde, was man sich merken oder was man wieder vergessen würde, was man als ihre<br />
Besonderheit hervorheben oder aber als ebensolche verschweigen würde. Irgendwie gab<br />
es überhaupt nichts, was man über sie hätte sagen können, abgesehen von ihrer unbestreitbaren<br />
Herkunft aus dem Nordwesten. Ziemlich viel Zeit hatten wir dieser Frau gewidmet,<br />
weil ich nicht wollte, dass Jura e<strong>in</strong>e ablehnende Haltung ihr gegenüber e<strong>in</strong>nahm, ich<br />
wollte, dass sie sie ruhig und ohne großes Aufhebens akzeptierte, und e<strong>in</strong>mal fragte sie<br />
mich: na gut, wie würdest du sie beschreiben? du bist doch Schriftsteller? denkst du, ihr<br />
hätte etwas besseres passieren können, als dass sie auf <strong>Sofia</strong> fährt, wie sie selbst sich<br />
auszudrücken pflegt, me<strong>in</strong>en Vater zu heiraten, ihm E<strong>in</strong>töpfe zu kochen und zu Wahrsager<strong>in</strong>nen<br />
zu gehen? was würdest du über sie sagen? Jura hatte die Eigenschaft, viele<br />
Fragen auf e<strong>in</strong>mal zu stellen, selbst zu e<strong>in</strong>er Frage zu werden, e<strong>in</strong>e Antwort abzuwarten<br />
oder auch nicht abzuwarten, je nachdem wie sie zu den von ihr angeschnittenen Themen<br />
stand. Jura spürte noch im ersten Jahr den Überdruss, den dieser übereilte Schritt ihrem<br />
Vater bereitete, se<strong>in</strong>e Verbitterung über se<strong>in</strong>en eigenen gelähmten Willen, der es ihm<br />
nicht erlauben würde umzukehren, der ihn langsam <strong>in</strong> der Vergangenheit festhalten wür-<br />
Teodora Dimova Seite 5