unikum 112 - sub.unibe.ch - StudentInnenschaft der Universität Bern
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S<strong>ch</strong>weine füttern o<strong>der</strong> Math<br />
Die 19-jährige Bolivianerin Lidia Jiménez wüns<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts<br />
sehnli<strong>ch</strong>er als ein Mathematikstudium. We<strong>der</strong> das Geld no<strong>ch</strong> das<br />
Vorwissen aus <strong>der</strong> Lands<strong>ch</strong>ule rei<strong>ch</strong>en dazu aus. Unterstützt von<br />
ihrer Mutter kämpft sie weiter für den Traum ihres Lebens.<br />
Sieben Uhr morgens, Itapaya, Bolivien.<br />
Um die Lehmhäuser zwis<strong>ch</strong>en den<br />
Kakteen herum hat das Leben längst<br />
begonnen. Ein Webstuhl aus vier Ästen<br />
lehnt an einer Mauer und wird<br />
von einer Indiofrau ges<strong>ch</strong>ickt bedient.<br />
Ein 14-jähriger führt a<strong>ch</strong>t Ziegen<br />
aufs Feld. Vor einem Haus sitzt<br />
eine Familie beim Frühstück. Lidia<br />
Jiménez, ihre Grosseltern, die Eltern<br />
und die zwei jüngeren S<strong>ch</strong>western<br />
teilen si<strong>ch</strong> die wenigen Bröt<strong>ch</strong>en. Die<br />
Mutter ist s<strong>ch</strong>on früher aufgestanden,<br />
hat mit ein paar Hölz<strong>ch</strong>en ein Feuer<br />
angefa<strong>ch</strong>t und Tee zubereitet. Zwei<br />
Tassen besitzt die Familie, aus denen<br />
sie ihn mit viel Zucker trinkt. Zucker<br />
ist billig und hat viele Kalorien.<br />
Familie Jiménez hat alles, was sie zum<br />
Leben brau<strong>ch</strong>t. Zwei Zimmer, Essen<br />
und Klei<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Klei<strong>der</strong>sammlung.<br />
Aber um Lidia ein Studium<br />
zu finanzieren, rei<strong>ch</strong>t das Geld ni<strong>ch</strong>t<br />
aus. Diese gibt die Hoffnung auf ihren<br />
grössten Traum, ein Mathematikstudium,<br />
ni<strong>ch</strong>t auf.<br />
Tiere und Kräuter<br />
Lidia ist 19 Jahre alt und hat vor einem<br />
Jahr die S<strong>ch</strong>ule abges<strong>ch</strong>lossen.<br />
Ihre Tage verbringt sie nun meist zu<br />
Hause. Ni<strong>ch</strong>t mit Surfen im Internet,<br />
Lidia weiss ni<strong>ch</strong>t einmal, was eine<br />
e-Mail ist. Au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit Fernsehen<br />
o<strong>der</strong> Radio hören. Die Familie<br />
hat keine elektris<strong>ch</strong>en Geräte, dazu<br />
sind we<strong>der</strong> Geld no<strong>ch</strong> Strom vorhanden.<br />
Lidias Tag besteht aus alltägli<strong>ch</strong>en<br />
Arbeiten. Sie füttert die Tiere,<br />
s<strong>ch</strong>ickt die S<strong>ch</strong>western zur S<strong>ch</strong>ule<br />
o<strong>der</strong> hilft <strong>der</strong> Mutter im Gärt<strong>ch</strong>en.<br />
Diese bringt ein biss<strong>ch</strong>en Geld ins<br />
Haus, indem sie auf dem Markt im<br />
Na<strong>ch</strong>barsdorf Kräuter verkauft. Sie<br />
steht voll hinter den Studienplänen<br />
ihrer ältesten To<strong>ch</strong>ter. Der Vater ver-<br />
dient nur gelegentli<strong>ch</strong>, wenn es am<br />
nahen Fluss Lastwagen mit Steinen<br />
zu beladen gibt. Den Lohn gibt er nur<br />
zu gerne für «<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>a» aus, ein alkoholis<strong>ch</strong>es<br />
Getränk, das aus Mais gebraut<br />
wird. Für Lidias Zukunft interessiert<br />
er si<strong>ch</strong> weniger. Immerhin verbietet<br />
er, <strong>der</strong> als Mann in <strong>der</strong> Familie das<br />
Sagen hat, ihr die Uni ni<strong>ch</strong>t.<br />
Gelegentli<strong>ch</strong> kann Lidia selber etwas<br />
Geld verdienen. Sie hat das Glück,<br />
dass ein Projekt aus <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>weiz Textilien<br />
aus ihrem Dorf importiert. So<br />
kriegt sie gelegentli<strong>ch</strong> einen Auftrag<br />
zum Sticken o<strong>der</strong> Stricken. Der Lohn<br />
beträgt 20 Bolivianos pro Tag, das<br />
entspri<strong>ch</strong>t etwa drei Franken fünfzig<br />
– viel für Itapaya.<br />
Für zwei Bolivianos gibt es 25 Bananen,<br />
<strong>der</strong>en S<strong>ch</strong>alen si<strong>ch</strong> erst no<strong>ch</strong> als<br />
S<strong>ch</strong>weinefutter weiterverwerten lassen.<br />
«Wir haben viele Tiere», sagt Lidia.<br />
Es sind drei Ferkel, zwei Gänse,<br />
ein Hahn und eine Henne. «Und die<br />
Flöhe auf den Hunden», ergänzt sie<br />
augenzwinkernd.<br />
Kein Geld für S<strong>ch</strong>ulen<br />
Lidia hat Humor. In <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>ule hat sie<br />
meist alles verstanden, au<strong>ch</strong> wenn die<br />
Lehrer miserabel waren. Gute Lehrer<br />
gehen ni<strong>ch</strong>t aufs Land, denn dort werden<br />
sie s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t bezahlt. Das regelmässig<br />
vor den Wahlen verspro<strong>ch</strong>ene<br />
Geld für die S<strong>ch</strong>ulen ist nie angekommen.<br />
Deshalb haben die Bauern<br />
selbst ein Haus gebaut, Tis<strong>ch</strong>e gezimmert<br />
und ein biss<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ulmaterial<br />
besorgt. Sie bezahlen den Lehrern<br />
Lohn, aber viel liegt ni<strong>ch</strong>t drin.<br />
Lidia mö<strong>ch</strong>te na<strong>ch</strong> dem Mathematikstudium<br />
Lehrerin werden. Falls sie<br />
den Traum verwirkli<strong>ch</strong>en kann, hofft<br />
sie, an einer Privats<strong>ch</strong>ule eine Stelle<br />
zu finden. Privats<strong>ch</strong>ulen haben Geld,<br />
denn sie verlangen Studiengebühren.<br />
Aber au<strong>ch</strong> dort können die Lehrer <strong>der</strong><br />
hohen Arbeitslosigkeit wegen keine<br />
Sozialleistungen erwarten.<br />
2, 4, ..., 8<br />
Um Lehrerin zu werden, muss Lidia<br />
no<strong>ch</strong> viele Hin<strong>der</strong>nisse überwinden.<br />
Als erstes muss sie die Aufnahmeprüfung<br />
für die naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Fakultät <strong>der</strong> einzigen öffentli<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Universität</strong> in Co<strong>ch</strong>abamba bestehen.<br />
Ihr Vorwissen aus <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>ule rei<strong>ch</strong>t<br />
für die wenigsten <strong>der</strong> s<strong>ch</strong>wierigen<br />
Aufgaben aus Mathematik, Chemie<br />
und Physik.<br />
Einfa<strong>ch</strong>er wäre die Prüfung an einer<br />
<strong>der</strong> zahlrei<strong>ch</strong>en privaten Unis: «2, 4,<br />
..., 8 – wel<strong>ch</strong>e Zahl gehört in die Lücke?».<br />
Da sie an allen Studierenden<br />
verdienen, wollen sie mögli<strong>ch</strong>st viele<br />
aufnehmen. Wer Geld hat, kriegt in<br />
Bolivien jedes Diplom. Auf dem Land<br />
hat niemand eines.<br />
Im Moment bemüht si<strong>ch</strong> Lidia um<br />
ein Stipendium. Dazu fährt sie an<strong>der</strong>thalb<br />
Stunden mit dem Kleinbus<br />
über holperige Strassen na<strong>ch</strong> Co<strong>ch</strong>abamba.<br />
Im Bus sitzen Frauen in traditioneller<br />
Kleidung: weite Röcke,<br />
weisse Hüte, das s<strong>ch</strong>warze Haar zu<br />
zwei Zöpfen geflo<strong>ch</strong>ten. In farbigen<br />
Tü<strong>ch</strong>ern tragen sie ein Huhn zum<br />
Verkauf, Grünzeug für die Tiere o<strong>der</strong><br />
aber ihr kleinstes Kind. Lidia hingegen<br />
kleidet si<strong>ch</strong> mit Hosen und T-<br />
Shirt, wie die Stadtbevölkerung.<br />
Lidia Jiménez wird wohl ihr Leben lang ko<strong>ch</strong>en, sticke<br />
Handies und Steins<strong>ch</strong>leu<strong>der</strong>n<br />
Co<strong>ch</strong>abamba ist mit einer halben<br />
Million Einwohnern die viertgrösste<br />
Stadt Boliviens, und die am weitesten<br />
entferne, die Lidia je gesehen<br />
hat. Hier tragen die Jungen gefäls<strong>ch</strong>te<br />
Markenturns<strong>ch</strong>uhe statt Sandalen<br />
aus Lastwagenpneu, während<br />
die Kin<strong>der</strong> mit dem Handy statt <strong>der</strong><br />
Steins<strong>ch</strong>leu<strong>der</strong> spielen. Viele StädterInnen<br />
halten si<strong>ch</strong> für etwas Besseres<br />
als die Bauern, weil sie hellere Haut<br />
haben und ni<strong>ch</strong>t auf dem Feld stehen,<br />
son<strong>der</strong>n im Büro sitzen und Kunden<br />
warten lassen. Der Umgang mit bolivianis<strong>ch</strong>en<br />
Behörden ist notoris<strong>ch</strong><br />
zeitaufwändig – zumindest für Leute<br />
ohne Geld in einem <strong>der</strong> korruptesten<br />
Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt.<br />
Zeit hat Lidia. Um ein Stipendium zu<br />
kriegen, muss sie erst eine Identitätskarte<br />
haben. Um diese zu beantragen<br />
brau<strong>ch</strong>t es einen Geburtss<strong>ch</strong>ein. Wer<br />
hätte den ausstellen sollen in Itapaya,<br />
wo es vorkommt, dass Frauen ihre<br />
Kin<strong>der</strong> ganz alleine zu Hause auf die<br />
Welt bringen? Immerhin kann Lidia,<br />
im Gegensatz zu den älteren Leuten<br />
2 | <strong>112</strong> Februar 2005