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unikum 112 - sub.unibe.ch - StudentInnenschaft der Universität Bern

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Monsoon<br />

Semester<br />

Eine Kuh mit fünf Beinen?<br />

McDonalds in <strong>der</strong> kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Ho<strong>ch</strong>burg? Hungerstreik als<br />

politis<strong>ch</strong>es Druckmittel <strong>der</strong><br />

StudentenInnen? Alles in Indien ist<br />

wahr, und das Gegenteil davon ist<br />

au<strong>ch</strong> wahr...<br />

Politik in <strong>der</strong> Mensa <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>ool of International Studies<br />

foto: zvg<br />

26. Juli 2004<br />

Liebes Tagebu<strong>ch</strong>. Seit fünf Tagen bin i<strong>ch</strong><br />

in Indien. Seit fünf Tagen stehe i<strong>ch</strong> bei tropis<strong>ch</strong>en<br />

40 Grad in Wartes<strong>ch</strong>langen. I<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>reibe mi<strong>ch</strong> als «Casual Student» an <strong>der</strong><br />

Jawaharlal Nehru University (JNU) in Delhi<br />

ein. Für das Immatrikulationsproze<strong>der</strong>e<br />

benötige i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t nur 600 US Dollar<br />

und eine Ba<strong>ch</strong>elor-Bestätigung <strong>der</strong> Heimuniversität,<br />

son<strong>der</strong>n vor allem stois<strong>ch</strong>e<br />

Ruhe. Wie oft s<strong>ch</strong>on hörte i<strong>ch</strong> die Worte,<br />

dass si<strong>ch</strong> das zweistündige Wurzels<strong>ch</strong>lagen<br />

in Mens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>langen ni<strong>ch</strong>t gelohnt<br />

hat, da <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>alter, den man konsultieren<br />

mö<strong>ch</strong>te, soeben s<strong>ch</strong>liesst und erst am folgenden<br />

Morgen wie<strong>der</strong> öffnet. Aber, es sei<br />

do<strong>ch</strong> erst zwei Uhr na<strong>ch</strong>mittags, gab i<strong>ch</strong><br />

einmal zu bedenken. «Madam, today special<br />

holiday», war die Antwort des freundli<strong>ch</strong>en<br />

In<strong>der</strong>s. Was, s<strong>ch</strong>on wie<strong>der</strong> ein Feiertag?<br />

«Yes madam, yesterday special Hindu<br />

holiday, today special Muslim holiday.»<br />

15. September 2004<br />

I<strong>ch</strong> verstehe die Welt ni<strong>ch</strong>t mehr. Heute<br />

habe i<strong>ch</strong> einen McDonalds Delivery<br />

Service auf dem Campus gesehen.<br />

Das multinationale Unternehmen hat<br />

die letzte Bastion des Wi<strong>der</strong>standes erobert.<br />

Jawahrlal Nehru – erster Premierminister<br />

Indiens – würde si<strong>ch</strong> im Grab<br />

umdrehen. An <strong>der</strong> na<strong>ch</strong> ihm benannten<br />

<strong>Universität</strong> bedeutet Studieren glei<strong>ch</strong> Politik<br />

und Politik glei<strong>ch</strong> Klassen- und Kastenkampf.<br />

Das Administrationsgebäude<br />

ist ges<strong>ch</strong>mückt mit einem Portrait von<br />

Che Guevara. JNU ist die Ka<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>miede<br />

linker Politiker und Sozialaktivisten.<br />

Gestern Abend erst nahm i<strong>ch</strong> an einer<br />

intensiven Diskussion über den neuen<br />

Nescafe-Stand auf dem Campus teil. Die<br />

Mehrheit <strong>der</strong> Diskussionsgruppe stand<br />

in Opposition zum Stand. Man zog einen<br />

Hungerstreik als Mittel des gewaltlosen<br />

Wi<strong>der</strong>standes im Sinne von Mahatma<br />

Gandhi in Betra<strong>ch</strong>t. Dies ist hier eine<br />

beliebte Form des Protestes ni<strong>ch</strong>t nur gegen<br />

bürokratis<strong>ch</strong>en Filz, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong><br />

für alltägli<strong>ch</strong>e Dinge wie die Erstellung<br />

eines neuen Hostels. Die Wohnsituation<br />

ist tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> prekär. Bis zu fünf Studierende<br />

leben in einem Zimmer, das ungefähr<br />

<strong>der</strong> Grösse des Che Guevara Portraits<br />

am Administrationsgebäude entspri<strong>ch</strong>t.<br />

20. Oktober 2004<br />

Heute hat si<strong>ch</strong> Professor Chenoy – Mitglied<br />

<strong>der</strong> kommunistis<strong>ch</strong>en Partei – wie<strong>der</strong> einmal<br />

selber übertroffen. I<strong>ch</strong> sitze in <strong>der</strong> Vorlesung<br />

über das politis<strong>ch</strong>e System Indiens.<br />

Kaum begonnen mit Erklärungen zur indis<strong>ch</strong>en<br />

Verfassung driftet Chenoy ab und<br />

erzählt uns von Massenverhaftungen von<br />

Studierenden an <strong>der</strong> JNU im Jahre 1975.<br />

Das neue Antiterror-Gesetz, die Politik <strong>der</strong><br />

USA und die hindunationalistis<strong>ch</strong>e Partei<br />

BJP werden im glei<strong>ch</strong>en Atemzug zum<br />

Teufel gewüns<strong>ch</strong>t. Irgendwann s<strong>ch</strong>lägt die<br />

Rede in Hindi um. Opfer seiner politis<strong>ch</strong>en<br />

Leidens<strong>ch</strong>aft hat Chenoy vergessen, dass<br />

Vorlesungen in Englis<strong>ch</strong> gehalten werden<br />

müssen, da ni<strong>ch</strong>t nur die vielen ausländis<strong>ch</strong>en<br />

Studierenden aus Europa, Zentralasien<br />

o<strong>der</strong> dem Fernen Osten, son<strong>der</strong>n<br />

au<strong>ch</strong> die Studierenden aus Südindien die<br />

offizielle Amtsspra<strong>ch</strong>e Indiens ni<strong>ch</strong>t verstehen.<br />

In den hinteren Bänken dösen die<br />

soeben genannten Personengruppen zur<br />

Hindi Wortlawine und den monotonen<br />

Geräus<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Ventilatoren langsam ein.<br />

28. November 2004<br />

Es ist Diwali, das Fest <strong>der</strong> Li<strong>ch</strong>ter. Der<br />

Professor für Israelis<strong>ch</strong>e Aussenpolitik<br />

hat uns zu si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Hause eingeladen,<br />

um gemeinsam den Sandalenfilm «Die<br />

Zehn Gebote» anzus<strong>ch</strong>auen. Ein Muss,<br />

um Israel zu verstehen. Der Weg zu ihm<br />

führt mi<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ein mittelalterli<strong>ch</strong> anmutendes<br />

Quartier mit engen, ungepflasterten<br />

Gassen. Händler preisen ihre Ware<br />

auf Holzkarren an. Langsam zieht eine<br />

Gruppe Esel vorbei, wel<strong>ch</strong>e Ziegelsteine<br />

transportiert. Ein orange gekleideter<br />

Mann sammelt Geld für die Kuh, wel<strong>ch</strong>e<br />

neben ihm steht und mir den Weg versperrt.<br />

Aufgrund einer genetis<strong>ch</strong>en Mutation<br />

besitzt sie ein fünftes Bein, wel<strong>ch</strong>es<br />

ihr aus dem Rücken wä<strong>ch</strong>st. Sie sei beson<strong>der</strong>s<br />

heilig, erklärt er mir. Bevor i<strong>ch</strong> mein<br />

Geld für das göttli<strong>ch</strong>e Tier spenden kann,<br />

zerrt mi<strong>ch</strong> eine Frau in ihr Haus, umarmt<br />

mi<strong>ch</strong> heftig und stopft mir Süssigkeiten<br />

ins Maul. «Happy Diwali,» ruft sie übers<strong>ch</strong>wängli<strong>ch</strong>.<br />

«Happy Diwali» murmele<br />

i<strong>ch</strong> gerührt zwis<strong>ch</strong>en Süssigkeitsbissen<br />

hervor. Am Ziel angekommen, begrüsst<br />

uns Professor Kumaraswamy in Pyjama<br />

und dicken fröhli<strong>ch</strong>-farbigen Wollsocken.<br />

Nein, nein, er sei ni<strong>ch</strong>t krank, die novemberli<strong>ch</strong><br />

kühlen 18 Grad verlangen ledigli<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong> angemessener Winterausrüstung.<br />

3. Dezember 2004<br />

Liebes Tagebu<strong>ch</strong>. Heute habe i<strong>ch</strong> die letzte<br />

Prüfung ges<strong>ch</strong>rieben. Wir bes<strong>ch</strong>liessen,<br />

das Ereignis gebührend zu feiern und fahren<br />

mit einer Autorikshaw zu McDonalds.<br />

An einer roten Ampel hält mir ein lumpig<br />

gekleidetes Mäd<strong>ch</strong>en ihre hohle Hand entgegen<br />

und bittet um einige Rupees. I<strong>ch</strong> verneine,<br />

woraufhin mir das Mäd<strong>ch</strong>en einen<br />

feurig bösen Blick zuwirft und meinem<br />

Bein einen s<strong>ch</strong>merzhaften S<strong>ch</strong>lag verpasst.<br />

I<strong>ch</strong> erinnere mi<strong>ch</strong> an die Worte von Professor<br />

Chenoy: «Everything in India is true.<br />

And the opposite of it is also true.» Treffen<strong>der</strong><br />

könnte i<strong>ch</strong> diese Situation und grundsätzli<strong>ch</strong><br />

mein gesamtes Austaus<strong>ch</strong>semester<br />

wohl ni<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>reiben. Tägli<strong>ch</strong> wurde<br />

und werde i<strong>ch</strong> mit Situationen konfrontiert,<br />

wel<strong>ch</strong>e mi<strong>ch</strong> erstaunen, na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong><br />

stimmen und mein Wertesystem in<br />

Frage stellen. Und darin liegt ni<strong>ch</strong>t nur<br />

die Herausfor<strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> die<br />

Faszination dieses Landes. I<strong>ch</strong> blicke dem<br />

Mäd<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong>. Sie steht unterdessen bei<br />

ihrer Familie am Strassenrand und spielt<br />

vergnügt mit <strong>der</strong> kleinen S<strong>ch</strong>wester. I<strong>ch</strong><br />

bes<strong>ch</strong>liesse, das mit McDonalds für heute<br />

bleiben zu lassen.<br />

elisa gilgen, elisa@students.<strong>unibe</strong>.<strong>ch</strong><br />

Für Informationen zur <strong>Universität</strong> siehe:<br />

www.jnu.ac.in<br />

8 | <strong>112</strong> Februar 2005

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