Passauer Thomas-Bernhard-Freunde
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<strong>Passauer</strong> <strong>Thomas</strong>-<strong>Bernhard</strong>-<strong>Freunde</strong><br />
<strong>Thomas</strong> <strong>Bernhard</strong> „Die Auslöschung“, erschienen 1986 im Suhrkamp-Verlag<br />
„Nur der Schamloseste ist authentisch.“ ( „Die Kälte“, 1981)<br />
„Nur das absolut Authentische, und ist es noch so grotesk, möglicherweise sogar<br />
widerwärtig.“ („Auslöschung. Ein Zerfall“)<br />
Inhaltsangabe:<br />
Franz Josef Murau, (geboren 1934 auf Schloss Wolfsegg, gestorben 1983 in Rom), der Ich-<br />
Erzähler des Romans „Auslöschung. Ein Zerfall“, hat in seinem letzten Lebensjahr in seiner<br />
Wahlheimat Rom Aufzeichnungen über seinen „Herkunftskomplex“, Schloss Wolfsegg, verfasst.<br />
Wolfsegg, seit Generationen im Besitz der Familie, eine idyllische Trutzburg mit ausgedehnten<br />
Wäldern und Feldern und fünf Bibliotheken, das in Muraus Kindheit „sein Arkadien“ war, ist zur<br />
Provinzhölle verkommen. Als „Hochburg des Nationalsozialismus“ ist es ein Hort biedersten<br />
Stumpfsinns und barbarischer Heuchelei:<br />
“Die Erzbischöfe und die Gauleiter gaben sich einander die Türklinke in die Hand.“<br />
Murau lebt seit Jahren nicht mehr auf Schloss Wolfsegg, zu dem eine große Landwirtschaft,<br />
riesige Ländereien und Wälder gehören, sondern als Schriftsteller und Privatlehrer in Rom,<br />
das ihm als Gegen-Welt zum verhassten „Herkunftskomplex“ Wolfsegg nun Heimat geworden ist.<br />
Nur zwei Tage, nachdem er von der Hochzeitsfeier seiner Schwester Caecilia mit dem badischen<br />
„Weinflaschenstöpselfabrikanten“, auf Vermittlung der „Titiseetante“, aus Wolfsegg nach Rom<br />
zurückgekehrt ist, erhält er „Das Telegramm“, so der Titel des ersten, 310 Seiten langen Teils.<br />
Im Telegramm wird ihm von seinen Schwestern mitgeteilt, dass der Vater, (für seine Frau der<br />
„Hampelmann“), die Mutter („eine typische Provinzlerin, eine Emporgekommene ein absoluter<br />
Anti-Kulturmensch“) und der erstgeborene Bruder Johannes, (dessen Lieblingswörter „Getreide,<br />
Schweine, Fichten, Föhren etcetera waren und der für die Mutter der „Ersatzhampelmann“ war),<br />
bei einem Autounfall getötet wurden. Bis zur Abfahrt nach Rom erinnert sich Murau anhand von<br />
Fotografien an seine Eltern, seinen Bruder, die Individual-Negativfiguren, sowie an die Positiv-<br />
Figuren des Onkel Georg, auf dessen Grabstein in Cannes die von ihm gewünschte Aufschrift:<br />
„Der zu dem richtigen Zeitpunkt die Barbaren hinter sich gelassen hat“, der Dichterin Maria<br />
(Ingeborg Bachmann) und immer wieder des Kardinals Spadolini. Er denkt an seine Kindheit und<br />
Jugend, seine Zerstörung durch die Eltern und die durch den Katholizismus und<br />
Nationalsozialismus geprägte Wolfsegger Atmosphäre. Während der Bruder und seine Schwester<br />
von den Eltern in Wolfsegg gehalten werden konnten und die dann auch in Wolfsegg und an<br />
Wolfsegg seelisch zugrunde gehen, verlässt er die Heimat zu einem Studium in Oxford und rettet<br />
sich dann früh nach Rom. Hier kann er mithilfe des Schecks seiner Eltern seinen Neigungen<br />
nachgehen und seine Existenz als „Geistesmensch“ leben. Seinen erwachsenen Schüler<br />
Gambetti aus besten Kreisen unterrichtet er in deutscher Sprache und Literatur. In Rom verkehrt<br />
er außer mit Maria, „seiner Dichterin“, und mit Zacchi, mit dem „glanzvollen“ Spadolini, einem<br />
Vatikandiplomaten, einem sehr weltläufigen und überaus gebildeten Erzbischof, der mit Wissen<br />
ihres Mannes jahrzehntelang in Rom und auf diversen Reisen der verwöhnte Liebhaber der Mutter<br />
war. Diesem Spadolini bringt Murau ein hohes Maß an Verständnis und Bewunderung entgegen,<br />
während seine Familie auf Wolfsegg, von wenigen Momenten von Mitgefühl abge-sehen, einer<br />
unerbittlichen Verurteilung unterworfen wird.<br />
Im zweiten Teil mit dem Titel „Das Testament“ erlebt Murau den Ankunftsnachmittag und -Abend<br />
mit den Vorbereitungen zum Begräbnis und der Ankunft der zahlreichen Trauergäste, darunter drei<br />
Bischöfe und zwei Ex-Gauleiter. Wir werden Zeugen der Begegnung des neuen Herrn und<br />
Alleinerben von Schloss Wolfsegg und allem, was dazu gehört, mit den Schwerstern, den<br />
„Marionetten ihrer Mutter“, den toten Eltern, „Sie sind tot. Ich bin frei.“ und dem toten Bruder, mit<br />
Spadolini und vor allem mit seinem geliebten, human gesinnten Vetter Alexander. Murau erinnert<br />
sich an die Kindheit, an die geliebten Gärtner, an die verhassten Jäger, an die Kindervilla und die<br />
Ex- Gauleiter, denen dort von der Mutter Asyl gewährt wurde. Am Ende des Romans erfahren wir<br />
zweierlei:
Der Erzähler fährt nach Wien, um Wolfsegg, „wie es steht und liegt“, an die Israelitische<br />
Kultusgemeinde in Wien, deren Vertreter Eisenberg, Rabbiner und sein Studienfreund, beim<br />
Begräbnis anwesend ist, zu verschenken. Danach erst reist er nach Rom zurück.<br />
Im letzen Satz lesen wir, dass der Erzähler kurz nach Vollendung seines Berichtes über seinen<br />
„Herkunftskomplex“, dem er den Titel „Auslöschung. Ein Zerfall“ gibt, stirbt.<br />
Man hat gesagt, dass in dem Roman, die Parabel vom verlorenen Sohn mit umgekehrten<br />
Vorzeichen erzählt wird. Nicht das Erbe, sondern Rechenschaft wird gefordert von denen, die<br />
sich ohne Not und ohne die mindeste Reue, aus Geltungsdrang und politischem Opportunismus mit<br />
millionenfachen Mördern gemein gemacht haben – und 20 oder 30 Jahre danach immer noch<br />
unbelehrbar sind. Wolfsegg, das „Paradies der Kindheit“, hat sich in ein Gruselkabinett verwandelt,<br />
deren „fürchterlichen Geschichtsabgründen“ Murau, der Abtrünnige, der Verfluchte und Verstoßene,<br />
dadurch zu entgehen versucht, dass er sich „stellvertretend für so viele, die über ihre Leiden, wie der<br />
Bergmann Schermaier, den sein bester Schulfreund an die Nazis verraten hat, weil er einen<br />
Schweizer Sender hörte und der dafür ins Konzentrationslager musste, nicht sprechen konnten, von<br />
der Seele schreibt: „Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es<br />
auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen,<br />
auslöschen.“<br />
Sätze:<br />
„Während sie Hirsche abschossen, saß ich in der Bibliothek hinter festverschlossenen<br />
Fensterbalken, um ihre Schüsse nicht hören zu müssen, sagte Onkel Georg, und las Dostojewski.“<br />
„Und wer sagt, dass wir selbst den richtigen Weg gegangen sind? Wir selbst sind auch nicht die<br />
Glücklichsten. (19)<br />
„Nach und nach müssen wir alles ablehnen, habe ich zu Gambetti auf dem Pincio gesagt, nach und<br />
nach gegen alles sein, um ganz einfach an der allgemeinen Vernichtung, die wir im Auge haben,<br />
mitzuwirken, das Alte auflösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen zu können für das<br />
Neue. Das Alte muss aufgegeben werden, vernichtet werden, so schmerzhaft dieser Prozess<br />
auch ist, um das Neue zu ermöglichen, wenn wir auch nicht wissen können, was denn das Neue<br />
sei, aber dass es sein muss, wissen wir…Alles aufgeben, habe ich zu Gambetti gesagt, alles<br />
abstoßen, alles auslöschen letzten Endes, Gambetti….“ (211)<br />
„Wir müssen für jede schlaflose Nacht dankbar sein, Gambetti, habe ich zu diesem gesagt, denn sie<br />
bringt uns in jedem Fall philosophisch weiter.“<br />
„Wir beschreiben die anderen als niedrig und gemein und suchen dafür alle nur möglichen<br />
Argumente und sind es selbst in einem noch viel gravierenderen Ausmaß.“ (249)<br />
Das allerdings hatte ich wieder zu Gambetti gesagt, ist mir ein angenehmer Gedanke, meine<br />
Selbstzersetzung und Selbstauslöschung. Nichts anderes habe ich ja vor lebenslänglich.“ (296)<br />
„Wir müssen uns das Denken erlauben, uns getrauen auch auf die Gefahr hin, dass wir schon<br />
bald scheitern, weil es uns plötzlich unmöglich ist, unsere Gedanken zu ordnen, weil wir, wenn wir<br />
denken, immer alle Gedanken, die es gibt, die möglich sind, in Betracht zu ziehen haben, scheitern<br />
wir immer naturgemäß; wir sind ja im Grunde immer gescheitert und alle andern auch, sie mögen<br />
geheißen haben wie immer… Denken heißt scheitern, dachte ich. Handeln heißt scheitern. Aber wir<br />
handeln naturgemäß nicht, um zu scheitern, wie wir nicht denken, um zu scheitern, dachte ich. (571)<br />
„Schon habe ich wieder etwas im Kopf, Auslöschung heißt es möglicherweise, ich werde damit<br />
alles auszulöschen versuchen, das mir einfällt, alles, das in dieser Auslöschung niedergeschrieben<br />
ist, wird ausgelöscht, sagte ich mir. Ich hatte an diesem Titel Gefallen gefunden, es ging eine große<br />
Faszination für mich von diesem Titel aus. Wo er mir eingefallen ist, wusste ich nicht mehr: Ich<br />
glaube, er ist von Maria, die mich ja auch einmal einen Auslöscher genannt hat. Ich bin ihr<br />
Auslöscher hat sie behauptet. Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte.“(542)<br />
„Meine Übertreibungskunst habe ich so weit geschult, dass ich mich ohne weiteres als den<br />
größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist, nenne kann. Ich kenne keinen anderen.<br />
Kein Mensch hat seine Übertreibungskunst jemals so auf die Spitze getrieben, habe ich zu Gambetti<br />
gesagt…Damals habe ich zu Gambetti gesagt, dass die Kunst der Übertreibung eine Kunst der<br />
Überbrückung sei, der Existenzüberbrückung in meinem Sinn, habe ich zu Gambetti gesagt.<br />
Durch Übertreibung, schließlich durch Übertreibungskunst, die Existenz auszuhalten, habe ich zu<br />
Gambetti gesagt, sie zu ermöglichen. Je älter ich werde, desto mehr flüchte ich mich in meine<br />
Übertreibungskunst. Die großen Existenzüberbrücker sind immer große Übertreibungs-künstler<br />
gewesen…(612) / A.F.