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Ein fauler Zahn, den niemand zieht - Bernhard Raos

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© Beobachter; 11.01.2008; Ausgabe-Nr. 1; Seite 20<br />

Schuldner<br />

<strong>Ein</strong> <strong>fauler</strong> <strong>Zahn</strong>, <strong>den</strong> <strong>niemand</strong> <strong>zieht</strong><br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Raos</strong><br />

Als «<strong>Zahn</strong>arzt-Ratgeber» war er vor Jahren in <strong>den</strong> Schlagzeilen. Ist der wegen<br />

Betrugs verurteilte Michael Genge-Russo inzwischen ein geläuterter Mensch?<br />

Nein. <strong>Ein</strong>e Geschichte von viel zu vielen Opfern und Behör<strong>den</strong> ohne Biss.<br />

Michael Genge-Russo wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in einer herrschaftlichen Villa<br />

im aargauischen Zufikon. Elf Monate lang bezahlte er die Miete von 5000 Franken monatlich<br />

nicht mehr. Gegen die gerichtliche Ausweisung wehrte er sich vorerst mit allen juristischen<br />

Mitteln. Die Vermieter mussten zusätzlich noch 7000 Franken Räumungsvorschuss ans<br />

Gericht bezahlen. Letzter Stand: Gemäss Vereinbarung ziehen Genges Ende Januar aus.<br />

Wenn nicht, wird zwangsgeräumt.<br />

Wenn die Vermieter vor Vertragsabschluss gewusst hätten, wer Michael Genge ist, hätte<br />

ihnen das eine Menge Sorgen erspart. Von 1987 bis Dezember 2007 brachte er es auf 106<br />

Verlustscheine; Gesamtsumme: Fr. 1232121.50. Betreibungen seit 2004: 159, ausstehender<br />

Betrag total: Fr. 2137767.10. Je<strong>den</strong> Monat kommen weitere Betreibungen von zigtausend<br />

Franken hinzu.<br />

Genge ist beileibe kein unbeschriebenes Blatt: Er wurde im Sommer 2003 vom Bundesgericht<br />

in letzter Instanz zu 17 Monaten Gefängnis unbedingt verurteilt - unter anderem wegen<br />

Betrugs, Urkun<strong>den</strong>fälschung, Veruntreuung und unrechtmässigen Bezugs von<br />

Arbeitslosengeldern. Neun Jahre hatte das Verfahren von der Anklage bis zur Verurteilung<br />

gedauert.<br />

Der Mann hat eine schillernde Vergangenheit. Der heute 59-Jährige kam 1970 aus<br />

Deutschland in die Schweiz. Er gab als Berufsbezeichnung <strong>Zahn</strong>techniker an. Mit drei<br />

Dentallabors ging er in <strong>den</strong> neunziger Jahren pleite. Dann entdeckte Genge eine Marktlücke<br />

und mutierte zum «Berater»: Gegen Gebühr kontrollierte er <strong>Zahn</strong>arztofferten, Rechnungen<br />

und <strong>Zahn</strong>ersatzmaterialien. Die Ratsuchen<strong>den</strong> vermittelte er an <strong>Zahn</strong>ärzte seiner Wahl.<br />

Schliesslich mischte er auch noch bei Kauf und Verkauf von <strong>Zahn</strong>arztpraxen mit sowie bei<br />

der Vermittlung von Personal.<br />

Genge verdiente sein Geld sowohl mit <strong>den</strong> Ratsuchen<strong>den</strong> als auch mit <strong>den</strong> <strong>Zahn</strong>ärzten - von<br />

neutraler Beratung kann da keine Rede sein. <strong>Zahn</strong>ärzte berichten, er habe sie auch um<br />

Darlehen gebeten, zum Beispiel für seine Auto-Leasingverträge. Die Raten habe er nie<br />

zurückbezahlt. «Ich musste für 15000 Franken geradestehen», erzählt einer der Betroffenen<br />

dem Beobachter. Alle Anfragen des Beobachters liess Genge unbeantwortet.<br />

Betagte Frau um eine Million geprellt<br />

Bedient hat er sich selbst bei Ratsuchen<strong>den</strong> wie der heute 94-jährigen Marthe M. (Name der<br />

Redaktion bekannt). Er brachte sie um ihr ganzes Vermögen, fast eine Million Franken. Der<br />

Fall machte schweizweit Schlagzeilen und trug ihm eine weitere Verurteilung wegen<br />

gewerbsmässigen Betrugs ein.


Alles Vergangenheit? Nein. Genge rekurrierte und «beriet» bis vor kurzem weiter, sekundiert<br />

von seiner Ehefrau Concetta, die zeitweise das Sekretariat des «<strong>Zahn</strong>arzt-Ratgebers» an<br />

nobler Zürcher Adresse betreute. «Oft riet Genge zu Implantaten oder zu Totalsanierungen<br />

und schickte die Leute zu <strong>Zahn</strong>ärzten, die mitspielten», sagt ein heute selbständiger <strong>Zahn</strong>arzt.<br />

Er hatte früher in einer Zürcher Gruppenpraxis gearbeitet, der Genge zahlreiche Patienten<br />

zuhielt. Der <strong>Zahn</strong>arzt wundert sich: «Warum darf sich jemand ohne entsprechende<br />

Ausbildung so viel anmassen?» Werner Fischer, Kantonszahnarzt in Zürich, sagt zur<br />

Rechtslage: «Solange jemand nur berät und weder Befunde erhebt noch Diagnosen stellt,<br />

braucht es keine Bewilligung. Wenn er etwa auf Röntgenbilder von <strong>Zahn</strong>ärzten verweist,<br />

bewegt er sich in einer Grauzone.»<br />

Auch das Betreibungsamt Zufikon scheint kapituliert zu haben: Im Mai 2004 gestand es dem<br />

Schul<strong>den</strong>baron ein Existenzminimum von 13300 Franken zu und akzeptierte unter anderem<br />

einen Posten von 4500 Franken für «Sekretärin Büro». Den Anteil seines Gehalts, <strong>den</strong> Genge<br />

dem Betreibungsamt abliefern sollte, bezahlte er nicht. Erst vor kurzem erschien der<br />

Pfändungsbeamte, und zwar nach Voranmeldung, in der Villa des Schuldners. Alles<br />

Verwertbare war weggeräumt. Von Versäumnissen will Marcel Locher vom Betreibungsamt<br />

Zufikon aber nichts wissen: «Wir haben alle rechtlichen Möglichkeiten ausgenutzt.» Das<br />

bedeutet für die Gläubiger: Sie müssten selber klagen.<br />

<strong>Ein</strong>er der Betroffenen ist Beat Ming, Inhaber der gleichnamigen Schreinerei in Bremgarten<br />

AG. Er wartet vergeblich auf über 15000 Franken, die ihm Genge für Möbelstücke schuldet:<br />

«Bisher ist vom Betreibungsamt nichts verwertet wor<strong>den</strong>.» Das Prozedere lässt ihn am<br />

System zweifeln: «Geschützt wer<strong>den</strong> die Schuldner, nicht die Gläubiger», ist er überzeugt.<br />

Genge ist für ihn ein Schurke der besonderen Art: «Anstatt einzubrechen, lässt er sich die<br />

Waren frei Haus liefern.» Oder wie es ein anderer Kenner der Umstände formuliert: «Genge<br />

hat es mit beispielloser Frechheit und Tücke verstan<strong>den</strong>, das formalistische<br />

Betreibungsverfahren in eine Endlosschleife zu schicken.»<br />

<strong>Ein</strong> Meister der Verschleppungstaktik<br />

Die Justiz ist ebenfalls überfordert: Auch das hängige Verfahren, bei dem die betagte Marthe<br />

M. klagt, kommt nur schleppend voran. Genge liess am Bezirksgericht Zürich Termine<br />

platzen, ein Arztzeugnis genügte jeweils. Ende 2006 wurde er zwar wegen gewerbsmässigen<br />

Betrugs zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber er zog <strong>den</strong> Fall weiter. Die Verhandlung vor<br />

Obergericht findet nun frühestens im April 2008 statt. Dann ist das Opfer 95 Jahre alt. Und<br />

dann gibt es ja noch das Bundesgericht.<br />

Seine Anlaufstelle «<strong>Zahn</strong>arzt-Ratgeber» hat Genge mittlerweile verkauft. Sie soll nun von<br />

zwei <strong>Zahn</strong>ärzten und einem Juristen wiedereröffnet wer<strong>den</strong>. Vor Gericht sprach Genge von<br />

einem Verkaufspreis von zwei Millionen Franken. Marcel Bauer, einer der neuen Inhaber,<br />

will seinerseits keine Auskunft geben, die Konditionen seien «streng vertraulich». Das<br />

Betreibungsamt Zufikon sollte sich vielleicht mal wieder einschalten.<br />

Schwächen im System<br />

Renitente Schuldner nutzen laut dem Schweizerischen Verband Creditreform die Schwächen<br />

im Betreibungsverfahren aus. Zieht ein Schuldner mehrmals um, kommt der Gläubiger nicht<br />

umhin, an jeder Adresse eine <strong>Ein</strong>wohner- wie auch eine Betreibungsauskunft einzuholen.<br />

<strong>Ein</strong>e zeitraubende und kostspielige Angelegenheit, <strong>den</strong>n an jedem Ort wird für <strong>den</strong> Auszug<br />

eine Gebühr erhoben. <strong>Ein</strong>e gemeinsame Datenbank der Betreibungsämter existiert nicht.


Erhebt der Schuldner Rechtsvorschlag, kostet das Fortsetzungsbegehren zusätzlich. Die<br />

Folgen: Insolvenzen und fruchtlose Pfändungen bescheren <strong>den</strong> Gläubigern Jahr für Jahr<br />

Verluste von schätzungsweise zehn Milliar<strong>den</strong> Franken

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