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A. Objektiver Tatbestand

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§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

A. <strong>Objektiver</strong> <strong>Tatbestand</strong><br />

1. Allgemeines<br />

152<br />

Soweit es sich bei der Vorsatzstraftat um ein Erfolgsdelikt handelt, hängt es<br />

vom jeweils besonderen <strong>Tatbestand</strong> ab, welche Art von Erfolg (s. o. Rn. 125 ff.,<br />

140 ff.) vorliegen muss. Ferner muss der Erfolg ursächlich (s. o. Rn. 109 ff.) auf<br />

eine Handlung (s. o. Rn. 108) des Täters zurückgehen.<br />

2. Besonderheiten der objektiven Zurechnung<br />

153<br />

Besonderheiten gelten bei der objektiven Zurechnung. Strafe zieht den<br />

Beschuldigten höchstpersönlich zur Verantwortung. Folglich muss auch der<br />

Gegenstand des Vorwurfes mit der Person des Täters besonders verbunden<br />

sein, er muss individuelles Unrecht sein (s. o. Rn. 87 ff.). Näher bedeutet dies,<br />

dass der tatbestandsmäßige Erfolg gerade auf dem Tun dieses Täters beruhen<br />

muss, er sich als dessen Werk darstellt. 242 Zur Feststellung dessen hat sich<br />

zwar eine Formel etabliert und weitgehende Einigkeit über einen Teil der<br />

einschlägigen Fallgruppen erzielen lassen. Während die Rechtsprechung beim<br />

Vorsatzdelikt bisher Kriterien der objektiven Zurechnung grds. nicht<br />

berücksichtigt 243 , ist die Wissenschaft noch dabei, eine systematisch<br />

geschlossene Lehre herauszubilden.<br />

a) Die herrschende Lehre<br />

154<br />

Die h. L. fragt in einem ersten Schritt danach, ob der Täter ein Risiko in<br />

rechtlich missbilligter Weise geschaffen, und in einem zweiten Schritt danach,<br />

ob sich dieses Risiko im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert hat. 244 Ersteres<br />

wird verneint beim Fehlen einer rechtlichen Missbilligung des Risikos 245 (ein<br />

Bauer schickt den Knecht ins Gewitter) bzw. im Falle der Risikoverringerung 246<br />

(Jemand lenkt den Schlag gegen den Kopf auf den Arm ab). Letzteres wird<br />

verneint, wenn der Erfolg jenseits des Schutzzweckes der Norm liegt 247 , wegen<br />

des Verhaltens anderer der Regress zum Täter verboten ist 248 , ein atypischer<br />

Kausalverlauf vorliegt 249 , bzw. dem Täter eine rechtmäßige Alternative fehlt. 250<br />

Einzelheiten sind hier str.<br />

242<br />

243<br />

244<br />

245<br />

246<br />

247<br />

248<br />

249<br />

250<br />

Deutlich so Wessels/Beulke, AT, Rn. 176 f.; zust. Frister, AT, 10/1.<br />

Dazu: Kahlo, in: Küper-FS, S. 249 (255 f.).<br />

Frister, AT; 10/2; Jescheck/Weigend, AT, § 28 IV. m. w. N.<br />

Wessels/Beulke, AT, Rn. 176 f., 183 f.<br />

Frister, AT, 10/5; Jescheck/Weigend, AT, § 28 IV. 1.<br />

BGHSt. 33, 61 (Geschwindigkeitsüberschreitung).<br />

BGHSt. 32, 262 (Verleihen einer Heroinspritze); HansOLG Rostock, NStZ 2001, S. 199 m. Anm.<br />

Geppert, JK 2001, StGB § 13/32.<br />

Wessels/Beulke, AT, Rn. 196.<br />

BGHSt. 11, 1 (7). Nicht selten wird diese Figur auf Fahrlässigkeitsdelikte beschränkt, freilich ohne<br />

dies eindeutig zu kennzeichnen, z. B. Wessels/Beulke, AT, Rn. 197-199a.<br />

54


§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

Für die h. L. spricht zwar, dass sie über die Pflichtwidrigkeit des<br />

erfolgsursächlichen Verhaltens hinaus nach einem spezifischen Zusammenhang<br />

zwischen Handlung und Erfolg sucht. Ihr gelingt es aber nicht, diesen<br />

Zusammenhang positiv zu definieren 251 und verliert sich daher in einer offenen<br />

Kasuistik von Ausschlussgründen. Letztlich bleibt es dann aber dabei, dass<br />

jedes gegen ein abstraktes Gefährdungsverbot verstoßende Setzen einer<br />

notwendigen Bedingung für den Erfolg als <strong>Tatbestand</strong>sverwirklichung<br />

angesehen wird, soweit nicht eine der eben genannten Fallgruppen vorliegt.<br />

155<br />

b) Kritische Stimmen<br />

Gegen die h. L. wird eingewandt, die Lehre von der objektiven Zurechnung sei<br />

beim Vorsatzdelikt überflüssig. Es handele sich einesteils um Fragen der<br />

<strong>Tatbestand</strong>sauslegung (nicht missbilligte Risiken), der Rechtfertigung (Risikoverringerung)<br />

oder des vorsatzausschließenden Irrtums (alle übrigen Fallgruppen).<br />

252<br />

Zutreffend an diesem Ansatz ist das Bemühen, die Fallgruppen der herrschenden<br />

Kasuistik durch systematische Dogmatik nach geordneten Prinzipien<br />

zu entscheiden. Hinsichtlich der ersten beiden Fallgruppen überzeugt<br />

die Lösung auch. Demgegenüber fällt der Befund im Übrigen zu undifferenziert<br />

aus. Schon die §§ 25-27 StGB zeigen an, dass nicht alle diese Konstellationen<br />

als Vorsatzprobleme angemessen gelöst werden können.<br />

156<br />

157<br />

c) Eigene Auffassung<br />

Eine systematisch geschlossene Lösung lässt sich erreichen, wenn man den<br />

Ansatz der h. L. umkehrt. Statt zunächst jedes auch noch so entfernt<br />

erfolgsursächliche Verhalten daraufhin zu untersuchen, ob es gegen<br />

irgendeine rechtliche Verhaltensanweisung verstößt, ist dasjenige Verhalten<br />

des Täters zum Ausgangspunkt zu nehmen, das unmittelbar zur<br />

<strong>Tatbestand</strong>sverwirklichung führt. Daraus ergibt sich:<br />

aa) Verwirklicht jemand alle Merkmale des objektiven <strong>Tatbestand</strong>es unabhängig<br />

vom Verhalten anderer in eigener Person, ist es nach seinem äußeren Erscheinungsbild<br />

ausschließlich individuelles Werk des Täters. Führt das Handeln<br />

des Täters ohne weitere Zwischenakte (d. h. unmittelbar) zur Verwirklichung<br />

des <strong>Tatbestand</strong>es (der Messerstich führt zum Verbluten), dann ist die<br />

objektive Zurechnung ohne weiteres zu bejahen. 253<br />

158<br />

159<br />

251<br />

252<br />

253<br />

So Renzikowski, GA 2007, S. 560 (573).<br />

Armin Kaufmann, Jescheck-FS, 1985, S. 251 ff.; vgl. w. Kühl, AT, § 4 Rn. 42; Maiwald, in:<br />

Miyazawa-FS, S. 465 (478 ff.).<br />

Genauso Frister, AT 10/3.<br />

55


§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

160<br />

161<br />

162<br />

163<br />

164<br />

bb) Geht der Eintritt des Erfolges dagegen unmittelbar auf das Verhalten des<br />

Opfers bzw. das Dritter zurück, bedarf die objektive Zurechnung besonderer<br />

Begründung. Hier kann ein Regressverbot eingreifen.<br />

(1) Liegt ein Fall freiverantwortlicher Selbstgefährdung vor, ist der Erfolg grds.<br />

alleiniges Werk des Opfers. 254 Diese Fallgruppe ist auch in der Rspr. anerkannt.<br />

255<br />

(2) Gleiches gilt, wenn der Eintritt des Erfolges unmittelbar auf einem eigenverantwortlichen<br />

Dazwischentreten eines Dritten beruht. 256<br />

Ein Teil der Literatur verneint die objektive Zurechnung darüber hinaus auch<br />

beim Vorsatzdelikt, wenn der Täter auf das rechtmäßige Verhalten anderer<br />

hätte vertrauen dürfen. 257 Auch diese Problematik lässt sich ebenfalls am besten<br />

im Rahmen der Prüfung des Vorsatzes behandeln. Geht der Täter nämlich<br />

ernsthaft davon aus, dass sein Handeln möglicherweise erst zusammen mit<br />

dem (fahrlässigen) Handeln eines Dritten zum Erfolg führt, kann er sich auf<br />

Vertrauen nicht berufen. 258<br />

(3) Eine Ausnahme zum Regressverbot greift dagegen, wenn der Täter von<br />

Rechts wegen dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt. Dies ist zum<br />

einen dann der Fall, wenn der Täter die Selbstgefährdung des Opfers seinerseits<br />

veranlasst hat und das Recht das Opfer gerade auch vor solchen Veranlassungen<br />

schützen will. 259 Zum anderen gestatten die § 25 I 2. Alt. u. II, §§ 26<br />

f. StGB in differenzierter Weise die Zurechnung fremden Unrechttuns. Dies ist<br />

Bestandteil der Beteiligungslehre (s. u. Rn. 516 ff.).<br />

(4) Wird der Erfolg unmittelbar erst durch ein (fahrlässiges) Handeln des Täters<br />

bewirkt, das seinem vorausgegangenen (vorsätzlichen) Handeln unvorhergesehen<br />

nachfolgt, dann ist der Erfolg grundsätzlich nicht durch das zeitlich erste<br />

Handeln ins Werk gesetzt worden. Dies gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn<br />

das zeitlich erste Handeln das ihm nachfolgende Handeln provoziert. 260<br />

254<br />

255<br />

256<br />

257<br />

258<br />

259<br />

260<br />

LPK-StGB/Kindhäuser, § 13 Rn. 118 f. m. w. N.; vgl. w. Frister, AT, 10/15 f.; Wessels/Beulke, AT,<br />

Rn. 187 ff. m. w. N.<br />

BGHSt. 32, 262 (265) (Heroinspritze); BGH, NStZ 1985, S. 25 (26); 2001, S. 205.<br />

BGH MDR 1956, S. 526; BGH, NJW 1966, S. 1823; näher: Köhler, AT, S. 145 f.; Roxin, AT I § 24<br />

Rn. 28 ff. m. w. N.; krit. Frister, AT 10/13.<br />

Näher Jakobs, AT, Rn. 7/51 ff.<br />

Im Ergebnis zutreffend: BGHSt. 2, 20 (24); 7, 118 (122); 30, 228 (232) m. w. N.; vgl. w. Köhler, AT,<br />

S. 148; krit. auch Frister, AT, 10/11 f.; 10/26.<br />

Vgl. BGHSt. 37, 179 (Heroinverkauf) m. zust. Anm. Beulke/Schröder, NStZ 1991, S. 393; Otto, Jura<br />

1991, S. 443; Rudolphi, JZ 1991, S. 972; abl. Anm. Hohmann, MDR 1991, S. 1117; zust. Frister,<br />

AT, 10/17; krit. Roxin, AT I § 11 Rn. 115 ff. m. w. N.; vgl. w. BGHSt. 39, 322 (Brandretter) m. zust.<br />

Anm. Amelung, NStZ 1994, S. 338; Sowada, JZ 1994, S. 663; krit. Anm. Alwart, NStZ 1994, S. 84;<br />

Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 775; K. Günther, StV 1995, S. 78;zust. auch Frister, AT, 10/18;<br />

10/28.<br />

Vgl. den Jauchegrubenfall: BGHSt. 14, 193, wo die Frage freilich als Vorsatzproblem aufgeworfen<br />

wird, dagegen treffend Frister, AT; 11/52-54.<br />

56


§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

cc) Zum Dritten folgt aus dem Vorstehenden die Irrelevanz hypothetischer Ersatzursachen<br />

(Fallgruppe überholender und überholter Kausalität, s. o. Rn.<br />

112). Zwar behauptet eine Mindermeinung das Gegenteil. Wenn das Gut verloren<br />

sei, fehle der Erfolgszurechnung der hinreichende Grund. 261 Doch wird<br />

dem heute zu Recht entgegen gehalten, ein Rechtsgut verliere seine rechttliche<br />

Garantie nicht dadurch, dass es dem Untergang geweiht sei. Niemand darf<br />

dem Verhungernden vergiftete Speisen vorsetzen. 262 M. a. W.: Dass auch andere<br />

dem Opfer nach dem Leben trachten, hindert es nicht, denjenigen als<br />

Täter anzusehen, der es wirklich getötet hat. Der Tod bleibt auch dann allein<br />

sein Werk. Wegen der hypothetischen Ersatzursache ist freilich der Bestand<br />

des Rechtsguts hinfällig. Das nähert das Unrecht hier dem (untauglichen) Versuch<br />

an. Daher ist bei der Strafrahmenwahl die analoge Anwendung der §§ 23<br />

I, 49 I StGB zu erwägen. 263<br />

dd) Schließlich sind die Fälle der Risikokonkurrenz zu entscheiden. 264 Hier<br />

kehren die Fallgruppen der kumulativen und der alternativen Kausalität (s. o.<br />

Rn. 111, 113 ff.) wieder.<br />

Zum Teil wird hier vertreten, bei kumulativer Kausalität sei bei beiden Tätern,<br />

soweit sie ohne Wissen vom Verhalten des anderen handelten, die objektive<br />

Zurechnung des Erfolges zu verneinen, während sie bei alternativer Kausalität<br />

zu bejahen sei. 265 Das ist inkonsequent: Da bei alternativer Kausalität beide<br />

Ursachen sich objektiv ex post teils gegenseitig hemmen, so auf nur notwendige<br />

Beziehungen reduzieren, teils als solche den Erfolg aber bedingen, handelt<br />

es sich bei ihnen dem wirklichen Verlauf nach ebenfalls lediglich um kumulative<br />

Kausalität. 266<br />

Richtig ist daher: Sowohl bei kumulativer als auch bei alternativer Kausalität<br />

entscheidet sich die Frage der objektiven Zurechnung nach dem Handlungszeitpunkt.<br />

Derjenige, der zuletzt handelt, dessen Handeln setzt wegen der bereits<br />

zuvor gesetzten anderen Bedingung nicht nur eine notwendige, sondern<br />

auch eine hinreichende Bedingung für die Realisierung der geschaffenen Gefahr<br />

im Erfolg. So hängt es objektiv allein von ihm ab, ob der Erfolg eintritt. Bei<br />

ihm ist daher die objektive Zurechnung in beiden Fällen zu bejahen, wie sie bei<br />

dem Ersthandelnden beide Male grundsätzlich zu verneinen ist. 267 Denn dieser<br />

führt den Erfolgseintritt gerade nicht unmittelbar herbei. Handeln schließlich<br />

beide gleichzeitig und gefährdet das Handeln von jedem je für sich unmittelbar<br />

165<br />

166<br />

167<br />

168<br />

261<br />

262<br />

263<br />

264<br />

265<br />

266<br />

267<br />

Grundlegend Arthur Kaufmann, in: Eb. Schmidt-FS, 1961, S. 200 (229).<br />

Jakobs, AT, Rn. 7/92, 97.<br />

Jakobs, AT, Rn. 7/74 f. m. w. N.<br />

Näher dazu: Jakobs, AT, Rn. 7/72 ff.; Köhler, AT, S. 145 f.<br />

So etwa Murmann, S. 183.<br />

Zutreffend insoweit: Arthur Kaufmann, in: Eb. Schmidt FS, 1961, S. 200 ff.<br />

So Köhler, AT, S. 145 f. Offen bleibt beim Ersthandelnden die Zurechnung über die §§ 25 I, 2. Alt.,<br />

II, 26 f. StGB.<br />

57


§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

169<br />

170<br />

171<br />

172<br />

den durch den Straftatbestand geschützten Rechtsgutsträger, dann ist der<br />

Erfolg beiden objektiv zurechenbar.<br />

Ausnahmsweise ist die objektive Zurechnung zum Ersthandelnden dennoch zu<br />

bejahen, wenn er das Handeln des Letzthandelnden veranlasst hat und das<br />

Recht das Opfer gerade auch vor solchen Veranlassungen schützen will (s. o.<br />

Rn. 163).<br />

ee) Zwar ist der Erfolg auch dann nicht alleiniges Werk des Täters, wenn es<br />

Werk der Natur ist. Dementsprechend verneint ein Teil der Literatur (schon) die<br />

objektive Zurechnung, wenn der schädigende Kausalverlauf zum Zeitpunkt des<br />

Handelns (objektiv ex ante) nach allgemeiner Lebenserfahrung höchst unwahrscheinlich<br />

gewesen ist (atypischer Kausalverlauf). 268 Doch handelt es sich hier<br />

recht besehen um ein Vorsatzproblem.<br />

Für die Einordnung als Fallgruppe objektiver Zurechnung spricht zwar, dass<br />

das Bewirken von etwas Unvorhersehbarem bei niemandem als dessen Werk<br />

angesehen wird. Gleichwohl ist dieser Maßstab zu unpräzise. Als bloß quantitative<br />

Größe kann er zur qualitativen Scheidung von Recht und Unrecht keine<br />

Gewissheit beitragen. In der Praxis sind zudem die Fälle selten, in denen etwas<br />

ex post Erkennbares ex ante als unerkennbar anzusehen ist. Handhabbar<br />

wäre der Maßstab nur, wenn man ihn auf Fälle beschränkt mit bisher unerkannten<br />

Mängeln oder Dispositionen (z. B. eine bisher nicht bekannte Häufung<br />

von Nierenkrankheiten beim Opfer). Doch hängt der Umstand, ob etwas bisher<br />

unerkannt geblieben ist, davon ab, ob auch der Täter selbst es bisher nicht<br />

erkannt hat. Folglich geht es darum, ein etwaiges Sonderwissen des Täters<br />

über das Tatgeschehen zu berücksichtigen. 269 Diese Frage beantwortet sich<br />

am rationellsten im Rahmen der Prüfung des Vorsatzes.<br />

ff) Von Rechts wegen scheint sich der Eintritt eines Erfolges zwar auch dann<br />

nicht dem Täter zurechnen zu lassen, wenn dieser keine rechtmäßige Alternative<br />

hatte. Diese Figur findet bei Vorsatzdelikten jedoch ihre angemessene<br />

Berücksichtigung in der Prüfung des subjektiven <strong>Tatbestand</strong>es. Nimmt der<br />

Täter hin, dass auf seine Wahl der riskanteren Alternative (Unterschreiten des<br />

zulässigen Seitenabstandes) der Erfolg eintreten kann, dann ist am Vorsatz<br />

nicht zu zweifeln. Weiß er dagegen nicht, dass die Wahl der riskanteren Alternative<br />

die Wahrscheinlichkeit des Erfolgsverwirklichung erhöht, liegt ein Tatumstandsirrtum<br />

vor, § 16 I 1 StGB. Geht er zutreffend von einer Alternative<br />

gleicher Erfolgswahrscheinlichkeit aus, ist dies ein Fall der Pflichtenkollision.<br />

Ein Teil der Lehre beschränkt daher diese Figur zu Recht auf Fahrlässigkeitsdelikte.<br />

268<br />

269<br />

So Köhler, AT, S. 144 f.<br />

Vgl. die Kritik von Struensee, JZ 1989, S. 53 (59 f.); zust. Frister, AT 10/34 f.<br />

58


§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

gg) Ähnlich liegt es bei der Frage nach dem Schutzzweck der Norm. Wird diese<br />

Figur eng gefasst 270 , geht es darum, bestimmte abstrakte Gefährdungsverbote<br />

(z. B. der StVO) auf Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen<br />

zuzuschneiden. 271 Diese Überlegungen haben nur im Rahmen von<br />

Fahrlässigkeitsdelikten einen Sinn. 272 Fährt dagegen jemand gerade zu dem<br />

Zweck zu schnell, um zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einen<br />

Unfall zu verursachen, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass er den<br />

<strong>Tatbestand</strong> des Vorsatzdeliktes erfüllt. Wird diese Figur dagegen weit verstanden<br />

273 , bezieht man Fälle mit ein, die hier im Rahmen des Regressverbotes<br />

erörtert worden sind.<br />

hh) Nach einem Teil der Literatur ist in den Fällen der Risikoverringerung, in<br />

denen der Täter eine bereits bestehende Gefahr in ihrer Wirkung abmildert (z.<br />

B. einen Schlag auf den Kopf an die Schulter ablenkt), ebenfalls die objektive<br />

Zurechnung zu verneinen. 274 Dies ist fraglich. Die verbleibende Wirkung ist<br />

Werk des Zuletzthandelnden. Die Lösung ist auf anderer Ebene zu suchen: bei<br />

der (tatbestandsausschließenden) Einwilligung oder der Rechtfertigung aufgrund<br />

von mutmaßlicher Einwilligung oder rechtfertigenden Notstandes. 275<br />

173<br />

174<br />

d) Fallsammlung zur objektiven Zurechnung<br />

Fall 1<br />

A traf im April 1983 den H, mit dem er befreundet war. H sagte dem A, er habe<br />

Heroin, das man zusammen „drücken“ könne. Daraufhin entschloss sich der A,<br />

die nötigen Spritzen zu besorgen. Zwei Spritzen übergab er dem H, der sie mit<br />

einer aufgekochten Heroinlösung füllte. A und H setzten sich die Spritzen und<br />

fielen beide in Ohnmacht. Als A wieder aufwachte, war der H bereits an Atemstillstand<br />

und Herzkreislaufversagen verstorben (BGHSt. 32, 262-<br />

Heroinspritze).<br />

Lösungshinweis: siehe Rn. 161<br />

Fall 2<br />

A hatte an den O Heroin verkauft. Dieser hatte sich das Rauschgift gespritzt<br />

und war daran verstorben (BGHSt. 37, 179-Heroinverkauf).<br />

Lösungshinweis: siehe Rn. 163.<br />

270<br />

271<br />

272<br />

273<br />

274<br />

275<br />

Wessels/Beulke, AT, Rn. 182.<br />

Vgl. RGSt. 63, 392; BGHSt. 33, 61.<br />

Vgl. Jescheck/Weigend, AT, § 28 IV. 4. a. E.<br />

Jescheck/Weigend, AT, § 28 IV. 4. a. E.<br />

Dazu: Wessels/Beulke, AT, Rn. 193 ff.<br />

So Köhler, AT, S. 147 f.;zust. Kahlo, in: Küper-FS, S. 249 (269 Fn. 91).<br />

59


§ 3 <strong>Tatbestand</strong>slehre<br />

Fall 3<br />

Der T betrieb ein Bordell. Der Bäcker B lieferte dem T Brötchen für das Buffet<br />

der Gäste. Dem B war bekannt, dass der T die Backwaren für die Bordellbewirtung<br />

brauchte (RGSt. 39, 44).<br />

Lösungshinweis: vgl. Rn. 162.<br />

Fall 4<br />

Wie 3, nur war der B ein Spirituosenhändler, der den T mit alkoholischen Getränken<br />

belieferte.<br />

Lösungshinweis: vgl. Rn. 162 f.<br />

Fall 5<br />

Die Bäuerin B geriet mit ihrer Nachbarin N in Streit. Um die N zu ersticken,<br />

stopfte die B der N eine Handvoll Sand in den Mund. Darauf ging die N bewusstlos<br />

zu Boden. Die B ging davon aus, dass die N tot sei. In Wahrheit lebte<br />

sie aber noch. Um die vermeintliche Leiche zu verstecken, warf die B die N in<br />

eine Jauchegrube. Dort ertrank die N (BGHSt. 14, 193-Jauchegrube).<br />

Lösungshinweis: eingehende Lösung siehe Rn. 183. Vgl. ferner Rn. 164, 180.<br />

B. Subjektiver <strong>Tatbestand</strong> (Vorsatz)<br />

175<br />

176<br />

1. Allgemeines<br />

Soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht, ist nur vorsätzliches Handeln (s. u.<br />

Rn. 176) tatbestandsmäßig. Fehlt es daran, ist ein objektiv tatbestandsmäßiges<br />

Verhalten allenfalls dann strafbar, wenn es fahrlässig ins Werk gesetzt wurde<br />

und das Gesetz die Strafbarkeit ausdrücklich anordnet, § 15 StGB. Umgekehrt<br />

erweitert das Gesetz in vielen Vorschriften den subjektiven <strong>Tatbestand</strong> über die<br />

Kenntnis der Tatumstände hinaus auf weitere subjektive <strong>Tatbestand</strong>smerkmale<br />

(z. B. in §§ 242 I, 267 I StGB). Ihr Vorliegen ist der Sache nach genauso zu<br />

prüfen wie der Vorsatz beim Versuch (s. u. Rn. 467 ff.).<br />

a) Vorsatzbegriff<br />

Wie dargelegt, bedarf es schließlich der intellektuellen Herrschaft des Täters<br />

über das objektiv tatbestandsmäßige Geschehen, damit dies Ausdruck der<br />

Geltungsanmaßung ist, dass das angegriffene Rechtsgut nach dem Willen des<br />

Täters nicht mehr sein soll. Hierzu muss der Täter von der Möglichkeit der <strong>Tatbestand</strong>sverwirklichung<br />

gewusst haben und dieses Wissen sich in seinem Willen<br />

zu Eigen gemacht haben. Eingebürgert hat sich die (Faust-) Formel vom<br />

60

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