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Philosophische Gedanken für den Alltag - Internetloge.de

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<strong>Philosophische</strong> <strong>Gedanken</strong> <strong>für</strong> <strong><strong>de</strong>n</strong> <strong>Alltag</strong><br />

Nach Franz Carl Endres 1 (*)<br />

Vielleicht wird eine Philosophie <strong>de</strong>r Zukunft wie<strong>de</strong>r zu <strong><strong>de</strong>n</strong> ältesten Quellen philosophischer<br />

Tätigkeit zurückfin<strong><strong>de</strong>n</strong>, wird endlich von <strong><strong>de</strong>n</strong> Systemen befreien, um wirklich Philosophie zu<br />

sein, wird <strong><strong>de</strong>n</strong> L'art-pour-l'art-Standpunkt 2 verlassen, um <strong><strong>de</strong>n</strong> Menschen helfen zu können —<br />

mit einem Worte: vielleicht wird eine Philosophie <strong>de</strong>r Zukunft an<strong>de</strong>rs sein, als die, die uns seit<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rten nicht um einen Schritt weitergebracht hat, weil sie stets mehr ein Denken über<br />

das Denken, als ein Bewerten war 3 .<br />

Nicht die wissenschaftliche Masse ist maßgebend. Unsere Zeit hat unendliche Massen von<br />

Wissenschaft angehäuft, sie ist tatsächlich viel wissenschaftlicher gewor<strong><strong>de</strong>n</strong>, als an<strong>de</strong>re Zeiten<br />

es waren, aber sie ist <strong>de</strong>shalb nicht weiser gewor<strong><strong>de</strong>n</strong>. Im Gegenteil: sie ist erschreckend<br />

unweise gewor<strong><strong>de</strong>n</strong>.<br />

Was aber ist Weisheit? Weisheit ist die Fähigkeit <strong>de</strong>r richtigen Bewertung. Und darum kann<br />

ein Hirte weiser sein als ein Philosophieprofessor und ein Ureinwohner ohne Zivilisation<br />

weiser als ein mit Zivilisation überfütterter Europäer. Ein Träumen<strong>de</strong>r kann weiser sein als ein<br />

Wacher, ein Glauben<strong>de</strong>r weiser als ein Wissen<strong>de</strong>r. Unser menschliches Wissen ist eng mit<br />

<strong>de</strong>m Intellekt verbun<strong><strong>de</strong>n</strong>, <strong>de</strong>r, seinerseits eine körperliche Funktion, nicht über sehr enge<br />

Grenzen hinauskann. Weisheit aber ist unbegrenzt. Niemand kann ihre Grenzen bestimmen.<br />

Sie hat außer <strong>de</strong>m Intellekt noch an<strong>de</strong>re, höhere Mitarbeiter.<br />

Ich verstehe unter <strong>de</strong>m Begriff Bewertung sowohl etwas ganz Allgemeines als auch <strong>de</strong>ssen<br />

wörtlichste Be<strong>de</strong>utung. Um zunächst bei dieser zu bleiben: Wir sehen es alle Tage, daß unsere<br />

Zeit falsche Werte hat. Sie bewertet das Materielle, Geld, Gut, Besitz, Macht, viel höher als<br />

alles an<strong>de</strong>re. Daher entstehen die heißen Kämpfe um diese Werte, die keine Werte sind. Daher<br />

formiert sich <strong>de</strong>r Begriff Glück und Unglück um die Tatsache <strong>de</strong>s Besitzes o<strong>de</strong>r Nichtbesitzes<br />

dieser sogenannten Werte. Daher wird auch <strong>de</strong>r Mensch von heute nach diesen Dingen in<br />

erster Linie bewertet, anstatt nach <strong><strong>de</strong>n</strong> wirklichen menschlichen Werten, die im<br />

Charakterlichen liegen. Es ist ein großer Kampf auf <strong>de</strong>r Welt zwischen Interesse und<br />

Gesinnung und die lauten, dröhnen<strong><strong>de</strong>n</strong> Warfen <strong>de</strong>s Interesses siegen mehr und mehr über die<br />

stille Waffenlosigkeit <strong>de</strong>r Gesinnung. Daran lei<strong><strong>de</strong>n</strong> wir, da liegen die tiefsten Wurzeln aller<br />

und je<strong>de</strong>r Krisis <strong>de</strong>r Völker und <strong>de</strong>r Gesamtmenschheit. Der Mensch ist im Begriffe, alle<br />

Güter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu gewinnen, stolz nennt er sich, <strong>de</strong>r ewige Sklave <strong>de</strong>s Interesses, einen Herrn<br />

<strong>de</strong>r Natur. Aber er hat dabei Scha<strong><strong>de</strong>n</strong> an seiner Seele genommen, und dieser Scha<strong><strong>de</strong>n</strong> ist ein<br />

viel größerer Verlust als aller übriger Gewinn.<br />

Und so wird <strong>de</strong>r Begriff Bewertung auch zu einem ganz allgemeinen. Die Weisheit bewertet<br />

nicht nur im üblichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes, son<strong>de</strong>rn sie schafft vor allem jene seelischen<br />

Beziehungen, die notwendig sind, um bewerten zu können; sie richtet die Warte auf, von <strong>de</strong>r<br />

aus die Umschau, erhaben über die Nie<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Interesses und <strong>de</strong>r Lei<strong><strong>de</strong>n</strong>schaften, allein<br />

1 Franz Carl Endres, Philosophie <strong>de</strong>s <strong>Alltag</strong>s - Briefe eines Philosophen an ein junges Mädchen, Zürich 1934<br />

2 L’art pour l’art, frz., wörtlich: "Die Kunst <strong>für</strong> die Kunst", sinngemäß: "Die Kunst um <strong>de</strong>r Kunst willen"<br />

(Re<strong>de</strong>wendung), etwas um <strong>de</strong>r Sache selbst willen tun, ohne Hintergedanken an Anwendung und Nutzen;<br />

abwertend: etwas Nutzloses tun.<br />

3 „Der Wert <strong>de</strong>r Philosophie liegt nicht in <strong>de</strong>r Erkenntnissphäre, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Lebenssphäre: <strong>de</strong>r Wille zum<br />

Dasein benutzt die Philosophie zum Zwecke einer höheren Daseinsform." (Nietzsche.)<br />

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zu be<strong>de</strong>utsamen Ergebnissen gelangen kann. Sie schafft endlich in je<strong>de</strong>m einzelnen Menschen<br />

das Fundament, auf <strong>de</strong>m er das Gebäu<strong>de</strong> seines Ichs errichten kann.<br />

Wenn das nicht im kleinsten Kreise schon geschieht, dann kann die Masse von<br />

fundamentlosen Menschen nicht <strong><strong>de</strong>n</strong> Hochbau einer wirklichen Kultur errichten. Durch die<br />

Massierung von Einzelmenschen wird nichts Besseres, als je<strong>de</strong>r dieser Einzelmenschen ist.<br />

Wollen wir also, bevor wir das buntbewegte Kaleidoskop <strong>de</strong>r Menschheit, <strong>de</strong>r Erscheinungen,<br />

<strong>de</strong>r ganzen Welt ins Auge fassen, dasjenige betrachten, was die Aufgabe hat, mit dieser<br />

Vielheit in Beziehung zu treten, die eigene Persönlichkeit. Wir müssen uns mit <strong>de</strong>m<br />

Einzelmenschen beschäftigen, um <strong><strong>de</strong>n</strong> richtigen Bewertungsmaßstab <strong>für</strong> Probleme <strong>de</strong>r<br />

Massen, <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft und <strong>de</strong>r Gesamtmenschheit selbst zu fin<strong><strong>de</strong>n</strong>.<br />

Der Mensch ist meist, wenn er ganz allein ist, keinen Lauscher, keinen Zuschauer, nieman<strong><strong>de</strong>n</strong><br />

hat, vor <strong>de</strong>ssen Urteil er Furcht o<strong>de</strong>r Respekt haben müßte, ganz an<strong>de</strong>rs, als in <strong>de</strong>r<br />

Öffentlichkeit. Wer sehr mutig auftritt, gern mit <strong>de</strong>r Faust auf <strong><strong>de</strong>n</strong> Tisch schlägt, gerne seine<br />

Macht <strong><strong>de</strong>n</strong> Untergebenen zeigt, ist doch oft, wenn er allein ist, ein ganz feiger Mensch, und<br />

jener Franzose hatte psychologisch etwas sehr Richtiges ausgesprochen, als er versicherte, er<br />

ließe sich ganz gerne hinrichten, wenn hun<strong>de</strong>rttausend Menschen zugegen wären und seine<br />

Tapferkeit bewun<strong>de</strong>rn wür<strong><strong>de</strong>n</strong>. Der wirkliche Mut, die wirkliche Standhaftigkeit wird erst<br />

geprüft, wenn <strong>de</strong>r Mensch ganz allein ist. Mit an<strong>de</strong>rn Worten, erst im kleinsten Kreise, wenn<br />

kein an<strong>de</strong>rer Mensch zugegen ist, zeigt sich die wahre Gestalt <strong>de</strong>s Menschen. Hier, im<br />

vollen<strong>de</strong>ten Alleinsein tritt nur <strong>de</strong>r eigene Gedanke vor <strong><strong>de</strong>n</strong> Menschen, und <strong>de</strong>r ist ganz<br />

an<strong>de</strong>rs, als das Wort o<strong>de</strong>r die Tat vor Zeugen. Allein mit seinen <strong>Gedanken</strong> ist <strong>de</strong>r Mensch aller<br />

Verbrechen fähig und es gibt viele, die <strong><strong>de</strong>n</strong> verbrecherischen <strong>Gedanken</strong> in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />

nur <strong>de</strong>shalb nicht ausüben, weil sie die mit seiner Ausübung verbun<strong><strong>de</strong>n</strong>en Gefahren <strong>für</strong>chten.<br />

Der Mensch allein hat die beste Gelegenheit, sich selbst zu sehen. Seine Schwächen, das, was<br />

schlecht an ihm ist, tritt riesengroß vor seinen Blick, die Angst vor sich selbst steht drohend in<br />

allen Winkeln <strong>de</strong>s Raumes und darum gibt es so wenig Menschen, die allein sein können. Sie<br />

wollen sich nicht selbst sehen, weil <strong>de</strong>r Eindruck, daß sie erbärmlich sind, sie zu sehr belastet.<br />

Das furchtbarste Gespenst ist das <strong>de</strong>s eigenen Ich, aller Lüge vor sich selbst entklei<strong>de</strong>t. Wer<br />

aber an sich arbeiten will, muß <strong><strong>de</strong>n</strong> Mut haben, seine eigene menschliche Erbärmlichkeit zu<br />

sehen, zu beurteilen und wenigstens mit sich selbst aufrichtig zu sein. Denn in Wirklichkeit<br />

kann ja kein Mensch über <strong><strong>de</strong>n</strong> an<strong>de</strong>rn, <strong><strong>de</strong>n</strong> er niemals in vollen<strong>de</strong>ter Nacktheit seines Wesens<br />

sieht, ein richtiges Urteil abgeben. Auch <strong>de</strong>r berufsmäßige Richter kann das nicht. Alle Urteile<br />

über einen an<strong>de</strong>ren sind stets einseitig und oberflächlich. Man bewertet etwa die Klugheit, die<br />

Verwendbarkeit, die Verlässigkeit im Geschäft, man urteilt über Vorsatz und Absicht,<br />

Fahrlässigkeit o<strong>de</strong>r paragraphenmäßig sich ergeben<strong>de</strong> Unschuld. Alles das sind Bewertungen<br />

und Urteile, die <strong>für</strong> <strong><strong>de</strong>n</strong> beschränkten Zweck, <strong>de</strong>m sie dienen, ja schließlich genügen mögen,<br />

aber es sind nicht Bewertungen <strong>de</strong>s wirklichen Wertes. Da gibt es nur einen, <strong>de</strong>r bewerten<br />

kann, und das ist <strong>de</strong>r einzelne Mensch gegenüber sich selbst.<br />

Wer nur einmal über die furchtbare Verantwortung nachgedacht hat, die sich hier <strong>für</strong> je<strong><strong>de</strong>n</strong><br />

Einzelnen ergibt, wird die ungeheure Be<strong>de</strong>utung erkennen, die in <strong>de</strong>m liegt, was ich <strong><strong>de</strong>n</strong><br />

kleinsten Kreis genannt habe, das Verhalten <strong>de</strong>s Menschen sich selbst gegenüber.<br />

Aus <strong>de</strong>r Unsumme <strong>de</strong>r hier in Frage kommen<strong><strong>de</strong>n</strong> Einzelprobleme seien nur als Beispiele<br />

einige ganz wenige herausgegriffen. Da ist zunächst einmal <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>s Menschen. Warum<br />

säubern sich wohl die Menschen bevor sie ein Fest besuchen, warum legen sie schöne Klei<strong>de</strong>r<br />

an? Offenbar, weil sie in <strong><strong>de</strong>n</strong> Augen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn nicht schmutzig erscheinen wollen. Das<br />

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be<strong>de</strong>utet aber keineswegs, daß sie nicht doch schmutzig sind. Nur <strong>de</strong>r ist reinlich (auch<br />

seelisch gilt das), <strong>de</strong>r ganz allein <strong>für</strong> sich und aus Achtung vor sich selbst reinlich ist, <strong>de</strong>r sich<br />

wäscht und seinen Körper pflegt, auch wenn gar keine Möglichkeit besteht, das Produkt dieser<br />

Bestrebungen <strong>de</strong>m schmeichelhaften Urteil an<strong>de</strong>rer zu unterbreiten. Aber warum soll <strong>de</strong>r<br />

Mensch reinlich sein? Es gibt unzählige Menschen, die das nicht sind, ja es gibt Religionen<br />

und Weltanschauungen, die sogar vor <strong>de</strong>r Pflege <strong>de</strong>s Körpers warnen und diese unterdrücken.<br />

Solche Ansichten sind unrichtig. Denn jegliche Pflege ist ein Produkt <strong>de</strong>r Achtung und<br />

mangeln<strong>de</strong> Pflege <strong>de</strong>s Körpers ist somit ein Zeichen <strong>de</strong>r Mißachtung. Die Mißachtung seiner<br />

selbst ist aber die Versperrung je<strong>de</strong>s Weges nach oben. Halten wir <strong><strong>de</strong>n</strong> Körper <strong>für</strong> das irdische<br />

Gefäß unserer Seele o<strong>de</strong>r irgend eines Geistes, <strong>de</strong>r in uns lebt, so mißachten wir auch Seele<br />

und Geist, wenn wir ihnen ein schmutziges und mißachtetes Gefäß geben. Wir wollen keinen<br />

edlen Wein aus Schmutzkübeln trinken, son<strong>de</strong>rn wir geben <strong>de</strong>m e<strong>de</strong>lsten Trank sehr richtig<br />

und in seiner psychologischen Be<strong>de</strong>utung nur allzu wenig erkannt, auch ein e<strong>de</strong>lstes Gefäß,<br />

einen Goldbecher o<strong>de</strong>r ein Kristall, und wenn wir selbst arm sind, so zum min<strong>de</strong>sten ein<br />

reines Glas.<br />

Der Vergleich diene uns zur Erkenntnis, daß die Pflege unseres Körpers nicht <strong>de</strong>s Luxus und<br />

<strong>de</strong>s vielen Gel<strong>de</strong>s bedarf. Die For<strong>de</strong>rung: „Sei rein" ist eine außeror<strong><strong>de</strong>n</strong>tlich gewichtige. Sie<br />

bezieht sich zunächst auf <strong><strong>de</strong>n</strong> Körper und seine Pflege, bil<strong>de</strong>t eine geeignete Schule auch <strong>für</strong><br />

die Pflege <strong>de</strong>r Seele. Die Erziehung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu peinlichster Reinlichkeit und sorgfältigster<br />

Pflege seines Körpers ist mit Leichtigkeit pädagogisch auch auf die Pflege <strong>de</strong>r Seele zu<br />

übertragen.<br />

Der Mensch aber kann seine Seele nur dann rein halten, wenn er <strong><strong>de</strong>n</strong> Mut hat, ihre Flecken,<br />

ihre Unreinheiten zu sehen und in einem sehr heftigen Kampfe, <strong>de</strong>r ihm ganz allein überlassen<br />

bleiben muß, auszumerzen. Die Erziehung, die wir an<strong>de</strong>ren Menschen in dieser Richtung<br />

zuteil wer<strong><strong>de</strong>n</strong> lassen, gleicht in vielem <strong>de</strong>r Tätigkeit eines Arztes. Wir dürfen nicht, wie das<br />

noch die Ärzte vor wenigen Generationen glaubten, vermeinen, daß die Medizin heile. Sie<br />

heilt nicht, ebenso wie unsere Erziehung nicht heilt. Nur die Heilungskraft <strong>de</strong>s Körpers heilt<br />

<strong><strong>de</strong>n</strong> Körper und die Heilungskraft <strong>de</strong>r Seele heilt die Seele. Und Medizin und Erziehung<br />

können nie etwas an<strong>de</strong>res sein, als Anreger und Unterstützer dieser in uns selbst wirken<strong><strong>de</strong>n</strong><br />

Heilungskraft. Daher ist es Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r Erwachsenen gegenüber von entschei<strong><strong>de</strong>n</strong><strong>de</strong>r<br />

pädagogischer Be<strong>de</strong>utung, moralische o<strong>de</strong>r seelische Einwirkung darauf hinzielen zu lassen,<br />

daß <strong>de</strong>r zu Erziehen<strong>de</strong> vor sich selbst gestellt wird, und die Anregung erhält, die<br />

Selbsterziehung und die seelische Selbstreinigung nun mit Freu<strong>de</strong> und Zuversicht<br />

vorzunehmen. Immer wie<strong>de</strong>r machen Erziehung und seelische Einwirkung auf die Menschen<br />

<strong><strong>de</strong>n</strong> alten Fehler, zu glauben, daß sie direkt wirken können, daß sie also Medizinen sind, die<br />

selbst Heilungskraft in sich tragen. Das ist ein verhängnisvoller Grundfehler, <strong>de</strong>r nicht nur in<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rerziehung sein Unwesen treibt, son<strong>de</strong>rn auch beispielsweise in <strong>de</strong>r Ehe immer und<br />

immer wie<strong>de</strong>r versagt und versagen muß. Kein Mensch kann einen an<strong>de</strong>ren Menschen<br />

verän<strong>de</strong>rn. Er kann ihn nur veranlassen, sich selbst zu betrachten und kann in ihm <strong><strong>de</strong>n</strong><br />

Wunsch rege machen, sich in Richtung <strong>de</strong>s als besser Erkannten selbst zu verän<strong>de</strong>rn. Daher<br />

die ewige Be<strong>de</strong>utung jener griechischen Worte im Tempel von Delphi: gnoti seauton, erkenne<br />

dich selbst.<br />

Dieses Wort ist oft falsch ge<strong>de</strong>utet wor<strong><strong>de</strong>n</strong>. Der Mensch kann sich nicht insofern erkennen, als<br />

er das ewige Geheimnis seines Wesens erkennen könnte. Hier wird immer das reine<br />

Geheimnis vor ihm stehen. Aber er kann sich insofern erkennen, als er oft und gern mit sich<br />

selbst, ganz allein, ganz ehrlich in seine eigenen, tiefsten <strong>Gedanken</strong> schaut und diesen<br />

gegenüber nun als ein Philosoph, das heißt als ein Freund <strong>de</strong>r Weisheit, als ein Bewerten<strong>de</strong>r<br />

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auftritt. Er hat als größte Hilfe jene geheimnisvolle Stimme, die aus <strong>de</strong>m Irrationalen kommt<br />

und sich in je<strong>de</strong>m Menschen bemerkbar macht. Wir nennen sie das Gewissen. Folgt er ihr, so<br />

geht er <strong><strong>de</strong>n</strong> Weg <strong>de</strong>r Weisheit.<br />

Der kleinste Kreis, von <strong>de</strong>m wir sprachen, erstreckt sich aber doch noch gewissermaßen ein<br />

paar Meter um die eigene Person herum. Die Menschen, die so sehr beleidigt sind, wenn ein<br />

Frem<strong>de</strong>r ihrer angeblichen Wür<strong>de</strong> zu nahe tritt, pflegen sich selbst am allerwür<strong>de</strong>losesten zu<br />

behan<strong>de</strong>ln. Alles, was dicht um uns ist, nimmt Inhalte unseres persönlichen Erlebens in sich<br />

auf und in geheimnisvoller Weise strahlt es Liebe und Fürsorge, Schönheitssinn und<br />

Geschmack auf die wie<strong>de</strong>r zurück. Wür<strong>de</strong> gegen sich selbst, Reinheit und Schönheit sind die<br />

drei Fundamente <strong>für</strong> die Weisheit im kleinsten Kreise, die ganz unabhängig von materiellen<br />

Mitteln <strong>de</strong>s Einzelnen erreicht wer<strong><strong>de</strong>n</strong> können.<br />

Wer im kleinsten Kreise, mit sich selbst ganz allein, sich selbst gegenüber nicht <strong><strong>de</strong>n</strong> richtigen<br />

Bewertungsmaßstab fin<strong>de</strong>t, ist ungeeignet <strong>für</strong> <strong><strong>de</strong>n</strong> Verkehr mit an<strong>de</strong>rn. Wer sich selbst schon<br />

falsch beurteilt, obwohl da die Kenntnis aller Motive die ehrliche Beurteilung sehr erleichtern<br />

wür<strong>de</strong>, wie kann ein solcher an<strong>de</strong>re richtig beurteilen und richtig bewerten, <strong>de</strong>ren innerste<br />

Motive er nicht kennt und niemals kennen lernen wird? Und doch liegt im ganzen sozialen,<br />

politischen und wirtschaftlichen Leben, ja in je<strong>de</strong>r Äußerung <strong>de</strong>s Lebens mit an<strong>de</strong>ren<br />

Menschen zusammen, das entschei<strong><strong>de</strong>n</strong><strong>de</strong> Problem im Bewerten <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren.<br />

Erst dann bewertet <strong>de</strong>r Mensch <strong><strong>de</strong>n</strong> Nebenmenschen richtig, wenn er sich die tiefste Wahrheit<br />

zu eigen gemacht hat, die es <strong>für</strong> jegliche Bewegung im Kreise <strong>de</strong>s Lebens gibt, die Wahrheit:<br />

„Du bist Ich." Um <strong><strong>de</strong>n</strong> Besitz dieser Erkenntnis, die allerdings <strong>de</strong>r reinen Ratio in vielem<br />

wi<strong>de</strong>rspricht, sollte die Menschheit ringen, anstatt um Geld und Macht zu ringen, die letzten<br />

En<strong>de</strong>s und letzten Zieles vollkommen gleichgültige Dinge sind.<br />

Die Gleichung „Du bist Ich" wird erst dann ein wenig erkannt, wenn zwei gewaltige<br />

Täuschungen, <strong><strong>de</strong>n</strong>en wir Menschen ausgeliefert sind, überwun<strong><strong>de</strong>n</strong> wer<strong><strong>de</strong>n</strong>. Die erste<br />

Täuschung möchte ich eine optische nennen. Stellen wir uns irgendwo in <strong>de</strong>r Welt auf <strong><strong>de</strong>n</strong><br />

Bo<strong><strong>de</strong>n</strong> <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, so sehen wir stets uns selbst im Mittelpunkt eines Kreises, <strong>de</strong>ssen äußere<br />

Begrenzung wir <strong><strong>de</strong>n</strong> Horizont nennen. Wo immer wir auch sind, immer sind wir im<br />

scheinbaren Mittelpunkt <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, und dieser Eindruck, <strong><strong>de</strong>n</strong> unser Sehapparat uns vermittelt,<br />

ist <strong>de</strong>r <strong><strong>de</strong>n</strong>kbar gefährlichste. Denn aus ihm erwächst in uns schon von frühester Kindheit an<br />

das Gefühl einer Zweiteilung <strong>de</strong>r Welt: in das, was Ich bin, und in das, was Ich nicht bin.<br />

Diese Gegenüberstellung <strong>de</strong>s eigenen Ich zur gesamten Umwelt erzeugt ihrerseits ganz<br />

selbstverständlich eine gewaltige Überschätzung <strong>de</strong>s eigenen Ichs, dann aber auch das<br />

Gefühl, etwas an<strong>de</strong>res zu sein, als die Umwelt, und aus diesem letzteren Gefühl wie<strong>de</strong>r baut<br />

sich das Fundament <strong>de</strong>r Feindschaft gegen die Umwelt auf.<br />

Eine zweite Täuschung aber ergibt sich aus <strong>de</strong>r Natur unseres Denkens. Der Mensch hat nur<br />

Bewußtsein von sich selbst, er kennt nur seine eigenen <strong>Gedanken</strong>; ja, alles was er von <strong>de</strong>r<br />

Umwelt wahrnimmt, sei es durch Gesicht o<strong>de</strong>r Gehör o<strong>de</strong>r irgend einen an<strong>de</strong>ren seiner fünf<br />

Sinne, alles das tritt keineswegs direkt, also so wie es wirklich ist, vor sein Bewußtsein. Im<br />

Gegenteil, alles was außer <strong>de</strong>m Menschen ist, muß <strong><strong>de</strong>n</strong> ganzen Wahrnehmungs-,<br />

Vorstellungs- und Urteilsapparat, <strong>de</strong>r sich in unserm eigenen Körper befin<strong>de</strong>t, durchlaufen,<br />

bevor es bewußt gewertet wer<strong><strong>de</strong>n</strong> kann. Wenn irgend etwas in diesen drei Apparaten <strong>de</strong>s<br />

Menschen nicht in Ordnung ist, dann treten Erscheinungen vor unser Bewußtsein, die mit <strong>de</strong>r<br />

Erfahrung <strong>de</strong>r übrigen Menschen nicht übereinstimmen. Ich erinnere nur an die Vorstellungen,<br />

die ein Farbenblin<strong>de</strong>r hat, o<strong>de</strong>r an die komische Tatsache, daß ein Betrunkener seinen neben<br />

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ihm gehen<strong><strong>de</strong>n</strong> Freund doppelt sieht, geschweige <strong><strong>de</strong>n</strong>n zu re<strong><strong>de</strong>n</strong> von <strong>de</strong>m großen Gebiete <strong>de</strong>r<br />

Sinnestäuschung, <strong>de</strong>r Halluzinationen usw. Uns kommt es hier nur auf die Tatsache an, daß<br />

uns die ganze Außenwelt, also alle Dinge, die nicht „Ich" sind, nur durch jene Wirkungen klar<br />

wer<strong><strong>de</strong>n</strong>, die sie auf unsere körperlichen Aufnahmeapparate ausüben. Und hier nun in einem<br />

Gebiet, in <strong>de</strong>m wir wahrscheinlich unzähligen Täuschungen fortwährend ausgesetzt sind,<br />

bil<strong>de</strong>t sich im Menschen ebenfalls jene verhängnisvolle Antithese von Ich und nicht Ich als<br />

ein Gegensatz. Wer diesen <strong>Gedanken</strong> lediglich mit <strong>de</strong>r Kraft menschlichen Intellektes<br />

durch<strong><strong>de</strong>n</strong>kt, kommt zu philosophischem Pessimismus, zu jenem Gefühl trostloser Einsamkeit<br />

und zu jener Empfindung <strong>de</strong>r Feindschaft gegen alles, was fremd, angeblich an<strong>de</strong>rs, kurz, was<br />

nicht Ich ist.<br />

Die genannten Täuschungen <strong>de</strong>s Intellektes sind so vorherrschend unter <strong><strong>de</strong>n</strong> Menschen und<br />

wer<strong><strong>de</strong>n</strong> durch Erziehung und Gesellschaft mit so lauten Tönen uns täglich eingeprägt, daß es<br />

wirklich schwierig ist, sie als Täuschungen zu erkennen. Viel wichtiger als das, was unser<br />

Intellekt, <strong>de</strong>r nie aus uns selbst heraus kommt, uns erzählen kann, ist das, was ein ganz<br />

eigenartiges aber <strong>de</strong>utlich in uns leben<strong>de</strong>s und wirken<strong>de</strong>s Gefühl uns zuflüstert. Dieses Gefühl<br />

drängt nach Überwindung <strong>de</strong>r durch <strong><strong>de</strong>n</strong> Intellekt festgestellten Einsamkeit <strong>de</strong>s Ich, es sucht<br />

Verbindung, es sucht Hilfe, es sucht Bestätigung seiner selbst im Gefühl eines an<strong>de</strong>rn. Es<br />

wi<strong>de</strong>rspricht hierbei ganz entschie<strong><strong>de</strong>n</strong> <strong>de</strong>m egoistischen Bewußtsein <strong>de</strong>s alleinstehen<strong><strong>de</strong>n</strong> Ich.<br />

Man <strong><strong>de</strong>n</strong>ke etwa an die Liebe eines Menschen zu einem an<strong>de</strong>ren. Nicht an jene „Liebe", die<br />

nur Besitz ergreifen will, son<strong>de</strong>rn an jene, die <strong>de</strong>r Vernunft <strong>de</strong>s Egoismus wi<strong>de</strong>rsprechend<br />

schenken will, statt zu nehmen, opfern will, statt zu triumphieren, Lei<strong><strong>de</strong>n</strong> auf sich nehmen<br />

will, statt Lei<strong><strong>de</strong>n</strong> zu erzeugen. Was ist diese Liebe vor <strong>de</strong>m Richterstuhl <strong>de</strong>s Intellektes doch<br />

<strong>für</strong> ein dummes Ding! Und trotz<strong>de</strong>m ist sie <strong>de</strong>r ewigen Weisheit unendlich viel näher als <strong>de</strong>r<br />

nur Vorteil und Nachteil berechnen<strong>de</strong> Intellekt 4 .<br />

In dieser Liebe dämmert jenes wun<strong>de</strong>rbare Gefühl von <strong>de</strong>r Lebensgemeinschaft auf, die wie<br />

ein hochgewölbter Bogen über Allem steht, was lebendig ist. Ebenso wie in <strong>de</strong>r Liebe <strong>de</strong>r<br />

Geschlechter das Ich und das Du aus ihren Einsamkeiten heraus die Zweisamkeit, als eine<br />

höhere Einheit suchen und wie in <strong>de</strong>r weisen Werkstatt <strong>de</strong>r Natur die Fortsetzung <strong>de</strong>r<br />

Generationenkette im Kin<strong>de</strong> erst aus dieser körperlichen Zweisamkeit entstehen kann, genau<br />

ebenso drängt die hohe Weisheit eines Gefühls <strong><strong>de</strong>n</strong> Menschen zu allem, was lebt.<br />

Nicht nur die Erfahrung zeigt Verwandtschaftliches zwischen allem Lebendigen, auch im<br />

Erleben je<strong>de</strong>s einzelnen Menschen häufen sich die Beweise hie<strong>für</strong>. Der in Einzelhaft<br />

Gefangene schenkt dies große Irrationale <strong>de</strong>r Liebe zum Leben<strong><strong>de</strong>n</strong> in seiner Einsamkeit <strong>de</strong>r<br />

Spinne, die in seiner Zelle webt und lebt. Fast alle Menschen und je<strong><strong>de</strong>n</strong>falls die Besseren<br />

unter ihnen haben Liebe zu Tieren, Hun<strong><strong>de</strong>n</strong>, Katzen, Pfer<strong><strong>de</strong>n</strong>, aber oft auch zu <strong><strong>de</strong>n</strong> vom<br />

menschlichen Nützlichkeitssinn ausgeschalteten Lebewesen. Das zarte Gefühl beseligen<strong>de</strong>r<br />

Lebensgemeinschaft erstreckt sich auf die Pflanze. Warum zieht <strong>de</strong>r nicht vollkommen<br />

verbil<strong>de</strong>te Mensch eine einfache leben<strong>de</strong> Blume <strong><strong>de</strong>n</strong> pompösesten künstlichen Blumen vor?<br />

Warum hält sich ein Mensch, <strong>de</strong>r kaum selbst genug zu essen hat, einen Hund? Warum pflegt<br />

ein Mensch in einer Behausung, in <strong>de</strong>r er selbst kaum Platz hat, irgen<strong>de</strong>inen Blumenstock?<br />

Wenn man sich Mühe gibt, über diese Dinge nachzu<strong><strong>de</strong>n</strong>ken, an <strong><strong>de</strong>n</strong>en man lei<strong>de</strong>r Tag <strong>für</strong> Tag<br />

4 Hier schon stehen wir vor <strong>de</strong>m Tore zum Irrationalen. Schon die mo<strong>de</strong>rne Biologie gibt zu, daß bei <strong>de</strong>r<br />

Untersuchung von Lebensvorgängen ein irrationaler Rest bleibt. Wir gehen noch weiter und sagen, daß dieser<br />

Rest eben gera<strong>de</strong> das ist, was wir Leben nennen können. Er ist die Hauptsache. Friedrich Würzbach schreibt mit<br />

Recht in seinem Buche "Erkennen und Erleben" (Berlin 1932): "Der weitaus größere Teil (am Lebewesen) ist<br />

irrational und nur ein Rest, eine Oberfläche, läßt sich rational, kausal-mechanisch erklären."<br />

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achtlos vorbeigeht, so wird eine erste Ahnung vor <strong>de</strong>m auftauchen, was man das Gefühl von<br />

<strong>de</strong>r heiligen Lebensgemeinschaft nennt. Im Augenblick, in <strong>de</strong>m dieses Gefühl vom<br />

Menschen Besitz ergreift, ist er nicht mehr allein. Das Bewußtsein seines einsamen Ich löst<br />

sich auf in <strong>de</strong>m wun<strong>de</strong>rvollen Gefühl, nicht einsam zu sein, son<strong>de</strong>rn zu einer geheimnisvollen<br />

Gemeinschaft zu gehören, die ihn umgibt, die mit ihm lebt und mit ihm ewig geheimen<br />

Gesetzen folgt, die wun<strong>de</strong>rbar sind und von einer alle menschliche Vorstellung<br />

übersteigen<strong><strong>de</strong>n</strong> Weisheit zeugen.<br />

Aus <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>r Zugehörigkeit zu einer Lebensgemeinschaft erwächst aber im Menschen<br />

eine ganz an<strong>de</strong>re Einstellung <strong>de</strong>s Ichs zur Umwelt, als sie <strong>de</strong>r reine Intellekt ihm geben kann.<br />

Sofort eröffnen sich die Tore aus <strong>de</strong>m eigenen Bewußtsein in das Bewußtsein alles<br />

<strong>de</strong>ssen, was lebt. Und sind auch die Mittel <strong>de</strong>s einzelnen Menschen, durch diese Tore in das<br />

Bewußtsein <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Lebewesen einzudringen, intellektuell nicht gegeben, so sind sie<br />

gefühlsmäßig in so hohem Maße gegeben, daß Buddha auf ihnen seine Lehre von <strong>de</strong>r<br />

Heiligkeit <strong>de</strong>s Lebens aufbauen konnte. Ja nur auf diesem Gefühl von <strong><strong>de</strong>n</strong> zu öffnen<strong><strong>de</strong>n</strong> Toren<br />

<strong>de</strong>s Bewußtseins, von dieser Vernichtung <strong>de</strong>s einsamen Ich aus ist es verständlich, daß<br />

Menschen <strong>für</strong> die I<strong>de</strong>e, an<strong>de</strong>ren Menschen zu helfen, das eigene Leben opfern. Wer noch<br />

geschlossene Tore seines Bewußtseins hat, wer immer nur <strong>de</strong>r „Horizonttäuschung" erliegt,<br />

im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Welt zu stehen und nur <strong>de</strong>s eigenen Ichs sich bewußt wer<strong><strong>de</strong>n</strong> zu können,<br />

<strong>de</strong>r kennt auch nur die Heiligkeit dieses eigenen Ichs, <strong>de</strong>r kann nur aus egoistischen Motiven<br />

han<strong>de</strong>ln, aber niemals dieses Ich an<strong>de</strong>ren zum Opfer bringen.<br />

Wir beklagen uns alle über die Herrschaft <strong>de</strong>s Materialismus, <strong>de</strong>s Egoismus, <strong>de</strong>r Habgier, <strong>de</strong>r<br />

Gewinnsucht <strong>de</strong>r Menschen. Alles das sind nur Zeichen da<strong>für</strong>, daß die gewaltige I<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>r<br />

Lebensgemeinschaft in <strong><strong>de</strong>n</strong> Menschen noch gar nicht lebt. Wenn ich Weisheit als die rechte<br />

Kunst <strong>de</strong>r Bewertung bezeichnet habe, so ist diese Erklärung auch hier sofort verwendbar.<br />

Alle die genannten schlechten Eigenschaften <strong>de</strong>r Menschen, die zu sichtbarer Herrschaft<br />

gelangt sind, entspringen nicht <strong>de</strong>r Weisheit, son<strong>de</strong>rn einer falschen Bewertung <strong>de</strong>r Welt und<br />

ihrer Erscheinungen. Wir sehen nun auch, daß Wissen wohl mit <strong>de</strong>m Intellekt zu erringen ist,<br />

daß aber Weisheit mehr als <strong><strong>de</strong>n</strong> Intellekt verlangt, <strong><strong>de</strong>n</strong>n die Bewertung, d. h. das Urteil über<br />

Wert und Unwert, wird, wenn es nur vom vereinsamten Ich ausgeht, auch immer nur die<br />

Interessen dieses Ichs kennen. Erst die offenen Tore zum Bewußtsein alles <strong>de</strong>ssen, was lebt,<br />

erst das sichere Gefühl von <strong>de</strong>r heiligen Lebensgemeinschaft, die uns alle umschließt, können<br />

auch jene Urteile erstehen lassen, die allgemeine Gültigkeit <strong>für</strong> das Leben besitzen.<br />

Die römischen Platoniker prägten schon <strong><strong>de</strong>n</strong> Satz: „Heilig sei <strong>de</strong>m Menschen <strong>de</strong>r Mensch."<br />

Ich will gestehen, daß mir diese Fassung noch zu eng erscheint. Ich möchte sie lieber durch<br />

die Formel ersetzen: „Alles Leben<strong>de</strong> sei uns heilig." Wie will eine Menschheit, die es noch<br />

immer nicht gelernt hat, im leben<strong><strong>de</strong>n</strong>, atmen<strong><strong>de</strong>n</strong>, wehrlosen, unschuldigen Tiere ihren Bru<strong>de</strong>r<br />

innerhalb <strong>de</strong>r Schöpfung zu sehen, wie will diese Menschheit <strong><strong>de</strong>n</strong> Frie<strong><strong>de</strong>n</strong> in sich selbst und<br />

mit sich selbst fin<strong><strong>de</strong>n</strong>? Denn auch <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Nebenmenschen, auch die sozial<br />

notwendige Liebe zum Mitmenschen entsteht ja nur aus <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>r Lebensgemeinschaft<br />

mit diesen, also aus <strong>de</strong>r Überzeugung, daß <strong>de</strong>r Nebenmensch nichts an<strong>de</strong>res ist, als man selbst<br />

ist, daß die Gleichung „Du bist Ich", das große Tattwam asi 5 , zu Recht besteht. Der Intellekt<br />

heißt mich, <strong><strong>de</strong>n</strong> Feind töten, <strong><strong>de</strong>n</strong> Rivalen beseitigen, <strong><strong>de</strong>n</strong> Konkurrenten unschädlich zu<br />

machen, <strong>de</strong>r Intellekt bestätigt meinen Egoismus, er will, daß ich besitze, daß ich <strong><strong>de</strong>n</strong> Besitz<br />

5 Tattwam asi: indische Lehre "das bist du!" bzw. "ich bin du, du bist ich", besagt, daß ich im Grun<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m<br />

Hund, <strong>de</strong>m Wurm o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Mitmenschen ein und dasselbe Wesen ausmache, <strong>de</strong>ren Leid also mein Leid ist und<br />

nicht etwa bloß mit ihm verglichen wird.<br />

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internetloge.<strong>de</strong><br />

vergrößere, daß ich raffe, wegnehme, raube und daß ich nur <strong><strong>de</strong>n</strong> einen Wertmesser an alles<br />

lege: <strong><strong>de</strong>n</strong> meines eigenen Lustgefühls. Es ist <strong>de</strong>r Golem <strong>de</strong>s vereinsamten Ich, das keine Tore<br />

in das Bewußtsein <strong>de</strong>r Schöpfung hat, <strong>de</strong>r durch die Welt rast und die Menschen zu<br />

Untermenschen macht, <strong>de</strong>r sie gegeneinan<strong>de</strong>r aufhetzt, <strong>de</strong>r nicht eher aufhört, zu schreien und<br />

zu toben, bis <strong>de</strong>r ihm hin<strong>de</strong>rliche Nebenmensch, das große Verbrechen im Auge je<strong><strong>de</strong>n</strong><br />

Egoismus', daß er nämlich auch lebt, mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> gebüßt hat. „Ich bin Ich" sagt die Ratio<br />

und „Du darfst sein, solange Du mir nicht hin<strong>de</strong>rlich bist". Aber „Du bist Ich" sagt das Gefühl<br />

von <strong>de</strong>r heiligen Lebensgemeinschaft, sagt jene Liebe, die alle Stifter wirklicher Religionen<br />

gepredigt haben.<br />

Ohne das Gefühl <strong>de</strong>r Lebensgemeinschaft, ohne die Achtung vor <strong>de</strong>r Heiligkeit <strong>de</strong>s Lebens<br />

aller Kreatur, kann es Religion gar nicht geben. Wer mor<strong>de</strong>t und Tiere quält, wer keine<br />

Achtung vor <strong>de</strong>m Leben und <strong><strong>de</strong>n</strong> Lebensnotwendigkeiten <strong>de</strong>r Nebenmenschen hat, wer nur<br />

sein eigenes Ich kennt, <strong>de</strong>r hebt vergeblich seine Augen zu Gott, <strong>de</strong>r bittet vergeblich, <strong>de</strong>r lebt<br />

vergeblich. Im Buche <strong>de</strong>s Lebens bleibt mit ehernen Lettern geschrieben, was er am Leben<br />

gesündigt hat. Aus diesen <strong>Gedanken</strong>gängen ist <strong>de</strong>r Schritt in das Soziale <strong>de</strong>s <strong>Alltag</strong>s schnell<br />

und mit Klarheit getan.<br />

Schön wäre es, wenn die Menschen schon alle so weit seelisch fortgeschritten wären, daß man<br />

ohne Staatsgewalt und ohne Gesetze leben könnte. Dieser Zustand aber, <strong>de</strong>r wahrscheinlich<br />

nie erreicht wer<strong><strong>de</strong>n</strong> wird, ist je<strong><strong>de</strong>n</strong>falls heute noch nicht im entferntesten gegeben. Und es ist<br />

Irrsinn, einfach zu sagen: <strong>de</strong>r Mensch ist gut und auf dieser Behauptung dann soziale und<br />

politische Gebäu<strong>de</strong> aufzurichten, die in praxi sofort zusammenbrechen müssen. Der Mensch<br />

ist noch so wenig gut, daß Menschengemeinschaften gar nicht daseinsfähig sind, wenn sie<br />

sich nicht gegen <strong><strong>de</strong>n</strong> in allen möglichen Formen „schlechten Menschen" schützen.<br />

Wir sehen, daß Menschengemeinschaften, Stämme, Völker darin übereinkommen, daß sie<br />

rechtliche Normen aufstellen, nach <strong><strong>de</strong>n</strong>en die Mitglie<strong>de</strong>r ihrer Gemeinschaft sich zu richten<br />

haben. Je<strong>de</strong>s bürgerliche Gesetz schränkt <strong><strong>de</strong>n</strong> absoluten Egoismus <strong>de</strong>s Menschen ein, und<br />

zwar so weit, daß dieser Egoismus <strong>für</strong> das Ge<strong>de</strong>ihen <strong>de</strong>r Gemeinschaft noch gera<strong>de</strong> erträglich<br />

ist. Je<strong>de</strong>s Gesetzbuch schützt das Recht <strong>de</strong>s Menschen auf sein Leben, auf seinen Besitz und<br />

auch auf seine Ehre. Verfehlungen gegen die Gesetze wer<strong><strong>de</strong>n</strong> entwe<strong>de</strong>r zu rechtlosen und<br />

damit wirkungslosen Handlungen gewan<strong>de</strong>lt, o<strong>de</strong>r sie wer<strong><strong>de</strong>n</strong> mit Strafe belegt. Das Recht<br />

fin<strong>de</strong>t aber nur Beachtung, wenn jemand da ist, <strong>de</strong>r nötigenfalls die Beachtung <strong>de</strong>s Rechtes<br />

erzwingt. Daraus schon ergibt sich die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Gemeinschaftsautorität, also hier<br />

<strong>de</strong>r Staatsautorität. In <strong>de</strong>m Augenblick, wo rechtliche Vereinbarung und Kodifizierungen<br />

nieman<strong><strong>de</strong>n</strong> haben, <strong>de</strong>r ihre Durchführung nötigenfalls erzwingen kann, sind und bleiben sie,<br />

beim augenblicklichen Kulturzustand <strong>de</strong>r Menschheit, wirkungslos. Wir haben noch einen<br />

weiten Weg vor uns, bis das „Du bist Ich" eine selbstverständliche Überzeugung aller<br />

Einzelmenschen und aller menschlichen Gemeinschaften gewor<strong><strong>de</strong>n</strong> ist.<br />

* * *<br />

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internetloge.<strong>de</strong><br />

(*) Franz Carl Endres, * 17.12.1878 in Bayern - † 10.3.1954 in Freidorf<br />

(Schweiz), verfolgt zuerst eine militärische Berufslaufbahn, arbeitet von<br />

1906 bis 1909 als Dozent <strong>für</strong> Kriegsgeschichte an <strong>de</strong>r Kriegsaka<strong>de</strong>mie in<br />

München. Danach lehrt er als Professor an <strong>de</strong>r Generalstabsschule in<br />

Konstantinopel (heute Istanbul). Nach einer Malariaerkrankung 1919 kehrt<br />

Endres nach Deutschland zurück. 1920 wird er in München in die Loge<br />

„Zum aufgehen<strong><strong>de</strong>n</strong> Licht an <strong>de</strong>r Isar“ aufgenommen. 1926 wan<strong>de</strong>rt Endres<br />

in die Schweiz nach Küsnacht aus. Dort lebt er als freier Autor und schreibt<br />

vor allem soziologisch, philosophische Bücher und Werke mit<br />

pazifistischer Ten<strong><strong>de</strong>n</strong>z. Er hält Vorträge im Radio sowie an <strong>de</strong>r Universität<br />

und schreibt Kolumnen <strong>für</strong> schweizerische Tageszeitungen. Endres wird<br />

später Mitglied in <strong><strong>de</strong>n</strong> Logen „Labor“ (Wien), „Fiat Lux“ (Luzern) und<br />

„Lalan<strong>de</strong>“ (Paris). Seine bekanntesten freimaurerischen Werke sind „Das<br />

Geheimnis <strong>de</strong>s Freimaurers“ und „Die Symbolik <strong>de</strong>s Freimaurers“.<br />

Signierung, gefun<strong><strong>de</strong>n</strong> in:<br />

„Philosophie <strong>de</strong>s <strong>Alltag</strong>s - Briefe eines Philosophen an ein junges Mädchen“,<br />

Zürich 1934<br />

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