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Auf der Suche nach der gestundeten Zeit - Die Drei

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Ingeborg Bachmann: <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> <strong>der</strong> <strong>gestundeten</strong> <strong>Zeit</strong><br />

15<br />

Karin Haferland<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>gestundeten</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Ingeborg Bachmann zum 80. Geburtstag<br />

Dichter und Dichtung sind durch den Geist ihrer <strong>Zeit</strong> miteinan<strong>der</strong><br />

verbunden. Lyriker nehmen die Welt vor allem über das Gehör<br />

wahr. Sie sind Lauschende. Ihr geistiges Ohr lotet die Tiefe des<br />

Seins und <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> aus. Das lyrische Bewusstsein schöpft aus<br />

<strong>der</strong> Stille. Es spricht eine vertrauliche Sprache und vertieft die<br />

Dichtkunst, indem es sie zum Ich erhebt und damit in die <strong>Zeit</strong>.<br />

Ingeborg Bachmann, die am 25. Juni 80 Jahre alt geworden wäre,<br />

war die Stimme einer Generation, die sich »die 68er« nannte. <strong>Die</strong><br />

<strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> Liebe und Gerechtigkeit waren wichtige Themen<br />

und <strong>der</strong> Impuls ihres Schreibens. Mit ihren literarischen Figuren<br />

ging sie genauso gnadenlos um wie mit sich selbst: Sie ließ sie<br />

an ihren Leidenschaften scheitern. Durch Feuer und Wasser<br />

wollte sie gehen und »salvenweise Zukunft« verschießen.<br />

Sie war zwölf, als Hitlers Truppen ins österreichische Klagenfurt<br />

einmarschierten. Mit Brüllen, Singen und Marschieren drangen<br />

sie in ihr heimatliches Refugium ein. Erstmals verspürt sie Todesangst:<br />

»Es war etwas so Entsetzliches, dass mit diesem Tag<br />

meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie<br />

ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte.«<br />

Der traumatische Verlust von Heimat und Kindheit gleicht<br />

einer Vertreibung aus dem Paradies.<br />

Derart geprägt und gezeichnet vom Zweiten Weltkrieg, in den<br />

hinein sie aufgewachsen ist, ringt sie schreibend um eine neue<br />

Menschlichkeit. Erste Gedichte entstehen, mit denen sie auf sich<br />

aufmerksam macht. Doch sie lin<strong>der</strong>n den Urschmerz nicht. Heimatlosigkeit<br />

wird zu einem Thema, das sich leitmotivisch und<br />

vielfach variiert durch Leben und Werk <strong>der</strong> Bachmann zieht.<br />

Vor allem die Frauengestalten in ihren Romanen »Malina« und<br />

»Franza« folgen autobiografischen Spuren: Landschaften, Häuser<br />

und Plätze, das Land ihrer Kindheit, das Kindheitsland, ihr<br />

Herzland: »Ich habe meine Jugend in Kärnten verbracht«, lau-<br />

die <strong>Drei</strong> 7/2006


16<br />

Karin Haferland<br />

tet eine frühe biografische Notiz, »im Süden an <strong>der</strong> Grenze, in<br />

einem Tal, das zwei Namen hat – einen deutschen und einen<br />

slowenischen. Und das Haus, in dem seit Generationen meine<br />

Vorfahren wohnten – Österreicher und Windische – trägt noch<br />

heute einen fremd klingenden Namen. So ist nahe <strong>der</strong> Grenze<br />

noch einmal die Grenze: die Grenze <strong>der</strong> Sprache – und ich war<br />

hüben und drüben zu Hause …«<br />

Das Slawische gehörte zum Land ihrer Kindheit. Es ist ein Teil<br />

ihrer Dichterseele. So lässt sich Bachmanns späte Aussage verstehen:<br />

»Denn ich bin ja eine Slawin.« Vorausgegangen waren<br />

diesem Bekenntnis Begegnungen mit dem polnischen Schriftsteller<br />

Witold Gombrowicz, <strong>der</strong> russischen Dichterin Anna Achmatowa<br />

und eine Reise durch Polen.<br />

Nach dem Abitur bricht Ingeborg Bachmann zum Studium <strong>der</strong><br />

Philosophie, Germanistik und Psychologie <strong>nach</strong> Wien auf, in die<br />

»Scheiterhaufenstadt, Schweigestadt, Peststadt mit dem Todesgeruch«,<br />

wie sie später in ihrer Erzählung »Das dreißigste Jahr«<br />

(1961) bitterböse schreiben wird. Doch scheint das Schicksal<br />

sie dorthin gerufen zu haben, denn in Wien werden ihre ersten<br />

Gedichte veröffentlicht, begegnet sie dem Lyriker Paul Celan<br />

und <strong>der</strong> Schriftstellerin Ilse Aichinger. In Wien schließt sie<br />

ihr Studium mit einer Promotion über den Philosophen Martin<br />

Heidegger ab. Bereits ihr erstes veröffentlichtes Gedicht spricht<br />

Bände und macht auf sie aufmerksam.<br />

Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,<br />

wir kommen ungefragt und müssen weichen.<br />

Doch dass wir sprechen und uns nicht verstehen<br />

und keinen Augenblick des an<strong>der</strong>n Hand erreichen,<br />

zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.<br />

Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,<br />

und das Verlangen, tief uns anzusehen,<br />

durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.<br />

Während einer ersten Lesung, zu <strong>der</strong> die »Gruppe 47« einlädt,<br />

begegnet sie dem Komponisten Hans Werner Henze. <strong>Die</strong> beiden<br />

arbeiten fortan in enger Freundschaft zusammen. Er vertont ihre<br />

Hörspiele, sie schreibt Libretti zu seinen Kompositionen. Das<br />

Fernweh lockt sie <strong>nach</strong> Rom, »denn es sind immer die Schiffbrüchigen,<br />

die auf Inseln Zuflucht suchen«. Fern <strong>der</strong> Heimat wird die<br />

Dichterin geehrt, mit Literaturpreisen überhäuft. Sie lebt auf in<br />

die <strong>Drei</strong> 7/2006


Ingeborg Bachmann: <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> <strong>der</strong> <strong>gestundeten</strong> <strong>Zeit</strong><br />

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<strong>der</strong> Fremde, schreibt politische Beiträge, engagiert sich gegen die<br />

Atombewaffnung <strong>der</strong> Bundeswehr und den Vietnamkrieg. Eine<br />

<strong>Zeit</strong>lang pendelt sie zwischen München, Zürich und Rom und<br />

durchlebt verhängnisvolle Beziehungen mit Paul Celan und Max<br />

Frisch, die ihr künstlerisches Selbstbewusstsein untergraben.<br />

In ihrem 28. Lebensjahr erscheint <strong>der</strong> Gedichtband »<strong>Die</strong> gestundete<br />

<strong>Zeit</strong>«. Als Philosophin und Kennerin <strong>der</strong> Schriften Heideggers,<br />

mehr noch als Lyrikerin, weiß sie, was die <strong>Zeit</strong> ist. Das<br />

28. Lebensjahr markiert im Lebenslauf eines Menschen einen<br />

wichtigen Punkt, <strong>der</strong> zu einem Umschlagpunkt werden kann.<br />

Verwandlung geschieht aber nur aus freiem Willen, aus einem<br />

inneren Impuls heraus. Darum wird diese biografisch wichtige<br />

Zäsur auch Freiheitspunkt genannt. Das 28. Lebensjahr ist das<br />

Erfolgsjahr <strong>der</strong> Dichterin. Sie erhält den Preis <strong>der</strong> »Gruppe 47«<br />

und wird zur ersten lyrischen Stimme in <strong>der</strong> westdeutschen Lyrik<br />

<strong>der</strong> 50er Jahre. Ihr Gedichtband »<strong>Die</strong> gestundete <strong>Zeit</strong>« macht<br />

sie berühmt. Rundfunkanstalten und <strong>Zeit</strong>schriften bemühen<br />

sich um sie. Der Erfolg ermutigt sie, fortan als freie Schriftstellerin<br />

zu leben.<br />

<strong>Die</strong> gestundete <strong>Zeit</strong><br />

Es kommen härtere Tage.<br />

<strong>Die</strong> auf Wi<strong>der</strong>ruf gestundete <strong>Zeit</strong><br />

wird sichtbar am Horizont.<br />

Bald musst du den Schuh schnüren<br />

und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.<br />

Denn die Eingeweide <strong>der</strong> Fische<br />

Sind kalt geworden im Wind.<br />

Ärmlich brennt das Licht <strong>der</strong> Lupinen.<br />

Dein Blick spurt im Nebel:<br />

<strong>Die</strong> auf Wi<strong>der</strong>ruf gestundete <strong>Zeit</strong><br />

wird sichtbar am Horizont.<br />

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,<br />

er steigt um ihr wehendes Haar,<br />

er fällt ihr ins Wort,<br />

er befiehlt ihr zu schweigen,<br />

er findet sie sterblich<br />

und willig dem Abschied<br />

<strong>nach</strong> je<strong>der</strong> Umarmung.<br />

die <strong>Drei</strong> 7/2006


18<br />

Karin Haferland<br />

Sieh dich nicht um.<br />

Schnür deinen Schuh.<br />

Jag die Hunde zurück.<br />

Wirf die Fische ins Meer.<br />

Lösch die Lupinen!<br />

Es kommen härtere Tage.<br />

Das Titelgedicht ist eine Antwort <strong>der</strong> Dichterin auf den <strong>Zeit</strong>geist<br />

<strong>der</strong> frühen 50er Jahre. Persönliches Leid schwingt in feiner Resonanz<br />

mit. Etwas in ihr und in <strong>der</strong> Welt ist unwi<strong>der</strong>ruflich an<br />

ein Ende gekommen, die Chance eines Neubeginns vertan. Der<br />

Schwebezustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht ist ausbalanciert.<br />

<strong>Die</strong> eine Waagschale ist gesunken, beschwert durch<br />

unabgetragene Schuld und die zeitgeschichtliche Erfahrung<br />

<strong>nach</strong> 1945. In »Früher Mittag«, einem an<strong>der</strong>en Gedicht aus »<strong>Die</strong><br />

gestundete <strong>Zeit</strong>«, lesen wir:<br />

Sieben Jahre später,<br />

in einem Totenhaus,<br />

trinken die Henker von gestern<br />

den goldenen Becher aus.<br />

Im Titelgedicht kommt Ingeborg Bachmann auch als Philosophin<br />

zu Wort. Das Bild <strong>der</strong> <strong>gestundeten</strong> <strong>Zeit</strong>, die am Horizont<br />

sichtbar wird, erinnert an Heideggers Schrift über die »gezählte<br />

<strong>Zeit</strong>« bei Aristoteles in »Sein und <strong>Zeit</strong>«. <strong>Die</strong> politischen Ereignisse,<br />

von <strong>der</strong> Dichterin seismographisch wahrgenommen,<br />

wi<strong>der</strong>spiegeln ihren inneren Seelenzustand und prophezeien<br />

tödliche Verhältnisse im Innern des Ich. Das Bedürfnis <strong>nach</strong><br />

Orientierung und Überblick ist neu in ihrer Lyrik. Geistesgegenwärtig<br />

umfasst sie die innere Dramatik eines scheinbar in sich<br />

ruhenden Zustandes. Eine ganz eigene Sprache erlaubt es ihr,<br />

selbst Schweigen in Worte zu fassen. Ihr Schweigen aber ist nur<br />

scheinbarer Stillstand. Seinem Wesen <strong>nach</strong> ist Sprachlosigkeit in<br />

sich gefangene Bewegung.<br />

Versucht man, das Bachmann-Gedicht sprechend <strong>nach</strong>zuempfinden,<br />

wird sich Bitterkeit einstellen. Herb ist sein Duktus und<br />

for<strong>der</strong>t zu objektivieren<strong>der</strong> Gestaltung auf. In ihren »Frankfurter<br />

Vorlesungen zur Poetik« (1959/60) schreibt die Dichterin: »Was<br />

aber möglich ist, in <strong>der</strong> Tat, ist Verän<strong>der</strong>ung. Und die verän<strong>der</strong>nde<br />

Bitte lesen Sie weiter in <strong>der</strong> Print-Ausgabe!<br />

die <strong>Drei</strong> 7/2006

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