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Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung

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Aus der Praxis 319<br />

<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

Cornelia Oestereich · Thomas Hegemann<br />

Zusammenfassung Der Beitrag gibt eine Übersicht über die Entwicklung<br />

interkultureller systemischer Konzepte im deutschsprachigen Raum <strong>und</strong> in<br />

Europa. Er verweist auf den sozialen Bezugsrahmen moderner interkultureller<br />

Ideen (Kulturbegriff, Sozialkonstruktionismus, transkulturelle Medizinanthropologie)<br />

<strong>und</strong> auf die Forderung nach der Öffnung der regulären psychosozialen<br />

Dienste für kultursensible <strong>Beratung</strong> <strong>und</strong> <strong>Therapie</strong>. Er zeigt auf, dass systemische<br />

Konzepte <strong>und</strong> Methoden sich in interkulturellen <strong>Therapie</strong>- <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong>skontexten<br />

besonders bewährt haben.<br />

Mit einer therapeutischen Begleitung aus einer solchen kultursensiblen Haltung<br />

heraus werden Klienten mit Migrationserfahrung ermutigt, ihre Kulturkompetenz,<br />

ihre Ressourcen <strong>und</strong> ihre Resilienz für die gemeinsame Er-Findung<br />

einer zukunftsweisenden, lebendigen, dynamischen Lebenserzählung <strong>und</strong><br />

Familiengeschichte besser zu nutzen.<br />

Schlüsselwörter<br />

● " Kulturbegriff<br />

● "<br />

● "<br />

● "<br />

● "<br />

● "<br />

● "<br />

● "<br />

Sozialkonstruktionismus<br />

Medizinanthropologie<br />

respektvolle Neugier<br />

Werteneutralität<br />

Kultursensibilität<br />

kultureller Kontext<br />

Lebenserzählung<br />

Korrespondenzadressen<br />

● " Dr. Cornelia Oestereich<br />

KRH Psychiatrie Wunstorf<br />

Südstraße 25<br />

31515 Wunstorf<br />

cornelia.oestereich@gmx.de<br />

● " Dr. Thomas Hegemann<br />

Sandstraße 41<br />

80335 München<br />

hegemann@istob-aka.de<br />

Einführung<br />

In diesem Beitrag werden die wesentlichen<br />

Ansätze <strong>und</strong> Methoden einer kultursensiblen<br />

systemisch orientierten <strong>Therapie</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Beratung</strong> vorgestellt, wie sie sich<br />

in den letzen zehn Jahren im deutschsprachigen<br />

Kulturraum entwickelt haben. In<br />

Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz<br />

hat eine solche Perspektive im Vergleich<br />

zu unseren west- <strong>und</strong> nordeuropäischen<br />

Nachbarländern recht spät die Aufmerksamkeit<br />

des systemischen Feldes erreicht.<br />

Erfreulicherweise gibt es mittlerweile jedoch<br />

eine breite Diskussion darüber, was<br />

systemische Konzepte zur Entwicklung<br />

einer interkulturellen Qualität in <strong>Therapie</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Beratung</strong> beitragen können. Im Folgenden<br />

werden eine Übersicht des Standes<br />

der Diskussion im <strong>Systemische</strong>n Feld,<br />

eine Darstellung der guten Passung systemischer<br />

Ansätze zum interkulturellen<br />

Diskurs <strong>und</strong> zur Integrationsdebatte vor<br />

allem im Bereich psychosozialer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlicher<br />

Dienstleister <strong>und</strong> eine<br />

Skizzierung einiger nützlicher Methoden<br />

für die interkulturelle Arbeit vorgestellt.<br />

Kontext<br />

Dass bei uns der Anteil der Menschen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong>, also derjenigen,<br />

die entweder selbst im Ausland geboren<br />

sind oder mindestens ein Elternteil haben,<br />

für den das zutrifft, um die 20 % (Statistisches<br />

B<strong>und</strong>esamt 2006) liegt, dürfte mittlerweile<br />

allgemein bekannt sein. In vielen<br />

Großstädten liegt der Anteil deutlich darüber;<br />

in Einrichtungen des Schulwesens<br />

<strong>und</strong> der Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe werden<br />

vielfach Prozentzahlen über 50 % erreicht.<br />

Sind diese Menschen jedoch auf das öffentliche<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialwesen<br />

angewiesen, wird deutlich, dass der Zugang<br />

hierzu nicht in gleicher Weise selbstverständlich<br />

ist wie für die deutschstämmige<br />

Bevölkerung. Liegen seelische Erkrankungen<br />

vor <strong>und</strong> bedürfte es einer<br />

psychiatrischen oder psychotherapeutischen<br />

Behandlung, finden sie nur wenige<br />

muttersprachliche Therapeuten in den<br />

Ballungsräumen.<br />

Fachlich durchaus geeignete Psychotherapeuten<br />

oder Beraterinnen – sowohl die<br />

niedergelassenen, vertraglich an die Kassenärztlichen<br />

Verrechnungsstellen geb<strong>und</strong>enen,<br />

wie die in pauschalfinanzierten<br />

öffentlichen <strong>Beratung</strong>sstellen Tätigen<br />

– weisen diese Menschen oft ab, unter<br />

Hinweis auf Sprachprobleme, mangelnde<br />

Kulturkenntnis, nicht vereinbares kulturelles<br />

Krankheitsverständnis.<br />

Wir möchten hiermit dazu ermutigen, die<br />

therapeutische <strong>und</strong> beraterische Begegnung<br />

mit Patientinnen <strong>und</strong> Patienten aus<br />

anderen Kulturen zu suchen. Nicht nur<br />

um dieser benachteiligten Gruppe einen<br />

besseren Service zu bieten, sondern auch<br />

deswegen, weil der Kontakt <strong>und</strong> die Kooperation<br />

mit Fremden wie nichts anderes<br />

dazu anhält, die eigenen professionellen<br />

Haltungen, Organisationsformen <strong>und</strong><br />

konzeptionellen Ansätze kritisch zu hin-<br />

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320<br />

<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

terfragen <strong>und</strong> so zur Entwicklung eines<br />

klientenorientierteren Angebotes zu kommen.<br />

Kultur<br />

Die systemische <strong>Therapie</strong> bezieht den<br />

Kontext in die <strong>Therapie</strong> mit ein. Dies gilt<br />

natürlich auch für den kulturellen Kontext.<br />

Da sie flexibel im Setting ist, ist es<br />

für Systemikerinnen <strong>und</strong> Systemiker<br />

nichts Ungewöhnliches, die für eine gute<br />

Kooperation in interkulturellen <strong>Beratung</strong>en<br />

notwendigen Angehörigen, Unterstützer<br />

<strong>und</strong> Dolmetscher mit einzubeziehen.<br />

<strong>Systemische</strong> <strong>Beratung</strong> <strong>und</strong> <strong>Therapie</strong><br />

pflegt eine Haltung respektvoller Neugier<br />

(Cecchin 1988) gegenüber den Patienten<br />

<strong>und</strong> ihren Sichtweisen der Welt, <strong>und</strong> sie<br />

kreiert mit ihrer Gesprächsführung Unterschiede,<br />

die zur gemeinsamen Er-Findung<br />

neuer, die Migrationserfahrungen<br />

neu bewertender Lebenserzählungen genutzt<br />

werden können. Daher haben wir<br />

gute Erfahrungen damit gemacht, dieses<br />

systemische Verfahren für eine interkulturelle<br />

<strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong> zu nutzen<br />

<strong>und</strong> passend zu machen (Hegemann u.<br />

Oestereich 2009).<br />

Wenn Menschen, die sich in unterschiedlichen<br />

Kulturen beheimatet fühlen, einander<br />

begegnen, treffen unterschiedliche<br />

Perspektiven zur Welt, unterschiedliche<br />

Erklärungen dessen, „was die Welt im Innersten<br />

zusammenhält“, unterschiedliche<br />

Moralvorstellungen, ethische Prinzipien,<br />

unterschiedliche Rollenerwartungen an<br />

Geschlecht, Paar- <strong>und</strong> Familienleben aufeinander.<br />

Wenn diese Begegnungen in<br />

einem <strong>Therapie</strong>kontext stattfinden, weil<br />

Störungen aufgetreten sind, die in unserem<br />

Kulturkreis psychischen Störungen<br />

oder psychiatrischen Krankheiten zugeordnet<br />

werden, dann treffen oft sehr unterschiedliche<br />

Vorstellungen aufeinander,<br />

wie diese Beschwerden zu bewerten sind.<br />

Wir möchten in diesem Sinne eine Beschreibung<br />

von Kultur vorstellen (Falicov<br />

1995), die zwei systemischen Kriterien<br />

gerecht wird – Dynamik <strong>und</strong> Kontext.<br />

Kultur stellt für uns alle einen Hintergr<strong>und</strong><br />

von etablierten <strong>und</strong> über Generationen<br />

überlieferten Sichtweisen, Werten,<br />

Ansichten <strong>und</strong> Haltungen dar,<br />

" die einerseits unser ganzes Denken,<br />

Fühlen <strong>und</strong> Handeln beeinflussen,<br />

" die wir andererseits aber in individueller<br />

wie auch kollektiver Weise übernehmen,<br />

modifizieren <strong>und</strong> weiterentwickeln,<br />

bedingt von der Teilhabe an<br />

unterschiedlichen Kontexten.<br />

Diese Kontexte können sein: ein städtischer<br />

oder ländlicher Lebensraum, Sprache,<br />

Alter, Familienorganisation, Religion,<br />

Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung, wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlicher Status, Hautfarbe,<br />

Geschlecht, politische Ausrichtung,<br />

sexuelle Orientierung, Migration <strong>und</strong> Akkulturation.<br />

Daraus folgt, dass die Komplexität einer<br />

Kultur <strong>und</strong> das Handeln Einzelner aus dieser<br />

Kultur heraus nur verstanden werden<br />

können, wenn die sozialen, historischen,<br />

geografischen <strong>und</strong> ökonomischen Kontexte<br />

<strong>und</strong> dynamischen Entwicklungen berücksichtigt<br />

werden.<br />

Ein solcher Ansatz ist unmittelbar anschlussfähig<br />

zu medizinanthropologischen<br />

Herangehensweisen, wie sie zuerst<br />

von Kleinman (1977, 1988) <strong>und</strong> in dessen<br />

Folge Littlewood (2001), Littlewood <strong>und</strong><br />

Lipsedge (1989), Good (1994) <strong>und</strong> Krause<br />

(2002) in den englischsprachigen systemischen<br />

Diskurs eingeführt wurden.<br />

Box 1<br />

Kulturübergreifende Annahmen<br />

für die psychosoziale <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Arbeit (nach A.<br />

Kleinman <strong>und</strong> R. Littlewood)<br />

" Über die psychosozialen Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Realitäten von Leid <strong>und</strong> Kranksein<br />

(Illness) gibt es in unterschiedlichen Kulturen<br />

unterschiedliche Konstruktionen.<br />

" Die unterschiedliche Inanspruchnahme<br />

psychosozialer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlicher Service-Einrichtungen<br />

resultiert aus den unterschiedlichen<br />

Sichtweisen, die die Angehörigen<br />

verschiedener Kulturen über<br />

Sinn <strong>und</strong> Zweck dieser Einrichtungen haben.<br />

" Unterschiedliche kommunikative Prozesse<br />

(z. B. Erklärungen <strong>und</strong> Bezeichnungen)<br />

führen zu unterschiedlichen Umgehensweisen<br />

mit den spezifischen klinische<br />

Episoden von Krankheit (Sickness).<br />

" Alle Behandlungsmaßnahmen wie Medikamente,<br />

Operationen, Psychotherapie,<br />

Pflege <strong>und</strong> Rituale nehmen Einfluss auf<br />

den Verlauf des Krankseins (Illness). Die<br />

Gewichtung dieser verschiedenen Maßnahmen<br />

variieren zwischen unterschiedlichen<br />

Kulturen.<br />

" Die Ergebnisse der Behandlung wie Heilung,<br />

Misserfolg, Rückfall, Chronizität,<br />

Behinderung oder Tod resultieren aus einer<br />

Interaktion zwischen körperlichen,<br />

sozialen <strong>und</strong> psychischen Dimensionen;<br />

zumindest die letzten beiden sind in erheblichem<br />

Maße kulturabhängig.<br />

Box 2<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen des sozialen<br />

Konstruktionismus nach<br />

K. Gergen<br />

" Wir konstruieren unsere Wirklichkeiten<br />

gemeinschaftlich <strong>und</strong> die Sinnhaftigkeit<br />

dieser Konstruktionen beruht auf sozialen<br />

Konventionen, die sich im Laufe der<br />

Zeit ändern.<br />

" Die Worte, mit denen wir unsere Wirklichkeiten<br />

kommunizieren, erhalten ihre<br />

Bedeutung durch ihren sozialen Gebrauch.<br />

" Unsere Aussagen über uns, über andere<br />

oder die Welt beruhen auf einer vorher<br />

bestehenden Sprache.<br />

" Diese Sprache basiert auf Beziehungen,<br />

wie sie über lange Zeit gepflegt wurden.<br />

" Gedanken, Gefühle, Interaktionen oder<br />

Erfahrungen sind uns nur möglich, weil<br />

wir an einer kulturellen Geschichte teilhaben,<br />

die uns mit einer Sprache als<br />

Werkzeug ausstattet, die uns erst erlaubt,<br />

unsere Welt konstruieren zu können.<br />

Auch das Konzept des im systemischen<br />

Feld geschätzten sozialen Konstuktionismus<br />

von Gergen <strong>und</strong> Gergen (2009) greift<br />

dieses Verständnis gemeinschaftlicher<br />

Konstruktionen auf (s. Box 2).<br />

Aus einem solchen Kulturverständnis heraus<br />

wurden zuerst in den USA (McGoldrick<br />

et al. 1982), England (Kareem u. Littlewood<br />

1992, Fernando 1995) <strong>und</strong> später<br />

in den Niederlanden (de Jong u. van den<br />

Berg 1996) praktische Handlungsmodelle<br />

entwickelt, die diese Ansätze für den therapeutischen<br />

<strong>und</strong> klinischen Alltag nutzbar<br />

machen.<br />

Ab der Jahrtausendwende erscheinen<br />

dann auch die ersten Textbücher in deutscher<br />

Sprache, die sich explizit auf diesen<br />

systemischen <strong>und</strong> sozialanthropologischen<br />

Ansatz beziehen (Domenig 2001;<br />

Hegemann u. Salman 2001, 2010; v.<br />

Schlippe et al. 2003; Hegemann u. Oestereich<br />

2009).<br />

Es fällt aber nach wie vor auf, dass in der<br />

englischsprachigen Literatur eine Vielzahl<br />

von Publikationen zur interkulturellen<br />

<strong>Therapie</strong> erscheint, auf die in der deutschsprachigen<br />

Literatur wenig Bezug genommen<br />

wird. Die Geschichte der (systemischen)<br />

<strong>Therapie</strong> wie der Anthropologie<br />

<strong>und</strong> Ethnologie in diesen beiden Kulturkreisen<br />

ist wohl zu unterschiedlich (Asen<br />

u. Hegemann 2009).<br />

Bahnbrechend sind in unserem Land sicherlich<br />

die Sonnenberger Leitlinien der<br />

DGPPN (Machleidt 2002), die ausdrücklich<br />

einen sozialen Bezug für eine interkulturelle<br />

Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie<br />

empfehlen.<br />

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Aus der Praxis 321<br />

<strong>Systemische</strong>r Ansatz<br />

Das systemische Konzept geht vom Menschen<br />

als biopsychosozialem System aus.<br />

Es betrachtet den Menschen im Kontext<br />

seiner Beziehungen. Dieses soziale Netzwerk<br />

umfasst nicht nur Beziehungen wie<br />

Partnerschaft, Familie, Fre<strong>und</strong>eskreis, Kollegen,<br />

sondern betrachtet auch die Umwelt<br />

des Systems mit ihren natürlichen,<br />

sozioökonomischen <strong>und</strong> kulturellen Bedingungen,<br />

zu denen auch der Migrationskontext<br />

gehört. Insbesondere für das<br />

wechselseitige Konstituierungsverhältnis<br />

von intrapsychischen <strong>und</strong> sozialen oder<br />

kommunikativen Prozessen hat die systemische<br />

<strong>Therapie</strong> theoretische Modelle<br />

<strong>und</strong> praktische Konzepte entwickelt<br />

(Schiepek 1999).<br />

<strong>Systemische</strong> Ansätze beziehen sich auf<br />

Unterschiede, die Unterschiede machen –<br />

zwischen Individuen, zwischen Familien<br />

<strong>und</strong> sozialen Gruppen, zwischen Angehörigen<br />

unterschiedlicher Ethnien. Aspekte<br />

der Fremdheit treten gegenüber dem Interesse<br />

an diesen Unterschieden im <strong>Therapie</strong>prozess<br />

an Relevanz zurück.<br />

Unter „Inneren Landkarten“ verstehen<br />

systemische Therapeuten die Wechselbeziehung<br />

zwischen Vorannahmen, Ideen<br />

<strong>und</strong> Bedeutungen, nach denen Mitglieder<br />

eines sozialen Systems ihr Weltbild immer<br />

wieder neu kreieren, sowie den Regeln<br />

<strong>und</strong> Mustern, nach denen ihr soziales System<br />

funktioniert. Diese werden in einem<br />

gemeinsamen Prozess des Verhandelns<br />

mit anderen kontinuierlich an den kulturellen,<br />

historischen, sozialen oder politischen<br />

Kontext angepasst. Sie sind also<br />

nicht statisch. Therapeutinnen <strong>und</strong> Therapeuten<br />

tun gut daran, neugierig darauf zu<br />

sein, welche Inneren Landkarten Menschen<br />

aus anderen Kulturen mitbringen,<br />

nach denen sie durch ihr Leben reisen.<br />

Diese Innere Landkarte kann sich verändern,<br />

wenn Menschen sich in eine fremde<br />

Kultur einleben möchten. Sie kann aber<br />

auch mit viel Kraftaufwendung aufrechterhalten<br />

werden, wenn eine als zuviel erlebte<br />

Anpassung verlangsamt oder verhindert<br />

werden soll. Fragen nach den Bedingungen<br />

der Veränderung von Sichtweisen<br />

<strong>und</strong> Werten im Verlauf des Migrationsprozesses<br />

<strong>und</strong> des Ankommens in einer<br />

fremden Kultur können in der <strong>Therapie</strong><br />

benutzt werden, um sich k<strong>und</strong>ig zu machen<br />

über den soziokulturellen Kontext,<br />

in dem der Patient oder seine Familie lebt.<br />

So entsteht ein Bild über den Prozess der<br />

Akkulturation.<br />

Haltungen<br />

Wer sich in interkulturellen Kontexten<br />

bewegen will, braucht die Bereitschaft,<br />

sich mit fremden Wertvorstellungen auseinanderzusetzen.<br />

Im interkulturellen<br />

<strong>Therapie</strong>kontext ist es deshalb ein bedeutsames<br />

Ziel professioneller Qualifizierung,<br />

gerade gegenüber Werthaltungen, die<br />

den eigenen widersprechen, diese Haltung<br />

von Neugier <strong>und</strong> Respekt zu entwickeln.<br />

Neutralität im Sinne von Cecchin<br />

(1988) beschreibt eine professionelle<br />

Neugier auf die persönlichen oder kulturellen<br />

Beweggründe, die zu bestimmten<br />

Einstellungen oder Haltungen führen.<br />

Werthaltungen von Einzelnen <strong>und</strong> Gruppen<br />

können sich von den unseren stark<br />

unterscheiden <strong>und</strong> hierzulande sogar<br />

höchst kontrovers diskutiert werden.<br />

Schlagen als Erziehungsmethode oder die<br />

Zwangsverheiratung wären Beispiele dafür.<br />

Hier hat es sich als nützlich erwiesen,<br />

eher in eine Kommunikation über die<br />

Konsequenzen verschiedener Haltungen<br />

einzutreten. Dies eröffnet eher neue Optionen<br />

als fremde <strong>und</strong> unangepasste<br />

Werthaltungen zu verurteilen oder gar<br />

daraus abzuleiten, dass jemand „nicht<br />

therapierbar“, weil etwa nicht „einsichtig“<br />

sei.<br />

Es bewährt sich davon auszugehen, dass<br />

die Welt sich anders konstruiert, wenn<br />

sie durch eine andere Wertebrille betrachtet<br />

wird. So wählen Therapeuten<br />

besser neutrale Beschreibungen – beispielsweise<br />

Schlagen eines Kindes statt<br />

Misshandeln. Wenn ein solcher Respekt<br />

gelingt, sind die Chancen größer, mit Patienten<br />

<strong>und</strong> ihren Familie darüber zu reflektieren,<br />

welche Auswirkungen ihr Verhalten<br />

auf ihre Integration, die Reaktion<br />

der Umwelt <strong>und</strong> die seelische Entwicklung<br />

ihrer Kinder haben könnte. Gleichzeitig<br />

ist es hilfreich wohlwollend zu unterstellen,<br />

dass es Familien aus anderen<br />

Kulturen wichtig sein kann, sich in der<br />

Herkunftsgruppe nicht zu isolieren <strong>und</strong><br />

in der Lebensführung, etwa der Erziehung<br />

der Kinder, sich in einem Rahmen zu bewegen,<br />

der dort geteilt oder erwartet<br />

wird.<br />

Therapeutinnen <strong>und</strong> Therapeuten müssen<br />

als politisch Interessierte fremde kulturelle<br />

Wertvorstellungen nicht teilen,<br />

ebenso wenig wie andere Wertvorstellungen<br />

von Klienten der heimischen Kultur.<br />

Sie dürfen durchaus deutlich machen,<br />

dass es ihnen schwer fällt, sich in bestimmte<br />

ihnen fremde Denkweisen hineinzuversetzen.<br />

Aber sie sollten immer<br />

hervorheben, dass sie Klienten aus ihrer<br />

Kultur oder aus ihrer sozialen Zugehörigkeit<br />

heraus positive Gründe für ihr Handeln<br />

unterstellen, <strong>und</strong> dass sie diese kennenlernen<br />

<strong>und</strong> nachvollziehen möchten.<br />

Je besser dies gelingt, umso besser wird<br />

der Aufbau einer Kooperationsbeziehung<br />

für den therapeutischen Prozess gelingen.<br />

Begriffe wie Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Autonomie<br />

gehören in unserer auf individualistische<br />

Lebensziele ausgerichteten Gesellschaft<br />

zu den allgemein anerkannten<br />

Vorstellungen vom Leben. In Kulturen<br />

hingegen, welche ein Familienbild pflegen,<br />

in dem der Einzelne vor allem als<br />

Teil der Familie erlebt wird <strong>und</strong> das Wohlergehen<br />

der Familie, der Sippe, des Clans<br />

Priorität unter den erstrebenswerten Zielen<br />

haben, wird Selbstverwirklichung als<br />

anzustrebendes Lebensziel gar nicht verstanden<br />

oder gar als soziale Abweichung<br />

deklariert. So wird es in unserem Lande<br />

häufig als nicht gelungene Ablösung der<br />

jüngeren Generation angesehen, wenn<br />

ein junger Mensch ins Elternhaus zurückkehrt<br />

oder es gar nicht erst verlässt. Dies<br />

sehen Familien aus vielen anderen Kulturen<br />

anders. Dort lebt man selbstverständlich<br />

zusammen, bis etwa eine neue Familie<br />

gegründet wird, <strong>und</strong> es gibt klare Regeln,<br />

welches Kind (das älteste oder das<br />

jüngste Kind, Tochter oder Sohn) mit seiner<br />

eigenen Familie weiter mit den Eltern<br />

zusammenleben <strong>und</strong> für deren spätere<br />

Versorgung im Alter zuständig sein wird.<br />

Wertvorstellungen sind also nicht nur individuell<br />

vielfältig <strong>und</strong> unterschiedlich,<br />

nicht nur von Familie zu Familie anders,<br />

sondern auch von Kultur zu Kultur. Innerhalb<br />

jeder Kultur aber wiederum unterscheiden<br />

sie sich von Familie zu Familie<br />

wie auch individuell. Und sie unterliegen<br />

in allen Ländern dem sozialen Wandel.<br />

Therapeuten sollten sich davor hüten,<br />

besser wissen zu wollen, wie ein gutes Leben<br />

aussieht: Sie sollten sich zurückhalten,<br />

hier europäisch geprägte Sichtweisen<br />

zu vertreten <strong>und</strong> aus dieser Perspektive<br />

Pathologiezuschreibungen zu machen,<br />

sondern die anteilnehmende, respektvolle<br />

Haltung der Neugier trainieren, welche<br />

uns Cecchin (1988) empfiehlt.<br />

Das Setting<br />

<strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> findet nicht nur in<br />

Einzelsettings statt, sondern viel besser<br />

noch in einem Familiensetting, das sich<br />

gerade für interkulturelle <strong>Therapie</strong> als<br />

sehr nützlich erweist (Oestereich 2001,<br />

2004). Um therapeutisch wirksam zu sein,<br />

empfiehlt es sich, dem Anliegen der Pa-<br />

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322<br />

<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

tienten einen wertschätzenden Gesprächsrahmen<br />

zu geben. Dazu gehört die<br />

Entscheidung, wo das Gespräch stattfinden<br />

soll, wer es führen soll, wer teilnehmen<br />

sollte <strong>und</strong> eingeladen wird <strong>und</strong> die<br />

Frage, wie sprachliche Verständigung im<br />

Gespräch hergestellt werden kann. Unserer<br />

Erfahrung nach ist es günstig, geschulte<br />

Dolmetscher als Übersetzer <strong>und</strong> Kulturmittler<br />

einzusetzen (siehe dazu Salman<br />

2010). Diese sollen vom Therapeuten bereitgestellt<br />

werden <strong>und</strong> gehören somit<br />

zum therapeutischen System. Wir verhehlen<br />

nicht, dass es Notsituationen geben<br />

kann, in denen ein Familienmitglied<br />

oder ein Bekannter der Familie übersetzen<br />

muss. Dies kann aber nicht für <strong>Therapie</strong><br />

gelten, da ein solcher Übersetzer zum<br />

Familiensystem gehören würde, weshalb<br />

die Übersetzung nicht als neutral anzusehen<br />

wäre.<br />

Der Gesprächsstil sollte deutlich machen,<br />

dass die Berater die Anliegen aller Beteiligten<br />

gleichermaßen im Blick haben <strong>und</strong><br />

ernst nehmen. Um gut an den Patienten<br />

<strong>und</strong> sein System anzuschließen, hat es<br />

sich gerade bei der ersten Begegnung bewährt,<br />

sich nach dem Befinden aller Gesprächsteilnehmer<br />

zu erk<strong>und</strong>igen, wie sie<br />

den Weg in die Einrichtung gef<strong>und</strong>en haben,<br />

<strong>und</strong> mit welchen Erwartungen wer in<br />

das heutige Gespräch gekommen ist. In<br />

Folgegesprächen kann es wichtig sein, bestimmte,<br />

die jeweilige Kultur berücksichtigende<br />

Begrüßungsrituale <strong>und</strong> Eingangsfragen<br />

zu Beginn jeden Gesprächs zu wiederholen.<br />

Ein paar Beispiele: in manchen<br />

Kulturen wird ein Handschlag zur Begrüßung<br />

erwartet, in anderen wäre dieser<br />

beispielsweise Personen des anderen Geschlechts<br />

gegenüber ein Faux Pas. In manchen<br />

Kulturen gilt es als höflich, sich direkt<br />

nach dem Befinden des Gegenübers<br />

zu erk<strong>und</strong>igen, in anderen würde ein Therapeut<br />

dadurch als übergriffig erlebt.<br />

Wir sollten immer darauf achten, die Erwartungen<br />

aller Gesprächsteilnehmer an<br />

ein <strong>Therapie</strong>gespräch ausreichend zu beachten,<br />

in dem wir uns in unserer jeweiligen<br />

Rolle als Experten entsprechend verhalten<br />

<strong>und</strong> uns im Gespräch sowohl souverän<br />

wie auch wertschätzend respektvoll<br />

<strong>und</strong> interessiert an den Anliegen der<br />

Patienten zeigen.<br />

Die Sitzordnung kann deshalb auch je<br />

nach Ziel des Gespräches variieren. Wenn<br />

es wichtig ist, Autorität zu betonen, kann<br />

die Therapeutin etwas abgegrenzt sitzen.<br />

Wenn es eher um die Betonung eines Gespräches<br />

„auf Augenhöhe geht“, kann es<br />

günstiger sein, eine kreisförmige Sitzordnung<br />

herzustellen. Hier kommt es also<br />

weniger darauf an, es richtig zu machen,<br />

sondern eher aufmerksamer für den Kontext<br />

der Institution, in welcher das Gespräch<br />

stattfindet, zu werden.<br />

<strong>Systemische</strong> Methoden<br />

Eine systemische Perspektive legt Wert<br />

darauf, Unterschiede zu machen zu dem<br />

bisher Gedachten <strong>und</strong> den bisherigen Lösungsversuchen<br />

der Klienten <strong>und</strong> ihrer<br />

Familien.<br />

Zirkuläre Fragen Das für uns bahnbrechende<br />

Mailänder Familientherapieteam<br />

um Selvini Palazzoli entwickelte eine fragende<br />

Haltung in der Gesprächsführung,<br />

die besonders geeignet ist, gleichzeitig Informationen<br />

zu erhalten <strong>und</strong> zu geben sowie<br />

Zirkularität herzustellen. Diese Vorgehensweise<br />

des Zirkulären Fragens führt<br />

neue Ideen ein <strong>und</strong> sucht zugeschriebene<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> Rollen in Beziehungen<br />

zu verflüssigen. Dadurch wird ein Umdeuten<br />

des bisher Gedachten bewirkt. Innere<br />

Landkarten werden erfragt, Beziehungsmuster<br />

beleuchtet sowie die Veränderungen<br />

deutlich, die mit bestimmten Zeitpunkten<br />

<strong>und</strong> Ereignissen in Beziehung gesetzt<br />

werden. Die Aufmerksamkeit wird<br />

auf Entwicklungen <strong>und</strong> Ressourcen gelenkt<br />

statt auf Defizite <strong>und</strong> Pathologie.<br />

Auf diese Weise werden zunächst hypothetisch<br />

neue Wahlmöglichkeiten eingeführt<br />

<strong>und</strong> neue Zukunftsbilder entworfen.<br />

Dieses Vorgehen kann überraschen <strong>und</strong><br />

neue Denkanstöße auslösen, wenn aus<br />

der hiesigen Kultur heraus auch die Sichtweisen<br />

der weiblichen Familienmitglieder<br />

oder der Kinder erfragt <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />

gemeinsam reflektiert werden.<br />

Gleichzeitig jedoch dürfen die traditionellen<br />

Respektspersonen der Familie nicht<br />

entwertet werden.<br />

Lebenserzählung <strong>Systemische</strong> Therapeuten<br />

regen Patienten zu der Erfindung<br />

einer neuen, im aktuellen Lebenskontext<br />

passenden <strong>und</strong> nützlichen Lebenserzählung<br />

an. Obwohl die mit Verlusten verb<strong>und</strong>enen<br />

Erfahrungen, wie dem Verlust von<br />

Heimat, von Familie <strong>und</strong> von wichtigen<br />

Bezugspersonen <strong>und</strong> von sozialem Status<br />

eher in eine <strong>Therapie</strong> führen, gilt es die<br />

positiven Entwicklungschancen von Migration<br />

gleichberechtigt neben diese Aspekte<br />

von Verlusten zu stellen.<br />

Genogrammarbeit „Wer gehört noch zu<br />

Ihnen dazu?“ Diese einfache Frage macht<br />

deutlich, dass jemand auch in der Fremde<br />

nicht allein ist, dass er sich nicht im luftleeren<br />

Raum befindet, sondern immer<br />

mit den ihm zugehörigen Menschen verb<strong>und</strong>en<br />

bleibt <strong>und</strong> von den Therapeuten<br />

so gesehen wird als Teil einer Ganzheit –<br />

seiner Familie, seiner Sippe, seines Volkes,<br />

seiner Kultur. „Sie mögen zwar allein in<br />

diesem Land sein, aber wen müsste ich<br />

mit einbeziehen in unsere Überlegungen,<br />

in unsere Gespräche?“ Um eine gemeinsame<br />

Orientierung zu fördern, zeichnen systemische<br />

Therapeutinnen gemeinsam mit<br />

ihren Patienten Genogramme: Ausgehend<br />

von der Herkunftsfamilie der unmittelbaren<br />

Klienten umfasst ein Genogramm<br />

mindestens drei Generationen. Neben Namen,<br />

Alter, Wohnorten, Berufen, Partnerschaften,<br />

Eheschließungen sowie Scheidungen<br />

<strong>und</strong> Todesfällen können schwere<br />

Krankheiten, Symptome, Todesursachen<br />

sowie innerfamiliäre Streitthemen vermerkt<br />

werden. Die Personen können mit<br />

kurzen Beschreibungen charakterisiert<br />

werden; auch typische Familien-Atmosphären<br />

können vermerkt werden. Zu<br />

dem Genogramm können dann systemische<br />

<strong>und</strong> zirkuläre Fragen gestellt werden,<br />

welche die Personen <strong>und</strong> Ereignisse in Beziehung<br />

miteinander setzen. Es kann erfragt<br />

werden, wer was über das vorgestellte<br />

Problem denkt <strong>und</strong> welche Lösungsideen<br />

vertreten werden. So können<br />

auch sich wandelnde Charakteristika <strong>und</strong><br />

Unterschiede in Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen<br />

im Verlauf des Migrationsprozesses anhand<br />

des Genogramms visualisiert werden:<br />

Wer fühlt sich den traditionellen Sitten<br />

<strong>und</strong> Ritualen besonders verb<strong>und</strong>en?<br />

Für welchen Teil der Familie oder welche<br />

Personen spielt die Einhaltung dieser Sitten<br />

keine so große Rolle (mehr)? Welche<br />

Auswirkungen hat das auf das Zusammenleben<br />

der Großfamilie? Auf die Partnerwahl?<br />

Auf die Kindererziehung? Auf<br />

die Bewertung der Migration? Auf die Einschätzung<br />

der jetzigen Erkrankung? Welches<br />

der Kinder wird in der neuen Heimat<br />

wohl eine Partnerschaft eingehen? Wer<br />

wird der Familie das erste in der neuen<br />

Heimat geborene Enkelkind schenken? –<br />

Immer wieder geschieht es, dass nach der<br />

Migration geborene Kinder in diesen Gesprächen<br />

über das Genogramm erstmals<br />

über Ereignisse aus der Vergangenheit erfahren<br />

<strong>und</strong> schon hier neue Narrative entstehen.<br />

Das Genogramm kann später mit Fotos illustriert<br />

werden, die sich für die Bewältigung<br />

von Verlusten <strong>und</strong> Trauer besonders<br />

bewähren. Beim Erzählen von Anekdoten<br />

zu den einzelnen Themen <strong>und</strong> Ereignissen,<br />

die auf den Fotos festgehalten sind,<br />

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Aus der Praxis 323<br />

können dann auch Visionen entstehen zu<br />

dem, was zukünftig wieder möglich sein<br />

kann <strong>und</strong> wohin das Leben sich entwickeln<br />

kann.<br />

Arbeit mit dem Familienbrett Als eine<br />

weitere Form der Visualisierung hat sich<br />

in der systemischen <strong>Therapie</strong> mit Menschen<br />

aus anderen Kulturen die Arbeit<br />

mit dem Familienbrett bewährt. Möglichst<br />

neutrale Holzfiguren symbolisieren verschiedene<br />

Geschlechter <strong>und</strong> Generationen<br />

<strong>und</strong> können vom Klienten innerlich<br />

personalisiert <strong>und</strong> belebt werden. Was<br />

aufgestellt wird, hängt von der jeweiligen<br />

therapeutischen Situation ab. Es können<br />

Familienmitglieder, Kontexte <strong>und</strong> soziale<br />

Entfernungen dargestellt werden. So wird<br />

deutlich, wer wen gut im Blick hat bzw.<br />

wer seine Aufmerksamkeit anderswo hinrichtet.<br />

Die Aufstellung auf dem Familienbrett<br />

kann sowohl innere wie auch äußere<br />

Systeme erfassen: z.B. Symptome wie<br />

Angst, Sucht, Depression, aber auch Sorgen,<br />

Trauer, Ungewissheit <strong>und</strong> Ambivalenz<br />

können dargestellt werden. Wenn<br />

die erste Aufstellung dann, angeregt von<br />

den Therapeuten, durch Figuren, welche<br />

als Ressourcen des Klienten definiert werden,<br />

ergänzt wird, wird das spielerische<br />

Experimentieren auf der Suche nach Lösungen<br />

kreativer <strong>und</strong> leichter.<br />

Solche Skulpturen auf dem Familienbrett<br />

verstehen wir als Momentaufnahmen, die<br />

keine Diagnostik darstellen <strong>und</strong> auch<br />

nicht den Zustand der Familie festschreiben,<br />

sondern die Perspektive der Klienten<br />

aus einer bestimmten Konstellation externalisieren<br />

<strong>und</strong> visualisieren. Veränderungen<br />

bei der Aufstellung in unterschiedlichen<br />

Phasen der <strong>Therapie</strong> illustrieren<br />

plastisch die Entwicklung des Patienten,<br />

für ihn selbst wie auch für die Therapeuten.<br />

<strong>Interkulturelle</strong> systemische<br />

<strong>Therapie</strong>praxis<br />

Wie läuft nun interkulturelle systemische<br />

Psychotherapie in der Praxis? An einem<br />

Beispiel aus der klinischen Praxis, in der<br />

schwer traumatisierte Flüchtlinge aus<br />

vielen unterschiedlichen Kulturen in<br />

einem ambulanten systemischen <strong>Therapie</strong>setting<br />

behandelt werden, soll dies erläutert<br />

werden. Leitidee der Therapeuten<br />

ist die Fähigkeit von Menschen, als Traumaüberwinder<br />

über Kompetenzen <strong>und</strong><br />

Ressourcen zu verfügen, Böses hinter sich<br />

zu lassen <strong>und</strong> Gutes in den Vordergr<strong>und</strong><br />

zu stellen <strong>und</strong> so für sich selbst <strong>und</strong> ihre<br />

Familien eine neue bessere Zukunft aufzubauen.<br />

Traumadeterminierte Systeme<br />

Da viele Traumatisierte nicht als „psychisch<br />

krank“ angesehen werden möchten,<br />

ist es wichtig, die psychischen <strong>und</strong><br />

körperlichen Reaktionen <strong>und</strong> Beschwerden<br />

als normale menschliche Reaktion<br />

<strong>und</strong> als Schutzmechanismus auf Traumata<br />

zu beschreiben, für die es aber Behandlungsmöglichkeiten<br />

gibt.<br />

Traumata können auch bisherige Lebenserfahrungen<br />

strukturieren: Menschen,<br />

die sich schon immer eher als Opfer denn<br />

als Gestaltender ihres Lebens erlebt haben,<br />

werden sich darin durch ein Trauma<br />

eher bestätigt sehen. Personen mit einem<br />

salutogenetischen Kohärenzgefühl, die<br />

nach dem Motto gelebt haben, dass das<br />

Schicksal Herausforderungen stellt, werden<br />

Traumata leichter als eine weitere<br />

Prüfung ansehen können, die einen an<br />

den Rand der Kräfte bringt, aber die wahrscheinlich<br />

überlebt werden können; Menschen,<br />

die davon ausgehen, dass sie – beispielsweise<br />

durch politische Aktivitäten –<br />

dazu beigetragen haben, die traumatisierende<br />

Situation herzustellen, können vielleicht<br />

deutlicher sehen, was sie aktiv unternommen<br />

haben, um sie zu überleben.<br />

Für Traumatisierte, die den besonderen<br />

Schutz <strong>und</strong> die Fürsorge ihrer Familie erfahren,<br />

kann es Sinn machen <strong>und</strong> nützlich<br />

sein, Symptome aufrechtzuerhalten <strong>und</strong><br />

nicht zu schnell ges<strong>und</strong> zu werden. Wer<br />

sich auf einem lange dauernden beschwerlichen<br />

Klageweg befindet, um eine<br />

Rente zu erhalten, sollte sich vielleicht<br />

nicht zu früh genesend zeigen. Wenn diese<br />

Sichtweise von der Familie geteilt wird,<br />

kann dies zur Aufrechterhaltung der<br />

Symptomatik beitragen, sodass die Lebenserzählung<br />

durch das Trauma definiert<br />

bleibt.<br />

» Am Beispiel von Frau Sarijevic, 50 Jahre,<br />

aus Bosnien, die Vertreibung, Lagerhaft <strong>und</strong><br />

Folter erlebt hatte <strong>und</strong> deren ältester Sohn<br />

bestialisch ermordet wurde, wird deutlich,<br />

dass sie einen Ehemann, einen jüngeren<br />

Sohn, eine Schwiegertochter <strong>und</strong> Enkel hat,<br />

die alle ebenfalls den grausamen Verlust<br />

eines ihnen lieben Menschen zu verkraften<br />

hatten, auch wenn die Umstände der Vertreibung<br />

<strong>und</strong> der Lagerhaft vielleicht für jedes<br />

Familienmitglied graduell unterschiedlich<br />

sein mögen. Wer braucht jetzt am ehesten<br />

eine <strong>Therapie</strong>? Wer entscheidet, wann<br />

<strong>und</strong> für wen Kontakt zu therapeutischen<br />

Institutionen aufgenommen wird? Wie<br />

fühlen sich die hiesigen Helfer angesprochen?<br />

Erlaubt sich eine traumatisierte Person<br />

aus einer betroffenen Familie überhaupt<br />

zu ges<strong>und</strong>en, bevor die seelische Situation<br />

seiner nächsten Angehörigen anerkannt<br />

wurde <strong>und</strong> diese sich ebenfalls deutlich<br />

verbessern kann?<br />

Die anmeldende Sozialarbeiterin berichtete,<br />

dass Frau Sarijevic seit fünf Jahren hier<br />

als Flüchtling geduldet sei <strong>und</strong> unter den<br />

Auswirkungen einer schweren Traumatisierung<br />

leide. Sie lebe sehr zurückgezogen,<br />

habe Schlafstörungen <strong>und</strong> Depressionen<br />

<strong>und</strong> es sei zu befürchten, dass sie sich mit<br />

Selbstmordgedanken beschäftige. Auf die<br />

Frage der Therapeutin, wer sonst noch<br />

zum sozialen System gehöre, stellte sich heraus,<br />

dass Ehemann <strong>und</strong> jüngerer Sohn<br />

ebenfalls flüchten konnten <strong>und</strong> mit Frau S.<br />

zusammen in einer kleinen Wohnung in<br />

dieser Stadt wohnten, wo bereits seit mehreren<br />

Jahrzehnten Geschwister mit ihren<br />

Familien gut integriert lebten. Die deutsche<br />

Sprache wurde von den Familienmitgliedern<br />

unterschiedlich gut beherrscht. Der<br />

Sohn besuchte eine Berufsschule <strong>und</strong><br />

sprach gut Deutsch. Die Patientin selbst<br />

<strong>und</strong> ihr Ehemann sprachen nur bosnisch.<br />

Zum Erstgespräch wurden neben dem Ehepaar<br />

Sarijevic der jüngere Sohn, die Geschwister<br />

<strong>und</strong> die unterstützende Sozialarbeiterin<br />

eingeladen. Eine muttersprachliche<br />

Dolmetscherin wurde von Anfang an auf<br />

der Seite des therapeutischen Teams in die<br />

<strong>Therapie</strong> eingeb<strong>und</strong>en. Das <strong>Therapie</strong>team<br />

bestehend aus einem männlichen <strong>und</strong> einer<br />

weiblichen TherapeutIn <strong>und</strong> einem männlichen<br />

<strong>und</strong> einer weiblichen BeobachterIn<br />

wurde allen Beteiligten als für die Dauer<br />

der <strong>Therapie</strong> konstant vorgestellt. «<br />

Thema der ersten Gespräche ist die therapeutische<br />

Ziel- <strong>und</strong> Auftragsklärung, da<br />

davon auszugehen ist, dass Klienten aus<br />

anderen Kulturen eine andere Vorstellung<br />

von Sinn <strong>und</strong> Nutzen einer Psychotherapie<br />

haben als eine deutsche Mittelschichtfamilie.<br />

Für Therapeutinnen gilt es eine Balance zu<br />

finden, sich anrühren zu lassen von dem<br />

Schrecken <strong>und</strong> Entsetzen über das Erlebte<br />

<strong>und</strong> zugleich sich davon nicht vereinnahmen<br />

zu lassen. Therapeuten, die selbst<br />

starr vor Schreck <strong>und</strong> Mitleid sind, bestätigen<br />

eher das Credo, dass es keine Heilung<br />

geben kann. Es gilt sich anzukoppeln<br />

an einen mehr oder weniger starken Mitteilungsdruck<br />

über schicksalhafte Erlebnisse<br />

<strong>und</strong> Beschwerden. Anstatt sich ausführlich<br />

die Bilder, von denen die Menschen<br />

gequält werden, im Einzelnen an-<br />

Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.<br />

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324<br />

<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

zuschauen, ist es hilfreicher, innerhalb des<br />

sicheren therapeutischen Rahmens aktiv<br />

nach Ressourcen zu suchen, wie der<br />

Schrecken überlebt wurde <strong>und</strong> die Überlebenden<br />

jetzt hier sitzen. Dazu bewährt<br />

sich die beschriebene Haltung der respektvollen<br />

Neugier gegenüber der aktuellen<br />

Situation <strong>und</strong> dem Kontext der <strong>Therapie</strong><br />

– so zur Alltagsgestaltung, den wichtigen<br />

Personen, der wirtschaftlichen Absicherung,<br />

dem Aufenthaltsstatus <strong>und</strong> dem<br />

Kontakt zur Heimat. Zur Auftragsklärung<br />

wäre zu fragen: Wer hat die <strong>Therapie</strong><br />

empfohlen? Was erwarten die unterschiedlichen<br />

Personen von einem guten<br />

Ausgang der <strong>Therapie</strong>? Wie dürfte diese<br />

nicht verlaufen? Wie müssten die Therapeuten<br />

sich verhalten, um sie zu enttäuschen,<br />

zu kränken, zu vergraulen, erneut<br />

in Schrecken zu versetzen? Woran werden<br />

sie <strong>und</strong> ihre Angehörigen merken,<br />

dass sie den Therapeuten vertrauen können?<br />

Dass sie bereit sein werden, mit diesen<br />

ein Stück Weges in die bereits begonnene<br />

lebendige Zukunft zu gehen, <strong>und</strong> die<br />

Therapeuten Anteil haben zu lassen an<br />

einer Rückschau, die den Schrecken vielleicht<br />

wiederbelebt, aber auch hinter sich<br />

lassen wird?<br />

Die oben dargestellte Genogrammarbeit<br />

bietet die Möglichkeit innere Bilder des<br />

verlorenen Lebens mit der Familie wiedererstehen<br />

zu lassen, vermisste <strong>und</strong> verstorbene<br />

Familienmitglieder oder Fre<strong>und</strong>e<br />

wieder ins Gespräch zu bringen <strong>und</strong><br />

ihnen in Geschichten <strong>und</strong> Anekdoten<br />

Ehre <strong>und</strong> Respekt zu erweisen. Ressourcen<br />

tun sich wie von selbst auf <strong>und</strong> können<br />

durch zirkuläres Befragen akzentuiert<br />

werden. Wie haben die anderen Familienmitglieder<br />

auf den Schrecken <strong>und</strong> den<br />

Terror reagiert? Gibt es schon Vorerfahrungen,<br />

wie solche Lebenssituationen<br />

nach Traumata bewältigt wurden? In Familien<br />

aus Gegenden, in denen über längere<br />

Zeiten Kriege <strong>und</strong> Verfolgung herrschen,<br />

gibt es viele Strategien, damit umzugehen.<br />

Rituale, wie Bestattungen, die<br />

der Bewältigung dienen, aber häufig nicht<br />

möglich waren, können erfragt werden.<br />

Wie in normalen Zeiten mit dem Verlust<br />

durch Tod umgegangen würde, wer sich<br />

wie daran beteiligen würde, wie Trauerzeiten<br />

gestaltet würden, wie lang diese in<br />

der jeweiligen Kultur wären, wer die<br />

Trauernden durch die Trauer begleiten<br />

würde, welche Rolle die Religion dabei<br />

spielen würde – sind Fragen, die Suchprozesse<br />

zu vertrauten Fähigkeiten <strong>und</strong> Bewältigungsmöglichkeiten<br />

anregen.<br />

Auch das beschriebene gemeinsame Anschauen<br />

von Fotos aus der vortraumatischen<br />

Zeit wird meist sehr verbindend<br />

<strong>und</strong> bewegend erlebt. Die Unterschiede<br />

zu sehen zwischen den fröhlichen, unbeschwert<br />

wirkenden Patienten <strong>und</strong> ihren<br />

Familien vor dem Trauma <strong>und</strong> dem aktuellen<br />

Erleben ermöglicht einerseits gemeinsame<br />

Trauer über das verlorengegangene<br />

Leben, vor allem aber ermöglicht<br />

es den Patienten <strong>und</strong> den Therapeuten<br />

eine Vision zu kreieren davon, was in Zukunft<br />

wieder möglich sein wird. Eine wiederkehrende<br />

Frage, die in nahezu jedem<br />

Gespräch eine Rolle spielt, erk<strong>und</strong>igt sich<br />

danach, wie es den Patienten <strong>und</strong> ihren<br />

Angehörigen gelungen ist, sich in der Zwischenzeit<br />

etwas Gutes zu tun, es sich,<br />

wenn vielleicht auch nur für einige wenige<br />

Augenblicke, gut gehen zu lassen. Wie<br />

haben sie das gemacht? Wie fühlte es sich<br />

in diesem Augenblick anders an als in den<br />

Zeiten, wenn es ihnen nicht gut ging?<br />

» Nachdem so eine vertrauensvolle therapeutische<br />

Beziehung hergestellt war <strong>und</strong><br />

nachdem das Leid aller durch die Therapeuten<br />

gewürdigt <strong>und</strong> anerkannt worden<br />

war, kam Frau Sarijevic zu den nächsten<br />

Terminen allein in die <strong>Therapie</strong>. Jetzt wurden<br />

die für sie besonders traumatischen Erfahrungen<br />

in einem Vergewaltigungslager<br />

thematisiert. In der Gesprächsführung war<br />

die Idee leitend, auch kleinste situative<br />

Möglichkeiten aufzuzeigen, in denen Frau<br />

Sarijevic die Situation aktiv gestaltet hatte.<br />

Dies bietet die Möglichkeit mit traumatischen<br />

Erfahrungen einhergehende Ohnmachtsgefühle<br />

aufzuweichen <strong>und</strong> zu verflüssigen.<br />

Passives Erdulden kann immer<br />

auch als aktive Handlung des Überlebenswillens<br />

betrachtet werden. Hierzu können<br />

auch kulturell unterschiedliche Konzepte<br />

des Einflusses des einzelnen Menschen auf<br />

die Gestaltung des eigenen Lebens besprochen<br />

werden.<br />

Dazu bewährt sich die beschriebene Arbeit<br />

mit dem Familienbrett. Frau Sarijevic stellte<br />

ihre Situation auf mit ihren Symptomen <strong>und</strong><br />

den sie unterstützenden Menschen um sich<br />

herum. Dass sie den Tätern eine im Verhältnis<br />

zu den anderen Figuren übergroße Höhe<br />

gab, verdeutlichte eindrucksvoll deren verheerenden<br />

Einfluss auf ihr Leben.<br />

Auf der Suche nach Ressourcen war bedeutsam,<br />

dass die Möglichkeit, als Zeugin vor<br />

Gericht gegen die Täter aussagen zu können,<br />

deren Repräsentanz in ihrem inneren<br />

Erleben deutlich verringern können würde,<br />

was am Ende der <strong>Therapie</strong> bei einer erneuten<br />

Aufstellung auf dem Familienbrett visuell<br />

deutlich wurde. So gelang es Frau Sarijevic<br />

im Verlaufe der <strong>Therapie</strong>, ihr Leben wieder<br />

selbst in die Hand zu nehmen. Gemeinsam<br />

mit ihrer Familie entschied sie sich,<br />

dem Angebot einer Familienzusammenführung<br />

zu folgen <strong>und</strong> nach Kanada auszuwandern.<br />

Von dort ließ sie die Therapeuten<br />

wissen, wie gut sie <strong>und</strong> ihre Familie diesen<br />

erneuten aktiven Migrationsschritt, bewältigten.<br />

Hilfreich für sie waren das Erlernen<br />

der neuen Sprache, der Erwerb des Führerscheins<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene neue<br />

Eigenständigkeit auch in der Partnerschaft,<br />

politisches Engagement in einer Gruppe der<br />

Überlebenden <strong>und</strong> die Aussage gegen die<br />

Kriegsverbrecher vor Gericht.<br />

So ist es Frau Sarijevic <strong>und</strong> ihrer Familie gelungen,<br />

die traumatischen Erfahrungen in<br />

die Lebenserzählung zu integrieren <strong>und</strong> daraus<br />

eine Narrative aktiver Gestaltung zu<br />

entwickeln, die später den Enkelkindern<br />

weitergegeben werden kann. «<br />

Rahmen<br />

Alle genannten Dimensionen interkultureller<br />

Kompetenz in der therapeutischen<br />

<strong>und</strong> psychosozialen Arbeit können nur gepflegt<br />

<strong>und</strong> ausgebaut werden, wenn es<br />

gelingt, eine Lernkultur zu etablieren, in<br />

der die Repräsentanten unterschiedlicher<br />

kultureller <strong>und</strong> professioneller Herkunft<br />

voneinander <strong>und</strong> miteinander lernen.<br />

Wie in allen anderen gesellschaftlichen<br />

Bereichen auch gelingt das am ehesten in<br />

einer Betriebskultur, die als lernende Organisation<br />

(siehe dazu für die Psychiatrie:<br />

Salman u. Hegemann 2008, Oestereich<br />

2010) beschrieben wurde.<br />

Dem Management obliegt die Aufgabe,<br />

Feedback-Schleifen einzuführen, die ein<br />

Lernen aus der Praxis ermöglichen <strong>und</strong><br />

Erfahrungen, die im Umgang mit Patienten<br />

gesammelt werden, in der Gestaltung<br />

von Rahmenbedingungen umzusetzen.<br />

Dazu gehört im Besonderen die Förderung<br />

persönlicher Kompetenzen, die dem Einzelnen<br />

gestatten, sich in komplexen beruflichen<br />

<strong>und</strong> institutionellen Kontexten<br />

bewegen zu können. Dies wird am besten<br />

als System- oder Teamkompetenz beschrieben.<br />

Fachdienste haben auch Gewähr dafür zu<br />

tragen, dass diese Kompetenzen an die<br />

Notwendigkeiten servicetypischer Aufgabenstellungen<br />

angepasst werden. <strong>Systemische</strong><br />

Modelle dazu wurden beispielhaft<br />

vorgelegt für die Versorgung von Kindern<br />

(Lanfranchi 2006), Jugendlichen (Colijn<br />

2010), Alten (Hegemann 2002), Traumatisierten<br />

(Oestereich 2005) <strong>und</strong> psychisch<br />

Kranken (Hegemann u. Salman 2001,<br />

2010, Oestereich 2004) mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.<br />

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Aus der Praxis 325<br />

Die Entwicklung in anderen Ländern hat<br />

gezeigt, dass interkulturelle Qualität in<br />

der psychosozialen Versorgung im Wesentlichen<br />

ein strukturelles <strong>und</strong> damit<br />

nur bedingt ein fachliches Problem ist.<br />

Veränderungen werden daher neben der<br />

Qualifizierung Einzelner in erster Linie<br />

über die Gestaltung günstiger Rahmenbedingungen<br />

zu erreichen sein. Einen Prozess,<br />

wie er schlagwortartig mit „Öffnung<br />

der Dienste“ beschrieben wird, gilt es<br />

dazu schrittweise zu initiieren (Hegemann<br />

2008).<br />

Fazit<br />

Kultursensible systemische <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Beratung</strong> ist für uns in erster Linie eine<br />

Haltung. Diese drückt sich aus in<br />

" der Beachtung kultureller Unterschiedlichkeiten<br />

" einer fragenden engagierten Neutralität<br />

<strong>und</strong> Neugier, die es ermöglicht,<br />

Menschen mit unterschiedlichem kulturellen<br />

Hintergr<strong>und</strong> respektvoll <strong>und</strong><br />

wertschätzend zu begegnen<br />

" anregenden, neugierigen Fragen, die<br />

Veränderungen ermöglichen <strong>und</strong> die<br />

Entwicklung neuer Narrative anstoßen.<br />

Mit einer therapeutischen Begleitung aus<br />

einer solchen Haltung heraus werden<br />

Klienten mit Migrationserfahrung ermutigt,<br />

ihre Kulturkompetenz, ihre Ressourcen<br />

<strong>und</strong> ihre Resilienz für die gemeinsame<br />

Er-Findung einer zukunftsweisenden, lebendigen,<br />

dynamischen Lebenserzählung<br />

<strong>und</strong> Familiengeschichte besser zu nutzen.<br />

Eine solche Haltung eröffnet Therapeuten<br />

die Möglichkeit, in der interkulturellen<br />

therapeutischen Begegnung eigene Kulturkompetenzen<br />

zu erweitern <strong>und</strong> neue<br />

interessante Aspekte der globalisierten<br />

Welt kennenzulernen <strong>und</strong> so ihr eigenes<br />

Leben zu bereichern.<br />

Cornelia Oestereich<br />

Dr. med., Psychiaterin, Psychotherapeutin,<br />

Familientherapeutin.<br />

Ärztliche Direktorin<br />

einer psychiatrischen<br />

Klinik mit Fachabteilungen<br />

für Allgemeinpsychiatrie<br />

<strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Suchterkrankungen,<br />

Gerontopsychiatrie sowie<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendlichenpsychiatrie <strong>und</strong> -psychotherapie.<br />

Lehrtherapeutin (SG) <strong>und</strong> Lehrende<br />

Supervisorin (SG) am NIS – Niedersächsisches<br />

Institut für <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

Hannover e. V.; Vorsitzende der <strong>Systemische</strong>n<br />

Gesellschaft (SG) Deutscher Verband für<br />

<strong>Systemische</strong> Forschung, <strong>Therapie</strong>, Supervision<br />

<strong>und</strong> <strong>Beratung</strong> e. V.<br />

Thomas Hegemann<br />

Dr. med., Facharzt für Psychiatrie,<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

<strong>und</strong> Psychotherapeutische<br />

Medizin,<br />

Vorstand des Bayerischen<br />

Zentrums für Transkulturelle<br />

Medizin in München,<br />

Trainer der ISTOB-<br />

Management-Akademie.<br />

Arbeitsschwerpunkte: Organisations- <strong>und</strong> Personalentwicklung<br />

für öffentliche Dienstleister,<br />

Führungs- <strong>und</strong> Managementberatung, interkulturelle<br />

Kompetenz <strong>und</strong> Kommunikation.<br />

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Oestereich C. Nach dem Trauma: Nichts ist mehr<br />

wie zuvor! Wie können Traumata in die Lebenserzählung<br />

integriert werden? Systeme<br />

2005; 1: 46–71<br />

Oestereich C. Entwicklung interkultureller Kompetenz<br />

im psychiatrischen Krankenhaus. In:<br />

Hegemann T, Salman R, Hrsg. Handbuch<br />

Transkulturelle Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag;<br />

2010: 333–349<br />

Salman R, Hegemann T. Zugangsbarrieren überwinden<br />

– Integrationsförderung durch<br />

Schulungsprogramme für Management <strong>und</strong><br />

Personal. Weiterbildung 2008; 3: 32–35<br />

Salman R. Vermittler zwischen Sprachen <strong>und</strong><br />

Kulturen. Methoden des Gemeindedolmetschens<br />

<strong>und</strong> des Überbrücken von Kommunikationshindernissen.<br />

In: Hegemann T, Salman<br />

R, Hrsg. Handbuch Transkulturelle Psychiatrie.<br />

Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2010:<br />

199–215<br />

Schiepek G. Die Gr<strong>und</strong>lagen der <strong>Systemische</strong>n<br />

<strong>Therapie</strong>. Theorie – Praxis – Forschung. Göttingen:<br />

Vandenhoeck & Ruprecht; 1999<br />

Schlippe A von, El Hachimi M, Jürgens G. Multikulturelle<br />

systemische Praxis. Heidelberg:<br />

Carl Auer; 20K03<br />

Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.<br />

PID 4/2010 · 11. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1265906 Migration

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