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Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung

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<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

terfragen <strong>und</strong> so zur Entwicklung eines<br />

klientenorientierteren Angebotes zu kommen.<br />

Kultur<br />

Die systemische <strong>Therapie</strong> bezieht den<br />

Kontext in die <strong>Therapie</strong> mit ein. Dies gilt<br />

natürlich auch für den kulturellen Kontext.<br />

Da sie flexibel im Setting ist, ist es<br />

für Systemikerinnen <strong>und</strong> Systemiker<br />

nichts Ungewöhnliches, die für eine gute<br />

Kooperation in interkulturellen <strong>Beratung</strong>en<br />

notwendigen Angehörigen, Unterstützer<br />

<strong>und</strong> Dolmetscher mit einzubeziehen.<br />

<strong>Systemische</strong> <strong>Beratung</strong> <strong>und</strong> <strong>Therapie</strong><br />

pflegt eine Haltung respektvoller Neugier<br />

(Cecchin 1988) gegenüber den Patienten<br />

<strong>und</strong> ihren Sichtweisen der Welt, <strong>und</strong> sie<br />

kreiert mit ihrer Gesprächsführung Unterschiede,<br />

die zur gemeinsamen Er-Findung<br />

neuer, die Migrationserfahrungen<br />

neu bewertender Lebenserzählungen genutzt<br />

werden können. Daher haben wir<br />

gute Erfahrungen damit gemacht, dieses<br />

systemische Verfahren für eine interkulturelle<br />

<strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong> zu nutzen<br />

<strong>und</strong> passend zu machen (Hegemann u.<br />

Oestereich 2009).<br />

Wenn Menschen, die sich in unterschiedlichen<br />

Kulturen beheimatet fühlen, einander<br />

begegnen, treffen unterschiedliche<br />

Perspektiven zur Welt, unterschiedliche<br />

Erklärungen dessen, „was die Welt im Innersten<br />

zusammenhält“, unterschiedliche<br />

Moralvorstellungen, ethische Prinzipien,<br />

unterschiedliche Rollenerwartungen an<br />

Geschlecht, Paar- <strong>und</strong> Familienleben aufeinander.<br />

Wenn diese Begegnungen in<br />

einem <strong>Therapie</strong>kontext stattfinden, weil<br />

Störungen aufgetreten sind, die in unserem<br />

Kulturkreis psychischen Störungen<br />

oder psychiatrischen Krankheiten zugeordnet<br />

werden, dann treffen oft sehr unterschiedliche<br />

Vorstellungen aufeinander,<br />

wie diese Beschwerden zu bewerten sind.<br />

Wir möchten in diesem Sinne eine Beschreibung<br />

von Kultur vorstellen (Falicov<br />

1995), die zwei systemischen Kriterien<br />

gerecht wird – Dynamik <strong>und</strong> Kontext.<br />

Kultur stellt für uns alle einen Hintergr<strong>und</strong><br />

von etablierten <strong>und</strong> über Generationen<br />

überlieferten Sichtweisen, Werten,<br />

Ansichten <strong>und</strong> Haltungen dar,<br />

" die einerseits unser ganzes Denken,<br />

Fühlen <strong>und</strong> Handeln beeinflussen,<br />

" die wir andererseits aber in individueller<br />

wie auch kollektiver Weise übernehmen,<br />

modifizieren <strong>und</strong> weiterentwickeln,<br />

bedingt von der Teilhabe an<br />

unterschiedlichen Kontexten.<br />

Diese Kontexte können sein: ein städtischer<br />

oder ländlicher Lebensraum, Sprache,<br />

Alter, Familienorganisation, Religion,<br />

Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung, wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlicher Status, Hautfarbe,<br />

Geschlecht, politische Ausrichtung,<br />

sexuelle Orientierung, Migration <strong>und</strong> Akkulturation.<br />

Daraus folgt, dass die Komplexität einer<br />

Kultur <strong>und</strong> das Handeln Einzelner aus dieser<br />

Kultur heraus nur verstanden werden<br />

können, wenn die sozialen, historischen,<br />

geografischen <strong>und</strong> ökonomischen Kontexte<br />

<strong>und</strong> dynamischen Entwicklungen berücksichtigt<br />

werden.<br />

Ein solcher Ansatz ist unmittelbar anschlussfähig<br />

zu medizinanthropologischen<br />

Herangehensweisen, wie sie zuerst<br />

von Kleinman (1977, 1988) <strong>und</strong> in dessen<br />

Folge Littlewood (2001), Littlewood <strong>und</strong><br />

Lipsedge (1989), Good (1994) <strong>und</strong> Krause<br />

(2002) in den englischsprachigen systemischen<br />

Diskurs eingeführt wurden.<br />

Box 1<br />

Kulturübergreifende Annahmen<br />

für die psychosoziale <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Arbeit (nach A.<br />

Kleinman <strong>und</strong> R. Littlewood)<br />

" Über die psychosozialen Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Realitäten von Leid <strong>und</strong> Kranksein<br />

(Illness) gibt es in unterschiedlichen Kulturen<br />

unterschiedliche Konstruktionen.<br />

" Die unterschiedliche Inanspruchnahme<br />

psychosozialer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlicher Service-Einrichtungen<br />

resultiert aus den unterschiedlichen<br />

Sichtweisen, die die Angehörigen<br />

verschiedener Kulturen über<br />

Sinn <strong>und</strong> Zweck dieser Einrichtungen haben.<br />

" Unterschiedliche kommunikative Prozesse<br />

(z. B. Erklärungen <strong>und</strong> Bezeichnungen)<br />

führen zu unterschiedlichen Umgehensweisen<br />

mit den spezifischen klinische<br />

Episoden von Krankheit (Sickness).<br />

" Alle Behandlungsmaßnahmen wie Medikamente,<br />

Operationen, Psychotherapie,<br />

Pflege <strong>und</strong> Rituale nehmen Einfluss auf<br />

den Verlauf des Krankseins (Illness). Die<br />

Gewichtung dieser verschiedenen Maßnahmen<br />

variieren zwischen unterschiedlichen<br />

Kulturen.<br />

" Die Ergebnisse der Behandlung wie Heilung,<br />

Misserfolg, Rückfall, Chronizität,<br />

Behinderung oder Tod resultieren aus einer<br />

Interaktion zwischen körperlichen,<br />

sozialen <strong>und</strong> psychischen Dimensionen;<br />

zumindest die letzten beiden sind in erheblichem<br />

Maße kulturabhängig.<br />

Box 2<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen des sozialen<br />

Konstruktionismus nach<br />

K. Gergen<br />

" Wir konstruieren unsere Wirklichkeiten<br />

gemeinschaftlich <strong>und</strong> die Sinnhaftigkeit<br />

dieser Konstruktionen beruht auf sozialen<br />

Konventionen, die sich im Laufe der<br />

Zeit ändern.<br />

" Die Worte, mit denen wir unsere Wirklichkeiten<br />

kommunizieren, erhalten ihre<br />

Bedeutung durch ihren sozialen Gebrauch.<br />

" Unsere Aussagen über uns, über andere<br />

oder die Welt beruhen auf einer vorher<br />

bestehenden Sprache.<br />

" Diese Sprache basiert auf Beziehungen,<br />

wie sie über lange Zeit gepflegt wurden.<br />

" Gedanken, Gefühle, Interaktionen oder<br />

Erfahrungen sind uns nur möglich, weil<br />

wir an einer kulturellen Geschichte teilhaben,<br />

die uns mit einer Sprache als<br />

Werkzeug ausstattet, die uns erst erlaubt,<br />

unsere Welt konstruieren zu können.<br />

Auch das Konzept des im systemischen<br />

Feld geschätzten sozialen Konstuktionismus<br />

von Gergen <strong>und</strong> Gergen (2009) greift<br />

dieses Verständnis gemeinschaftlicher<br />

Konstruktionen auf (s. Box 2).<br />

Aus einem solchen Kulturverständnis heraus<br />

wurden zuerst in den USA (McGoldrick<br />

et al. 1982), England (Kareem u. Littlewood<br />

1992, Fernando 1995) <strong>und</strong> später<br />

in den Niederlanden (de Jong u. van den<br />

Berg 1996) praktische Handlungsmodelle<br />

entwickelt, die diese Ansätze für den therapeutischen<br />

<strong>und</strong> klinischen Alltag nutzbar<br />

machen.<br />

Ab der Jahrtausendwende erscheinen<br />

dann auch die ersten Textbücher in deutscher<br />

Sprache, die sich explizit auf diesen<br />

systemischen <strong>und</strong> sozialanthropologischen<br />

Ansatz beziehen (Domenig 2001;<br />

Hegemann u. Salman 2001, 2010; v.<br />

Schlippe et al. 2003; Hegemann u. Oestereich<br />

2009).<br />

Es fällt aber nach wie vor auf, dass in der<br />

englischsprachigen Literatur eine Vielzahl<br />

von Publikationen zur interkulturellen<br />

<strong>Therapie</strong> erscheint, auf die in der deutschsprachigen<br />

Literatur wenig Bezug genommen<br />

wird. Die Geschichte der (systemischen)<br />

<strong>Therapie</strong> wie der Anthropologie<br />

<strong>und</strong> Ethnologie in diesen beiden Kulturkreisen<br />

ist wohl zu unterschiedlich (Asen<br />

u. Hegemann 2009).<br />

Bahnbrechend sind in unserem Land sicherlich<br />

die Sonnenberger Leitlinien der<br />

DGPPN (Machleidt 2002), die ausdrücklich<br />

einen sozialen Bezug für eine interkulturelle<br />

Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie<br />

empfehlen.<br />

Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.<br />

Migration PID 4/2010 · 11. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1265906

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