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Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung

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Aus der Praxis 321<br />

<strong>Systemische</strong>r Ansatz<br />

Das systemische Konzept geht vom Menschen<br />

als biopsychosozialem System aus.<br />

Es betrachtet den Menschen im Kontext<br />

seiner Beziehungen. Dieses soziale Netzwerk<br />

umfasst nicht nur Beziehungen wie<br />

Partnerschaft, Familie, Fre<strong>und</strong>eskreis, Kollegen,<br />

sondern betrachtet auch die Umwelt<br />

des Systems mit ihren natürlichen,<br />

sozioökonomischen <strong>und</strong> kulturellen Bedingungen,<br />

zu denen auch der Migrationskontext<br />

gehört. Insbesondere für das<br />

wechselseitige Konstituierungsverhältnis<br />

von intrapsychischen <strong>und</strong> sozialen oder<br />

kommunikativen Prozessen hat die systemische<br />

<strong>Therapie</strong> theoretische Modelle<br />

<strong>und</strong> praktische Konzepte entwickelt<br />

(Schiepek 1999).<br />

<strong>Systemische</strong> Ansätze beziehen sich auf<br />

Unterschiede, die Unterschiede machen –<br />

zwischen Individuen, zwischen Familien<br />

<strong>und</strong> sozialen Gruppen, zwischen Angehörigen<br />

unterschiedlicher Ethnien. Aspekte<br />

der Fremdheit treten gegenüber dem Interesse<br />

an diesen Unterschieden im <strong>Therapie</strong>prozess<br />

an Relevanz zurück.<br />

Unter „Inneren Landkarten“ verstehen<br />

systemische Therapeuten die Wechselbeziehung<br />

zwischen Vorannahmen, Ideen<br />

<strong>und</strong> Bedeutungen, nach denen Mitglieder<br />

eines sozialen Systems ihr Weltbild immer<br />

wieder neu kreieren, sowie den Regeln<br />

<strong>und</strong> Mustern, nach denen ihr soziales System<br />

funktioniert. Diese werden in einem<br />

gemeinsamen Prozess des Verhandelns<br />

mit anderen kontinuierlich an den kulturellen,<br />

historischen, sozialen oder politischen<br />

Kontext angepasst. Sie sind also<br />

nicht statisch. Therapeutinnen <strong>und</strong> Therapeuten<br />

tun gut daran, neugierig darauf zu<br />

sein, welche Inneren Landkarten Menschen<br />

aus anderen Kulturen mitbringen,<br />

nach denen sie durch ihr Leben reisen.<br />

Diese Innere Landkarte kann sich verändern,<br />

wenn Menschen sich in eine fremde<br />

Kultur einleben möchten. Sie kann aber<br />

auch mit viel Kraftaufwendung aufrechterhalten<br />

werden, wenn eine als zuviel erlebte<br />

Anpassung verlangsamt oder verhindert<br />

werden soll. Fragen nach den Bedingungen<br />

der Veränderung von Sichtweisen<br />

<strong>und</strong> Werten im Verlauf des Migrationsprozesses<br />

<strong>und</strong> des Ankommens in einer<br />

fremden Kultur können in der <strong>Therapie</strong><br />

benutzt werden, um sich k<strong>und</strong>ig zu machen<br />

über den soziokulturellen Kontext,<br />

in dem der Patient oder seine Familie lebt.<br />

So entsteht ein Bild über den Prozess der<br />

Akkulturation.<br />

Haltungen<br />

Wer sich in interkulturellen Kontexten<br />

bewegen will, braucht die Bereitschaft,<br />

sich mit fremden Wertvorstellungen auseinanderzusetzen.<br />

Im interkulturellen<br />

<strong>Therapie</strong>kontext ist es deshalb ein bedeutsames<br />

Ziel professioneller Qualifizierung,<br />

gerade gegenüber Werthaltungen, die<br />

den eigenen widersprechen, diese Haltung<br />

von Neugier <strong>und</strong> Respekt zu entwickeln.<br />

Neutralität im Sinne von Cecchin<br />

(1988) beschreibt eine professionelle<br />

Neugier auf die persönlichen oder kulturellen<br />

Beweggründe, die zu bestimmten<br />

Einstellungen oder Haltungen führen.<br />

Werthaltungen von Einzelnen <strong>und</strong> Gruppen<br />

können sich von den unseren stark<br />

unterscheiden <strong>und</strong> hierzulande sogar<br />

höchst kontrovers diskutiert werden.<br />

Schlagen als Erziehungsmethode oder die<br />

Zwangsverheiratung wären Beispiele dafür.<br />

Hier hat es sich als nützlich erwiesen,<br />

eher in eine Kommunikation über die<br />

Konsequenzen verschiedener Haltungen<br />

einzutreten. Dies eröffnet eher neue Optionen<br />

als fremde <strong>und</strong> unangepasste<br />

Werthaltungen zu verurteilen oder gar<br />

daraus abzuleiten, dass jemand „nicht<br />

therapierbar“, weil etwa nicht „einsichtig“<br />

sei.<br />

Es bewährt sich davon auszugehen, dass<br />

die Welt sich anders konstruiert, wenn<br />

sie durch eine andere Wertebrille betrachtet<br />

wird. So wählen Therapeuten<br />

besser neutrale Beschreibungen – beispielsweise<br />

Schlagen eines Kindes statt<br />

Misshandeln. Wenn ein solcher Respekt<br />

gelingt, sind die Chancen größer, mit Patienten<br />

<strong>und</strong> ihren Familie darüber zu reflektieren,<br />

welche Auswirkungen ihr Verhalten<br />

auf ihre Integration, die Reaktion<br />

der Umwelt <strong>und</strong> die seelische Entwicklung<br />

ihrer Kinder haben könnte. Gleichzeitig<br />

ist es hilfreich wohlwollend zu unterstellen,<br />

dass es Familien aus anderen<br />

Kulturen wichtig sein kann, sich in der<br />

Herkunftsgruppe nicht zu isolieren <strong>und</strong><br />

in der Lebensführung, etwa der Erziehung<br />

der Kinder, sich in einem Rahmen zu bewegen,<br />

der dort geteilt oder erwartet<br />

wird.<br />

Therapeutinnen <strong>und</strong> Therapeuten müssen<br />

als politisch Interessierte fremde kulturelle<br />

Wertvorstellungen nicht teilen,<br />

ebenso wenig wie andere Wertvorstellungen<br />

von Klienten der heimischen Kultur.<br />

Sie dürfen durchaus deutlich machen,<br />

dass es ihnen schwer fällt, sich in bestimmte<br />

ihnen fremde Denkweisen hineinzuversetzen.<br />

Aber sie sollten immer<br />

hervorheben, dass sie Klienten aus ihrer<br />

Kultur oder aus ihrer sozialen Zugehörigkeit<br />

heraus positive Gründe für ihr Handeln<br />

unterstellen, <strong>und</strong> dass sie diese kennenlernen<br />

<strong>und</strong> nachvollziehen möchten.<br />

Je besser dies gelingt, umso besser wird<br />

der Aufbau einer Kooperationsbeziehung<br />

für den therapeutischen Prozess gelingen.<br />

Begriffe wie Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Autonomie<br />

gehören in unserer auf individualistische<br />

Lebensziele ausgerichteten Gesellschaft<br />

zu den allgemein anerkannten<br />

Vorstellungen vom Leben. In Kulturen<br />

hingegen, welche ein Familienbild pflegen,<br />

in dem der Einzelne vor allem als<br />

Teil der Familie erlebt wird <strong>und</strong> das Wohlergehen<br />

der Familie, der Sippe, des Clans<br />

Priorität unter den erstrebenswerten Zielen<br />

haben, wird Selbstverwirklichung als<br />

anzustrebendes Lebensziel gar nicht verstanden<br />

oder gar als soziale Abweichung<br />

deklariert. So wird es in unserem Lande<br />

häufig als nicht gelungene Ablösung der<br />

jüngeren Generation angesehen, wenn<br />

ein junger Mensch ins Elternhaus zurückkehrt<br />

oder es gar nicht erst verlässt. Dies<br />

sehen Familien aus vielen anderen Kulturen<br />

anders. Dort lebt man selbstverständlich<br />

zusammen, bis etwa eine neue Familie<br />

gegründet wird, <strong>und</strong> es gibt klare Regeln,<br />

welches Kind (das älteste oder das<br />

jüngste Kind, Tochter oder Sohn) mit seiner<br />

eigenen Familie weiter mit den Eltern<br />

zusammenleben <strong>und</strong> für deren spätere<br />

Versorgung im Alter zuständig sein wird.<br />

Wertvorstellungen sind also nicht nur individuell<br />

vielfältig <strong>und</strong> unterschiedlich,<br />

nicht nur von Familie zu Familie anders,<br />

sondern auch von Kultur zu Kultur. Innerhalb<br />

jeder Kultur aber wiederum unterscheiden<br />

sie sich von Familie zu Familie<br />

wie auch individuell. Und sie unterliegen<br />

in allen Ländern dem sozialen Wandel.<br />

Therapeuten sollten sich davor hüten,<br />

besser wissen zu wollen, wie ein gutes Leben<br />

aussieht: Sie sollten sich zurückhalten,<br />

hier europäisch geprägte Sichtweisen<br />

zu vertreten <strong>und</strong> aus dieser Perspektive<br />

Pathologiezuschreibungen zu machen,<br />

sondern die anteilnehmende, respektvolle<br />

Haltung der Neugier trainieren, welche<br />

uns Cecchin (1988) empfiehlt.<br />

Das Setting<br />

<strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> findet nicht nur in<br />

Einzelsettings statt, sondern viel besser<br />

noch in einem Familiensetting, das sich<br />

gerade für interkulturelle <strong>Therapie</strong> als<br />

sehr nützlich erweist (Oestereich 2001,<br />

2004). Um therapeutisch wirksam zu sein,<br />

empfiehlt es sich, dem Anliegen der Pa-<br />

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PID 4/2010 · 11. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1265906 Migration

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