Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung
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<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />
tienten einen wertschätzenden Gesprächsrahmen<br />
zu geben. Dazu gehört die<br />
Entscheidung, wo das Gespräch stattfinden<br />
soll, wer es führen soll, wer teilnehmen<br />
sollte <strong>und</strong> eingeladen wird <strong>und</strong> die<br />
Frage, wie sprachliche Verständigung im<br />
Gespräch hergestellt werden kann. Unserer<br />
Erfahrung nach ist es günstig, geschulte<br />
Dolmetscher als Übersetzer <strong>und</strong> Kulturmittler<br />
einzusetzen (siehe dazu Salman<br />
2010). Diese sollen vom Therapeuten bereitgestellt<br />
werden <strong>und</strong> gehören somit<br />
zum therapeutischen System. Wir verhehlen<br />
nicht, dass es Notsituationen geben<br />
kann, in denen ein Familienmitglied<br />
oder ein Bekannter der Familie übersetzen<br />
muss. Dies kann aber nicht für <strong>Therapie</strong><br />
gelten, da ein solcher Übersetzer zum<br />
Familiensystem gehören würde, weshalb<br />
die Übersetzung nicht als neutral anzusehen<br />
wäre.<br />
Der Gesprächsstil sollte deutlich machen,<br />
dass die Berater die Anliegen aller Beteiligten<br />
gleichermaßen im Blick haben <strong>und</strong><br />
ernst nehmen. Um gut an den Patienten<br />
<strong>und</strong> sein System anzuschließen, hat es<br />
sich gerade bei der ersten Begegnung bewährt,<br />
sich nach dem Befinden aller Gesprächsteilnehmer<br />
zu erk<strong>und</strong>igen, wie sie<br />
den Weg in die Einrichtung gef<strong>und</strong>en haben,<br />
<strong>und</strong> mit welchen Erwartungen wer in<br />
das heutige Gespräch gekommen ist. In<br />
Folgegesprächen kann es wichtig sein, bestimmte,<br />
die jeweilige Kultur berücksichtigende<br />
Begrüßungsrituale <strong>und</strong> Eingangsfragen<br />
zu Beginn jeden Gesprächs zu wiederholen.<br />
Ein paar Beispiele: in manchen<br />
Kulturen wird ein Handschlag zur Begrüßung<br />
erwartet, in anderen wäre dieser<br />
beispielsweise Personen des anderen Geschlechts<br />
gegenüber ein Faux Pas. In manchen<br />
Kulturen gilt es als höflich, sich direkt<br />
nach dem Befinden des Gegenübers<br />
zu erk<strong>und</strong>igen, in anderen würde ein Therapeut<br />
dadurch als übergriffig erlebt.<br />
Wir sollten immer darauf achten, die Erwartungen<br />
aller Gesprächsteilnehmer an<br />
ein <strong>Therapie</strong>gespräch ausreichend zu beachten,<br />
in dem wir uns in unserer jeweiligen<br />
Rolle als Experten entsprechend verhalten<br />
<strong>und</strong> uns im Gespräch sowohl souverän<br />
wie auch wertschätzend respektvoll<br />
<strong>und</strong> interessiert an den Anliegen der<br />
Patienten zeigen.<br />
Die Sitzordnung kann deshalb auch je<br />
nach Ziel des Gespräches variieren. Wenn<br />
es wichtig ist, Autorität zu betonen, kann<br />
die Therapeutin etwas abgegrenzt sitzen.<br />
Wenn es eher um die Betonung eines Gespräches<br />
„auf Augenhöhe geht“, kann es<br />
günstiger sein, eine kreisförmige Sitzordnung<br />
herzustellen. Hier kommt es also<br />
weniger darauf an, es richtig zu machen,<br />
sondern eher aufmerksamer für den Kontext<br />
der Institution, in welcher das Gespräch<br />
stattfindet, zu werden.<br />
<strong>Systemische</strong> Methoden<br />
Eine systemische Perspektive legt Wert<br />
darauf, Unterschiede zu machen zu dem<br />
bisher Gedachten <strong>und</strong> den bisherigen Lösungsversuchen<br />
der Klienten <strong>und</strong> ihrer<br />
Familien.<br />
Zirkuläre Fragen Das für uns bahnbrechende<br />
Mailänder Familientherapieteam<br />
um Selvini Palazzoli entwickelte eine fragende<br />
Haltung in der Gesprächsführung,<br />
die besonders geeignet ist, gleichzeitig Informationen<br />
zu erhalten <strong>und</strong> zu geben sowie<br />
Zirkularität herzustellen. Diese Vorgehensweise<br />
des Zirkulären Fragens führt<br />
neue Ideen ein <strong>und</strong> sucht zugeschriebene<br />
Eigenschaften <strong>und</strong> Rollen in Beziehungen<br />
zu verflüssigen. Dadurch wird ein Umdeuten<br />
des bisher Gedachten bewirkt. Innere<br />
Landkarten werden erfragt, Beziehungsmuster<br />
beleuchtet sowie die Veränderungen<br />
deutlich, die mit bestimmten Zeitpunkten<br />
<strong>und</strong> Ereignissen in Beziehung gesetzt<br />
werden. Die Aufmerksamkeit wird<br />
auf Entwicklungen <strong>und</strong> Ressourcen gelenkt<br />
statt auf Defizite <strong>und</strong> Pathologie.<br />
Auf diese Weise werden zunächst hypothetisch<br />
neue Wahlmöglichkeiten eingeführt<br />
<strong>und</strong> neue Zukunftsbilder entworfen.<br />
Dieses Vorgehen kann überraschen <strong>und</strong><br />
neue Denkanstöße auslösen, wenn aus<br />
der hiesigen Kultur heraus auch die Sichtweisen<br />
der weiblichen Familienmitglieder<br />
oder der Kinder erfragt <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />
gemeinsam reflektiert werden.<br />
Gleichzeitig jedoch dürfen die traditionellen<br />
Respektspersonen der Familie nicht<br />
entwertet werden.<br />
Lebenserzählung <strong>Systemische</strong> Therapeuten<br />
regen Patienten zu der Erfindung<br />
einer neuen, im aktuellen Lebenskontext<br />
passenden <strong>und</strong> nützlichen Lebenserzählung<br />
an. Obwohl die mit Verlusten verb<strong>und</strong>enen<br />
Erfahrungen, wie dem Verlust von<br />
Heimat, von Familie <strong>und</strong> von wichtigen<br />
Bezugspersonen <strong>und</strong> von sozialem Status<br />
eher in eine <strong>Therapie</strong> führen, gilt es die<br />
positiven Entwicklungschancen von Migration<br />
gleichberechtigt neben diese Aspekte<br />
von Verlusten zu stellen.<br />
Genogrammarbeit „Wer gehört noch zu<br />
Ihnen dazu?“ Diese einfache Frage macht<br />
deutlich, dass jemand auch in der Fremde<br />
nicht allein ist, dass er sich nicht im luftleeren<br />
Raum befindet, sondern immer<br />
mit den ihm zugehörigen Menschen verb<strong>und</strong>en<br />
bleibt <strong>und</strong> von den Therapeuten<br />
so gesehen wird als Teil einer Ganzheit –<br />
seiner Familie, seiner Sippe, seines Volkes,<br />
seiner Kultur. „Sie mögen zwar allein in<br />
diesem Land sein, aber wen müsste ich<br />
mit einbeziehen in unsere Überlegungen,<br />
in unsere Gespräche?“ Um eine gemeinsame<br />
Orientierung zu fördern, zeichnen systemische<br />
Therapeutinnen gemeinsam mit<br />
ihren Patienten Genogramme: Ausgehend<br />
von der Herkunftsfamilie der unmittelbaren<br />
Klienten umfasst ein Genogramm<br />
mindestens drei Generationen. Neben Namen,<br />
Alter, Wohnorten, Berufen, Partnerschaften,<br />
Eheschließungen sowie Scheidungen<br />
<strong>und</strong> Todesfällen können schwere<br />
Krankheiten, Symptome, Todesursachen<br />
sowie innerfamiliäre Streitthemen vermerkt<br />
werden. Die Personen können mit<br />
kurzen Beschreibungen charakterisiert<br />
werden; auch typische Familien-Atmosphären<br />
können vermerkt werden. Zu<br />
dem Genogramm können dann systemische<br />
<strong>und</strong> zirkuläre Fragen gestellt werden,<br />
welche die Personen <strong>und</strong> Ereignisse in Beziehung<br />
miteinander setzen. Es kann erfragt<br />
werden, wer was über das vorgestellte<br />
Problem denkt <strong>und</strong> welche Lösungsideen<br />
vertreten werden. So können<br />
auch sich wandelnde Charakteristika <strong>und</strong><br />
Unterschiede in Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen<br />
im Verlauf des Migrationsprozesses anhand<br />
des Genogramms visualisiert werden:<br />
Wer fühlt sich den traditionellen Sitten<br />
<strong>und</strong> Ritualen besonders verb<strong>und</strong>en?<br />
Für welchen Teil der Familie oder welche<br />
Personen spielt die Einhaltung dieser Sitten<br />
keine so große Rolle (mehr)? Welche<br />
Auswirkungen hat das auf das Zusammenleben<br />
der Großfamilie? Auf die Partnerwahl?<br />
Auf die Kindererziehung? Auf<br />
die Bewertung der Migration? Auf die Einschätzung<br />
der jetzigen Erkrankung? Welches<br />
der Kinder wird in der neuen Heimat<br />
wohl eine Partnerschaft eingehen? Wer<br />
wird der Familie das erste in der neuen<br />
Heimat geborene Enkelkind schenken? –<br />
Immer wieder geschieht es, dass nach der<br />
Migration geborene Kinder in diesen Gesprächen<br />
über das Genogramm erstmals<br />
über Ereignisse aus der Vergangenheit erfahren<br />
<strong>und</strong> schon hier neue Narrative entstehen.<br />
Das Genogramm kann später mit Fotos illustriert<br />
werden, die sich für die Bewältigung<br />
von Verlusten <strong>und</strong> Trauer besonders<br />
bewähren. Beim Erzählen von Anekdoten<br />
zu den einzelnen Themen <strong>und</strong> Ereignissen,<br />
die auf den Fotos festgehalten sind,<br />
Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.<br />
Migration PID 4/2010 · 11. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1265906