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Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung

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<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

zuschauen, ist es hilfreicher, innerhalb des<br />

sicheren therapeutischen Rahmens aktiv<br />

nach Ressourcen zu suchen, wie der<br />

Schrecken überlebt wurde <strong>und</strong> die Überlebenden<br />

jetzt hier sitzen. Dazu bewährt<br />

sich die beschriebene Haltung der respektvollen<br />

Neugier gegenüber der aktuellen<br />

Situation <strong>und</strong> dem Kontext der <strong>Therapie</strong><br />

– so zur Alltagsgestaltung, den wichtigen<br />

Personen, der wirtschaftlichen Absicherung,<br />

dem Aufenthaltsstatus <strong>und</strong> dem<br />

Kontakt zur Heimat. Zur Auftragsklärung<br />

wäre zu fragen: Wer hat die <strong>Therapie</strong><br />

empfohlen? Was erwarten die unterschiedlichen<br />

Personen von einem guten<br />

Ausgang der <strong>Therapie</strong>? Wie dürfte diese<br />

nicht verlaufen? Wie müssten die Therapeuten<br />

sich verhalten, um sie zu enttäuschen,<br />

zu kränken, zu vergraulen, erneut<br />

in Schrecken zu versetzen? Woran werden<br />

sie <strong>und</strong> ihre Angehörigen merken,<br />

dass sie den Therapeuten vertrauen können?<br />

Dass sie bereit sein werden, mit diesen<br />

ein Stück Weges in die bereits begonnene<br />

lebendige Zukunft zu gehen, <strong>und</strong> die<br />

Therapeuten Anteil haben zu lassen an<br />

einer Rückschau, die den Schrecken vielleicht<br />

wiederbelebt, aber auch hinter sich<br />

lassen wird?<br />

Die oben dargestellte Genogrammarbeit<br />

bietet die Möglichkeit innere Bilder des<br />

verlorenen Lebens mit der Familie wiedererstehen<br />

zu lassen, vermisste <strong>und</strong> verstorbene<br />

Familienmitglieder oder Fre<strong>und</strong>e<br />

wieder ins Gespräch zu bringen <strong>und</strong><br />

ihnen in Geschichten <strong>und</strong> Anekdoten<br />

Ehre <strong>und</strong> Respekt zu erweisen. Ressourcen<br />

tun sich wie von selbst auf <strong>und</strong> können<br />

durch zirkuläres Befragen akzentuiert<br />

werden. Wie haben die anderen Familienmitglieder<br />

auf den Schrecken <strong>und</strong> den<br />

Terror reagiert? Gibt es schon Vorerfahrungen,<br />

wie solche Lebenssituationen<br />

nach Traumata bewältigt wurden? In Familien<br />

aus Gegenden, in denen über längere<br />

Zeiten Kriege <strong>und</strong> Verfolgung herrschen,<br />

gibt es viele Strategien, damit umzugehen.<br />

Rituale, wie Bestattungen, die<br />

der Bewältigung dienen, aber häufig nicht<br />

möglich waren, können erfragt werden.<br />

Wie in normalen Zeiten mit dem Verlust<br />

durch Tod umgegangen würde, wer sich<br />

wie daran beteiligen würde, wie Trauerzeiten<br />

gestaltet würden, wie lang diese in<br />

der jeweiligen Kultur wären, wer die<br />

Trauernden durch die Trauer begleiten<br />

würde, welche Rolle die Religion dabei<br />

spielen würde – sind Fragen, die Suchprozesse<br />

zu vertrauten Fähigkeiten <strong>und</strong> Bewältigungsmöglichkeiten<br />

anregen.<br />

Auch das beschriebene gemeinsame Anschauen<br />

von Fotos aus der vortraumatischen<br />

Zeit wird meist sehr verbindend<br />

<strong>und</strong> bewegend erlebt. Die Unterschiede<br />

zu sehen zwischen den fröhlichen, unbeschwert<br />

wirkenden Patienten <strong>und</strong> ihren<br />

Familien vor dem Trauma <strong>und</strong> dem aktuellen<br />

Erleben ermöglicht einerseits gemeinsame<br />

Trauer über das verlorengegangene<br />

Leben, vor allem aber ermöglicht<br />

es den Patienten <strong>und</strong> den Therapeuten<br />

eine Vision zu kreieren davon, was in Zukunft<br />

wieder möglich sein wird. Eine wiederkehrende<br />

Frage, die in nahezu jedem<br />

Gespräch eine Rolle spielt, erk<strong>und</strong>igt sich<br />

danach, wie es den Patienten <strong>und</strong> ihren<br />

Angehörigen gelungen ist, sich in der Zwischenzeit<br />

etwas Gutes zu tun, es sich,<br />

wenn vielleicht auch nur für einige wenige<br />

Augenblicke, gut gehen zu lassen. Wie<br />

haben sie das gemacht? Wie fühlte es sich<br />

in diesem Augenblick anders an als in den<br />

Zeiten, wenn es ihnen nicht gut ging?<br />

» Nachdem so eine vertrauensvolle therapeutische<br />

Beziehung hergestellt war <strong>und</strong><br />

nachdem das Leid aller durch die Therapeuten<br />

gewürdigt <strong>und</strong> anerkannt worden<br />

war, kam Frau Sarijevic zu den nächsten<br />

Terminen allein in die <strong>Therapie</strong>. Jetzt wurden<br />

die für sie besonders traumatischen Erfahrungen<br />

in einem Vergewaltigungslager<br />

thematisiert. In der Gesprächsführung war<br />

die Idee leitend, auch kleinste situative<br />

Möglichkeiten aufzuzeigen, in denen Frau<br />

Sarijevic die Situation aktiv gestaltet hatte.<br />

Dies bietet die Möglichkeit mit traumatischen<br />

Erfahrungen einhergehende Ohnmachtsgefühle<br />

aufzuweichen <strong>und</strong> zu verflüssigen.<br />

Passives Erdulden kann immer<br />

auch als aktive Handlung des Überlebenswillens<br />

betrachtet werden. Hierzu können<br />

auch kulturell unterschiedliche Konzepte<br />

des Einflusses des einzelnen Menschen auf<br />

die Gestaltung des eigenen Lebens besprochen<br />

werden.<br />

Dazu bewährt sich die beschriebene Arbeit<br />

mit dem Familienbrett. Frau Sarijevic stellte<br />

ihre Situation auf mit ihren Symptomen <strong>und</strong><br />

den sie unterstützenden Menschen um sich<br />

herum. Dass sie den Tätern eine im Verhältnis<br />

zu den anderen Figuren übergroße Höhe<br />

gab, verdeutlichte eindrucksvoll deren verheerenden<br />

Einfluss auf ihr Leben.<br />

Auf der Suche nach Ressourcen war bedeutsam,<br />

dass die Möglichkeit, als Zeugin vor<br />

Gericht gegen die Täter aussagen zu können,<br />

deren Repräsentanz in ihrem inneren<br />

Erleben deutlich verringern können würde,<br />

was am Ende der <strong>Therapie</strong> bei einer erneuten<br />

Aufstellung auf dem Familienbrett visuell<br />

deutlich wurde. So gelang es Frau Sarijevic<br />

im Verlaufe der <strong>Therapie</strong>, ihr Leben wieder<br />

selbst in die Hand zu nehmen. Gemeinsam<br />

mit ihrer Familie entschied sie sich,<br />

dem Angebot einer Familienzusammenführung<br />

zu folgen <strong>und</strong> nach Kanada auszuwandern.<br />

Von dort ließ sie die Therapeuten<br />

wissen, wie gut sie <strong>und</strong> ihre Familie diesen<br />

erneuten aktiven Migrationsschritt, bewältigten.<br />

Hilfreich für sie waren das Erlernen<br />

der neuen Sprache, der Erwerb des Führerscheins<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene neue<br />

Eigenständigkeit auch in der Partnerschaft,<br />

politisches Engagement in einer Gruppe der<br />

Überlebenden <strong>und</strong> die Aussage gegen die<br />

Kriegsverbrecher vor Gericht.<br />

So ist es Frau Sarijevic <strong>und</strong> ihrer Familie gelungen,<br />

die traumatischen Erfahrungen in<br />

die Lebenserzählung zu integrieren <strong>und</strong> daraus<br />

eine Narrative aktiver Gestaltung zu<br />

entwickeln, die später den Enkelkindern<br />

weitergegeben werden kann. «<br />

Rahmen<br />

Alle genannten Dimensionen interkultureller<br />

Kompetenz in der therapeutischen<br />

<strong>und</strong> psychosozialen Arbeit können nur gepflegt<br />

<strong>und</strong> ausgebaut werden, wenn es<br />

gelingt, eine Lernkultur zu etablieren, in<br />

der die Repräsentanten unterschiedlicher<br />

kultureller <strong>und</strong> professioneller Herkunft<br />

voneinander <strong>und</strong> miteinander lernen.<br />

Wie in allen anderen gesellschaftlichen<br />

Bereichen auch gelingt das am ehesten in<br />

einer Betriebskultur, die als lernende Organisation<br />

(siehe dazu für die Psychiatrie:<br />

Salman u. Hegemann 2008, Oestereich<br />

2010) beschrieben wurde.<br />

Dem Management obliegt die Aufgabe,<br />

Feedback-Schleifen einzuführen, die ein<br />

Lernen aus der Praxis ermöglichen <strong>und</strong><br />

Erfahrungen, die im Umgang mit Patienten<br />

gesammelt werden, in der Gestaltung<br />

von Rahmenbedingungen umzusetzen.<br />

Dazu gehört im Besonderen die Förderung<br />

persönlicher Kompetenzen, die dem Einzelnen<br />

gestatten, sich in komplexen beruflichen<br />

<strong>und</strong> institutionellen Kontexten<br />

bewegen zu können. Dies wird am besten<br />

als System- oder Teamkompetenz beschrieben.<br />

Fachdienste haben auch Gewähr dafür zu<br />

tragen, dass diese Kompetenzen an die<br />

Notwendigkeiten servicetypischer Aufgabenstellungen<br />

angepasst werden. <strong>Systemische</strong><br />

Modelle dazu wurden beispielhaft<br />

vorgelegt für die Versorgung von Kindern<br />

(Lanfranchi 2006), Jugendlichen (Colijn<br />

2010), Alten (Hegemann 2002), Traumatisierten<br />

(Oestereich 2005) <strong>und</strong> psychisch<br />

Kranken (Hegemann u. Salman 2001,<br />

2010, Oestereich 2004) mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.<br />

Migration PID 4/2010 · 11. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1265906

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