Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung
Interkulturelle Systemische Therapie und Beratung
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Aus der Praxis 323<br />
können dann auch Visionen entstehen zu<br />
dem, was zukünftig wieder möglich sein<br />
kann <strong>und</strong> wohin das Leben sich entwickeln<br />
kann.<br />
Arbeit mit dem Familienbrett Als eine<br />
weitere Form der Visualisierung hat sich<br />
in der systemischen <strong>Therapie</strong> mit Menschen<br />
aus anderen Kulturen die Arbeit<br />
mit dem Familienbrett bewährt. Möglichst<br />
neutrale Holzfiguren symbolisieren verschiedene<br />
Geschlechter <strong>und</strong> Generationen<br />
<strong>und</strong> können vom Klienten innerlich<br />
personalisiert <strong>und</strong> belebt werden. Was<br />
aufgestellt wird, hängt von der jeweiligen<br />
therapeutischen Situation ab. Es können<br />
Familienmitglieder, Kontexte <strong>und</strong> soziale<br />
Entfernungen dargestellt werden. So wird<br />
deutlich, wer wen gut im Blick hat bzw.<br />
wer seine Aufmerksamkeit anderswo hinrichtet.<br />
Die Aufstellung auf dem Familienbrett<br />
kann sowohl innere wie auch äußere<br />
Systeme erfassen: z.B. Symptome wie<br />
Angst, Sucht, Depression, aber auch Sorgen,<br />
Trauer, Ungewissheit <strong>und</strong> Ambivalenz<br />
können dargestellt werden. Wenn<br />
die erste Aufstellung dann, angeregt von<br />
den Therapeuten, durch Figuren, welche<br />
als Ressourcen des Klienten definiert werden,<br />
ergänzt wird, wird das spielerische<br />
Experimentieren auf der Suche nach Lösungen<br />
kreativer <strong>und</strong> leichter.<br />
Solche Skulpturen auf dem Familienbrett<br />
verstehen wir als Momentaufnahmen, die<br />
keine Diagnostik darstellen <strong>und</strong> auch<br />
nicht den Zustand der Familie festschreiben,<br />
sondern die Perspektive der Klienten<br />
aus einer bestimmten Konstellation externalisieren<br />
<strong>und</strong> visualisieren. Veränderungen<br />
bei der Aufstellung in unterschiedlichen<br />
Phasen der <strong>Therapie</strong> illustrieren<br />
plastisch die Entwicklung des Patienten,<br />
für ihn selbst wie auch für die Therapeuten.<br />
<strong>Interkulturelle</strong> systemische<br />
<strong>Therapie</strong>praxis<br />
Wie läuft nun interkulturelle systemische<br />
Psychotherapie in der Praxis? An einem<br />
Beispiel aus der klinischen Praxis, in der<br />
schwer traumatisierte Flüchtlinge aus<br />
vielen unterschiedlichen Kulturen in<br />
einem ambulanten systemischen <strong>Therapie</strong>setting<br />
behandelt werden, soll dies erläutert<br />
werden. Leitidee der Therapeuten<br />
ist die Fähigkeit von Menschen, als Traumaüberwinder<br />
über Kompetenzen <strong>und</strong><br />
Ressourcen zu verfügen, Böses hinter sich<br />
zu lassen <strong>und</strong> Gutes in den Vordergr<strong>und</strong><br />
zu stellen <strong>und</strong> so für sich selbst <strong>und</strong> ihre<br />
Familien eine neue bessere Zukunft aufzubauen.<br />
Traumadeterminierte Systeme<br />
Da viele Traumatisierte nicht als „psychisch<br />
krank“ angesehen werden möchten,<br />
ist es wichtig, die psychischen <strong>und</strong><br />
körperlichen Reaktionen <strong>und</strong> Beschwerden<br />
als normale menschliche Reaktion<br />
<strong>und</strong> als Schutzmechanismus auf Traumata<br />
zu beschreiben, für die es aber Behandlungsmöglichkeiten<br />
gibt.<br />
Traumata können auch bisherige Lebenserfahrungen<br />
strukturieren: Menschen,<br />
die sich schon immer eher als Opfer denn<br />
als Gestaltender ihres Lebens erlebt haben,<br />
werden sich darin durch ein Trauma<br />
eher bestätigt sehen. Personen mit einem<br />
salutogenetischen Kohärenzgefühl, die<br />
nach dem Motto gelebt haben, dass das<br />
Schicksal Herausforderungen stellt, werden<br />
Traumata leichter als eine weitere<br />
Prüfung ansehen können, die einen an<br />
den Rand der Kräfte bringt, aber die wahrscheinlich<br />
überlebt werden können; Menschen,<br />
die davon ausgehen, dass sie – beispielsweise<br />
durch politische Aktivitäten –<br />
dazu beigetragen haben, die traumatisierende<br />
Situation herzustellen, können vielleicht<br />
deutlicher sehen, was sie aktiv unternommen<br />
haben, um sie zu überleben.<br />
Für Traumatisierte, die den besonderen<br />
Schutz <strong>und</strong> die Fürsorge ihrer Familie erfahren,<br />
kann es Sinn machen <strong>und</strong> nützlich<br />
sein, Symptome aufrechtzuerhalten <strong>und</strong><br />
nicht zu schnell ges<strong>und</strong> zu werden. Wer<br />
sich auf einem lange dauernden beschwerlichen<br />
Klageweg befindet, um eine<br />
Rente zu erhalten, sollte sich vielleicht<br />
nicht zu früh genesend zeigen. Wenn diese<br />
Sichtweise von der Familie geteilt wird,<br />
kann dies zur Aufrechterhaltung der<br />
Symptomatik beitragen, sodass die Lebenserzählung<br />
durch das Trauma definiert<br />
bleibt.<br />
» Am Beispiel von Frau Sarijevic, 50 Jahre,<br />
aus Bosnien, die Vertreibung, Lagerhaft <strong>und</strong><br />
Folter erlebt hatte <strong>und</strong> deren ältester Sohn<br />
bestialisch ermordet wurde, wird deutlich,<br />
dass sie einen Ehemann, einen jüngeren<br />
Sohn, eine Schwiegertochter <strong>und</strong> Enkel hat,<br />
die alle ebenfalls den grausamen Verlust<br />
eines ihnen lieben Menschen zu verkraften<br />
hatten, auch wenn die Umstände der Vertreibung<br />
<strong>und</strong> der Lagerhaft vielleicht für jedes<br />
Familienmitglied graduell unterschiedlich<br />
sein mögen. Wer braucht jetzt am ehesten<br />
eine <strong>Therapie</strong>? Wer entscheidet, wann<br />
<strong>und</strong> für wen Kontakt zu therapeutischen<br />
Institutionen aufgenommen wird? Wie<br />
fühlen sich die hiesigen Helfer angesprochen?<br />
Erlaubt sich eine traumatisierte Person<br />
aus einer betroffenen Familie überhaupt<br />
zu ges<strong>und</strong>en, bevor die seelische Situation<br />
seiner nächsten Angehörigen anerkannt<br />
wurde <strong>und</strong> diese sich ebenfalls deutlich<br />
verbessern kann?<br />
Die anmeldende Sozialarbeiterin berichtete,<br />
dass Frau Sarijevic seit fünf Jahren hier<br />
als Flüchtling geduldet sei <strong>und</strong> unter den<br />
Auswirkungen einer schweren Traumatisierung<br />
leide. Sie lebe sehr zurückgezogen,<br />
habe Schlafstörungen <strong>und</strong> Depressionen<br />
<strong>und</strong> es sei zu befürchten, dass sie sich mit<br />
Selbstmordgedanken beschäftige. Auf die<br />
Frage der Therapeutin, wer sonst noch<br />
zum sozialen System gehöre, stellte sich heraus,<br />
dass Ehemann <strong>und</strong> jüngerer Sohn<br />
ebenfalls flüchten konnten <strong>und</strong> mit Frau S.<br />
zusammen in einer kleinen Wohnung in<br />
dieser Stadt wohnten, wo bereits seit mehreren<br />
Jahrzehnten Geschwister mit ihren<br />
Familien gut integriert lebten. Die deutsche<br />
Sprache wurde von den Familienmitgliedern<br />
unterschiedlich gut beherrscht. Der<br />
Sohn besuchte eine Berufsschule <strong>und</strong><br />
sprach gut Deutsch. Die Patientin selbst<br />
<strong>und</strong> ihr Ehemann sprachen nur bosnisch.<br />
Zum Erstgespräch wurden neben dem Ehepaar<br />
Sarijevic der jüngere Sohn, die Geschwister<br />
<strong>und</strong> die unterstützende Sozialarbeiterin<br />
eingeladen. Eine muttersprachliche<br />
Dolmetscherin wurde von Anfang an auf<br />
der Seite des therapeutischen Teams in die<br />
<strong>Therapie</strong> eingeb<strong>und</strong>en. Das <strong>Therapie</strong>team<br />
bestehend aus einem männlichen <strong>und</strong> einer<br />
weiblichen TherapeutIn <strong>und</strong> einem männlichen<br />
<strong>und</strong> einer weiblichen BeobachterIn<br />
wurde allen Beteiligten als für die Dauer<br />
der <strong>Therapie</strong> konstant vorgestellt. «<br />
Thema der ersten Gespräche ist die therapeutische<br />
Ziel- <strong>und</strong> Auftragsklärung, da<br />
davon auszugehen ist, dass Klienten aus<br />
anderen Kulturen eine andere Vorstellung<br />
von Sinn <strong>und</strong> Nutzen einer Psychotherapie<br />
haben als eine deutsche Mittelschichtfamilie.<br />
Für Therapeutinnen gilt es eine Balance zu<br />
finden, sich anrühren zu lassen von dem<br />
Schrecken <strong>und</strong> Entsetzen über das Erlebte<br />
<strong>und</strong> zugleich sich davon nicht vereinnahmen<br />
zu lassen. Therapeuten, die selbst<br />
starr vor Schreck <strong>und</strong> Mitleid sind, bestätigen<br />
eher das Credo, dass es keine Heilung<br />
geben kann. Es gilt sich anzukoppeln<br />
an einen mehr oder weniger starken Mitteilungsdruck<br />
über schicksalhafte Erlebnisse<br />
<strong>und</strong> Beschwerden. Anstatt sich ausführlich<br />
die Bilder, von denen die Menschen<br />
gequält werden, im Einzelnen an-<br />
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PID 4/2010 · 11. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1265906 Migration