Biomechanische Grundlagen sportlicher ... - Spitta
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Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
69<br />
5 Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
Aus mechanischer Betrachtungsweise kann<br />
der menschliche Bewegungsapparat in zwei<br />
große Komplexe gegliedert werden: den passiven<br />
und den aktiven Teil. 1 Als passiv werden<br />
alle Bausteine gewertet, die eine Stütz-,<br />
Bewegungs- und/oder Kraftübertragungsfunktion<br />
haben. Der aktive Teil wird ausschließlich<br />
durch die Bewegung erzeugenden<br />
Muskeln gebildet. In dieser Betrachtung werden<br />
die inneren Organe, das Herz-Kreislauf-<br />
Teilsystem<br />
Funktion<br />
Mechanische<br />
Eigenschaften<br />
Knochen Stützelemente druck-, zug-, biege- und<br />
scherfest<br />
Faserknorpel Stützelemente druckfest, elastisch,<br />
stoßdämpfend<br />
Material in der<br />
Technik<br />
Hartholz<br />
Hartgummi<br />
hyaliner Knorpel Gelenke minimale Reibung Kugellager<br />
Synovialflüssigkeit Schmierung minimale Reibung Öl<br />
Bänder Gelenkführung zugfest Seil<br />
Sehnen Kraftüberträger zugfest Seil<br />
Muskeln Motor kontraktil nicht bekannt<br />
Nervensystem<br />
Kontroll- und<br />
Steuerorgane<br />
Gefäßsystem Versorgung feine Vernetzung,<br />
Kapillarisierung<br />
Haut Schutz zugfest Leder<br />
Tab. 5.1: Teilsysteme des Menschen, ihre Funktion und mechanischen Eigenschaften<br />
Regelsysteme,<br />
Computer<br />
nur in lebenden<br />
Systemen<br />
1 Donskoi (1975) unterscheidet aktive (der ganze Körper, der Bewegungsapparat) und passive (innere Organe, weiche<br />
und flüssige Gewebe) Systeme.
70 Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
System sowie das Nervensystem ausgeblendet,<br />
obwohl sie durchaus eine wesentliche<br />
Bedeutung für Bewegungen haben.<br />
Donskoi (1975, S. 32) schreibt dem Bewegungsapparat<br />
nachfolgende Funktionen zu:<br />
• Energieursprung<br />
• Mechanismus der Übertragung von<br />
Kräften<br />
• Bewegungsobjekt<br />
• Steuerungssystem<br />
5.1 Passiver Bewegungsapparat<br />
Zum passiven Bewegungsapparat zählen das<br />
axiale Knochensystem, das Knorpelgewebe,<br />
Sehnen und Bänder. In der anatomischen<br />
Verbindung bilden sie die kinematischen Ketten,<br />
die unter Wirkung der Muskulatur statische<br />
(Halte-) und dynamische (Bewegungs-)<br />
Funktionen zu erfüllen haben. Auf diese<br />
Systeme wirken zum einen von außen und<br />
zum anderen von innen, von den Muskeln<br />
selbst, Belastungen, die entsprechende Beanspruchungen<br />
hervorrufen. Unter dem Aspekt<br />
der Bewegung bilden die langen Röhrenknochen<br />
mit ihren gelenkigen Verbindungen<br />
Hebelsysteme, die die Muskelzugkraft übertragen.<br />
5.1.1 Axiales Knochenskelett<br />
Um ihre Aufgabe als Stütz-, Halte- und Bewegungssystem<br />
zu erfüllen, sind die Knochen<br />
aus zwei Bausteinen zusammengesetzt, die<br />
scheinbar gegensätzliche mechanische Eigenschaften<br />
repräsentieren. Die anorganischen<br />
Bestandteile (etwa 56 % sind Salze) geben<br />
den Knochen seine große Festigkeit und<br />
Härte, die organischen Anteile (etwa 27 %)<br />
seine Elastizität.<br />
Knochen besitzen die gleiche Elastizität wie<br />
Eichenholz (130.000 kg/cm 2 ), dieselbe Zugfestigkeit<br />
wie Kupfer oder Duraluminium<br />
(1.700 kg/cm 2 ), ihre Druckfestigkeit ist mit<br />
1.500 kg/cm 2 größer als die des Baumaterials<br />
unserer höchsten Dome, Sand- bzw. Kalkstein,<br />
und ihre statische Biegefestigkeit entspricht<br />
sogar der des besten Flussstahls (1.800<br />
kg/cm 2 ).Trotz dieser hohen Werte für die verschiedenen<br />
mechanischen Eigenschaften<br />
können deutlich geringere Werte bei ungünstigen<br />
Belastungsrichtungen bzw. in Kombinationen<br />
zur Zerstörung der Knochen führen.<br />
Knochenmineralgehalt<br />
Menopause<br />
100%<br />
Altersatrophie (alterüblich)<br />
50%<br />
postklimakterische<br />
Osteoporose (pathologisch)<br />
20 30 40 50 60 70 80 Lebensjahre<br />
Abb. 5.1:<br />
Der Knochenmineralgehalt<br />
im Altersgang<br />
(nach Weineck<br />
1994a)
Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
71<br />
Abb. 5.2:<br />
Richtungsänderung<br />
beim alpinen Skifahren<br />
und typischer<br />
Spiralbruch der Tibia<br />
Die Abbildung 5.2 zeigt eine typische Verletzung<br />
beim Skifahren, wenn bei einem<br />
Schwung die Ski in eine Schneewehe rutschen.<br />
Es entstehen Biege- und Torsionsbelastungen,<br />
die zu einem Spiralbruch des<br />
Schienbeins (Tibia) führen können.<br />
Entsprechend der Lage und der Funktion der<br />
Knochen variiert die Zusammensetzung der<br />
organischen und anorganischen Bestandteile.<br />
Grob lassen sich zwei Typen bilden: die<br />
platten Knochen und die Röhrenknochen. 2<br />
Aus mechanischer Sicht haben die platten<br />
Knochen vor allem Schutz-, Halte- und Tragefunktion.<br />
Typisches Beispiel dafür ist das<br />
Becken. Es schützt die Eingeweide, trägt den<br />
Torso mit Kopf,Wirbelsäule,Armen usw. und<br />
bietet große Flächen für Muskelansätze (u.a.<br />
für den Musculus gluteus maximus, den<br />
Gesäßmuskel) (Abb. 5.3).<br />
Dieser Knochen hat eine hohe Dichte mit<br />
einer festen kompakten Struktur (hoher<br />
Anteil an Salzen), um den statischen Kraftwirkungen<br />
zu widerstehen.<br />
Von den 206 bis 212 Knochen des Skelettsystems<br />
des Menschen sind etwa 180 direkt an<br />
Bewegungen beteiligt. Dabei sind besonders<br />
2 Daneben werden noch kurze (z.B. Fingerknochen) und<br />
unregelmäßige (z.B. Wirbelkörper) Knochen unterschieden.<br />
Sitzbein<br />
Kreuzbein<br />
Abb. 5.3: Das Becken<br />
Darmbein<br />
die Röhrenknochen für die Kraftübertragung<br />
und als Bewegungsorgane tätig. Für diese<br />
Funktion sollten sie nicht zu träge sein, also<br />
nur eine geringe Masse besitzen, und dabei<br />
doch fest und elastisch sein. Diese Anforderungen<br />
werden durch ihren Aufbau und ihre<br />
Zusammensetzung erfüllt. Der Röhrenaufbau<br />
garantiert eine geringe Dichte (geringe<br />
Trägheit) und die Konstruktion der Knochenbälkchen<br />
(Spongiosa), verbunden mit höheren<br />
Anteilen organischer Substanzen, ist die<br />
Grundlage für die Festigkeit und die Elastizität.<br />
Knochen sind entwicklungsgeschichtlich (phylogenetisch)<br />
durch Anpassung optimierte<br />
Gebilde. Das äußert sich in einem optimalen
72 Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
Oberschenkelbein<br />
Wadenbein<br />
Kniescheibe<br />
Schienbein<br />
Abb.5.4: Knochen der unteren Extremität<br />
Verhältnis der Masse zu ihrer Festigkeit<br />
(siehe Abb. 5.5:Trajektorien der Röhrenknochen).<br />
Kräften gegenüber sind sie bis zu<br />
einem bestimmten altersabhängigen und individuell<br />
variierenden Grenzbereich widerstandsfähig.<br />
Der aktuelle Bereich der Widerstandsfähigkeit<br />
ist ontogenetisch geprägt.<br />
Schon am Ende des 19. Jahrhunderts haben<br />
u.a. Meyer und Culmann, Wolff sowie Roux<br />
auf das Bauprizip der Spongiosa entsprechend<br />
der Beanspruchung und auf die funktionelle<br />
Anpassung der Knochen hingewiesen.<br />
Pauwels (1965) konnte nachweisen, dass sich<br />
die Spongiosastruktur entsprechend den<br />
Spannungslinien ausrichtet und dass sich<br />
ebenfalls die Dicke der Kortikalis bzw. Kompakte<br />
anpasst. Die Belastbarkeit der Knochen<br />
erweitert sich mit zunehmendem Alter<br />
bis zu einem Maximalwert und nimmt danach<br />
durch chemische und hormonelle Prozesse<br />
bedingt wieder ab. Individuell und durch<br />
aktuelle Anpassungen (u.a. Sport, Krankheiten)<br />
können Schwankungen auftreten. Ganz<br />
allgemein reagieret ein Knochen auf optimale<br />
Trainingsreize durch Dickenzunahme,Verbreiterung<br />
seines Schaftes (Diaphyse) sowie<br />
Verdickung seiner inneren Bälkchenstruktur<br />
(Spongiosa).<br />
In Abbildung 5.6 sind zwei Beispiele für die<br />
Adaptation des Knochengewebes an Belastungen<br />
dargestellt. Im Fall der Unterschenkelknochen<br />
weisen das Schienbein wie auch<br />
das Wadenbein des trainierten Sportlers einen<br />
größeren Querschnitt auf. Die schematische<br />
Wirbelsäule auf der rechten Seite stellt einen<br />
Entwicklungsprozess eines Athleten dar, der<br />
Abb. 5.5:<br />
Schematische<br />
Darstellung der<br />
dreidimensionalen<br />
Anordnung der<br />
belastungstragenden<br />
Spongiosastruktur<br />
(Trajektorien) am<br />
Beispiel des<br />
Femurkopfes
Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
73<br />
beim Untrainierten<br />
durch<br />
langjähriges<br />
Training<br />
Kortikalisdicke<br />
beim Untrainierten<br />
Kortikalisdicke<br />
beim langjährig<br />
trainierten Sportler<br />
▲<br />
▲<br />
▲<br />
▲<br />
Abb. 5.6:<br />
Adaptation der Unterschenkelknochen<br />
und der Wirbelsäule<br />
an sportliche Belastungen<br />
Abb. 5.7:<br />
Schematische Darstellung<br />
von mechanischen<br />
Belastungen<br />
unbelastet<br />
Traktion<br />
(Zug)<br />
Kompression<br />
(Druck)<br />
Kraft<br />
Biegung<br />
Torsion<br />
(Windung)<br />
sehr viel mit Hanteln trainierte. Die Wirbelkörper<br />
wurden dadurch breiter, aber<br />
gleichzeitig wurden sie auch gestaucht. Eine<br />
größere Querschnittsfläche kann höhere<br />
Druckkräfte kompensieren. Die Stauchung<br />
kann jedoch im Alter ein Problem darstellen,<br />
wenn die Muskulatur schwächer wird und die<br />
Wirbelsäule nicht mehr optimal stützen kann.<br />
Für einen normalen Bau sowie für die<br />
Gesunderhaltung des axialen Skeletts sind<br />
Druck- und Zugbelastungen ausschlaggebend.<br />
Das Überschreiten der aktuellen<br />
Grenzwerte der Widerstandsfähigkeit führt<br />
spontan oder prozesshaft zu Schädigungen<br />
des Knochens (Abb. 5.7).<br />
Die verschiedenen Kraftwirkungen ergeben
74 Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates<br />
folgende mechanische Belastungsmöglichkeiten:<br />
• Zugbelastungen<br />
• Druckbelastungen<br />
• Biegebelastungen<br />
• Torsionsbelastungen<br />
Diese Belastungen treten vorwiegend in<br />
gemischter Form auf und wirken auf den<br />
Bewegungsapparat in seiner Gesamtheit<br />
(Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder, Muskeln).<br />
Sie gehen mit elastischen Deformationen<br />
der in die Belastung einbezogenen Systeme<br />
einher.<br />
Knochen als Hebel<br />
Bewegungen des Menschen werden durch die<br />
Extremitäten (Beine,Arme) realisiert, wobei<br />
die Röhrenknochen als mechanische Hebel<br />
wirken. Ihre grundlegenden mechanischen<br />
Eigenschaften, Festigkeit und Länge, sind die<br />
Voraussetzung zur Übertragung von Kräften<br />
(F) über Hebel (l), d.h. zur Bildung von Kraftmomenten<br />
(M), konkret von Muskelkraftmomenten.<br />
M M<br />
= F · l · sin(F; l)<br />
(Nm)<br />
Die langen Röhrenknochen der Extremitäten<br />
bilden durch ihre Verbindungen, die<br />
Gelenke, Hebelsysteme. Je nachdem, auf welcher<br />
Seite der Drehachse innere oder äußere<br />
Kräfte angreifen, entstehen einarmige oder<br />
zweiarmige Hebel (Abb. 5.8 und 5.9).<br />
Aus den Zeichnungen in Abbildung 5.8 ist<br />
ersichtlich, dass der Kraftarm (Ansatz der<br />
Muskelsehne bis Gelenkdrehpunkt) im Verhältnis<br />
zum Lastarm relativ klein ist.<br />
Daraus kann die Aussage getroffen werden,<br />
dass das menschliche Bewegungssystem<br />
mit Kraftverlust, aber mit Weggewinn<br />
arbeitet.<br />
Am menschlichen Skelettsystem wirkt das<br />
klassische Hebelgesetz, die »goldene Regel<br />
der Mechanik«:<br />
F M · K a<br />
= L · L a<br />
Abb. 5.8:<br />
Einarmiges Hebelsystem<br />
am Beispiel<br />
des Ellenbogengelenkes