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«Gott ist gut. Amen.» - Ethos

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<strong>«Gott</strong> <strong>ist</strong> <strong>gut</strong>. <strong>Amen</strong>.<strong>»</strong><br />

Teil 2<br />

Johannes Olschewski <strong>ist</strong> 74, er kann weder sehen noch hören.<br />

Der erste Teil seiner ungewöhnlichen Lebensgeschichte<br />

handelte von der Flucht seiner Familie aus Ostpreussen und<br />

wie diese den Vater auf wunderbare Weise wiederfand.<br />

Damals ahnte noch niemand, dass der gehörlose Junge einst<br />

auch noch erblinden würde ...<br />

Bild oben links: Mit dem Pferdefuhrwerk<br />

auf der Flucht vor sowjetischen Truppen.<br />

Bild oben rechts: Eine Flüchtlingsfamilie<br />

aus dem Osten findet in Bayern eine<br />

neue Heimat.<br />

So gross die Freude der Wiedervereinigung<br />

war – jetzt hiess es, sich neu zu<br />

organisieren. Sobald wie möglich suchte<br />

der Vater eine andere Stelle und eine<br />

Wohnung. Die Kinder sollten wieder zur<br />

Schule gehen. Johannes war nun elf Jahre<br />

alt, hatte auf der Flucht und in der Kriegsgefangenschaft<br />

unendlich viel Not gesehen,<br />

Leid durchgemacht, Entbehrungen<br />

erduldet. Zwei Jahre hatte er keine Schule<br />

besucht, und so trat er mit gemischten<br />

Gefühlen in das Internat für Gehörlose<br />

ein, welches die Eltern für ihn und seinen<br />

Bruder gefunden hatten.<br />

Das Institut wurde von strengen, katholischen<br />

Nonnen geführt, welche die<br />

Kinder auch zum Gebet anhielten. Allerdings<br />

stellte Johannes einen Unterschied<br />

fest: Hier betete man zu Maria, während<br />

Vater sich doch an Jesus wandte. Er erzählt:<br />

«Ich war verwirrt, und eines Tages<br />

bat ich eine Nonne um eine Erklärung.<br />

Da mir ihre Antwort keine Klarheit<br />

brachte, zog ich mich innerlich zurück<br />

und machte fortan nur noch äusserlich<br />

mit. Ich verstand das alles nicht ...<strong>»</strong><br />

Nach seiner Schulentlassung kam Johannes<br />

nach Winnenden, wo er eine Ausbildung<br />

als Schneider absolvierte. Damals<br />

gab es für Gehörlose nur wenige Berufsmöglichkeiten,<br />

ein Studium war ausgeschlossen.<br />

Sein Vater hatte Arbeit in<br />

Memmingen bekommen. Er wurde Lektor<br />

in der Kirche, Prediger in der Landeskirchlichen<br />

Gemeinschaft und war Leiter<br />

des Blaukreuzvereins.<br />

54 ethos 10 I 2008


Und Gott?<br />

Nach seiner Ausbildung arbeitete Johannes<br />

als Massschneider und kehrte in die elterliche<br />

Wohnung zurück. «Ich war mit dem<br />

Leben sehr unzufrieden. Ich sehnte mich<br />

nach einem sinnerfüllten und glücklichen<br />

Leben, fand es aber nicht<strong>»</strong>, berichtet er.<br />

Viele Jahre habe er in Vereinen, Kneipen,<br />

beim Kartenspiel und ähnlichem danach<br />

gesucht – vergeblich: «Ich war oft traurig,<br />

einsam und frustriert.<strong>»</strong><br />

Sein Vater versuchte ihm zu helfen, indem<br />

er täglich aus dem Wort Gottes vorlas<br />

und seinen Sohn auch zu Bibelstunden<br />

mitnahm. Doch dort wurde viel zu<br />

schnell gesprochen, als dass Johannes es<br />

vom Mund hätte ablesen können. Auch<br />

einen Dolmetscher, der die Botschaft in<br />

die Gebärdensprache übersetzte, gab es<br />

nicht. Entsprechend verstand der junge<br />

Mann so <strong>gut</strong> wie nichts und empfand diese<br />

Zusammenkünfte als äusserst uninteressant.<br />

Er erzählt: «Wenn ich in der Bibel<br />

las, fand ich sie langweilig. Ich verstand<br />

sie nicht, und deshalb verstand ich auch<br />

die Liebe Gottes nicht.<strong>»</strong><br />

Jahre vergingen, bis sein Vater eines<br />

Tages von einer Bibelfreizeit für Gehörlose<br />

hörte und Johannes nahelegte, daran<br />

teilzunehmen. Widerwillig meldete<br />

sich der 28-Jährige an. Zu seiner grossen<br />

Überraschung entdeckte er unter<br />

den Anwesenden seinen alten Schulkameraden<br />

Dieter. Aber was war das? Der<br />

junge Mann war völlig verändert! Hatte<br />

er sich in früheren Zeiten nur für Krimis<br />

und Cowboy-Geschichten interessiert,<br />

sprach er jetzt völlig bege<strong>ist</strong>ert von<br />

der Bibel. Sein freundliches und hilfsbereites<br />

Wesen weckte Johannes’ Neugier.<br />

Was war der Auslöser für diese erstaunliche<br />

Veränderung? Wie kam es, dass er<br />

die Bibel so liebte?<br />

Dieter erklärte Johannes, dass Jesus<br />

am Kreuz auch für seine Sünden gestorben<br />

sei. «Wenn du deine Sünden bereust,<br />

bekennst und Ihm dein Leben übergibst,<br />

nimmt der Heilige Ge<strong>ist</strong> Wohnung in dir<br />

und bewirkt, dass auch du Gottes Wort<br />

verstehst und ganz persönlich anwenden<br />

kannst<strong>»</strong>, meinte er. Wie sehr wünschte<br />

sich Johannes ein neues Leben! ... und<br />

doch – er wusste, dass er sich dann von<br />

vielem, was ihm bisher wichtig war, trennen<br />

musste. Dieter hatte zu ihm gesagt:<br />

«Du kannst nicht zwei Herren dienen.<br />

Du kannst nicht die Welt und Jesus lieben.<br />

Du musst dich entscheiden!<strong>»</strong><br />

Wieder zu Hause musste Johannes unentwegt<br />

an Dieter und ihre Unterhaltung<br />

denken. Sollte er diesen Weg einschlagen<br />

– oder nicht? Er erzählt: «Der innere<br />

Kampf nahm zu. Ich wurde immer unruhiger<br />

und konnte nicht mehr einschlafen.<br />

Mein Vater betete für mich, doch ich blieb<br />

in dieser schrecklichen Not.<br />

Es war am 28. Oktober 1962, als ich tief<br />

unglücklich zu Bett ging und wieder keinen<br />

Schlaf fand. Ich wollte beten, aber ich<br />

wusste nicht wie. Schliesslich schrie ich<br />

von ganzem Herzen zu Gott: «Lieber Herr<br />

Jesus, schenke mir ein fröhliches Herz!<strong>»</strong><br />

Plötzlich strahlte das Licht Gottes in mein<br />

Leben hinein. In diesem Licht sah ich<br />

mein ganzes sündiges Leben. Ich weinte<br />

über meine Verfehlungen, ja, ich hasste<br />

sie. Im Ge<strong>ist</strong>e sah ich Jesus am Kreuz und<br />

mir wurde bewusst, dass Er auch wegen<br />

meiner Sünde am Kreuz sterben musste.<br />

Ich bat Gott um Vergebung ... worauf sein<br />

Friede in mein Herz strömte und es hell<br />

und froh machte.<br />

Am nächsten Morgen erzählte Johannes<br />

seinem Vater, wie Jesus ihm in<br />

der Nacht begegnet war. Er beichtete ihm<br />

manche verborgenen Sünden. Gemeinsam<br />

lasen sie in der Bibel und beteten ...<br />

Konsequent liess Johannes seinem<br />

Entschluss Taten folgen: Bücher und Zeitschriften,<br />

die zu seinem alten Leben gehörten,<br />

verbrannte er und fing sofort an,<br />

seiner Familie und seinen Arbeitskollegen<br />

von dieser wunderbaren Begegnung<br />

mit Gott zu erzählen. «Jesus hatte mich<br />

total verändert und mir ewiges Leben geschenkt<strong>»</strong>,<br />

berichtet er. «Darüber konnte<br />

ich nicht schweigen.<strong>»</strong><br />

Im Dienst für die Gehörlosen<br />

Was Dieter gesagt hatte, traf ein: Gott<br />

schenkte auch Johannes Verständnis<br />

und eine tiefe Liebe zur Bibel: «Nun erlebte<br />

ich immer wieder, dass das geschriebene<br />

Wort mich zu Jesus, dem lebendigen<br />

Wort, führte.<strong>»</strong> Die beiden Freunde fingen<br />

an, auch anderen Gehörlosen vom Heil<br />

in Chr<strong>ist</strong>us zu erzählen. Johannes: «Mein<br />

Zimmer wurde zum Mittelpunkt dieser<br />

Zusammenkünfte. Dieter erklärte ihnen<br />

das Wort, und ich erzählte aus meinem<br />

Leben mit dem Herrn.<strong>»</strong> Nach und nach<br />

nahmen viele dieser jungen Gehörlosen<br />

Jesus als ihren persönlichen Heiland an.<br />

Von seinen Eltern wusste Johannes,<br />

dass sich hörende Gläubige regelmässig<br />

trafen. Warum – so dachte er – nicht<br />

auch Gehörlose? «Auch wir brauchen regelmässige<br />

Bibelstunden und Gemeinschaft,<br />

um im Glauben zu wachsen.<strong>»</strong> Engagiert<br />

setzte er sich für dieses Ziel ein,<br />

und so durften im Verlaufe der nächsten<br />

Jahre viele Menschen mit dieser Behinderung<br />

zum Glauben an Chr<strong>ist</strong>us finden<br />

und durch die Zusammenkünfte gelehrt,<br />

ermutigt und gestärkt werden.<br />

Durch seine Tätigkeit entstanden auch<br />

Kontakte zu gläubigen Gehörlosen im<br />

Ausland. Mehrmals re<strong>ist</strong>e Johannes nach<br />

England und konnte viel von ihren Erfahrungen<br />

profitieren. Während einer dieser<br />

Konferenzen lernte er seine zukünftige<br />

Frau kennen. Die gebürtige Irin konnte<br />

ein bisschen Deutsch und arbeitete als<br />

Missionarin unter Gehörlosen. Strahlend<br />

meint Johannes: «Ihr Name <strong>ist</strong> Joy, was auf<br />

Deutsch Freude bedeutet! So schenkte der<br />

Herr mir doppelte Freude: Zuerst, indem<br />

ich ihn kennenlernen durfte – und dann,<br />

indem er mir meine Joy schenkte!<strong>»</strong><br />

Nach der Heirat engagierten sich die<br />

beiden weiter unter den Gehörlosen.<br />

Vielfältig war ihr Dienst und forderte sie<br />

ganz: Dolmetschen, Bibelstunden im Inund<br />

Ausland, Seelsorge, viermal jährlich<br />

eine Zeitschrift für Gehörlose herausgeben,<br />

Kontakte zu Missionaren im Ausland<br />

vermitteln und aufbauen und so weiter.<br />

Johannes beschreibt diese Zeit folgendermassen:<br />

«Es ging nicht ohne Kämpfe. Oft<br />

waren wir am Rande unserer Kräfte und<br />

wurden stets herausgefordert, alles Ihm<br />

als Opfer darzubringen ... um im Nachhinein<br />

zu erfahren, dass es im Vergleich<br />

zum Segen, den Er schenkte, gar kein Opfer<br />

war!<strong>»</strong><br />

BEHINDERUNG<br />

ethos 10 I 2008 55


Taubblind!<br />

Bereits mit 15 Jahren wusste Johannes<br />

nach ärztlichen Untersuchungen, dass er<br />

an der Erbkrankheit Retinitis Pigmentosa<br />

litt. Das bedeutete, dass zu seiner angeborenen<br />

Gehörlosigkeit auch noch Blindheit<br />

kommen konnte. Tatsächlich, mit 34<br />

Jahren stellte er fest, wie sich sein Sehfeld<br />

mehr und mehr einschränkte. Noch vor<br />

seiner Heirat musste er seine Arbeit aufgeben,<br />

was seinem Engagement unter den<br />

Gehörlosen aber keinen Abbruch tat.<br />

Um auch später mit seiner Umwelt in<br />

Kontakt bleiben zu können, lernte Johannes<br />

die Blindenschrift. Später übte<br />

seine Frau mit ihm das Lormen ein. Dieses<br />

spezielle Alphabet schreibt man auf die<br />

Handfläche eines Taubblinden, so dass er<br />

die Buchstaben über den Tastsinn wahrnimmt.<br />

Johannes meint: «Da ich nicht<br />

plötzlich erblindete, konnten wir langsam<br />

von einer Kommunikationsmethode<br />

auf die andere überwechseln. Es fiel mir<br />

nicht leicht, Stück für Stück meine Selbständigkeit<br />

aufzugeben. Aber der Herr<br />

führte uns, gab Gnade und sorgte immer<br />

für das, was wir nötig hatten.<strong>»</strong><br />

Seit 30 Jahren <strong>ist</strong> Johannes nun nicht<br />

nur gehörlos, sondern auch vollständig<br />

blind. Doch der eifrige Missionar lässt<br />

sich nicht bremsen. Durch verschiedene<br />

Umstände gab er zwar den Dienst unter<br />

den Gehörlosen in Deutschland auf. Dafür<br />

taten sich andere Aufgaben auf. Dazu<br />

gehörten auch solche im Ausland. «Sieben<br />

Mal waren wir in Indien<strong>»</strong>, berichtet<br />

Johannes. «In einer Werkstatt habe ich<br />

gehörlosen Mädchen Knüpfarbeiten beigebracht<br />

und wir hatten viele Möglichkeiten,<br />

ihnen das Evangelium bekannt<br />

zu machen. Durch Zeugnis, Bibelstunden,<br />

Predigtdienst und Gespräche durfte<br />

ich auch in chr<strong>ist</strong>lichen Gemeinden von<br />

der Liebe Jesu erzählen.<strong>»</strong> Praktisch bedeutete<br />

das, dass er in seinem für die<br />

me<strong>ist</strong>en schwer verständlichen Deutsch<br />

sprach und Joy alles auf Englisch übersetzte.<br />

Rückfragen lormte sie ihm in die<br />

Hand. Johannes strahlt, wenn er von Indien<br />

erzählt: «In diesem Land <strong>ist</strong> es einfach,<br />

mit Menschen ins Gespräch zu kommen,<br />

und meine Behinderung öffnete<br />

unzählige Türen! Auf einer langen Zugfahrt<br />

spielte ich beispielsweise mit einem<br />

Freund Schach. Im Nu versammelten sich<br />

eine Menge indischer Männer und Jungs<br />

um uns, so dass ich das Gefühl hatte, ich<br />

spiele gegen ganz Indien! Nach mehreren<br />

Partien wollten sie wissen, warum ich in<br />

Indien war – eine wunderbare Gelegenheit,<br />

ihnen von Jesus zu erzählen ...!<strong>»</strong><br />

Weitere Einladungen und Dienste in<br />

Japan, Korea, auf den Philippinen, in<br />

Thailand, Australien und Jordanien kamen<br />

hinzu. Auf den me<strong>ist</strong>en der Reisen<br />

wurde das Ehepaar Olschewski von jüngeren<br />

Geschw<strong>ist</strong>ern ihrer chr<strong>ist</strong>lichen<br />

Gemeinde begleitet, welche Joy in ihrem<br />

anstrengenden Dienst unterstützten, Johannes<br />

zu führen, zu lormen, zu übersetzen.<br />

Und heute? «Meine Kraft <strong>ist</strong> nicht<br />

mehr, wie sie war, und dadurch sind viele<br />

äusserliche Aktivitäten nicht mehr möglich<strong>»</strong>,<br />

meint Johannes. «Aber mein Leben<br />

<strong>ist</strong> noch immer reich gesegnet. Ich habe<br />

das Vorrecht, zusammen mit meiner Joy,<br />

manche Geschw<strong>ist</strong>er in ihrem Glaubensleben<br />

zu begleiten, Ratsuchenden beizustehen,<br />

Entmutigten neuen Mut zuzusprechen<br />

und für sie vor dem Herrn<br />

einzustehen. Ein gesegneter Ruhestand!<strong>»</strong><br />

Von Frust oder Langeweile keine Spur!<br />

Auf sein bewegtes Leben zurückschauend,<br />

fasst Johannes zusammen: «Ja, es gab viel<br />

Not, Schwierigkeiten und Bedrängnisse<br />

in meinem Leben. Aber der Herr hat mich<br />

hindurchgetragen, bewahrt und mich gerade<br />

dadurch abhängig von Ihm gemacht.<br />

Sein Wort <strong>ist</strong> und bleibt die Kraftquelle<br />

meines Lebens. Solange ich lebe, möchte<br />

ich dem Herrn folgen, gehorchen, in Seiner<br />

Erkenntnis wachsen – und wo immer<br />

möglich, anderen Menschen von Ihm erzählen!<strong>»</strong><br />

Carole Huber, nach Aufzeichnungen und<br />

Erklärungen von Johannes Olschewski<br />

In Indien lehrt der taubblinde Johannes gehörlosen Mädchen das<br />

Knüpfen, damit sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen können.<br />

Ob im In- oder Ausland – Johannes freut sich, mit Menschen Kontakt<br />

haben zu dürfen.<br />

56 ethos 10 I 2008


Wenn das kein reiches Leben <strong>ist</strong> ...!<br />

BEHINDERUNG<br />

CAROLE HUBER<br />

Wie macht man ein Interview mit einem Mann,<br />

der weder sehen noch hören kann? Diese Frage stellte<br />

ich mir, als ich mich auf den Besuch bei Johannes und<br />

Joy Olschewski vorbereitete. Im Vorfeld hatte mir Joy<br />

Johannes’ Aufzeichnungen seiner Lebensgeschichte<br />

zukommen lassen, weiter hatten mir Bekannte von<br />

diesem ungewöhnlichen Ehepaar erzählt. So war ich<br />

gespannt, die beiden persönlich kennenzulernen.<br />

Aber eben – wie? Joy würde lormen und übersetzen<br />

müssen. A propos lormen – dieses Alphabet faszinierte<br />

mich von Anfang an. Um Johannes grüssen zu können,<br />

lernte ich deshalb die Worte «Grüezi<strong>»</strong> und meinen<br />

Vornamen «Carole<strong>»</strong>.<br />

Damit sich die älteren Leute auf die Fragen<br />

vorbereiten konnten, beschloss ich, sie ihnen im<br />

Voraus zuzusenden.<br />

Es <strong>ist</strong> an einem Donnerstagmorgen,<br />

zehn Uhr vormittags, als ich die Klingel<br />

des Mehrfamilienhauses drücke. Herzlich<br />

heissen mich Joy und Johannes willkommen<br />

und bitten mich ins Wohnzimmer.<br />

Umständlich lorme ich nun mein Wort<br />

in Johannes’ Hand, was ihn offensichtlich<br />

freut – obwohl Joy zu meinem schweizerdeutschen<br />

Wort noch eine kurze Erklärung<br />

geben muss.<br />

Wir setzen uns auf die Polstergruppe,<br />

wobei das Ehepaar sich so setzt, dass Joy<br />

bequem Johannes’ Hand fassen kann.<br />

Als Erstes erkundige ich mich, wie es ihnen<br />

nach der Rückkehr aus der Kur geht.<br />

«Diesmal hat es nicht viel gebracht<strong>»</strong>, erklärt<br />

Joy. Sie leidet unter starken Verspannungen<br />

und Schmerzen in den Armen<br />

und Schultern, vermutlich ausgelöst<br />

durch die Überbeanspruchung durch das<br />

dauernde Führen, Lormen, Autofahren<br />

und die Schreibarbeiten am Computer.<br />

Da Johannes unser Gespräch nicht<br />

mitbekommt, unterbricht er uns mit der<br />

Frage, ob ich schon etwas zu trinken hätte.<br />

Dann will er wissen, welche Auflage unsere<br />

Zeitschrift hat, und interessiert sich<br />

für die Mitarbeiter, Themenspektrum<br />

und die Arbeitsweise auf unserer Redak-<br />

ethos 10 I 2008 57


tion. Interessiert und geduldig wartet er,<br />

bis Joy ihm die Antworten in die Hand<br />

gelormt hat.<br />

Ich verstehe Johannes nicht. Joy übersetzt<br />

und erklärt: «Ein von Geburt an Gehörloser<br />

konnte nie, wie es bei uns Hörenden<br />

der Fall <strong>ist</strong>, Sprache wahrnehmen<br />

und nachahmen. Er lernt reden, indem<br />

er sich bewusst macht, welche Stellung<br />

Zunge und Mund einnehmen müssen,<br />

damit die gewünschten Konsonanten und<br />

Vokale entstehen. Me<strong>ist</strong> haben Betroffene<br />

deshalb keine Ahnung, wie ihre Aussprache<br />

klingt, und für Menschen, die selten<br />

mit ihnen zu tun haben, tönt es sehr<br />

fremd ...<strong>»</strong><br />

Wieder unterbricht Johannes und<br />

fragt, ob sie mir schon mitgeteilt habe,<br />

wie sie vorgehen wollten. Joy tätschelt<br />

seine Hand, was offensichtlich Bestätigung<br />

bedeutet. Zu mir gewandt erklärt<br />

sie: «Da Lormen anstrengend <strong>ist</strong> und äusserste<br />

Konzentration abverlangt, haben<br />

wir uns im Vornherein mit deinen Fragen<br />

Wenn Sehen und Hören<br />

eingeschränkt sind<br />

95 % von dem, was wir über uns selbst<br />

und von der Welt lernen, erfahren wir<br />

über unser Sehen und Hören. Menschen,<br />

denen diese beiden «D<strong>ist</strong>anzsinne<strong>»</strong> fehlen,<br />

sind in drei Bereichen besonders eingeschränkt:<br />

• in ihrer Kommunikation (Was will der<br />

andere mir sagen? Wie teile ich mich<br />

mit?)<br />

• in ihrem Zugang zu Information (Was<br />

geschieht um mich herum? Was geschieht<br />

auf der Welt?)<br />

• in ihrer Mobilität (Wie finde ich mich<br />

in meiner Umgebung zurecht? Wie gelange<br />

ich von einem Ort zum anderen?)<br />

auseinandergesetzt. Wenn es dir recht <strong>ist</strong>,<br />

werde ich dir nun alleine mitteilen, was<br />

Johannes dazu gemeint hat. Im Anschluss<br />

können wir anfallende Fragen noch mit<br />

ihm besprechen.<strong>»</strong> Ich bin einverstanden,<br />

und so verlässt Johannes den Raum.<br />

Mit Joy bespreche ich nun verschiedene<br />

Aspekte zu Johannes’ Lebensgeschichte.<br />

Zusammenfassend sagt sie: «Es<br />

<strong>ist</strong> wirklich ein Wunder, dass Olschewskis<br />

zusammengehalten und bewahrt wurden.<br />

So viele Kinder sind verschollen in jener<br />

Zeit, unzählige Familien wurden auseinandergerissen.<br />

Es <strong>ist</strong> alles andere als<br />

selbstverständlich, dass dieser Mutter mit<br />

den fünf Kindern – drei davon gehörlos<br />

und wahrscheinlich damals schon nachtblind<br />

– die Flucht gelang.<strong>»</strong><br />

Bügeln, spülen, putzen<br />

Nun unterhalten wir uns über Johannes.<br />

Mir <strong>ist</strong> aufgefallen, wie sicher er sich in<br />

der Wohnung bewegt. Nichts <strong>ist</strong> von Zögern<br />

oder Unsicherheit zu spüren. Vielmehr<br />

scheint er genau zu wissen, was wo<br />

steht und versorgt <strong>ist</strong>. Das stimme, erklärt<br />

Joy, erfordere aber natürlich, dass sie in<br />

ihrem Haushalt eine strikte Ordnung einhalten.<br />

«Nur so kann er Gegenstände finden<br />

und wieder wegräumen.<strong>»</strong> Auch wenn<br />

er in sein Büro im Erdgeschoss oder in<br />

den Keller gehe, sei er sehr schnell unterwegs.<br />

«Sobald die Nachbarn ihn hören,<br />

stehen sie schon mal zur Seite, um einen<br />

Zusammenstoss zu verhindern, wenn Johannes<br />

ihnen entgegeneilt ...<strong>»</strong><br />

Überhaupt erledige Johannes vieles<br />

im Haushalt. Auf meinen fragenden<br />

Blick fordert Joy mich auf: «Komm, sieh<br />

selbst!<strong>»</strong> Wir begeben uns zum Schlafzimmer,<br />

und ich traue meinen Augen nicht!<br />

Da steht Johannes und <strong>ist</strong> gerade dabei,<br />

ein paar Bügelfaltehosen perfekt zu glätten.<br />

Auf dem Bett im Hintergrund liegt<br />

bereits ein Stoss fein säuberlich gebügelte<br />

Wäsche. «Er bügelt alles<strong>»</strong>, erklärt Joy,<br />

auch Hemden und meine Röcke. Als sie<br />

nun sagt, er übernehme auch das Fensterputzen,<br />

Staubsaugen, Spülen und die Küche<br />

und den Balkon in Ordnung halten,<br />

wundert dies kein bisschen ...<br />

Unglaublich, was der taubblinde<br />

Johannes alles schafft!<br />

58 ethos 10 I 2008


Lormen –<br />

das Handalphabet<br />

für Taubblinde<br />

A Punkt auf die Daumenspitze<br />

E Punkt auf die Zeigefingerspitze<br />

I Punkt auf die Mittelfingerspitze<br />

O Punkt auf die Ringfingerspitze<br />

U Punkt auf die Kleinfingerspitze<br />

Ä zwei Punkte auf die Daumenspitze<br />

Ö zwei Punkte auf die Ringfingerspitze<br />

Ü zwei Punkte auf die Kleinfingerspitze<br />

J zwei Punkte auf die Mittelfingerspitze<br />

T kurzer Abstrich auf der Mitte des Daumens<br />

B kurzer Abstrich auf der Mitte des Zeigefingers<br />

D kurzer Abstrich auf der Mitte des Mittelfingers<br />

G kurzer Abstrich auf der Mitte des Ringfingers<br />

H kurzer Abstrich auf der Mitte des Kleinfingers<br />

L langer Abstrich von der Mittelfingerspitze zum Handgelenk<br />

ST langer Aufstrich an der Aussenseite des Daumens<br />

P langer Aufstrich an der Aussenseite des Zeigefingers<br />

Q langer Aufstrich am Aussenrand der Hand (Kleinfingerseite)<br />

X Querstrich über das Handgelenk<br />

Y Querstrich über die Finger in der Mitte<br />

Z Schrägstrich vom Daumenballen zur Kleinfingerwurzel<br />

M Punkt auf die Kleinfingerwurzel<br />

N Punkt auf die Zeigefingerwurzel<br />

V Punkt auf den Daumenballen, etwas von aussen<br />

W zwei Punkte auf den Daumenballen, etwas von aussen<br />

C Punkt auf das Handgelenk<br />

K Punkt mit vier Fingerspitzen auf den Handteller<br />

R leichtes Trommeln der Finger auf den Handteller<br />

S Kreis auf den Handteller<br />

CH schräges Kreuz auf den Handteller<br />

F leichtes Zusammendrücken der Zeige- und Mittelfinger<br />

SCH leichtes Zusammendrücken der vier langen Finger<br />

1 2 3 ... Zahlen werden in der uns bekannten Form in die Hand geschrieben<br />

BEHINDERUNG<br />

Lesen, lernen, studieren<br />

«Möchtest du Johannes’ Büro sehen?<strong>»</strong>,<br />

fragt Joy. Natürlich will ich! Sie lormt es<br />

ihm in die Hand und schon eilt er voraus,<br />

um die Tür aufzuschliessen. In «seinem<br />

Reich<strong>»</strong> gibt es einen Tisch mit einer<br />

Blindenschreibmaschine, Regale mit Büchern<br />

und Ordnern, einen Hometrainer,<br />

vor dem Fenster hängt ein perfekt selbst<br />

entworfenes, geknüpftes Kunstwerk. Auf<br />

einer Reliefkarte führe ich seine Hand an<br />

die Ortschaft, wo ich zu Hause bin. «Säntis!<strong>»</strong><br />

meint er, und bewe<strong>ist</strong> damit, dass er<br />

die Ostschweiz erkannt hat und sogar den<br />

höchsten Berg dieser Gegend kennt. Alles,<br />

was er mir nun zeigt, zeugt von seinem<br />

grossen Wissen, breitem Interesse<br />

und wachem Ge<strong>ist</strong>: Die Bibelbände in<br />

Blindenschrift (falls das elektronische Gerät<br />

einmal aussteigt, kann er darauf zurückgreifen),<br />

die Wörterbücher in hebräischer<br />

Blindenschrift (mit 48 Jahren hat er<br />

noch Hebräisch gelernt, um die Psalmen<br />

in der ursprünglichen Sprache zu lesen),<br />

die äusserst sorgfältig ausgeführte Knüpfarbeit<br />

und die vielen Souvenirs und Geschenke,<br />

die er von seinen Reisen mit<br />

nach Hause brachte.<br />

Inzwischen <strong>ist</strong> es Zeit zum Mittagessen,<br />

zu dem ich ebenfalls eingeladen bin.<br />

Natascha, die dem Ehepaar an diesem besonderen<br />

Tag hilft, hat schon alles bereitgestellt.<br />

Es gibt Reis, mit Schinken umwickelte<br />

Currybananen und Salat. Johannes<br />

betet und konzentriert sich dann ganz<br />

aufs Essen. «Er möchte sich während des<br />

Essens nicht unterhalten<strong>»</strong>, erklärt Joy. Es<br />

erfordere nämlich seine ganze Aufmerksamkeit,<br />

nachzuvollziehen, was wo auf<br />

dem Teller liege. Für Aussenstehende<br />

kann es so wirken, als ob Joy ihn beim<br />

Essen nicht ins Gespräch miteinbeziehen<br />

wolle. Das stimmt aber natürlich nicht.<br />

Unvermittelt meint Joy: «Er führt ein so<br />

reiches Leben ... auch wenn er behindert<br />

<strong>ist</strong>! Wenn man bedenkt, wie oft nach pränatalen<br />

Untersuchungen Abtreibungen<br />

vorgenommen werden, weil angeblich<br />

Behinderungen festgestellt worden sind<br />

...! Es <strong>ist</strong> eine masslose Unterstellung, zu<br />

behaupten, für solche Menschen lohne<br />

sich das Leben nicht!<strong>»</strong> Inzwischen haben<br />

wir die Mahlzeit beendet. Johannes<br />

hat geschickt mit dem Besteck gegessen,<br />

nur die letzten Reiskörner schiebt er mit<br />

dem Finger auf die Gabel. Nun beteiligt<br />

auch er sich wieder am Gespräch. Wir beschliessen,<br />

dass er und Natascha das Geschirr<br />

spülen, während Joy und ich die<br />

restlichen Fragen behandeln.<br />

Gelebter Glaube<br />

«Wie <strong>ist</strong> es für dich, mit einem so aktiven,<br />

vielseitigen Mann verheiratet zu<br />

sein?<strong>»</strong>, will ich von ihr wissen. Joy denkt<br />

nach: «Es <strong>ist</strong> ein grosses Vorrecht, es hat<br />

mein Leben sehr bereichert<strong>»</strong>, meint sie.<br />

Auf die Frage, was sie an Johannes besonders<br />

schätze, erklärt sie: «Seine Liebe zum<br />

Herrn und zu seinem Wort, seine Liebe<br />

zu den Mitmenschen. Dann auch seine<br />

Geduld, und dass er in allem mit Gott<br />

rechnet. Was auch geschieht – in jeder Situation<br />

versucht er, etwas Positives zu sehen.<strong>»</strong><br />

ethos 10 I 2008 59


Spezielle Momente –<br />

Reiseerinnerungen<br />

å<br />

ç<br />

é<br />

ë<br />

è<br />

ê<br />

í<br />

60 ethos 10 I 2008


Natürlich gibt es in einer solch ungewöhnlichen<br />

Lebenssituation auch<br />

Schwierigkeiten. Joy erklärt: «Wir können<br />

uns nicht so einfach ‹nebenbei› bei den<br />

Mahlzeiten oder beim Autofahren unterhalten.<br />

Das Lormen braucht viel Konzentration<br />

und mit dem Älterwerden merken<br />

wir, dass unsere Kraft auch in dieser Hinå<br />

Papayas ernten auf einer Missionsstation<br />

in Süd-Indien. Dort hat Johannes gehörlose<br />

Mädchen in Handarbeit unterrichtet und<br />

ihnen mit Joy täglich vom Herrn erzählt.<br />

ç Mit gehörlosen Mädchen macht Johannes,<br />

Spiele zu biblischen Themen.<br />

é In Australien beim Kennenlernen des<br />

typischen Nationaltieres.<br />

è Das indische Mädchen Nesaleela <strong>ist</strong> ge<strong>ist</strong>ig<br />

und körperlich behindert. Es wurde kurz zuvor<br />

zur Missionsstation gebracht ... vorher sass<br />

es täglich vor einem Hindu-Tempel, um zu<br />

betteln.<br />

ê Nach einer Konferenz für Gehörlose in<br />

Thailand auf einem Ausflug zu einem<br />

Elefanten-Camp. Dort meldete sich Johannes<br />

als Erster zu einer «Elefantenmassage<strong>»</strong>.<br />

Normalerweise liegt man dazu auf dem<br />

Bauch. Er aber wollte auf dem Rücken liegen,<br />

um die Haut des Elefants zu tasten!<br />

ë In einer Werkstatt in Hebron, Israel, lernt<br />

Johannes die Arbeit eines Töpfers kennen.<br />

í Nach einer Bibelstunde mit Medizinstudenten<br />

in the Chr<strong>ist</strong>ian Medical College,<br />

Vellore, Süd-Indien. Die junge Studentin<br />

(im grünen Kleid) sagte zu ihm, dass sie<br />

eben das erste Mal in ihrem Leben von<br />

einem Gott der Liebe gehört hat.<br />

Sie erinnert sich an eine Begebenheit<br />

in Indien, wo durch Fahrlässigkeit sein<br />

Rucksack mit vielen wichtigen Büchern<br />

und Unterlagen in Blindenschrift verloren<br />

gegangen waren. Ein riesiger Verlust!<br />

Als sie es ihm sagte, rastete er aber nicht<br />

aus. Vielmehr erinnerte er sich an das Bibelwort,<br />

das er an jenem Morgen gelesen<br />

hatte: «Wer aber mir gehorcht ... wird kein<br />

Unheil fürchten müssen<strong>»</strong> (Spr. 1,33b).<br />

Dann betete er und vertraute darauf, dass<br />

Gott eine Lösung schenken würde ... was<br />

dann auch tatsächlich geschah!<br />

«Ich schätze so viel an ihm!<strong>»</strong>, überlegt<br />

Joy laut. «Er <strong>ist</strong> mein Held, ich habe grossen<br />

Respekt vor ihm. Bestimmt wäre ich<br />

oft entmutigt, frustriert oder enttäuscht<br />

gewesen, hätte er mir in schwierigen Situationen<br />

nicht mit seiner vorbildlichen<br />

Haltung geholfen.<strong>»</strong> Sie denkt nach und<br />

fügt hinzu: «Man denkt hier oft falsch, das<br />

erleben wir auch bei den Menschen, die<br />

wir seelsorgerlich begleiten: Im Grunde<br />

will man einfach die Nöte und Probleme<br />

weg haben. Gott aber will me<strong>ist</strong> nicht die<br />

Umstände verändern, sondern uns!<strong>»</strong><br />

«Welche Probleme begegnen euch in<br />

diesem Dienst am häufigsten?<strong>»</strong>, erkundige<br />

ich mich. «Die Probleme sind meiner<br />

Erfahrung nach so komplex und<br />

verschieden wie die Menschen selbst<strong>»</strong>, erklärt<br />

Joy. Zunehmend stelle sie aber fest,<br />

wie die heutige jüngere Generation unter<br />

zu vielen Informationen, zu vielen Angeboten,<br />

zu vielen Terminen, zu vielen Aktivitäten<br />

leide. «Mitten in diesen Lebensanforderungen<br />

leidet dann die Beziehung<br />

zu Jesus Chr<strong>ist</strong>us<strong>»</strong>, erklärt sie. «Deshalb<br />

komme ich sehr oft auf den zentralen<br />

Punkt zurück, den auch Johannes immer<br />

wieder betont: Zurück zum Herrn!<strong>»</strong><br />

Und bei Schwierigkeiten?<br />

sicht abnimmt. Wir haben längst gelernt,<br />

keine komplizierten oder ernsthaften<br />

Gespräche mehr anzufangen, wenn wir<br />

übermüdet sind. Da fehlt die Kraft und<br />

sehr bald auch die Geduld. Lieber schieben<br />

wir solche Gespräche auf den nächsten<br />

Tag.<strong>»</strong> Eine weitere Herausforderung<br />

besteht für sie als ständige Übersetzerin<br />

ihres Mannes darin, neutral zu bleiben:<br />

«Da Johannes von mir abhängig <strong>ist</strong>,<br />

musste ich lernen, ihm Situationen zu<br />

schildern, ohne meine persönliche Meinung<br />

schon einfliessen zu lassen oder<br />

ihn beeinflussen zu wollen. Schliesslich<br />

soll er selbständig sein und eigene Entscheidungen<br />

treffen.<strong>»</strong> Wenn es kompliziert<br />

werde, schreibe sie ihm die Sachlage<br />

auf den Computer. Durch ein Umwandlungsprogramm<br />

könne er es dann in aller<br />

Ruhe in Blindenschrift lesen.<br />

Zum Thema «Schwierigkeiten<strong>»</strong> <strong>ist</strong> es<br />

für Joy wichtig zu betonen, dass sie und<br />

ihr Mann Probleme als etwas betrachten,<br />

was zum Leben gehört. «Die zentrale<br />

Frage in diesem Zusammenhang <strong>ist</strong> nicht:<br />

Wie werden wir sie los, sondern: Wie gehen<br />

wir damit um?<strong>»</strong> Olschewskis nehmen<br />

sie aus Gottes Hand und rechnen mit Seiner<br />

Hilfe, Führung und Gnade – die sie<br />

dann auch erfahren dürfen.<br />

Bevor ich die Heimreise antrete, trinken<br />

wir einen Kaffee, auch Johannes gesellt<br />

sich wieder zu uns. Joy teilt ihm mit,<br />

dass ich zum Schluss zusätzlich einige Bilder<br />

machen will. Geschwind zaubert er<br />

einen Kamm aus der Tasche und frisiert<br />

sich geschickt das Haar. Und wieder kommen<br />

ihm Gegenstände in den Sinn, die er<br />

mir doch noch zeigen will ...!<br />

Ich könnte noch lange bleiben, aber die<br />

Zeit zum Aufbruch <strong>ist</strong> gekommen. Als<br />

ich im Rückspiegel sehe, wie die beiden<br />

mir nachwinken, denke ich an die Vorstellung<br />

zurück, die viele Menschen von<br />

einem Taubblinden haben: Jemand, der<br />

durch seine Behinderung von den Mitmenschen<br />

abgeschnitten <strong>ist</strong> und überhaupt<br />

nicht am gesellschaftlichen Leben<br />

teilnehmen kann. – Spätestens dieser Besuch<br />

hat mich vom puren Gegenteil überzeugt!<br />

■<br />

BEHINDERUNG<br />

ethos 10 I 2008 61

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