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Untitled - Zentrum für Literatur

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A D I O P H I R Begriff<br />

diese Besorgnis nachvollziehen zu können; es besteht keinerlei Notwendigkeit, Platons<br />

Bewunderung der ›lebendigen Stimme‹ und seine Metaphysik der Präsenz zu übernehmen, um<br />

die komplette Priorität des performativen Ereignisses über das Begehren der Vollständigkeit und<br />

Erfüllung zu erkennen, die am Grund der platonischen Bevorzugung der Rede vor der Schrift<br />

liegt.<br />

Denn was schließlich ist das performative Ereignis der Begriffsaussage? Es ist die initiale<br />

Frage »was ist X?” und der Versuch ihrer Beantwortung; es ist die Ex-position und Ex-plikation<br />

des Gegenstands als Begriff, die Artikulation seiner konstitutiven Momente und ihre<br />

Rekomposition und Repräsentation in einem einzigen, einheitlichen Schema. Die Begriffsaussage<br />

zeigt die synthetische Komposition der individuierenden Begriffsmomente, indem sie<br />

auf der Oberfläche des Diskurses die Vielfalt ihrer wechselseitigen Beziehungen präsentiert. Sie<br />

indiziert zugleich den Erscheinungsraum der Begriffsobjekte, verweist auf die Beziehungen des<br />

Begriffs zu bestimmten Fragen und damit zugleich auf Sprecher und Adressaten, Subjekte der<br />

Fragen und der Antworten. Schließlich und vor allem aber präsentiert die Begriffsaussage sich<br />

selbst als eine solche: die öffentliche Verhandlung eines Begriffs ist zugleich die Exposition<br />

seiner diskursiven Existenz, der Tatsache, dass der Begriff eine diskursive Entität ist.<br />

Was die Begriffsaussage zeigt, indem sie den Begriff präsentiert, ist nicht notwendig<br />

zugleich das, was sie sagt. Was eine Begriffsaussage sagt, hat gewöhnlich mit der Entfaltung der<br />

Begriffsmomente, der Beschreibung ihrer wechselseitigen Beziehungen zu tun; es ist, wie oben<br />

schon zitiert, eine Aussage über eine »multiplicity […] that is enfolded, like a law, within a<br />

unity of content.« 27 In diesem Sinne funktioniert die Begriffsaussage wie ein Bild, das etwas<br />

zeigt, ohne zu sagen, was es zeigt, so dass immer noch etwas über es zu sagen übrig bleibt. Kein<br />

Narrativ, geschweige denn ein Bildtitel kann die essentielle Irreduzibilität des Sichtbaren auf<br />

das Sagbare kompensieren. Aber die Verpflichtung, zu sagen, was noch nicht gesagt worden ist,<br />

ist nicht selbstevident. Im Fall eines Kunstwerks leitet sie sich aus der sakralen Aura des<br />

musealen Schauraums ab, der Aura einer Überschreitung des Sichtbaren, die sich in keiner<br />

Beschreibung einfangen lässt und die Interpretation vor die unendliche Aufgabe stellt, diesen<br />

Überschuss in der Sprache abzubilden. Eine ähnliche Differenz liegt zwischen dem, was die<br />

Begriffsaussage als performatives Ereignis zeigt, und dem, was sie sagt. Nur gibt es in diesem<br />

Fall keine vergleichbare Verpflichtung, den performativen Überschuss in Sprache zu fassen. In<br />

diesem Fall gibt es keine Institution, die den Überschuss des Sichtbaren sanktifiziert; und<br />

dennoch kann sich die Bewegung des Begriffs jederzeit auf diese Differenz berufen, um die<br />

Frage »was ist X?« voranzutreiben und sie auf die Bedingungen ihres eigenen Erscheinens<br />

zurückzuwenden. Diese Rückwendung ist umso wesentlicher, als die diskursive Natur der<br />

Begriffsaussage es dem Begriff zugleich ermöglicht, als vereinheitlichendes Schema zu<br />

erscheinen, wie sie ihm jeweils willkürliche Grenzen setzt.<br />

Die Aufmerksamkeit auf die diskursiven Erscheinungsbedingungen eines Begriffs mindert<br />

nicht (wie es bei Wörterbüchern der Fall ist) das Interesse an seinem semantischen Gehalt, sie<br />

schließt ihn vielmehr ein, um ihn gleichzeitig zu suspendieren. Die lexikalische Definition eines<br />

Wörterbuchs ist die öffentliche Präsentation eines Wortes unter dem Aspekt seines<br />

semantischen Gehalts. Die textuelle Institution Wörterbuch präsentiert die Bedeutung der<br />

Worte isoliert von ihren Gebrauchskontexten (womit auch andere Eigenschaften des Wortes in<br />

den Hintergrund treten, wie etwa das Verhältnis von Laut- und Schriftbild oder seine<br />

verschiedenen Aussprachen). Die Erklärung eines Wortes dagegen löst es aus seinen nichtproblematischen<br />

Verwendungskontexten ab und stellt es öffentlich aus, um den Blick auf seine<br />

27 Bergmann: Introduction to logic (Anm. 6), S. 72.<br />

22<br />

Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 (2012)

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