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Klaus Heer Wonne Worte - Rowohlt Theaterverlag

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Leseprobe aus:<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Heer</strong><br />

<strong>Wonne</strong> <strong>Worte</strong><br />

(Seite 11 - 19)<br />

© 2000 by <strong>Rowohlt</strong> Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.


1 Klima & Intimität<br />

Ohne Reden kein Sex?<br />

«Bei mir muss alles stimmen, sonst kann ich keinen Sex haben!» Könnte<br />

der Satz von Ihnen stammen? Oder kennen Sie ihn vom Hörensagen?<br />

In der Hitparade der wenigen Sätze, die in abendländischen<br />

Ehebetten zum Thema Sexualität gesprochen<br />

werden, nimmt er hinter «Jetzt nicht, bitte!» den zweiten Platz<br />

ein. Auf gut Deutsch übersetzt könnte er zum Beispiel heißen<br />

«Ich möchte, kann aber nicht!» Oder «Sex hat bei mir mit Liebe zu tun.»<br />

Oder «Ich fürchte, wir passen nicht zusammen.» Oder «Wir sollten<br />

wieder mal übers Bett reden, dringend.» Oder «So viel Sex ist mir zu<br />

viel!» Oder «Du sollst mir büssen!» Oder «Alles ist so kompliziert geworden<br />

zwischen uns…» Und so weiter.<br />

Testen Sie sich selbst. Stellen Sie sich vor: Sie haben eben<br />

den Fernseher ausgemacht, strecken sich wohlig und sagen zu<br />

Ihrer Partnerin: «Ich geh jetzt duschen. Kommst du auch? Ein klein<br />

wenig schmusen… wie wärs?» Sie aber gibt trocken zurück: «Nach<br />

allem, was heute gewesen ist? Da stimmt viel zu viel nicht zwischen uns.<br />

Das weißt du auch.»<br />

Was würden Sie ihr antworten? Sehen Sie sich die nachfolgende<br />

Liste an: Welche drei der zwölf Antworten, glauben Sie,<br />

könnten aus der Sicht Ihrer Partnerin angenehm zu hören<br />

sein, weil sie sich verstanden fühlt von Ihnen? Und welche<br />

drei am allerwenigsten? Wenn Sie mögen, können Sie auf der<br />

nächsten Seite Ihre Wahl mit der meinen vergleichen.<br />

«In jeder Ehe<br />

kommt einmal die<br />

Zeit, in der man<br />

andere um ihre<br />

Schwerhörigkeit<br />

beneidet.»<br />

August<br />

Strindberg<br />

Klima & Intimität 11


Ablehnung klimagerecht auffangen<br />

22 klimawirksame<br />

Reaktionen auf<br />

Ablehnung<br />

Weitere 10<br />

Antworten zur<br />

Auswahl<br />

web 1<br />

➡<br />

➡web 2<br />

Eigene Idee?<br />

1. Sich hinsetzen und: «Was stimmt nicht?»<br />

2. «Was ist dir wieder über die Leber gekrochen?»<br />

3. «Das ist schade … Sagst du mir, was los ist? Jetzt gleich<br />

oder heute Abend …?»<br />

4. Kopfschütteln und: «Immer dasselbe …!»<br />

5. Spitz: «Dann schlafe ich im Gästezimmer. Gute Nacht!»<br />

6. «Was hat dich heute durcheinander gebracht?»<br />

7. Einen Kuss auf die Stirn geben, lächeln und: «Okay, vielleicht<br />

morgen!?»<br />

8. «Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?»<br />

9. Spitz: «Wenn ich nur wüsste, wie ich dir immer alles recht<br />

machen könnte …»<br />

10. «Bin ich etwa dafür verantwortlich, dass bei dir alles<br />

stimmt?»<br />

11. «Bin ich dir so zuwider?»<br />

12. ............................................................................................................<br />

............................................................................................................<br />

Mein<br />

Vorschlag:<br />

Die 3 artigsten<br />

Antworten:<br />

1, 3, 6.<br />

Die 3 fiesesten:<br />

2, 5, 10.<br />

12<br />

«Bei mir muss alles stimmen!» – Mich friert immer ein bisschen,<br />

wenn ich den Satz höre. Er ist nämlich ein schwarzes Loch. Die<br />

Versuche des Paares oder eines der Partner, die Sexualität wieder<br />

in Fluss zu bringen, versacken im abgründigen Schlund<br />

dieser fünf Wörter. Ich habe mir all die elf Antwortsätze vorund<br />

rückwärts angeschaut und anprobiert. Es passt mir keiner.<br />

Natürlich gibt es anständige und rüpelhafte darunter; aber der<br />

«Alles-muss-stimmen»-Bescheid selbst produziert klemmende Verlegenheit.<br />

Warum?<br />

Einerseits macht er die Tür zu: «Finger weg! Ich will nichts mit<br />

dir zu tun haben!». Andererseits eröffnet er ein dringliches<br />

Thema: das Binnenklima in der Beziehung. Beides ist, für sich<br />

genommen, stark. Ein sexuell selbstbestimmter Mensch wird<br />

Klima & Intimität


immer und zuverlässig Nein sagen, wenn ihm nicht nach Sex<br />

zumute ist. Und die klimatischen Paar-Bedingungen wird ein<br />

sensibler und durchlässiger Mensch nicht aus den Augen verlieren<br />

und sie auf den Tisch bringen, wenn es ihm nötig erscheint.<br />

Aber nicht beides gleichzeitig! Denn Nein und Ja, verpackt<br />

in einem einzigen Satz, beißen sich. Und manch ein<br />

Betroffener reagiert entsprechend bissig.<br />

Den gähnendsten Krater reißt das «Alles» auf. «Alles muss stimmen!»<br />

hinterlässt den irritierenden Eindruck von Maximalforderung;<br />

es ist, als machte sich einer breit in seinem Ohrensessel,<br />

verschränkte seine Arme und entspannte sich: «Nun mach<br />

mal, mein Lieber. Sag mir, wenn du so weit bist!» Wer derlei zu hören<br />

bekommt, ist meist so hypnotisiert und verletzt von der Zurückweisung,<br />

dass er nicht nachfragt: «Was meinst du mit ‹alles›?<br />

Sag mir bitte, was zum Beispiel für dich anders sein müsste, sodass du<br />

meine Einladung annehmen könntest.»<br />

Diese Paradoxie<br />

wird in der<br />

Fachliteratur<br />

«Doppelbindung»,<br />

bzw. «double bind»<br />

(G. Bateson),<br />

«Beziehungsfalle»<br />

(H. Stierlin) oder<br />

«Zwickmühle» (W.<br />

Loch) genannt.<br />

«Das Ideal lässt<br />

sich am besten an<br />

den Opfern<br />

messen, die es<br />

verlangt.»<br />

Carl Friedrich von<br />

Weizsäcker<br />

Welten zwischen schwarz & weiß<br />

Manche Paare haben das Pech, dass in ihrer gemeinsamen Geschichte<br />

nur einmal «alles» stimmte: solange sie verliebt waren.<br />

Sexualität gedeiht ihnen ausschließlich in den Sphären des<br />

verschwommenen süßen Wahns. Sowie sie einander schärfer,<br />

das heißt klarer, sehen, kommt ihnen die sexuelle Schärfe abhanden.<br />

Entweder alles oder nichts! Entweder ist «Liebe» eine<br />

makellose Himmelsmacht, oder «dann lassen wir’s». Als ob dazwischen<br />

nichts wäre und man sich fürs eine oder andere zu<br />

entscheiden hätte… Für uns Irdische eine wahrhaft unpraktische<br />

und unergiebige Theorie! Oder möchten Sie sich vielleicht<br />

damit begnügen, in Ihrem Leben ein oder zwei Mal während<br />

durchschnittlich dreier Monate exquisiten Sex zu haben, und<br />

sonst sind Sie die ganze Zeit sauer oder trüb, weil nicht «alles<br />

stimmt»? Nein, danke; mich reizt dieser Emotionalfundamentalismus<br />

nicht. Ich empfinde ihn als zerstörerisch. Im real existierenden<br />

Beziehungsalltag liegen zwischen «alles» und<br />

«Mitunter<br />

genügt schon<br />

eine stärkere<br />

Brille, um den<br />

Verliebten zu<br />

heilen.»<br />

Nietzsche<br />

«Wenn du nicht<br />

haben kannst,<br />

was du liebst,<br />

musst du lieben,<br />

was du hast.»<br />

Sprichwort<br />

Welten zwischen schwarz & weiß 13


Bereits ein<br />

einziges<br />

Gespräch über<br />

Sex – freiwillig<br />

& mutig angezettelt<br />

– kann<br />

möglicherweise<br />

Ihr Bett in<br />

Schwung<br />

bringen! Schon<br />

ausprobiert?<br />

«nichts» Welten! Großräume, die Sie gemeinsam einrichten<br />

und ausgestalten können. Felder, die zum Blühen und Fruchtbarwerden<br />

zu zweit verlocken.<br />

Blüten und Früchte lieben ein bestimmtes Klima, das weiß<br />

man. Niemand kommt auf die Idee, an den Gestaden des Polarmeeres<br />

Passionsblumen oder Papayas zu pflanzen. Nehmen wir<br />

also an, Sie empfinden Ihre Sexualität als klimaabhängig. Sie<br />

sind darauf angewiesen, dass sie eingebettet ist in eine gute<br />

Stimmung. Vielleicht haben Sie den Satz «Bei mir muss alles stimmen!»<br />

so oder ähnlich auch schon gesagt oder auf der Zunge gehabt.<br />

Weil niemand mit so einem Brocken etwas anfangen kann,<br />

schlage ich Ihnen vor, den Satz in seine vielfältigen Aspekte aufzuschlüsseln<br />

und ihm ein persönliches, differenziertes Profil zu<br />

geben, ein menschliches Antlitz, aus dem Ihr Partner lesen<br />

kann, wer Sie sind und was Sie brauchen als Frau, als Mann.<br />

Erotisches Stimmungsbild<br />

Diese Art<br />

Frustschutz<br />

könnte erotische<br />

Nulldiät<br />

bedeuten.<br />

Unbedarfte<br />

Männer nennen<br />

das die Liste der<br />

«Ausreden».<br />

14<br />

Nehmen Sie sich die folgende Sammlung von Sätzen vor und<br />

streichen Sie die Stimmungen an, die es Ihnen möglich, wenn<br />

nicht sogar verlockend machen könnten, mit Ihrer Partnerin<br />

überhaupt in Sex einzusteigen – unabhängig von der Qualität,<br />

die Sie vom Sex selbst erwarten können. Falls also wirklich «alles»<br />

stimmen müsste, bis Sie sich eine Bettszene mit Ihrer Frau<br />

auch nur vorstellen könnten, müssten Sie sämtliche Sätze ankreuzen.<br />

Kein einziges Kreuz hätten Sie zu vergeben, wenn<br />

Ihre Sexualität ein vollends eigenständiges fleischliches Leben<br />

führen könnte, losgelöst von allen denkbaren Witterungsbedingungen.<br />

Beides ist möglich; aber vermutlich werden Sie ein<br />

vielfältigeres und farbigeres Bild von sich entwerfen.<br />

Mein Gott, was für eine Liste! Ein Eiserner Vorhang, der das<br />

Gelobte Land des erotischen Genusses zuverlässig gegen unberechtigten<br />

Zutritt abriegelt – undurchdringlich geflochten aus<br />

18 klimatischen Hindernissen, von denen jedes einzelne schon<br />

genügen könnte, sexuelle Impulse im Keim zu ersticken. Wol-<br />

Klima & Intimität


Sex mit dir kommt für mich nur in Frage,<br />

❏ wenn ich ganz erholt und frisch bin.<br />

❏ wenn ich mich drauf verlassen kann, dass du dich nicht auf<br />

eine Fastfood-Begattung nach einem öden Fernsehabend<br />

beschränkst.<br />

❏ wenn wir genügend Zeit für uns haben. Ich meine Zeit zum<br />

Zusammensein, zum Austauschen und einander Zuhören.<br />

❏ wenn ein ausführliches persönliches Gespräch vorausging.<br />

❏ wenn du nicht dauernd in der Wohnung herumschreist.<br />

❏ wenn ich mich in unserer Beziehung nicht eingesperrt fühlen<br />

muss und frei atmen kann.<br />

❏ wenn ich Vertrauen zu dir haben kann.<br />

❏ wenn ich keine Angst mehr vor dir zu haben brauche.<br />

❏ wenn du mich wenigstens einen halben Tag mit Vorwürfen<br />

verschonst.<br />

❏ wenn ich wieder einmal das Gefühl haben kann, dass du mich<br />

ernst nimmst.<br />

❏ wenn ich nicht mehr jede deiner Berührungen als zielgerichtetes<br />

Sexmanöver empfinden muss.<br />

❏ wenn du nicht die ganze Zeit um mich herumschleichst mit<br />

einem Bernhardinerblick.<br />

❏ wenn wir uns auch tagsüber ab und zu liebevoll berühren.<br />

❏ wenn du mit deinem Herumhängen nicht mehr eine so elende<br />

Stimmung verbreitest.<br />

❏ wenn du endlich auf meine geruchempfindliche Nase Rücksicht<br />

nimmst.<br />

❏ wenn ich spüre, dass du mich immer noch liebst.<br />

❏ wenn wir’s auch als Familie gut miteinander haben.<br />

❏ .......................................................................................................................<br />

.......................................................................................................................<br />

Moment!<br />

Erst kopieren,<br />

dann ausfüllen!<br />

So kann Ihr<br />

Partner, wenn er<br />

möchte, auch<br />

sein Profil<br />

skizzieren.<br />

«Ausführlich» –<br />

wie lange?<br />

Woran würden<br />

Sie’s merken?<br />

Gelten Ihnen<br />

«vorwurfsvolle»<br />

Blicke auch als<br />

Vorwürfe?<br />

«Liebevoll<br />

berühren»? –<br />

Wo denn?<br />

Woran würden<br />

Sie’s «spüren»?<br />

Was meinen Sie<br />

mit «gut haben»?<br />

23 weitere<br />

Hindernisse<br />

➡web 3<br />

Erotisches Stimmungsbild 15


Versuchsweise<br />

für ein paar<br />

Wochen<br />

vielleicht?<br />

len Sie das wirklich? Sind Sie sicher, dass Sie diesen Preis für<br />

Ihre Klimavorstellungen bezahlen wollen? Wenn er Ihnen zu<br />

hoch vorkommt, sehen Sie sich jeden einzelnen der Sätze, die<br />

Sie angekreuzt haben, nochmal sorgfältig an. Ermitteln Sie die<br />

Voraussetzungen, die unbedingt, ohne Wenn und Aber, erfüllt<br />

sein müssen, damit Sie sich auf Sex mit Ihrer Partnerin einlassen<br />

können. Und auf welche Klimawünsche könnten Sie unter<br />

Umständen verzichten? Mit dieser abgespeckten Klimaliste<br />

dürften Sie in Verhandlungen mit ihr vermutlich mehr Chancen<br />

haben als mit der schweißtreibenden Globalforderung:<br />

«Alles muss stimmen!»<br />

Eine Menge<br />

Metaphern für<br />

die Beziehungsmeteorologie<br />

➡web 4<br />

Ihr Sex – ein<br />

exklusives<br />

Schönwetterprogramm?<br />

–<br />

Unpraktisch!<br />

Absurd!<br />

16<br />

Das Wetter machen Sie!<br />

Viele Leute, vor allem Frauen und Fachleute des Beziehungsbusiness,<br />

versuchen den anderen Leuten, vor allem Männern,<br />

beizubringen, dass gute Sexualität in einer festen Beziehung<br />

ihrer Natur nach nur eine Chance hat unter ausgesuchten klimatischen<br />

Bedingungen. «Es» muss stimmen, das Klima, das<br />

Atmosphärische, das Wetter. Sonst kann man Sex vergessen.<br />

Sehen Sie den Widerspruch? Wenn Sie die Befindlichkeit in<br />

Ihrer Beziehung mit meteorologischen Bildern beschreiben,<br />

werden Sie vielleicht auch dazu neigen, das Eheklima ebenso<br />

als Folge externer Vorgänge zu empfinden wie das Wetter draußen.<br />

Das Wetter lässt sich praktisch nicht beeinflussen, nicht<br />

einmal zuverlässig vorhersagen. Wie wollen Sie eine Situation<br />

verändern und verbessern, die Sie gar nicht herbeigeführt haben?<br />

Sie sind das Opfer, die Stimmung wird vom anderen gemacht,<br />

er ist der Täter. Wenn Sie ihn fragen, werden Sie zu Ihrer<br />

Überraschung sehen: Für ihn ist es genauso evident wie für<br />

Sie: Er ist das Opfer, Sie der Täter. Also soweit das Auge reicht<br />

nur Opfer, nicht die Spur einer Täterschaft! Da kann etwas<br />

nicht stimmen.<br />

Wie kommen Sie heraus aus dem blockierenden Widerspruch?<br />

Wie überwinden Sie die Bilder und Erklärungsmodelle<br />

Klima & Intimität


in Ihrem Kopf, die Sie zu matter Passivität, verzweifelter Erwartung<br />

oder vertrotzter Resignation verleiten? Wie entdecken<br />

Sie, was Sie persönlich zur Gestaltung der Paar-Atmosphäre<br />

beitragen und wie Sie Ihren Beitrag optimieren<br />

könnten?<br />

Ich will Ihnen keine haltlosen Hoffnungen machen. Mir ist<br />

nicht entgangen, dass Mann und Frau bisweilen zu zweit Stimmungen<br />

produzieren, die sie beide schwer plagen und würgen<br />

und in starre Hilflosigkeit zwängen. Leider gelingt es manchmal<br />

auch mit sorgfältiger und engagierter professioneller Begleitung<br />

lange nicht, nur ansatzweise oder gar nicht, dass sich<br />

die beiden von ihren Vorstellungen darüber lösen können, wie<br />

ihr hartnäckiger Beziehungsmief entstanden ist, was ihn in<br />

Gang hält und wie ihm beizukommen wäre. Also ist keine Lösung<br />

in Sicht.<br />

«Nicht die<br />

Dinge selbst<br />

beunruhigen uns,<br />

sondern die<br />

Meinungen, die<br />

wir über die<br />

Dinge haben.»<br />

Epiktet<br />

(50–138 n. Chr.)<br />

Wortlose Allwetter-Rituale<br />

Keine Lösung, wirklich? Ein paar Paare haben mir erzählt, wie<br />

sie sich gelöst haben von der merkwürdigen Idee, dass man eigentlich<br />

nur bei schönem Wetter etwas tun könne fürs schöne<br />

Wetter – was man dann bekanntlich auch nicht tut, weil man<br />

es lieber «genießen» will, wenn’s schon mal da ist. Bei mieser<br />

Stimmung, so denken viele Leute, bleibt eigentlich nicht viel<br />

anderes übrig, als abzuwarten, bis «es» wieder besser wird.<br />

Nicht so meine Informanten-Paare. Sie berichten von Ritualen,<br />

die jederzeit zur Verfügung stehen. Allen diesen Gewohnheiten<br />

ist gemeinsam, dass sie Allwetterprogramme sind, selbsterfunden<br />

und wohltuend wortlos.<br />

Margarethe<br />

Schindler:<br />

Heute schon geküsst?<br />

– Paare<br />

brauchen Rituale.<br />

Freiburg: Herder<br />

1997<br />

➜ Rita & Erich (29 Jahre verheiratet, Typ streitbares Paar) treffen sich<br />

jeden Abend vor dem Einschlafen auf Erichs Seite des Doppelbettes; er<br />

nimmt Rita in seinen linken Arm, sie schmiegt sich an ihn und bettet ihren<br />

Kopf in die Mulde zwischen Erichs Schulter und Hals: «Müldeln» nennen<br />

Rituale erleichtern<br />

und schmücken<br />

meist die Übergänge<br />

im Leben,<br />

die großen und<br />

die kleinen.<br />

Wortlose Allwetter-Rituale 17


sie das. Rita fühlt sich dabei immer vollkommen angenommen und geborgen;<br />

Erich sagt, selbst wenn sie zerstritten seien, überkomme ihn eine<br />

zuverlässige Beißhemmung und mache ihn weich bis ganz innen. Das<br />

wetterfeste Ritual dauert zwischen 5 und 10 Minuten; geredet wird dabei<br />

nicht.<br />

Ein Bijou von<br />

einem Ritual!<br />

Gute Paar-<br />

Rituale sind<br />

patentwürdig.<br />

Was ein Ritual<br />

von hohler<br />

Routine unterscheidet:<br />

Man möchte es<br />

keinesfalls<br />

missen.<br />

➜ Myrtha & Rolf (18 Jahre zusammenlebend) schlafen seit eh und je<br />

in ihren eigenen Zimmern; am Morgen schlüpft Rolf immer ins Bett seiner<br />

Partnerin (die gewöhnlich eine Stunde später aufsteht als er) und legt<br />

sich sacht mit seinem ganzen Gewicht auf sie, beide sind nackt. So verharren<br />

sie fast eine Viertelstunde. Myrtha genießt verschlafen die 74 Kilos,<br />

Rolf den weichen Körper unter sich. Sex wird nie draus, Wörter sind<br />

ebenso überflüssig.<br />

➜ Edith & Werner (22 Jahre verheiratet, schlafen seit über 10 Jahren<br />

nicht mehr im gleichen Zimmer) haben ein eigenwilliges Morgenritual<br />

entwickelt – ohne je darüber oder währenddessen zu reden. Werner<br />

weckt seine Frau, indem er um 6.45 Uhr in ihr Zimmer kommt und das<br />

Fenster schließt. Dann bereitet er in der Küche das Frühstück. Punkt 7.00<br />

Uhr bringt er das Tablett mit Kaffee und geschmiertem Brot ins Badezimmer,<br />

geht zurück in Ediths Zimmer, wo sie sich inzwischen verschlafen<br />

aufgerichtet und auf die Bettkante gesetzt hat. Er umfasst sie, zieht sie zu<br />

sich hoch, umschlingt sie mit seinen starken Armen und schleift sie zärtlich<br />

zum Badezimmer – er rückwärts, sie vorwärts, Brust an Brust, ihren<br />

Kopf an seine Schulter gelehnt. Vor dem Spiegel stellt er sie ab und lässt<br />

sie allein für Toilette und Frühstück. Um 7.30 Uhr verlassen sie gemeinsam<br />

das Haus. Einen Verlust oder Zerfall dieses Rituals können sich<br />

beide nicht vorstellen.<br />

➜ Monika & Reto (9 Jahre verheiratet) verabschieden sich am Morgen<br />

immer mit einer speziellen Umarmung: Nach ihrem Abschiedskuss langen<br />

sie einander mit ihrer rechten Hand an den Rücken und fahren langsam<br />

der Wirbelsäule entlang hinauf und hinunter. Erst als sie nach dem Sinn<br />

dieser Geste gefragt werden, wird ihnen klar, dass sie sich gegenseitig<br />

den Rücken stärken wollen für den Tag, der kommt.<br />

➜ Henriette & Roland (13 Jahre verheiratet) umarmen sich jedes Mal,<br />

wenn sie sich am Abend wiedersehen, unabhängig davon, wie turbulent<br />

es mit den Kindern rundherum zugeht. Vor zwei, drei Jahren haben sie<br />

entdeckt, dass sie der Begrüßungsroutine entgehen können, indem sie<br />

ihrer Umarmung eine kleine Überlänge zugeben – immer einen Atemzug<br />

länger, als zu erwarten wäre! In dem Augenblick werden sie sich be-<br />

18<br />

Klima & Intimität


wusst: Diese unscheinbare Überlänge verhilft ihnen zu einem guten Start<br />

in den gemeinsamen Abend, sie setzt einen positiven Akzent.<br />

➜ Viele Paare (ob kurz oder lange zusammenlebend) berichten, dass<br />

sie jeden Abend und jeden Morgen im Bett zusammen kuscheln und einander<br />

im Arm halten. Häufig drängen sie sich in der Löffelstellung (der<br />

eine hinter dem anderen) aneinander und genießen es beide – auch<br />

wenn ihnen Wert und Bedeutung dieses Rituals nicht wirklich bewusst<br />

sind, meist weil sie damit zu tun haben, der verblassten Sexualität nachzutrauern.<br />

➜ Brigitte & Simon (30 Jahre verheiratet) lieben die Löffelstellung, er<br />

liegt immer hinter ihr. Häufig bauen sie sie aus zum «Garäschlen». Das<br />

geht so: Wenn er scharf wird, fährt er von hinten in sie ein – wie ein Auto<br />

in die Garage, aber nur mit der Eichel zwischen ihre Liebeslippen, nicht<br />

weiter, und bleibt dort unbewegt. «Richtig sexuell» ist das für die beiden<br />

nicht, einfach wohlig und wohlig einfach. Es kommt gelegentlich vor, dass<br />

sie von der Garage zur Tiefgarage wechseln – nach Absprache.<br />

Unscheinbar,<br />

aber oho!<br />

Hier die<br />

Ausnahme von<br />

der Regel: Die<br />

beiden sprechen<br />

ihr Ritual immer<br />

ausdrücklich<br />

vorher ab.<br />

Wie Sie zu einem solchen Ritual kommen, das mitwirken<br />

könnte, Sie beide unbeschadet und manchmal sogar mit einer<br />

Prise Lust durch die Jahre zu bringen? Nachlesen können Sie<br />

das nirgends; hellsichtige Fachleute, die Ihnen zeigen, wie Sie’s<br />

machen könnten, gibt es nicht – außer Sie selbst! Sie selbst wissen<br />

am besten, was Sie früher, in der Startphase Ihrer Beziehung<br />

oder etwas später, miteinander immer wieder gemacht<br />

und genossen und dann unterwegs verloren haben. Vielleicht<br />

lässt sich etwas wiederbeleben und dem Heute anpassen. Nur<br />

Sie selbst können herausfinden, welche angenehmen Gewohnheiten<br />

in Ihrem Paaralltag eingeflochten sind, von denen Sie<br />

nichts wissen. Wenn Sie sie identifizieren, haben Sie mehr davon.<br />

Suchen Sie ihr<br />

Zusammenleben<br />

gemeinsam nach<br />

den verborgenen<br />

Schätzen ab.<br />

Wortlose Allwetter-Rituale 19

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