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Die Würfel sind gefallen - Aktion Lebensrecht für Alle eV

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Nr. 98 | 2. Quartal 2011 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– E B 42890<br />

LEBENSFORUM<br />

Zeitschrift der <strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e.V. (ALfA)<br />

Titel<br />

Menschwerdung<br />

durch Nidation?<br />

Dokumentation<br />

Manifest »Kultur<br />

des Lebens«<br />

Hirntod<br />

Im Zweifel<br />

<strong>für</strong> das Leben<br />

Präimplantationsdiagnostik<br />

<strong>Die</strong> <strong>Würfel</strong> <strong>sind</strong><br />

<strong>gefallen</strong><br />

L e b e n s F o r u m 9 8 1<br />

In Kooperation mit Ärzte <strong>für</strong> das Leben e.V. und Treffen Christlicher <strong>Lebensrecht</strong>-Gruppen e.V. (TCLG)


I N H A LT<br />

LEBENSFORUM 98<br />

EDITORIAL<br />

<strong>Die</strong> <strong>Würfel</strong> <strong>sind</strong> <strong>gefallen</strong> 3<br />

Dr. med. Claudia Kaminski<br />

4 - 10<br />

TITEL<br />

<strong>Die</strong> blinden Flecken der PID-Debatte 4<br />

Prof. Dr. phil. Manfred Spieker<br />

<strong>Die</strong> PID und ihre negativen Folgen 11<br />

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer<br />

Breites Bündnis <strong>für</strong> PID-Verbot 16<br />

Matthias Lochner<br />

Menschwerdung durch Nidation? 17<br />

Rainer Beckmann<br />

AUSLAND<br />

Nicht ohne meinen Suizidbegleiter 20<br />

Stefan Rehder<br />

<strong>Die</strong> Präimplantationsdiagnostik stellt die Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen fundamental<br />

in Frage und widerspricht dem grundlegenden Prinzip gegenseitiger Anerkennung.<br />

Guck’ mal, wer da schreibt! 21<br />

Manifest der Senioren-Union<br />

ESSAY<br />

Im Zweifel <strong>für</strong> das Leben 24<br />

Stefan Rehder<br />

BÜCHERFORUM 30<br />

21 - 23<br />

Anfang Juli hat der Bundesvorstand der Senioren-Union der CDU Deutschlands ein Papier mit<br />

dem Titel »Manifest Kultur des Lebens« beschlossen. »LebensForum« dokumentiert in Auszügen<br />

das beeindruckende Manifest, das auf Anhieb die volle Unterstützung der Jungen Union fand.<br />

KURZ VOR SCHLUSS 32<br />

LESERBRIEFE 34<br />

IMPRESSUM 35<br />

LETZTE SEITE 36<br />

17 - 19<br />

Der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier<br />

behauptet in einem F.A.Z.-Beitrag, das Grundgesetz<br />

schütze menschliche Embryonen erst ab der<br />

Einnistung in die Gebärmutter. Der Würzburger<br />

Medizinrechtler Rainer Beckmann weist Dreiers<br />

Behauptung als »haltlos« zurück.<br />

2<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


E D I T O R I A L<br />

24 - 29<br />

<strong>Die</strong> postmortale Organspende beruht auf der<br />

Annahme, dass hirntote Menschen Leichen<br />

<strong>sind</strong>. Immer mehr Fachleute halten diese<br />

Annahme jedoch <strong>für</strong> falsch. Stefan Rehder<br />

erklärt, warum.<br />

11 - 15<br />

T I T E L<br />

<strong>Die</strong> Zulassung der Präimplantationsdiagnostik<br />

hat keineswegs nur Konsequenzen <strong>für</strong> die<br />

Embryonen, die ihr unterzogen werden. Der<br />

Medizinhistoriker Axel W. Bauer erläutert die<br />

Folgen, die PID <strong>für</strong> den Lebensschutz hat.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Würfel</strong><br />

<strong>sind</strong> <strong>gefallen</strong><br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

mit 326 gegen 260 Stimmen hat der<br />

Deutsche Bundestag am 7. Juli in Dritter<br />

Lesung die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) in Deutschland<br />

beschlossen. Eine genaue Auswertung<br />

der Namentlichen Abstimmung werden<br />

wir in der nächsten Ausgabe von »LebensForum«<br />

nachreichen. Hier nur so<br />

viel: Am Ende fehlten 66 Stimmen <strong>für</strong><br />

ein gesetzliches Verbot der PID. Aus<br />

Sicht der ALfA ist es daher ein Skandal,<br />

dass aus den Reihen der Christdemokraten<br />

und Christsozialen 70 Parlamentarier<br />

<strong>für</strong> die Zulassung der PID gestimmt<br />

haben. Nicht nur, weil man an Parteien,<br />

die das »C« im Namen<br />

tragen, höhere Anforderungen<br />

stellen muss<br />

als an solche, die darauf<br />

verzichten, sondern<br />

»Der Embryo hat nur<br />

eine Stimme. Unsere!«<br />

auch, weil die CDU in<br />

ihrem neuen, 2007 verfassten<br />

Grundsatzprogramm<br />

den Satz aufgenommen hatte:<br />

»Wir treten <strong>für</strong> ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) ein.«<br />

Dass so viele Mandatsträger diesen Satz<br />

mit ihrer Stimme Lügen gestraft haben,<br />

mehr noch, dass sie, wie etwa Bundesarbeitsministerin<br />

Ursula von der Leyen<br />

(Hannover) oder die Parlamentarischen<br />

Staatssekretäre Peter Hintze (Wuppertal)<br />

und Katharina Reiche (Potsdam), massiv<br />

bei anderen da<strong>für</strong> geworben haben, das<br />

ist starker Tobak. Wir empfehlen daher<br />

allen Leserinnen und Lesern von »LebensForum«<br />

zu prüfen, ob sie diesen Abgeordneten<br />

nicht endgültig das Vertrauen<br />

entziehen sollten. Da tut es gut, dass<br />

die Senioren-Union der CDU ein Manifest<br />

mit dem Titel »Kultur des Lebens«<br />

verabschiedet hat, das wir hier auszugsweise<br />

dokumentieren und dessen Lektüre<br />

ich Ihnen ausdrücklich ans Herz legen<br />

möchte.<br />

<strong>Die</strong> Entscheidung, die PID zuzulassen,<br />

ist keine Kleinigkeit. Sie ist auch<br />

nicht, wie manche meinen, ein kleineres<br />

Übel als die Abtreibung. Jedes Leben ist<br />

einmalig und schon deshalb unverzicht-<br />

bar. Daher wäre es<br />

auch verkehrt, wollte<br />

jemand Leben gegen<br />

Leben aufrechnen<br />

oder die demnächst<br />

zu beklagenden<br />

Opfer der PID<br />

gegen jene aufwiegen,<br />

die durch Abtreibung<br />

getötet<br />

werden. Ob durch<br />

PID oder durch Abtreibung:<br />

Jedes Mal<br />

stirbt hier ein einzigartiger,<br />

wehrloser und unschuldiger<br />

Mensch. Und das, obwohl unsere Verfassung<br />

ihm sowohl den Schutz seiner<br />

Würde als auch den von Leib und Leben<br />

garantiert.<br />

Es wäre ehrlicher gewesen, der Deutsche<br />

Bundestag hätte am 7. Juli die ersten<br />

drei Artikel des Grundgesetzes geändert.<br />

Denn mit Inkrafttreten des beschlossenen<br />

Gesetzes zur PID gilt auch im Reagenzglas:<br />

Nicht jeder hat<br />

ein Recht auf Leben! <strong>Die</strong><br />

Würde des Menschen<br />

ist antastbar! Und: Jeder<br />

darf wegen seiner<br />

Behinderung benachteiligt<br />

werden, dessen Eltern<br />

den Menschen im<br />

Frühstadium seiner Entwicklung einer<br />

PID unterziehen!<br />

Ferner gilt: Mit diesem Gesetz ist unser<br />

Kampf gegen die Geißel der Abtreibung<br />

nicht aussichtsreicher geworden. Im<br />

Gegenteil. Jetzt, da auch der außerhalb<br />

des Mutterleibs befindliche Embryo <strong>für</strong><br />

vogelfrei erklärt wurde, wird es <strong>für</strong> uns<br />

noch schwieriger werden, seinen Schutz<br />

im Mutterleib durchzusetzen.<br />

Natürlich geben wir nicht auf. Der<br />

ungeborene Mensch, ob im Labor oder<br />

auf natürlichem Wege gezeugt, außerhalb<br />

wie innerhalb des Mutterleibs, hat nur<br />

eine Stimme. Unsere. Wenn wir stumm<br />

bleiben, wird es totenstill in Deutschland<br />

werden. Und das werden wir nicht zulassen.<br />

Niemals.<br />

Eine erhellende Lektüre wünscht Ihnen<br />

Claudia Kaminski<br />

Bundesvorsitzende der ALfA<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 3


T I T E L<br />

<strong>Die</strong> blinden Flecken<br />

der PID-Debatte<br />

<strong>Die</strong> Präimplantationsdiagnostik (PID) ist kein bioethisches Nischenthema, das nur wenige<br />

Menschen beträfe, sondern eines, das die Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen<br />

fundamental in Frage stellt. Denn die PID widerspricht dem jeder freiheitlichen Gesellschaft<br />

zugrundeliegenden Prinzip gegenseitiger Anerkennung des anderen als mir Gleichem.<br />

Von Professor Dr. phil. Manfred Spieker<br />

AUSGANGSLAGE<br />

Ende der 80er Jahre des vergangenen<br />

Jahrhunderts wurde in der Reproduktionsmedizin<br />

ein Verfahren entwickelt,<br />

mit dem im Labor erzeugte Embryonen<br />

vor der Übertragung in eine Gebärmutter<br />

auf bestimmte genetische Merkmale<br />

oder Chromosomenstörungen untersucht<br />

werden können. Zweck dieses Verfahrens,<br />

der sogenannten Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID), ist es, Embryonen<br />

mit bestimmten<br />

Krankheitsdispositionen<br />

oder Behinderungen<br />

zu<br />

erkennen und von einer<br />

Übertragung in<br />

die Gebärmutter auszuschließen.<br />

Eltern,<br />

die auf Grund ihrer<br />

genetischen Anlagen<br />

mit dem Risiko belastet<br />

<strong>sind</strong>, eine Erbkrankheit<br />

auf ihr Kind<br />

zu übertragen, hoffen,<br />

mit diesem Verfahren<br />

gesunden Kindern das Leben schenken<br />

zu können. Sie unterziehen sich, obwohl<br />

sie zeugungsfähig <strong>sind</strong>, der belastenden<br />

und risikoreichen Prozedur einer<br />

künstlichen Befruchtung und verwerfen<br />

im Falle eines positiven Befundes<br />

bei der PID alle Embryonen, die<br />

Träger der getesteten Merkmale <strong>sind</strong>.<br />

Der verständliche Wunsch nach einem<br />

gesunden Kind lässt sich mithin nur realisieren,<br />

wenn die Unterscheidung zwischen<br />

lebenswertem und lebensunwertem<br />

Leben stillschweigend akzeptiert und das<br />

lebensunwerte Leben im frühesten Stadium<br />

seiner Existenz getötet wird.<br />

4<br />

Bis zum Urteil des Bundesgerichtshofes<br />

vom 6. Juli 2010 war es herrschende<br />

Ansicht in Politik, Medizin und Jurisprudenz,<br />

dass das Embryonenschutzgesetz<br />

vom 13. Dezember 1990 die PID verbietet.<br />

Das Gesetz untersagt in § 1 Abs. 1 Nr.<br />

2, »eine Eizelle zu einem anderen Zweck<br />

künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft<br />

der Frau herbeizuführen, von<br />

der die Eizelle<br />

stammt«. Es sanktioniert darüber hinaus<br />

in § 2 Abs. 1 mit Freiheits- oder Geldstrafe<br />

denjenigen, der einen extrakorporal<br />

erzeugten menschlichen Embryo »zu<br />

einem nicht seiner Erhaltung dienenden<br />

Zweck (...) verwendet«. So war es um die<br />

Stellungnahme der Bundesärztekammer<br />

zur PID vom 3. März 2000, in der die Legalisierung<br />

der PID nach »äußerst strenger«<br />

Indikation<br />

be<strong>für</strong>wortet wurde,<br />

schnell wieder<br />

still geworden. <strong>Die</strong><br />

Behauptung von<br />

Herrmann Hepp,<br />

dem Vorsitzenden<br />

des Arbeitskreises,<br />

der die Stellungnahme ausgearbeitet hatte,<br />

die PID verstoße »bei Entnahme und<br />

Diagnostik an einer nicht mehr totipotenten<br />

Zelle« nicht gegen § 1 Abs. 1 Nr.<br />

2 ESchG, fand keine Zustimmung. <strong>Die</strong><br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


»nicht mehr totipotente Zelle« verstellte<br />

seinen Blick auf den Embryo, von dem<br />

diese Zelle stammt und um dessen tödliche<br />

Selektion bei positivem Ergebnis der<br />

Diagnose es geht. Der Deutsche Ärztetag<br />

wies die Stellungnahme 2002 in Rostock<br />

zurück und plädierte <strong>für</strong> ein striktes<br />

Verbot der PID. Auch die Enquete-<br />

Kommission Recht und Ethik der modernen<br />

Medizin des 14. Deutschen Bundestages<br />

war mit einer Mehrheit von 16 zu<br />

3 Stimmen der Überzeugung, »dass die<br />

PID nach geltendem Recht verboten ist«.<br />

Um einen Vorschlag der Deutschen<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> Gynäkologie und Geburtshilfe<br />

(DGGG) zur Änderung des<br />

Embryonenschutzgesetzes war es 2005<br />

ebenfalls schnell wieder still geworden.<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft verlangte unter ihrem<br />

Präsidenten Klaus <strong>Die</strong>drich eine Änderung<br />

des § 1 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 5<br />

ESchG. Um der Vermeidung von Mehrlingsgeburten<br />

und der Verbesserung der<br />

Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung<br />

willen sollten so viele Eizellen<br />

befruchtet werden können, wie zum<br />

Zweck einer erfolgreichen IVF- oder<br />

ICSI-Behandlung erforderlich seien. Für<br />

dieses Ziel, mit dem sich die Erfolgsraten<br />

der assistierten Reproduktion verdoppeln<br />

ließen, streitet <strong>Die</strong>drich schon<br />

seit vielen Jahren. Den Preis <strong>für</strong> dieses<br />

Ziel, die tödliche Selektion zahlreicher<br />

Embryonen, versuchte der Gesetzesvorschlag<br />

der DGGG dadurch zu relativieren,<br />

dass er behauptete, »befruchtete Eizellen,<br />

denen die Entwicklungsfähigkeit<br />

fehlt, fallen (...) nicht in den Schutzbereich<br />

des ESchG«. Er ignorierte die verfassungsrechtliche<br />

Vorgabe, dass jedem<br />

Embryo Würdeanspruch und <strong>Lebensrecht</strong><br />

unabhängig von seiner Lebensfähigkeit<br />

und Lebenstüchtigkeit zustehen,<br />

die voraussichtliche Dauer des individuellen<br />

Lebens also <strong>für</strong> sein <strong>Lebensrecht</strong> irrelevant<br />

ist. Der Vorschlag der DGGG<br />

hätte sich erübrigt, wenn sie nicht davon<br />

ausgegangen wäre, dass das Embryonenschutzgesetz<br />

die PID verbietet. Festgehalten<br />

zu werden verdient schließlich auch<br />

die Bemerkung der DGGG, dass die PID<br />

bei der Verabschiedung des ESchG bereits<br />

bekannt war, wird doch in den gegenwärtigen<br />

Forderungen nach ihrer Legalisierung<br />

immer wieder behauptet, sie<br />

sei damals noch nicht bekannt gewesen.<br />

Von einem Verbot der PID war schließlich<br />

auch die Erörterung und Verabschiedung<br />

des Gendiagnostikgesetzes vom 31.<br />

Juli 2009 ausgegangen. <strong>Die</strong> PID war von<br />

den gesetzlichen Regelungen der Gendiagnostik<br />

ausgespart worden, weil die Ansicht<br />

vorherrschte, ihr Verbot sei durch<br />

das ESchG bereits hinreichend geregelt.<br />

DANIEL RENNEN<br />

DAS URTEIL DES BUNDESGERICHTSHOFES<br />

Der 5. Strafsenat des BGH entschied<br />

dagegen am 6. Juli 2010, dass die PID<br />

nicht gegen das Embryonenschutzgesetz<br />

verstoße. Das Urteil lautete: »<strong>Die</strong> nach<br />

extrakorporaler Befruchtung beabsichtigte<br />

Präimplantationsdiagnostik mittels<br />

Blastozystenbiopsie und anschließender<br />

Untersuchung der entnommenen pluripotenten<br />

Trophoblastzellen auf schwere<br />

genetische Schäden hin begründet keine<br />

Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG.<br />

Deren Durchführung ist keine nach §<br />

2 Abs. 1 ESchG strafbare Verwendung<br />

menschlicher Embryonen.« Der angeklagte<br />

Berliner Frauenarzt Matthias Bloechle,<br />

der an drei Paaren mit unterschiedlichen<br />

Voraussetzungen eine PID vorgenommen<br />

und sich selbst angezeigt hatte,<br />

wurde freigesprochen. Sein Handeln<br />

sei von dem Willen getragen gewesen,<br />

bei seinen Patientinnen »eine Schwangerschaft<br />

herbeizuführen«. Aus der PID<br />

machte das Gericht ein »unselbstständiges<br />

Zwischenziel«. Dass das Endziel der<br />

PID bei positivem Befund aber nicht die<br />

Schwangerschaft, sondern die Selektion<br />

und Tötung des Embryos ist, das zu reflektieren<br />

weigerte sich das Gericht. Es<br />

hielt an der Fiktion »Endziel Schwangerschaft«<br />

fest. Offenkundig war dem Gericht<br />

bei dieser Fiktion aber nicht ganz<br />

wohl, denn es bediente sich noch eines<br />

zweiten Argumentationsstranges, den es<br />

sogar als »ausschlaggebend« bezeichnete.<br />

Es behauptete, auch das Embryonenschutzgesetz<br />

erlaube eine Selektion. Zur<br />

Begründung dieser Behauptung verwies<br />

das Gericht auf § 3 Satz 2 ESchG. Darin<br />

erlaubt der Gesetzgeber dem Arzt bei einer<br />

künstlichen Befruchtung die »Auswahl<br />

der Samenzelle«, wenn diese Auswahl dazu<br />

dient, das Kind vor schwerwiegenden<br />

geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten<br />

Vor dem BGH-Urteil waren selbst Be<strong>für</strong>worter der Ansicht, PID sei gesetzlich verboten.<br />

zu bewahren. Unabhängig davon, ob die<br />

künstliche Befruchtung akzeptiert oder,<br />

wie von der katholischen Kirche, abgelehnt<br />

wird, die Auswahl und Verwerfung<br />

einer getesteten Samenzelle in der Reproduktionsmedizin<br />

ist etwas anderes als<br />

die Auswahl und Tötung eines Embryos.<br />

Eine Samenzelle ist kein Mensch im frühesten<br />

Stadium seiner Existenz. Ein Embryo<br />

ist ein Mensch im frühesten Stadium<br />

seiner Existenz. Dass das Gericht diesen<br />

Unterschied nicht beachtete, dass es<br />

bei der Spermienselektion und bei der<br />

tödlichen Embryonenselektion von einer<br />

»gleichgelagerten Konfliktsituation«<br />

spricht, legt die Vermutung nahe,<br />

dass das Urteil feststand, bevor die Fakten<br />

geprüft wurden.<br />

DAS GUTACHTEN DER LEOPOLDINA<br />

<strong>Die</strong>s gilt auch <strong>für</strong> das Gutachten zur<br />

PID, das die Nationale Akademie der<br />

Wissenschaften Leopoldina zusammen<br />

mit der Deutschen Akademie <strong>für</strong> Technikwissenschaften<br />

und der Berlin-Brandenburgischen<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

am 18. Januar 2011 vorgelegt<br />

hat. Das Gutachten plädiert <strong>für</strong> eine begrenzte<br />

Zulassung der PID. <strong>Die</strong> Autoren<br />

– Reproduktionsmediziner, Genetiker<br />

und Juristen, die seit Jahren als Be<strong>für</strong>worter<br />

der Reproduktionsmedizin,<br />

der embryonalen Stammzellforschung<br />

und der PID bekannt <strong>sind</strong> und die von<br />

der Leopoldina offenkundig interessenbedingt<br />

und gegen die internen Verfahrensregeln<br />

<strong>für</strong> die Auswahl solcher Gutachterkommissionen<br />

bestellt wurden –<br />

betrachteten es nicht »als ihre Aufgabe<br />

(…), die Entscheidung des BGH zu hinterfragen«.<br />

Mit verschiedenen Anläufen<br />

versuchten sie vielmehr, das BGH-Urteil<br />

zu bekräftigen. Da die PID sich nicht<br />

mehr totipotenter, sondern pluripotenter<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 5


T I T E L<br />

6<br />

Zellen bediene, verstoße sie nicht gegen<br />

§ 2 Abs. 2 ESchG. Pluripotente Zellen<br />

unterlägen »keinem gesetzlichen oder<br />

ethischen Verwendungsverbot«. <strong>Die</strong> PID<br />

wird auf eine »Untersuchungsmethode«<br />

reduziert. Der tödliche Selektionsaspekt<br />

wird, wie schon von Hepp in der Verteidigung<br />

der Stellungnahme der Bundesärztekammer<br />

im Jahr 2000, ausgeblendet.<br />

Dann wird die Diagnostik auf ein »Zwischenziel«<br />

im Gesamtvorgang »Herbeiführung<br />

einer Schwangerschaft« reduziert,<br />

das im Übrigen »dem Informationsrecht<br />

der Eltern« diene. Da sich der Selektionsaspekt<br />

aber nicht vollkommen ignorieren<br />

lässt, wird auch in dieser Stellungnahme<br />

§ 3 Satz 2 ESchG bemüht, der bei<br />

der In-vitro-Fertilisation die Auswahl einer<br />

Samenzelle ermöglicht. <strong>Die</strong> Gutachter<br />

– überwiegend Naturwissenschaftler<br />

– halten immerhin fest: »Samenzellen<br />

stellen noch kein individuell festgelegtes<br />

Leben dar.« Aber diese Feststellung<br />

bleibt <strong>für</strong> das Ergebnis ihres Gutachtens<br />

folgenlos. Ebenso wie der Gesetzgeber in<br />

§ 218 StGB wertende Entscheidungen<br />

und in § 3 ESchG ausnahmsweise eine<br />

Geschlechtswahl zugelassen habe, müsse<br />

er auch <strong>für</strong> die Regelung der PID eine<br />

Wahl durch eine »persönliche Gewissensentscheidung«<br />

erlauben. An zahlreichen<br />

Stellen des Gutachtens greifen die<br />

Gutachter auf das Gewissen zurück. Im<br />

Konflikt zwischen den sozialen und gesundheitlichen<br />

Lebensinteressen der Frau<br />

und dem <strong>Lebensrecht</strong> des Embryos komme<br />

»der Gewissensentscheidung der Frau<br />

eine überragende Bedeutung zu«. Eine<br />

solche Gewissensentscheidung zu achten,<br />

sei »eine Errungenschaft des freiheitlich<br />

demokratischen Verfassungsstaates«.<br />

Starke Worte, die allerdings die Entscheidung<br />

des Bundesverfassungsgerichts<br />

zum Abtreibungsstrafrecht vom 28. Mai<br />

1993 ignorieren. Darin war genau dieser<br />

Rückgriff auf das Gewissen ausgeschlossen<br />

worden: Eine Frau, die sich <strong>für</strong> eine<br />

Abtreibung entschieden habe, so erklärte<br />

das Gericht, könne »<strong>für</strong> die damit einhergehende<br />

Tötung des Ungeborenen nicht<br />

etwa eine grundrechtlich in Art. 4 Abs.<br />

1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch<br />

nehmen«. <strong>Die</strong> Gewissensfreiheit<br />

hat ihre Grenze mithin am <strong>Lebensrecht</strong>.<br />

Das Gutachten unterstellt schließlich<br />

– wie auch der Gesetzentwurf der Abgeordneten<br />

Ulrike Flach, Peter Hintze u.a.<br />

Rechtlose Objekte oder Subjekte mit Rechten? Der Mensch kurz nach seiner Zeugung.<br />

DANIEL RENNEN<br />

zur Legalisierung der PID – einen »Wertungswiderspruch«<br />

zwischen dem strikten<br />

Embryonenschutz im ESchG und den<br />

Regelungen des Abtreibungsstrafrechts,<br />

die eine Abtreibung nach einer Pränataldiagnostik<br />

(PND) »sogar bis zum Einsetzen<br />

der Eröffnungswehen« erlauben.<br />

Der Embryo in vitro sei viel besser geschützt<br />

als der Embryo in utero. <strong>Die</strong> PID<br />

solle deshalb als eine vorgezogene PND,<br />

die die Frau viel weniger belaste als eine<br />

Abtreibung, ermöglicht werden. Von einem<br />

»Wertungswiderspruch« zwischen<br />

dem Verbot der PID und der Erlaubnis<br />

einer Abtreibung nach § 218a Abs. 2<br />

StGB lässt sich aber nur sprechen, wenn<br />

unterstellt wird, das Strafgesetzbuch erlaube<br />

eine Abtreibung auf Grund einer<br />

Behinderung des Kindes. Das aber wollte<br />

die Reform des § 218 StGB 1995 gerade<br />

ausschließen, indem sie auf eine eugenische<br />

oder embryopathische Indikation<br />

verzichtete. Sie hätte ganz offenkundig<br />

dem 1994 in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG<br />

eingefügten Diskriminierungsverbot Behinderter<br />

widersprochen. Nach § 218a<br />

Abs. 2 StGB sollte nur jene Abtreibung<br />

»nicht rechtswidrig« sein, die eine Gefahr<br />

<strong>für</strong> das Leben oder den körperlichen<br />

oder seelischen Gesundheitszustand der<br />

Schwangeren abwenden will und die auf<br />

eine andere <strong>für</strong> die Schwangere zumutbare<br />

Weise nicht abgewendet werden kann.<br />

Wenn realistischerweise unterstellt wird,<br />

dass sich in der weiten medizinischen Indikation<br />

des § 218a Abs. 2 jedwede Abtreibung<br />

aus embryopathischen Gründen<br />

verstecken lässt, dann ließe sich ein<br />

solcher »Widerspruch« logischerweise<br />

auch dadurch auflösen, dass die weite<br />

medizinische Indikation durch eine enge<br />

ersetzt wird, die eine Abtreibung nur<br />

dann straflos stellt, wenn das Leben der<br />

Frau bedroht ist.<br />

<strong>Die</strong> Auflösung eines solchen Wertungswiderspruchs,<br />

wenn er denn vorläge,<br />

hätte sich am Grundgesetz, also am<br />

Verfassungsrecht, und nicht am untergeordneten<br />

und überaus problematischen<br />

Abtreibungsstrafrecht zu orientieren. Gegen<br />

die Unterstellung eines »Wertungswiderspruchs«<br />

spricht schließlich auch<br />

noch die Vorschrift in § 218a Abs. 2, dass<br />

die Gefahr <strong>für</strong> die Schwangere »nicht<br />

auf eine andere <strong>für</strong> sie zumutbare Weise<br />

abgewendet werden kann«. Für eine<br />

Frau oder ein Paar, das sich auf Grund<br />

einer erblichen Belastung in einem Konflikt<br />

sieht und deshalb eine PID in Erwägung<br />

zieht, ist die Gefahr durch einen<br />

Verzicht auf die assistierte Reproduktion<br />

vermeidbar. Der existentielle Konflikt einer<br />

Schwangeren ist von anderer Qualität<br />

als der Konflikt eines solchen Paares. Kinderlosigkeit<br />

ist keine Notlage. <strong>Die</strong> Frau<br />

oder das Paar haben kein Recht auf ein<br />

Kind um den Preis einer tödlichen Selektion.<br />

Das Recht auf reproduktive Freiheit<br />

hat wie das Recht auf Gewissensfreiheit<br />

seine Grenze an den Grundrechten<br />

Dritter. »Noch so verständliche Wünsche<br />

und Sehnsüchte <strong>sind</strong> keine Rechte.<br />

Es gibt kein Recht auf Kinder. Aber<br />

es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder<br />

auf liebende Eltern – und vor allem das<br />

Recht darauf, um ihrer selbst willen auf<br />

die Welt zu kommen und geliebt zu werden.«<br />

(Johannes Rau)<br />

Was schließlich die Unterstellung eines<br />

»Wertungswiderspruchs« zwischen<br />

dem Verbot der PID und der Tolerierung<br />

von Nidationshemmern betrifft,<br />

so ist festzuhalten, dass sich das Strafgesetzbuch<br />

mit Straftaten beschäftigt, die<br />

als solche erkennbar sein müssen. <strong>Die</strong><br />

Wirkungen nidationshemmender Mittel<br />

aber <strong>sind</strong> als solche nicht erkennbar.<br />

Sie können logischerweise kein Gegenstand<br />

des Strafgesetzbuches sein.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


§ 218 Abs. 1 Satz 2 (»Handlungen, deren<br />

Wirkung vor Abschluss der Einnistung<br />

des befruchteten Eies in die Gebärmutter<br />

eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch<br />

im Sinne dieses Gesetzes«)<br />

lässt sich deshalb nicht als Beleg<br />

<strong>für</strong> die Behauptung gebrauchen, die<br />

deutsche Rechtsordnung vertrete unterschiedliche<br />

Definitionen des Lebensbeginns.<br />

Unbenommen bliebe es dem Gesetzgeber<br />

aber auch hier, Besorgnissen<br />

wegen der Abtreibungswirkung nidationshemmender<br />

Mittel durch ein Verbot<br />

ihres Vertriebs zu begegnen. Ein aufgeklärter<br />

Lebensschutz würde ein solches<br />

Verbot rechtfertigen.<br />

DIE ESHRE-DATEN<br />

Hoher Verschleiß – von der Eizelle zum Kind<br />

DANIEL RENNEN<br />

68.568<br />

gewonnene Eizellen<br />

56.325<br />

befruchtete Eizellen<br />

40.713<br />

Zu den vom Gericht und auch von der<br />

Stellungnahme der Leopoldina nicht hinreichend<br />

beachteten Fakten, die die mit<br />

der PID verbundene Selektion belegen,<br />

gehören die von der Europäischen Gesellschaft<br />

<strong>für</strong> Humanreproduktion und<br />

Embryologie jährlich publizierten Daten.<br />

<strong>Die</strong> European Society of Human<br />

Reproduction and Embryology (ESH-<br />

RE) ist keine Lebensschutzorganisation,<br />

sondern die Berufsvereinigung der<br />

Reproduktionsmediziner. Sie sammelt<br />

die Daten der PID-Zentren über die behandelten<br />

Zyklen, die Biopsien, die Diagnosen,<br />

auch die Fehldiagnosen, die<br />

Implantationen, die Schwangerschaften<br />

und die geborenen Kinder. Ein internationales<br />

Team von Reproduktionsmedizinern<br />

und Genetikern wertet die Daten<br />

aus und berichtet seit 2001 jährlich in der<br />

in Oxford erscheinenden Zeitschrift Human<br />

Reproduction über die Ergebnisse.<br />

entstandene Embryonen<br />

Einstufung als<br />

transferierbar<br />

10.084<br />

Quelle: Bericht der Berufsvereinigung der Reproduktionsmediziner, 2007<br />

Transfer in<br />

Gebärmutter<br />

7.183<br />

Schwangerschaften<br />

Geburten<br />

1.609 1.206<br />

In den Jahren 2009 und 2010 wurden die<br />

Daten von jeweils 57 Zentren ausgewertet.<br />

<strong>Die</strong> Zentren verteilen sich über den<br />

ganzen Globus von Argentinien über<br />

Taiwan bis Finnland und von der Ukraine<br />

über die Türkei und Israel bis in die<br />

USA. Auch sechs deutsche Zentren <strong>sind</strong><br />

dabei. <strong>Die</strong> Volksrepublik China und Afrika<br />

fehlen und von den USA hat vermutlich<br />

die Mehrheit der PID-Zentren ihre<br />

Daten nicht gemeldet. Dennoch <strong>sind</strong><br />

die Daten repräsentativ <strong>für</strong> das Ausmaß<br />

der Selektion, die mit der PID verbunden<br />

ist. Sie zeigen, dass auf einen Embryo,<br />

der es 2007 nach einer PID bis zur<br />

Geburt schaffte, mehr als 33 Embryonen<br />

kamen, die der PID zum Opfer fielen.<br />

<strong>Die</strong> einzelnen Schritte dieser Selektion<br />

werden in den Daten minutiös dokumentiert<br />

(siehe Grafik).<br />

In 5.887 Zyklen wurden 68.568 Eizellen<br />

gewonnen, von denen 56.325 einer<br />

Insemination zugeführt wurden. Daraus<br />

entstanden 40.713 Embryonen. Eine<br />

erfolgreiche Zellentnahme zur Biopsie<br />

fand bei 31.520 Embryonen statt. Davon<br />

wurden 28.998 einer Diagnose unterzogen<br />

und 10.084, also knapp 35 Prozent,<br />

als transferierbar eingestuft. In eine Gebärmutter<br />

transferiert wurden 7.183 Embryonen,<br />

1.386 wurden kryokonserviert.<br />

Erfolgreich war die Implantation aber nur<br />

in rund 22 Prozent der Fälle, das heißt,<br />

sie führte zu 1.609 Schwangerschaften.<br />

<strong>Die</strong>se wiederum endeten in 977 Geburten<br />

mit 1.206 Kindern. Bei 40.713 Embryonen<br />

und 1.206 geborenen Kindern<br />

bedeutet PID somit: auf ein Kind kommen<br />

33,7 selektierte und verworfene Embryonen.<br />

<strong>Die</strong> Daten der ESHRE zeigen<br />

das dramatische Ausmaß der Selektion.<br />

<strong>Die</strong> Diagnostik hat nie den Zweck einer<br />

üblichen medizinischen Diagnostik,<br />

nämlich dem diagnostizierten Patienten<br />

eine angemessene Therapie zukommen<br />

zu lassen, sondern immer den Zweck einer<br />

Fahndung nach Embryonen mit bestimmten<br />

Krankheitsdispositionen zum<br />

Zweck der Selektion und Tötung. Mit<br />

dem ärztlichen Heilauftrag hat die PID<br />

nichts zu tun. Darüber hinaus informieren<br />

die Daten der ESHRE auch über die<br />

Geschlechtsselektion, das sogenannte Social<br />

Sexing, über den Fetozid und die Pränataldiagnostik,<br />

die 2007 in 25 Prozent<br />

der PID-Fälle während der Schwangerschaft<br />

zur Absicherung der PID durchgeführt<br />

wurde. Damit wird auch die Behauptung<br />

relativiert, die PID sei eine Art<br />

vorverlagerte Pränataldiagnose. <strong>Die</strong> 2010<br />

veröffentlichte Statistik enthält auch eine<br />

Zusammenfassung der von 2001 bis<br />

2009 präsentierten Daten. Danach wurden<br />

in den neun Jahren 161.644 Embryonen<br />

zum Zweck einer PID hergestellt.<br />

Davon wurden 28.761 in eine Gebärmutter<br />

übertragen. Sie führten zu 5.135 Geburten.<br />

Im Vergleich mit diesen Zahlen<br />

zeigen die Daten von 2010 auch die rasante<br />

Ausbreitung der PID. Sie bestätigen<br />

Regine Kolleks These, dass die Durchführung<br />

reproduktionsmedizinischer und<br />

genetischer <strong>Die</strong>nstleistungen »in hohem<br />

Maße angebotsgesteuert« ist. Nicht die<br />

Nachfrage nach PID führt zur Vermehrung<br />

der PID-Zentren, sondern die Vermehrung<br />

der PID-Zentren führt zur Zunahme<br />

der PID.<br />

KONSEQUENZEN FÜR STAAT UND GE-<br />

SELLSCHAFT<br />

<strong>Die</strong> Legalisierung der PID hat erhebliche<br />

Konsequenzen <strong>für</strong> den Rechtsstaat,<br />

seine Verfassung und seine Rechtsordnung.<br />

Sie konterkariert das Embryonenschutzgesetz.<br />

Sie widerspricht den<br />

ersten drei Artikeln des Grundgesetzes,<br />

der Gewährleistung der Menschenwürde<br />

(Art. 1 Abs. 1), dem <strong>Lebensrecht</strong> (Art. 2<br />

Abs. 2) sowie dem Diskriminierungsverbot<br />

Behinderter (Art. 3 Abs. 3). Nicht zuletzt<br />

gefährdet sie mit dem Gleichheitsprinzip<br />

einen Pfeiler des Demokratieverständnisses.<br />

DAS EMBRYONENSCHUTZGESETZ<br />

Das ESchG von 1990 hatte das Ziel,<br />

die assistierte Reproduktion, die 1982 in<br />

Deutschland zur Geburt des ersten im Labor<br />

erzeugten Kindes führte, zu regulieren,<br />

um den künstlich erzeugten Embryo<br />

zu schützen. Das ESchG war ein Instrument<br />

des <strong>Lebensrecht</strong>s von Embryonen,<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 7


T I T E L<br />

nicht der Fortpflanzungsfreiheit von Eltern.<br />

Es verbot den Reproduktionsmedizinern<br />

deshalb, »mehr Eizellen einer Frau<br />

zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus<br />

übertragen werden sollen« (§ 1 Abs.<br />

1 Nr. 5) und es verbot zugleich, »innerhalb<br />

eines Zyklus mehr als drei Embryonen<br />

auf eine Frau zu übertragen« (§ 1<br />

Abs. 1 Nr. 3). Mit diesen Verboten sollte<br />

verhindert werden, dass im Labor Embryonen<br />

erzeugt werden, die keine Chance<br />

mehr auf einen Transfer in eine Gebärmutter<br />

haben, denen also noch vor<br />

der Implantation das <strong>Lebensrecht</strong> abgesprochen<br />

wird. <strong>Die</strong> Anwälte einer Zulassung<br />

der PID, wie die Gutachter der Leopoldina,<br />

versuchen, ihr Plädoyer <strong>für</strong> eine<br />

Legalisierung dadurch zu stützen, dass<br />

sie der Frau ein Recht zugestehen, sich<br />

auch im Rahmen einer künstlichen Befruchtung<br />

<strong>für</strong> oder gegen den Embryo zu<br />

entscheiden. Auch ohne eine PID könne<br />

die Frau den Transfer des im Labor<br />

erzeugten Embryos ablehnen. Deshalb<br />

sei es ihr Recht, die Übertragung eines<br />

Embryos auch nach einer PID abzulehnen.<br />

<strong>Die</strong> Gutachter ignorieren die Logik<br />

der assistierten Reproduktion. Sie setzen<br />

sich darüber hinweg, dass zwischen einer<br />

künstlichen Befruchtung und der Implantation<br />

des im Labor erzeugten Embryos<br />

ein »strenges Konnexitätsverhältnis« besteht.<br />

Eltern, die sich zu einer assistierten<br />

Reproduktion entschließen, haben<br />

mit der Spende der Eizelle und der Samenzelle<br />

bei erfolgreicher Befruchtung<br />

bereits die Elternverantwortung im Sinne<br />

von Art. 6 Abs. 2 GG übernommen, der<br />

sie sich nicht nachträglich und willkürlich<br />

wieder entziehen dürfen. »Elternschaft<br />

8<br />

»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«, so das Grundgesetz.<br />

kann man nicht wie Erbschaft beliebig<br />

annehmen oder ausschlagen.« (Christian<br />

Hillgruber) Wer sich auf eine künstliche<br />

Befruchtung einlässt, ist demnach<br />

moralisch verpflichtet, sich den erzeugten<br />

Embryo auch implantieren zu lassen.<br />

Deshalb schrieb das ESchG vor, nur so<br />

viele Embryonen zu erzeugen, wie in einem<br />

Zyklus implantiert werden können.<br />

Für die PID aber würden nach dem Papier<br />

der DGGG von 2005 »mindestens 4<br />

bis 6 Embryonen (in Schweden10)« benötigt.<br />

Letztlich würde bei einer Legalisierung<br />

der PID aber jede Begrenzung<br />

der Zahl der Embryonen hinfällig. Wenn<br />

nämlich die »erfolgreiche Behandlung«<br />

zum Maßstab der künstlichen Befruchtung<br />

mit PID wird, können so viele Embryonen<br />

erzeugt werden, wie zum Zweck<br />

des Transfers eines gewünschten Embryos<br />

notwendig <strong>sind</strong>. Unter der Hand hätten<br />

mit der Legalisierung der PID auch die<br />

Reproduktionsmediziner ihr Ziel erreicht,<br />

mehr Eizellen befruchten zu können, um<br />

die Erfolgsquote der künstlichen Befruchtung<br />

zu erhöhen. Das ESchG würde von<br />

einem Instrument des <strong>Lebensrecht</strong>es des<br />

Embryos zu einem Instrument der Fortpflanzungsfreiheit<br />

der Frau.<br />

DIE MENSCHENWÜRDEGARANTIE<br />

(ART. 1 ABS. 1 GG)<br />

<strong>Die</strong> Anerkennung einer unantastbaren<br />

Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG beinhaltet<br />

das Verbot, den Menschen wie eine<br />

Sache zu behandeln. Würde ist Anspruch<br />

auf Achtung allein auf Grund des Menschseins.<br />

Mensch sein heißt Person sein und<br />

Person sein heißt, ein »Jemand« und nicht<br />

DANIEL RENNEN<br />

ein »Etwas« zu sein. Aus einem »Etwas«<br />

kann nie ein »Jemand« werden. Das Personsein<br />

des Menschen beginnt deshalb mit<br />

dem Menschsein, also mit der Zeugung.<br />

Jeder spätere Beginn des Personseins wäre<br />

willkürlich und würde den Embryo der<br />

Macht derjenigen ausliefern, die die Zäsur<br />

– Nidation, Hirntätigkeit, Empfindungsoder<br />

Kommunikationsfähigkeit, extrauterine<br />

Lebensfähigkeit, Geburt oder was auch<br />

immer – definieren. Nicht das Vorliegen<br />

bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten<br />

verleiht die Menschenwürde, sondern<br />

allein das Menschsein, das heißt die<br />

Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Das<br />

Bundesverfassungsgericht stellte deshalb<br />

in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht<br />

vom 25. Februar 1975 fest: »Wo<br />

menschliches Leben existiert, kommt ihm<br />

Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend,<br />

ob der Träger sich dieser Würde bewusst<br />

ist und sie selbst zu wahren weiß. <strong>Die</strong><br />

von Anfang an im menschlichen Sein angelegten<br />

potentiellen Fähigkeiten genügen,<br />

um die Menschenwürde zu begründen.«<br />

Über Jahrzehnte galt das Verdinglichungsverbot<br />

in der Interpretation des<br />

Grundgesetzes wie auch in der Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts als<br />

Kern der Menschenwürdegarantie. <strong>Die</strong>ses<br />

Verdinglichungsverbot gilt <strong>für</strong> jeden<br />

Menschen und in allen Phasen seiner Existenz,<br />

mithin auch in der frühesten Phase.<br />

<strong>Alle</strong>s, was mit einem Menschen in dieser<br />

frühesten Phase seiner Existenz im Labor<br />

oder in der Gebärmutter getan wird,<br />

muss deshalb »nicht nur im Interesse der<br />

Eltern, sondern vor allem in seinem eigenen<br />

Interesse liegen. Der menschliche<br />

Embryo ist bereits ›Selbstzweck‹, propter<br />

seipsum existens, um seiner selbst willen<br />

existierend, wie Thomas von Aquin sagt<br />

und worin Kant mit ihm einig ist.« Aus<br />

dem Verdinglichungsverbot ergibt sich<br />

die Verfassungswidrigkeit der PID. In der<br />

diagnostischen Selektion liegt eine Instrumentalisierung<br />

des menschlichen Embryos<br />

vor, die ihn nicht mehr als Subjekt,<br />

sondern ausschließlich als Objekt behandelt.<br />

<strong>Die</strong>s gilt nicht nur bei der Erzeugung<br />

von sogenannten Rettungsgeschwistern,<br />

die unter einer Vielzahl von Embryonen<br />

nach bestimmten genetischen Merkmalen<br />

als passende Zell-, Knochenmarks- oder<br />

Blutspender ausgewählt werden, sondern<br />

bei jedem Embryo, der nach PID selektiert<br />

wird. <strong>Die</strong> PID verletzt deshalb die Würde<br />

des Embryos ebenso wie sein Recht auf<br />

Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />

Sie widerspricht dem Grundgesetz und<br />

dem ESchG. Darin stimmen zahlreiche<br />

Medizinrechtler und Verfassungsrechtler,<br />

aber auch Philosophen und Theologen<br />

überein.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


DAS RECHT AUF LEBEN UND KÖRPERLI-<br />

CHE UNVERSEHRTHEIT (ART. 2 ABS. 2 GG)<br />

Das Recht auf Leben und körperliche<br />

Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG<br />

kommt »jedem« Menschen vom Anfang<br />

seiner Existenz an zu. Auch hier hat das<br />

Bundesverfassungsgericht in seinem ersten<br />

Urteil zum Abtreibungsstrafrecht 1975<br />

klare Worte gefunden. Weil der Entwicklungsprozess<br />

des Menschen »ein kontinuierlicher<br />

Vorgang« sei, der keine scharfen<br />

Einschnitte aufweise und eine genaue<br />

Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen<br />

nicht zulasse, sei er auch nicht<br />

mit der Geburt beendet. Deshalb könne<br />

»der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG<br />

weder auf den ›fertigen‹ Menschen nach<br />

der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen<br />

nasciturus beschränkt werden«.<br />

<strong>Die</strong> PID missachtet dieses Recht,<br />

indem sie es auf das gewünschte gesunde<br />

oder unbelastete Kind beschränkt. Dem<br />

kranken oder belasteten Kind wird dieses<br />

Recht verwehrt. <strong>Die</strong> PID verletzt das<br />

den Rechtsstaat konstituierende Verbot,<br />

Unschuldige zu töten. <strong>Die</strong> Legalisierung<br />

der tödlichen Selektion erkrankter oder<br />

belasteter Embryonen wäre gleichbedeutend<br />

mit der Legalisierung privater Gewaltanwendung,<br />

die ebenfalls gegen eine<br />

Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates<br />

verstößt. So kam auch die Enquete-<br />

Kommission Recht und Ethik der modernen<br />

Medizin 2002 mit 16 zu 3 Stimmen<br />

zu dem Ergebnis, »dass die PID<br />

die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs.<br />

1 und das Recht auf Leben gemäß Art. 2<br />

Abs. 2 Satz 1 GG verletzt«. Nur mit einem<br />

gehörigen Maß an Betriebsblindheit<br />

oder Chuzpe lässt sich diese Logik leugnen.<br />

Klaus <strong>Die</strong>drich besitzt dieses Maß<br />

an Chuzpe, wenn er behauptet, die PID<br />

»Wer seinen Eltern Leid verursacht, darf beseitigt werden«, so müsste es künftig heißen.<br />

bedeute »keine Entscheidung gegen ein<br />

Kind mit einer bestimmten Erkrankung,<br />

sondern <strong>für</strong> die Gesundheit des betroffenen<br />

Paares, wenn dieses die Erkrankung<br />

des zu erwartenden kranken Kindes nicht<br />

in die zukünftige Lebensplanung zu integrieren<br />

imstande ist.« <strong>Die</strong>se Chuzpe erinnert<br />

an die Antwort der Regierung Kohl<br />

vom 29. Juni 1996 auf eine Kleine Anfrage<br />

zur Problematik der Spätabtreibungen<br />

und der weiten medizinischen Indikation,<br />

in der die Fiktion verbreitet wurde,<br />

Ziel des Schwangerschaftsabbruches sei<br />

die »Beendigung der Schwangerschaft«,<br />

nicht jedoch »die Tötung des Kindes«.<br />

<strong>Die</strong> PID stellt das <strong>Lebensrecht</strong> des Embryos<br />

zur Disposition der Eltern. Sie macht<br />

es vom Bestehen eines Eignungstests abhängig.<br />

Sie beinhaltet den Anspruch der<br />

Mutter und der Reproduktionsmediziner,<br />

eine Lizenz zum Leben zu erteilen<br />

oder zu verweigern. Der Preis <strong>für</strong> ein gesundes<br />

Kind nach PID ist der Tod von<br />

weit über 30 Embryonen, wie die Daten<br />

der ESHRE jährlich zeigen. Aber selbst<br />

wenn nur ein Embryo der tödlichen Selektion<br />

zum Opfer fallen würde, wäre die<br />

PID eine Verletzung des Rechts auf Leben,<br />

mithin verfassungswidrig.<br />

DAS DISKRIMINIERUNGSVERBOT<br />

BEHINDERTER (ART. 3 ABS. 3 GG)<br />

»Niemand darf wegen seiner Behinderung<br />

benachteiligt werden.« <strong>Die</strong>se 1994<br />

beschlossene Ergänzung des Gleichheitsgrundsatzes<br />

in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG<br />

veranlasste den Bundestag bei der Reform<br />

des Abtreibungsstrafrechts in § 218a StGB<br />

ein Jahr später auf die noch 1992 eingeführte<br />

embryopathische Indikation, die<br />

eine Abtreibung rechtfertigen sollte und<br />

vom Bundesverfassungsgericht in seinem<br />

DANIEL RENNEN<br />

Urteil 1993 auch noch als grundgesetzkonform<br />

eingeschätzt wurde, wieder zu<br />

verzichten. Eine Abtreibung auf Grund<br />

einer Behinderung des Embryos wäre ein<br />

offenkundiger Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot<br />

in Art. 3 Abs. 3 Satz 2<br />

GG. Genauso ist aber auch die PID eine<br />

Verletzung dieses Diskriminierungsverbots.<br />

Sie sucht gezielt nach behinderten<br />

oder genetisch belasteten Embryonen,<br />

um sie von einer Übertragung<br />

in eine Gebärmutter auszuschließen. Sie<br />

setzt die stillschweigende oder auch katalogisierte<br />

Unterscheidung von lebenswertem<br />

und lebensunwertem Leben voraus.<br />

Sie dient nicht der Verhinderung,<br />

sondern der Vernichtung von erkrankten<br />

oder belasteten Embryonen.<br />

<strong>Die</strong> Legalisierung der PID wäre auch<br />

ein Verstoß gegen die UN-Konvention<br />

über die Rechte von Menschen mit Behinderung,<br />

die von Deutschland am 30.<br />

März 2007 unterzeichnet wurde und die<br />

am 3. Mai 2008 völkerrechtlich in Kraft<br />

trat. In Art. 7 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten,<br />

»alle erforderlichen<br />

Maßnahmen« zu treffen, »um zu gewährleisten,<br />

dass Kinder mit Behinderungen<br />

gleichberechtigt mit anderen Kindern<br />

alle Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

genießen können« (Abs. 1), und dass<br />

»bei allen Maßnahmen, die Kinder mit<br />

Behinderungen betreffen, … das Wohl<br />

des Kindes ein Gesichtspunkt (ist), der<br />

vorrangig zu berücksichtigen ist« (Abs.<br />

2). <strong>Die</strong>ses vorrangige Wohl des Kindes,<br />

das als gleichberechtigtes Grundrechtssubjekt<br />

gesehen wird, schließt eine Legalisierung<br />

der PID aus.<br />

<strong>Die</strong> PID öffnet das Tor zur vorgeburtlichen<br />

Qualitätskontrolle. Sie erzeugt gesellschaftliche<br />

Erwartungen, dass behindertes<br />

Leben vermeidbar sei. Sie verstärkt<br />

den bereits durch die Praxis der Pränataldiagnostik<br />

auf die Mütter ausgeübten<br />

Druck, gesunde Kinder zu gebären. Sie<br />

fördert die Vorstellung, die Reproduktionsmedizin<br />

erfülle Optimierungswünsche.<br />

Eine solche Entwicklung entspräche<br />

dem, was der Pionier der assistierten<br />

Reproduktion und Träger des Medizinnobelpreises<br />

2010 Robert Edwards<br />

schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

mit seinen Forschungen verband,<br />

nämlich den Eltern zu ermöglichen, die<br />

Verantwortung <strong>für</strong> die Gesundheit ihrer<br />

künftigen Kinder zu übernehmen. Eine<br />

solche Entwicklung würde dazu führen,<br />

dass »eine ungetestete Elternschaft im<br />

Ruf der Verantwortungslosigkeit« steht.<br />

Auch der Pionier der Genetik und Träger<br />

des Medizinnobelpreises 1962 James<br />

D. Watson forderte, Kinder, »deren Gene<br />

kein sinnvolles Leben zulassen, (…)<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 9


T I T E L<br />

10<br />

sollten gar nicht erst geboren werden«.<br />

Keine Mutter soll »unter einem Kind<br />

mit furchtbaren Entwicklungsfehlern leiden«.<br />

Deshalb solle man »bis zwei Tage<br />

nach der Geburt warten, bevor man etwas<br />

als Leben deklariert, als ein Kind mit<br />

Zukunft«. Den IVF-Patientinnen würde<br />

»der Qualitätscheck per Embryonenauswahl<br />

(…) potenzielles Leiden ersparen –<br />

und den Krankenkassen Kosten. Routinemäßig<br />

durchgeführt, dürfte die Selektionstechnik<br />

viel preiswerter sein als ein<br />

weiterer IVF-Zyklus.« <strong>Die</strong> Legalisierung<br />

der PID führt »zur gesellschaftlichen<br />

Legitimierung einer zunehmenden Diskriminierung,<br />

Stigmatisierung und Entsolidarisierung<br />

von chronisch Kranken,<br />

Behinderten und deren Familien«. <strong>Die</strong><br />

Stellungnahme der Leopoldina behauptet<br />

zwar, dass von der Zulassung der PID<br />

»negative Auswirkungen auf Integration<br />

und Unterstützung geborener Menschen<br />

mit erblichen Krankheiten (…) ebenso<br />

wenig zu erwarten« seien, »wie sie bisher<br />

durch die PND-Praxis eingetreten« <strong>sind</strong>.<br />

Den gesellschaftlichen Auswirkungen der<br />

PND-Praxis wird diese Behauptung wohl<br />

kaum gerecht, gibt es doch genügend Erfahrungen<br />

von Eltern behinderter Kinder,<br />

die immer wieder implizit oder explizit<br />

zu hören bekamen, dass »so etwas«<br />

doch heute nicht mehr sein müsse. <strong>Die</strong><br />

Gutachter, denen solche Erfahrungen offenkundig<br />

nicht ganz verborgen blieben,<br />

wissen dem nur einen moralischen Appell<br />

entgegenzusetzen: »Einem respektlosen<br />

Verhalten gegen Menschen mit Behinderungen<br />

oder ihre Eltern ist jedenfalls<br />

entgegenzuwirken.« Mit der Legalisierung<br />

der PID werden aber die Verschiebung<br />

gesellschaftlicher Erwartungen<br />

und der Druck auf die Eltern gefördert.<br />

Das Diskriminierungsverbot Behinderter<br />

kann deshalb nur durch ein Verbot der<br />

PID aufrechterhalten werden.<br />

DAS DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS<br />

Der demokratische Rechtsstaat setzt<br />

die Gleichheit der Bürger voraus – nicht<br />

die soziale Gleichheit oder die Gleichheit<br />

der Anlagen, der Fähigkeiten oder<br />

des Vermögens, aber die Gleichheit »vor<br />

dem Gesetz«, wie es in Art. 3 GG heißt,<br />

das heißt die Gleichheit im Menschsein<br />

oder im »naturwüchsigen Ursprung«.<br />

Das Prüfsiegel verletzt auch die Würde derer, die den Gen-Check überlebt haben.<br />

Dass die Menschen gezeugt und nicht<br />

erzeugt werden, ist die Voraussetzung<br />

der prinzipiellen Gleichheit, mithin die<br />

Grundlage einer Demokratie. Werden<br />

Menschen dagegen einer PID unterzogen,<br />

bevor sie die Lizenz zum Leben erhalten,<br />

hängt ihr Leben vom Urteil und<br />

vom Willen des Reproduktionsmediziners<br />

ab, dem die Eltern die Ressourcen geliefert<br />

haben. Durch die PID gewöhnt sich<br />

die Gesellschaft nicht nur »an eine Einkaufsmentalität<br />

bei der Fortpflanzung«,<br />

sie öffnet vielmehr das Tor zu einer eugenischen<br />

Gesellschaft. Eine Reproduktionsmedizin,<br />

die den Menschen nicht mehr<br />

als empfangenes Geschöpf, sondern als<br />

bestelltes Produkt betrachtet, verändert<br />

die gesellschaftlichen Beziehungen. Der<br />

Mensch, der »gemacht« wird, kann auch<br />

zerstört werden. <strong>Die</strong> Gemachten <strong>sind</strong> die<br />

Geschöpfe der Macher. <strong>Die</strong>s zerstört die<br />

Symmetrie der Beziehungen, auf die jede<br />

Zivilgesellschaft und jede Demokratie<br />

angewiesen <strong>sind</strong>.<br />

DANIEL RENNEN<br />

In der Warnung vor dieser Gefahr <strong>sind</strong><br />

sich die katholische Kirche und Jürgen<br />

Habermas einig. Für Habermas verletzt<br />

die PID die »Reziprozitätsbedingungen<br />

der kommunikativen Verständigung«,<br />

die bei allen gentechnischen und medizinischen<br />

Eingriffen die Möglichkeit einer<br />

Konsensunterstellung des betroffenen<br />

Embryos verlangen. Menschenwürde<br />

sei an die »Symmetrie der Beziehungen«<br />

gebunden. »Sie ist nicht eine Eigenschaft,<br />

die man von Natur aus ›besitzen‹<br />

kann wie Intelligenz oder blaue Augen;<br />

sie markiert vielmehr diejenige ›Unantastbarkeit‹,<br />

die allein in den interpersonalen<br />

Beziehungen reziproker Anerkennung,<br />

im egalitären Umgang der Personen<br />

miteinander eine Bedeutung haben<br />

kann«. <strong>Die</strong> katholische Kirche stellte bereits<br />

1987 in der Instruktion »Donum Vitae«<br />

über die Achtung vor dem beginnenden<br />

menschlichen Leben und die Würde<br />

der Fortpflanzung und dann erneut<br />

2008 in »Dignitas Personae«, der Fortschreibung<br />

von »Donum Vitae«, fest, die<br />

künstliche Befruchtung vertraue »das Leben<br />

und die Identität des Embryos der<br />

Macht der Mediziner und Biologen an«<br />

und errichte »dadurch eine Herrschaft<br />

der Technik über Ursprung und Bestimmung<br />

der menschlichen Person«. Eine<br />

derartige »Herrschaftsbeziehung« aber<br />

widerspreche »in sich selbst der Würde<br />

und der Gleichheit, die Eltern und Kindern<br />

gemeinsam sein muss«. Künstliche<br />

Befruchtung und PID widersprechen dem<br />

jeder freiheitlichen Gesellschaft und somit<br />

auch jeder rechtsstaatlichen Demokratie<br />

zugrundeliegenden Prinzip gegenseitiger<br />

Anerkennung des jeweils anderen<br />

als mir Gleichem, und eben nicht als<br />

von mir Gewolltem bzw. Ausgewähltem.<br />

I M P O R T R A I T<br />

Prof. Dr. phil. Manfred Spieker<br />

Geboren 1943 in München. Studium der<br />

Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte<br />

an den Universitäten Freiburg,<br />

Berlin und München.<br />

1968 Diplom<br />

in Politologie. 1973<br />

Promotion zum Dr.<br />

phil. 1982 Habilitation<br />

im Fach Politische<br />

Wissenschaft.<br />

Ab 1983 Professor <strong>für</strong> Christliche<br />

Sozialwissenschaften am Institut <strong>für</strong> Katholische<br />

Theologie an der Universität<br />

Osnabrück. Verschiedene Gastprofessuren<br />

im Ausland.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


T I T E L<br />

<strong>Die</strong> PID und ihre negativen<br />

Folgen <strong>für</strong> den Lebensschutz<br />

Der Streit um die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist kein bioethischer<br />

Nebenkriegsschauplatz, sondern von erheblicher Bedeutung <strong>für</strong> die generelle Wertschätzung des<br />

<strong>Lebensrecht</strong>s ungeborener Menschen. Der nachfolgende Beitrag basiert auf dem 2. Teil eines<br />

fulminanten Vortrags, den der Autor auf der diesjährigen Bundesdelegiertenversammlung<br />

der ALfA in Fulda gehalten hat.<br />

Von Professor Dr. med. Axel W. Bauer<br />

Bei der Präimplantationsdiagnostik<br />

handelt es sich um einen manipulativen<br />

Eingriff in den frühen Embryo,<br />

bei dem Zellen <strong>für</strong> Untersuchungszwecke<br />

entnommen werden. Der Gesundheit<br />

des betroffenen Embryos dient ein solcher<br />

Eingriff sicher nicht. Zum einen kann<br />

der winzige Embryo bei der Zellentnahme<br />

selbst irreparabel beschädigt werden,<br />

zum anderen fehlen ihm, jedenfalls nach<br />

der Entnahme, die besagten Zellen. Da<br />

die Zellen in diesem Stadium vermutlich<br />

nicht mehr totipotent <strong>sind</strong>, ist es keineswegs<br />

sicher, dass ihre Wegnahme in allen<br />

Fällen problemlos durch weitere Zellteilungen<br />

kompensiert werden kann.<br />

Ferner gibt es bei jedem biomedizinischen<br />

Untersuchungsverfahren »falsch<br />

positive« und »falsch negative« Ergebnisse.<br />

Bei einem »falsch positiven« Resultat<br />

wird die zu testende Krankheitsanlage<br />

fälschlicherweise diagnostiziert, obwohl<br />

sie gar nicht vorhanden ist. Bei einem<br />

»falsch negativen« Ergebnis würde<br />

die gesuchte Krankheitsanlage dagegen<br />

fälschlicherweise übersehen, obwohl sie<br />

vorliegt. »Falsch positive« Ergebnisse<br />

kommen besonders dann zustande, wenn<br />

die angewendete Untersuchungsmethode<br />

eine hohe Sensitivität aufweist, wenn<br />

sie also darauf angelegt ist, möglichst wenige<br />

Krankheitsanlagen zu übersehen.<br />

Ein Reproduktionsmediziner, der sich<br />

gegen die spätere Forderung zivilrechtlichen<br />

Schadensersatzes nach der Geburt<br />

eines von seinen Eltern so nicht erwünschten<br />

Kindes absichern will, täte also<br />

im eigenen Interesse gut daran, Embryonen<br />

mit einem »positiven« Testergebnis<br />

auf keinen Fall zu implantieren, denn<br />

der wegen eines falsch positiven Untersuchungsresultats<br />

»verworfene« und deshalb<br />

nie geborene Mensch (be)klagt (sich)<br />

nicht. Im Fall der Geburt eines falsch negativ<br />

Getesteten lägen die Dinge hingegen<br />

anders, denn es könnten dem an der<br />

Zeugung beteiligten Arzt erheblicher finanzieller<br />

Schaden sowie eine Minderung<br />

seines beruflichen Ansehens wegen mangelhafter<br />

fachlicher Expertise drohen.<br />

Schließlich kann man gegen die Präimplantationsdiagnostik<br />

einwenden, dass<br />

die genetische Untersuchung eines wenige<br />

Tage alten Embryos nicht ausreichen<br />

kann, um seine spätere körperliche und<br />

geistige Entwicklung im Detail sicher zu<br />

prognostizieren. Es ist also vollkommen<br />

spekulativ, wenn jetzt mitunter behauptet<br />

wird, durch die Einführung der PID<br />

könne die Zahl der Spätabtreibungen ge-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 11


A U S L A N D<br />

senkt werden. Es dürfte eher so sein, dass<br />

die Bandbreite von »Normalität«, die in<br />

unserer Gesellschaft künftig noch toleriert<br />

werden wird, durch die Möglichkeiten,<br />

welche die PID bietet, deutlich schmaler<br />

werden wird. Immer geringere Abweichungen<br />

von der vermeintlichen »Idealnorm«<br />

werden künftig bereits durch die<br />

PID vorselektiert werden, und diese Entwicklung<br />

wird sich nach erfolgter Pränataldiagnostik<br />

weiter fortsetzen. Denn<br />

ein Embryo, der nach einer PID erfolgreich<br />

in die Gebärmutter implantiert werden<br />

konnte, hätte ja nur die erste Hürde<br />

künftiger »Qualitäts-Checks« überlebt.<br />

Bis zur Geburt blieben dann immer noch<br />

rund 260 Tage Zeit, in denen Humangenetiker,<br />

Gynäkologen und werdende Eltern<br />

dem Embryo bzw. dem Fötus das (Über-)<br />

Leben weiterhin schwermachen können.<br />

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich<br />

die PID dauerhaft auf bestimmte, als besonders<br />

schwerwiegend geltende Krankheiten<br />

oder Behinderungen eingrenzen<br />

ließe. Zum einen läge dann tatsächlich<br />

eine grundgesetzwidrige Diskriminierung<br />

derjenigen Menschen vor, die unter<br />

einer solchen Krankheit oder Behinderung<br />

leiden. Eine konkrete Liste mit<br />

<strong>für</strong> eine PID zugelassenen Krankheiten<br />

oder Behinderungen wird es also schon<br />

aus diesem Grund nicht geben. Zum anderen<br />

werden aber die dann als Alternative<br />

zu Gebot stehenden Einzelfallentscheidungen<br />

die Tendenz haben, immer<br />

mehr Normabweichungen <strong>für</strong> »schwerwiegend«<br />

zu erklären, denn dieser wertende<br />

Begriff ist nirgendwo scharf definiert<br />

und unterliegt naturgemäß einem<br />

enormen kulturellen, sozialen und historischen<br />

Interpretationsspielraum. Mit<br />

Recht halten zum Beispiel viele langjährige<br />

Diabetiker ihre Erkrankung <strong>für</strong> durchaus<br />

schwerwiegend und wünschen sich,<br />

dass ihre Kinder vor dieser Stoffwechselstörung<br />

bewahrt bleiben mögen. Könnte<br />

also nicht auch eine genetisch erkennbare<br />

Disposition <strong>für</strong> den Diabetes mellitus<br />

schon bald eine mögliche Indikation zur<br />

PID und damit zur Tötung der entsprechenden<br />

Embryonen darstellen?<br />

Grundsätzlich müssen Gesetze einen<br />

gewissen Abstraktionsgrad besitzen, um<br />

auf Dauer anwendbar und flexibel zu bleiben.<br />

<strong>Die</strong> jeweils aktuelle Interpretation<br />

von Gesetzen erfolgt schließlich durch<br />

die Gerichte. Das ist im Prinzip nicht zu<br />

kritisieren. Problematisch <strong>sind</strong> die Dinge<br />

jedoch vor allem im Strafrecht, das ja<br />

seiner Natur nach fragmentarisch angelegt<br />

ist und das, wie ich eingangs schon<br />

erwähnt habe, sehr präzise formuliert sein<br />

muss, da es nicht analog und rückwirkend<br />

interpretiert werden darf.<br />

12<br />

WEITGEHENDE ERLAUBNIS DER PID:<br />

DER GESETZENTWURF FLACH/HINTZE<br />

Noch vor der Sommerpause 2011 trifft<br />

der Deutsche Bundestag eine Entscheidung<br />

darüber, ob die Präimplantationsdiagnostik<br />

künftig ausdrücklich von Gesetzes<br />

wegen erlaubt oder aber explizit<br />

verboten werden soll. Wie schon in früheren<br />

biopolitischen Streitfällen gibt es<br />

auch dieses Mal keinen Fraktionszwang.<br />

Vielmehr liegen drei interfraktionelle Gesetzentwürfe<br />

vor.<br />

Der erste und zugleich der im Sinne einer<br />

Zulassung der PID »liberalste« Entwurf,<br />

den die Abgeordneten Ulrike Flach<br />

(FDP), Peter Hintze (CDU), Carola Reimann<br />

(SPD), Jerzy Montag (Bündnis 90/<br />

DIE GRÜNEN) und Petra Sitte (<strong>Die</strong><br />

Peter Hintze, CDU<br />

WWW.BMWI.DE<br />

WWW.ULRIKE-FLACH.DE<br />

Ulrike Flach, FDP<br />

LINKE) eingebracht haben, zielt auf eine<br />

weite Erlaubnis der PID durch formale<br />

Änderung des Embryonenschutzgesetzes<br />

(ESchG) ab. »Fehl- oder Totgeburten<br />

oder die Geburt eines schwer kranken<br />

Kindes sollen auf diese Weise verhindert<br />

werden«, schrieb Ulrike Flach, die<br />

im Mai 2011 Parlamentarische Staatssekretärin<br />

im Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit<br />

(BMG) wurde, dazu im Januar<br />

2011 auf ihrer Homepage. Formal soll dazu<br />

in das Embryonenschutzgesetz im Anschluss<br />

an den § 3, der die Geschlechtswahl<br />

verbietet, ein neuer § 3a mit 6 Absätzen<br />

und der Überschrift Präimplantationsdiagnostik<br />

eingefügt werden.<br />

In Absatz 1 wird die PID zunächst<br />

grundsätzlich als strafbewehrtes Vergehen<br />

eingestuft und der Täter mit einer<br />

Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder<br />

mit Geldstrafe bedroht. In Absatz 2 folgen<br />

jedoch sogleich die Ausnahmen von<br />

diesem Verbot: Besteht auf Grund genetischer<br />

Disposition der Eltern oder eines<br />

Elternteils <strong>für</strong> deren Nachkommen<br />

eine »hohe Wahrscheinlichkeit« <strong>für</strong> eine<br />

»schwerwiegende Erbkrankheit«, so<br />

handelt nicht rechtswidrig, wer den Embryo<br />

in vitro vor dem intrauterinen Transfer<br />

auf die Gefahr dieser Krankheit untersucht.<br />

Ebenso wenig handelt rechtswidrig,<br />

wer eine PID zur Feststellung einer<br />

Schädigung des Embryos vornimmt,<br />

die mit »hoher Wahrscheinlichkeit« zu<br />

einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird.<br />

<strong>Die</strong> Begriffe »hohe Wahrscheinlichkeit«,<br />

»schwerwiegend« und »Erbkrankheit«<br />

<strong>sind</strong> selbstverständlich deutungsoffen<br />

und gegebenenfalls weit auslegbar.<br />

So dürfte nicht nur eine Mukoviszidose,<br />

sondern etwa auch eine vererbte Anlage<br />

zum Diabetes mellitus Typ 2 durch<br />

angeborene Insulinunempfindlichkeit<br />

von den Betroffenen als eine durchaus<br />

»schwerwiegende« Gesundheitsstörung<br />

erlebt werden. Auch familiäre Genvarianten,<br />

die eine Entwicklung von Brustkrebs<br />

oder Darmkrebs im höheren Lebensalter<br />

begünstigen können, wird man<br />

als Träger solcher Gene sicherlich nicht<br />

auf die leichte Schulter nehmen. Je nach<br />

der künftigen Interpretation dieses Absatzes<br />

wäre damit zu rechnen, dass in absehbarer<br />

Zeit praktisch jedes gravierende<br />

genetische Erkrankungsrisiko einen akzeptablen<br />

Grund <strong>für</strong> die Durchführung<br />

einer PID und die anschließende »Verwerfung«<br />

der betroffenen Embryonen<br />

liefern würde.<br />

Bemerkenswert ist, dass eben diese<br />

»Verwerfung«, also die Tötung der Embryonen<br />

durch Nicht-Implantation in<br />

die Gebärmutter der Frau, im geplanten<br />

Gesetzestext mit keinem Wort erwähnt<br />

wird. Sie wird lediglich stillschweigend<br />

als »logische« Konsequenz mitgedacht<br />

bzw. in Rechnung gestellt, da es ja letztlich<br />

der formalen Entscheidung der Frau<br />

überlassen bleibt, ob sie sich einen bestimmten<br />

Embryo implantieren lassen<br />

will oder nicht.<br />

Zudem haben es die Autoren des Gesetzentwurfs<br />

unterlassen, zugleich eine<br />

Änderung von § 1 Absatz 1 Nr. 5 ESchG<br />

vorzuschlagen, ohne welche die effek-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


tive Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik<br />

indessen nicht möglich<br />

sein wird. Nach diesen Bestimmungen<br />

in ihrer gegenwärtigen Fassung ist es<br />

nämlich verboten, mehr Eizellen einer<br />

Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines<br />

Zyklus übertragen werden sollen (§<br />

1 Abs. 1 Nr. 5). Da innerhalb eines Zyklus<br />

aber nicht mehr als drei Embryonen<br />

auf eine Frau übertragen werden dürfen<br />

(§ 1 Abs. 1 Nr. 3), folgt daraus, dass auch<br />

jeweils maximal drei Embryonen je Zyklus<br />

befruchtet und mittels PID untersucht<br />

werden können. Sofern von diesen<br />

nach der Diagnostik dann ein oder zwei<br />

Embryonen als geschädigt »ausgesondert«<br />

werden, sinken die Aussichten <strong>für</strong><br />

den Erfolg der In-vitro-Fertilisation beträchtlich.<br />

Für eine im technischen Sinne<br />

»gute« PID benötigt man wenigstens<br />

acht Embryonen zur Auswahl.<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, dass § 1 Abs. 1 ESchG<br />

zunächst offenbar unverändert bleiben<br />

soll, bedeutet nicht, dass die Autoren<br />

des Gesetzentwurfs an dieser Stelle unaufmerksam<br />

gewesen wären. Vielmehr<br />

dürfte es das Kalkül sein, diesen technisch<br />

erforderlichen Schritt erst dann zu<br />

gehen, wenn die PID im Grundsatz erlaubt<br />

sein wird. Denn eine Änderung von<br />

§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG würde die logische<br />

Verknüpfung von PID und embryonaler<br />

Stammzellforschung im Moment<br />

allzu deutlich in den Blick der Öffentlichkeit<br />

geraten lassen: Je mehr »überzählige«,<br />

weil nicht implantierte Embryonen<br />

nach einer PID vorhanden <strong>sind</strong>, desto<br />

stärker wird der politische Druck werden,<br />

diese anschließend <strong>für</strong> die Stammzellforschung<br />

einzusetzen, damit sie wenigstens<br />

noch einem »nützlichen« Zweck<br />

zur Verfügung stehen. Der Import embryonaler<br />

Stammzelllinien aus dem Ausland<br />

könnte dann reduziert oder gar eingestellt<br />

werden. Da die PID-Be<strong>für</strong>worter<br />

die Stammzelldebatte im Augenblick aus<br />

taktischen Erwägungen <strong>für</strong>chten, haben<br />

sie auf die Änderung von § 1 Abs. 1 Nr.<br />

5 ESchG verzichtet. Der Preis da<strong>für</strong> ist<br />

allerdings darin zu sehen, dass der jetzige<br />

Änderungsvorschlag nicht geeignet ist, die<br />

Präimplantationsdiagnostik in der Praxis<br />

effektiv durchzuführen. Seine Funktion<br />

ist die eines »Türöffners«.<br />

In dem geplanten Absatz 3 des Gesetzentwurfs<br />

wird sodann eine Beratungsregelung<br />

vorgesehen, die noch komplexer<br />

anmutet als diejenige vor einem späten<br />

Schwangerschaftsabbruch nach § 218a<br />

Abs. 2 StGB und die vermutlich noch<br />

wirkungsloser bleiben dürfte als jene.<br />

So darf die PID nur nach einer medizinischen<br />

und psychologischen Beratung<br />

und schriftlichen Einwilligung der »Mutter«<br />

von fachlich geschulten Ärzten (also<br />

nicht: Fachärzten) – nach einem positiven<br />

Votum einer interdisziplinär zusammengesetzten<br />

Ethikkommission – nur in<br />

<strong>für</strong> die Präimplantationsdiagnostik lizenzierten<br />

Zentren vorgenommen werden.<br />

<strong>Die</strong> durchgeführten Maßnahmen sollen<br />

in einer Zentralstelle dokumentiert werden.<br />

Wer ohne diese Voraussetzungen eine<br />

PID vornimmt, handelt ordnungswidrig<br />

und riskiert nach Absatz 4 eine Geldbuße<br />

bis zu 50.000 Euro.<br />

Absatz 5 stellt fest, dass kein Arzt verpflichtet<br />

werden kann, sich an einer PID<br />

zu beteiligen. Aus seiner Weigerung dürfen<br />

ihm keine Nachteile erwachsen, doch<br />

schweigt der Gesetzentwurf darüber,<br />

durch welche arbeitsrechtlichen Maßnahmen<br />

dieses löbliche Ziel sichergestellt<br />

werden könnte. <strong>Alle</strong>in der Nachweis, dass<br />

eine berufliche Benachteiligung im Krankenhaus<br />

darauf beruht, dass eine Ärztin<br />

oder ein Arzt nicht an der Präimplantationsdiagnostik<br />

mitwirkt, dürfte in der Realität<br />

kaum jemals gelingen. Der soziale<br />

Druck innerhalb der Kollegenschaft und<br />

die bekanntermaßen mangelhafte Solidarität<br />

unter Ärzten im Allgemeinen <strong>sind</strong><br />

hier in Rechnung zu stellen.<br />

Absatz 6 schließlich ist vor allem dazu<br />

geeignet, der Bürokratie neue Arbeit<br />

zu verschaffen. Dem Lebensschutz<br />

dient es jedenfalls nicht, wenn die Bundesregierung<br />

in jeder Legislaturperiode,<br />

frühestens aber zwei Jahre nach Inkrafttreten<br />

des Gesetzes, einen Bericht<br />

über die Erfahrungen mit der PID erstellen<br />

muss. <strong>Die</strong>ser Bericht soll auf der<br />

Grundlage der zentralen Dokumentation<br />

die Zahl der jährlich durchgeführten<br />

Maßnahmen sowie eine wissenschaftliche<br />

Auswertung auf der Basis anonymisierter<br />

Daten enthalten.<br />

Im Allgemeinen Teil ihrer Begründung<br />

führen die Autoren aus, dass »bei der Abwägung<br />

zwischen den Ängsten und Nöten<br />

der Betroffenen und ethischen Bedenken<br />

wegen der Nichtimplantation eines<br />

schwer geschädigten Embryos« der vorliegende<br />

Gesetzentwurf »eine Entscheidung<br />

zugunsten der betroffenen Frau«<br />

treffe. Damit wird in letzter Konsequenz<br />

auch der Frau die moralische Verantwortung<br />

<strong>für</strong> den Tod ihrer nicht implantierten<br />

Embryonen persönlich zugewiesen.<br />

Es darf bezweifelt werden, dass diese<br />

Sicht der Dinge von den Betroffenen<br />

tatsächlich als »Gunst« empfunden werden<br />

wird, denn die moralischen Skrupel<br />

enden nicht am Tag nach der PID. Sie<br />

können noch nach Jahren oder gar Jahrzehnten<br />

in Erscheinung treten und unter<br />

Umständen gerade die Frau außerordentlich<br />

belasten.<br />

Auch bei der formalen Einreihung der<br />

PID als § 3a des Embryonenschutzgesetzes<br />

haben sich die Verfasserinnen und Verfasser<br />

etwas gedacht. Doch das, was sie sich<br />

dabei gedacht haben, zeigt in erschreckender<br />

Weise ihre ethische Indifferenz: »Eine<br />

Einfügung der Bestimmung nach § 3<br />

empfiehlt sich wegen einer Vergleichbarkeit<br />

der Regelungsinhalte: § 3 Satz 2 lässt<br />

aus schwerwiegenden genetischen Gründen<br />

eine Ausnahme von dem grundsätzlichen<br />

Verbot des Satzes 1 zu, eine Samenzelle<br />

<strong>für</strong> die künstliche Befruchtung<br />

nach dem Geschlecht auszuwählen; § 3a<br />

will aus entsprechenden Gründen – allerdings<br />

<strong>für</strong> den Fall einer Nichtimplantation<br />

bereits befruchteter Eizellen – eine<br />

begrenzte Ausnahme vom grundsätzlichen<br />

Schutz der Embryonen regeln.«<br />

Durch die erkennbar unzulässige Analogisierung<br />

von Samenzelle (Spermium) und<br />

befruchteter Eizelle (Embryo) soll offenbar<br />

mit Absicht verschleiert werden, dass<br />

es in der Folge einer PID zum Tod eines,<br />

wenn auch noch winzigen menschlichen<br />

Lebewesens geht und nicht »nur« um die<br />

Verwerfung einer haploiden Keimzelle.<br />

EIN BISSCHEN PID? DER »KOMPRO-<br />

MISSVORSCHLAG« RÖSPEL/HINZ<br />

Am 29. Dezember 2010 warnte Priska<br />

Hinz, Bundestagsabgeordnete von Bündnis<br />

90/<strong>Die</strong> GRÜNEN, vor einer breiten<br />

Zulassung der PID. Sie warb <strong>für</strong> eine Begrenzung<br />

der Methode auf die Lebensfähigkeit<br />

des Embryos. »Mir geht es […]<br />

nicht um die Frage, ob der Embryo lebenswert<br />

ist.« Frau Hinz legte gemeinsam<br />

mit dem SPD-Abgeordneten René<br />

Röspel, dem FDP-Abgeordneten Patrick<br />

Meinhardt und dem CDU-Abgeordneten<br />

Norbert Lammert am 28. Januar<br />

2011 einen eigenen Gesetzentwurf<br />

vor, der im Bundestag zu Unrecht als<br />

»Kompromiss« gehandelt wird. Durch<br />

eine initial scheinbar sehr restriktive Zulassung<br />

der PID würde nämlich der Weg<br />

<strong>für</strong> spätere gesetzliche Erweiterungen gebahnt<br />

werden, sodass am Ende des Weges<br />

auch hier das Argument der schiefen<br />

Ebene griffe. Der Entwurf sieht vor, dass<br />

die PID ausnahmsweise <strong>für</strong> solche Paare<br />

zugelassen werden soll, die eine »genetische<br />

Vorbelastung da<strong>für</strong> haben, dass<br />

Schwangerschaften in der Regel mit einer<br />

Fehl- oder Totgeburt oder dem sehr<br />

frühen Tod des Kindes innerhalb des ersten<br />

Lebensjahres enden«. Da<strong>für</strong> muss<br />

bei den Eltern oder einem Elternteil eine<br />

humangenetisch diagnostizierte Disposition<br />

vorliegen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

eine Schädigung des Embryos,<br />

Fötus oder Kindes zur Folge hat,<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 13


T I T E L<br />

René Röspel, SPD<br />

welche zur Tot- oder Fehlgeburt oder zum<br />

Tod im ersten Lebensjahr führen kann.<br />

<strong>Die</strong> Durchführung der PID soll nur an<br />

einem lizenzierten Zentrum zulässig sein.<br />

Nach Darlegung der Autoren macht<br />

damit ihr Gesetzentwurf die Lebensfähigkeit<br />

und nicht den Lebenswert des Embryos<br />

zum zentralen Maßstab des erlaubten<br />

Handelns. Doch bereits diese Aussage<br />

ist falsch, da ja auch solche Menschen<br />

nicht zur Entwicklung kommen sollen,<br />

deren Leben womöglich nicht länger als<br />

ein Jahr dauern würde. An einer zentralen<br />

Stelle geht der Gesetzentwurf sogar<br />

über den Entwurf Flach/Hintze hinaus,<br />

indem er nämlich in § 1 Absatz 1 ESchG<br />

einen Satz 2 anfügen will, wonach künftig<br />

mehr als drei Eizellen je Zyklus befruchtet<br />

werden dürfen. Für eine technisch<br />

sinnvolle Durchführung der PID<br />

benötigt man nämlich wenigstens acht<br />

Embryonen zur »Auswahl«. <strong>Die</strong> Frage,<br />

was anschließend mit den »überzähligen«<br />

Embryonen geschehen soll, klammert der<br />

Gesetzentwurf wohlweislich aus.<br />

GESETZENTWURF FÜR EIN<br />

VOLLSTÄNDIGES VERBOT DER PID<br />

VON BENDER/KOBER<br />

Am 17. Dezember 2010 veröffentlichte<br />

eine weitere Gruppe von Bundestagsabgeordneten,<br />

zu denen Andrea Nahles<br />

(SPD), Johannes Singhammer (CSU),<br />

Rudolf Henke (CDU), Birgitt Bender<br />

(Bündnis 90/DIE GRÜNEN), Kathrin<br />

Vogler (DIE LINKE) und Pascal Kober<br />

(FDP) gehörten, ein Eckpunktepapier mit<br />

Gründen <strong>für</strong> ein umfassendes Verbot der<br />

PID. <strong>Die</strong> Autoren begründeten ihre Initiative<br />

so: »<strong>Die</strong> durch Legalisierung der<br />

PID gesetzlich legitimierte Selektion vor<br />

Beginn der Schwangerschaft würde einen<br />

Paradigmenwechsel darstellen. Eine Gesellschaft,<br />

in der der Staat darüber entscheidet<br />

oder andere darüber entscheiden<br />

14<br />

WWW.SPD-HAGEN.DE<br />

WW.PRISKAHINZ.DE<br />

lässt, welches Leben gelebt werden darf<br />

und welches nicht, verliert ihre Menschlichkeit.<br />

Ein immer weiter um sich greifendes<br />

medizinisches Optimierungsstreben<br />

verletzt und stigmatisiert alle Menschen,<br />

die sich bewusst gegen die Idee<br />

Priska Hinz, Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen<br />

der Machbarkeit entscheiden. Ein gewichtiges<br />

Argument gegen die PID <strong>sind</strong><br />

ferner die internationalen Erfahrungen,<br />

nach denen eine Begrenzung auf Einzelfälle<br />

nicht möglich ist. <strong>Die</strong> hohen gesundheitlichen<br />

Belastungen und die unsicheren<br />

›Erfolgs‹prognosen der PID zeigen,<br />

dass diese die geweckten Hoffnungen<br />

nicht erfüllt.«<br />

Kritisch bewerteten die Abgeordneten<br />

den Vorschlag der PID-Be<strong>für</strong>worter<br />

hinsichtlich einer Begrenzung der medizinischen<br />

Indikation durch einen Katalog:<br />

»Ein solcher Katalog hat Selektionscharakter<br />

und lädt zur Ausweitung auf weitere<br />

Indikationen ein. Auch der Versuch,<br />

die Anwendung der PID auf Fälle erwarteter<br />

Totgeburten oder früher Kindssterblichkeit<br />

zu begrenzen, löst dieses Grundproblem<br />

nicht. Hierdurch würde die Ausnahme<br />

vom gesetzlichen Verbot abhängig<br />

gemacht vom jeweils aktuellen Stand<br />

des medizinischen Fortschritts und damit<br />

weder Rechtssicherheit noch eine die Eltern<br />

befriedende Abgrenzung geschaffen.<br />

Der Vorschlag, die Entscheidung dem<br />

betroffenen Paar und/oder Arzt, ggf. mit<br />

Zustimmung einer Ethikkommission, zu<br />

überlassen, würde faktisch einer kompletten<br />

Freigabe der PID gleichkommen.«<br />

Am 8. Februar 2011 brachte die interfraktionelle<br />

Gruppe um Birgitt Bender<br />

(Bündnis 90/<strong>Die</strong> GRÜNEN), Pascal<br />

Kober (FDP), Dr. Günter Krings (CDU)<br />

und Johannes Singhammer (CSU) einen<br />

entsprechenden Gesetzentwurf ein, der<br />

das vollständige Verbot der PID über eine<br />

Änderung des 2009 verabschiedeten<br />

Gendiagnostikgesetzes (GenDG) erreichen<br />

will. <strong>Die</strong>ses Gesetz soll in seinem<br />

Anwendungsbereich auf den menschlichen<br />

Embryo vor dem Beginn der Schwangerschaft<br />

ausgedehnt werden, indem in § 2<br />

GenDG die Worte »während der Schwangerschaft«<br />

wegfallen. Ferner wird die Embryo-Definition<br />

des Embryonenschutzgesetzes<br />

in das Gendiagnostikgesetz (§ 3<br />

Ziffer 2a GenDG) übernommen und klargestellt,<br />

dass sich die in § 15 erwähnten<br />

genetischen Untersuchungen ausschließlich<br />

auf Embryonen und Föten während<br />

der Schwangerschaft beziehen. In einem<br />

neu geschaffenen § 15a GenDG wird die<br />

PID ausdrücklich verboten. Schließlich<br />

werden die Strafvorschriften in § 25 Abs.<br />

4 GenDG entsprechend erweitert.<br />

<strong>Die</strong> drei Gesetzentwürfe wurden am<br />

15. April 2011 in erster Lesung im Deutschen<br />

Bundestag behandelt. Nach einer<br />

am 25. Mai 2011 durchgeführten Expertenanhörung<br />

soll das Gesetz noch vor der<br />

Sommerpause verabschiedet werden. Derzeit<br />

ist unklar, welcher Entwurf am Ende<br />

die meisten Stimmen auf sich vereinigen<br />

wird, doch dürfte es in jedem Fall<br />

ein hartes Ringen um jene »unentschlossenen«<br />

bzw. biopolitisch nicht engagierten<br />

Abgeordneten geben, die sich bis jetzt<br />

noch nicht entschieden haben.<br />

GESPALTENES MEINUNGSBILD IN DER<br />

FÜHRUNG DER BUNDESÄRZTEKAMMER<br />

Am 27. Dezember 2010 prognostizierte<br />

der im Juni 2011 aus dem Amt geschiedene<br />

langjährige Präsident der Bundesärztekammer<br />

(BÄK), Prof. Dr. Jörg-<strong>Die</strong>trich<br />

Hoppe, dass sich der am 31. Mai 2011 in<br />

Kiel beginnende 114. Deutsche Ärztetag<br />

<strong>für</strong> die Zulassung der PID »in engen<br />

Grenzen« aussprechen werde. Das 2002<br />

auf dem Ärztetag in Rostock beschlossene<br />

Verbot werde keinen Bestand haben.<br />

Hoppe hielt zudem den Vorschlag der<br />

PID-Be<strong>für</strong>worter im Parlament <strong>für</strong> sinnvoll,<br />

die Diagnostik auf wenige spezialisierte<br />

Zentren zu begrenzen und bei jedem<br />

Fall eine Ethikkommission einzuschalten.<br />

Ein PID-Verbot führe zu einer<br />

»unlogischen Diskrepanz« im Vergleich<br />

zur erlaubten Untersuchung des Kindes<br />

während der Schwangerschaft. »Warum<br />

sollte es untersagt sein, ein[en] Embryo<br />

vor der Einpflanzung in den Mutterleib<br />

auf genetische Schäden zu untersuchen,<br />

wenn gleichzeitig bei einer festgestellten<br />

Behinderung Spätabtreibungen erlaubt<br />

<strong>sind</strong>?«, fragte Hoppe rhetorisch.<br />

<strong>Die</strong>se Aussage des bis dahin in ethischen<br />

Fragen eher als konservativ geltenden<br />

Präsidenten der Bundesärztekammer<br />

dokumentiert, wie stark die Sogwirkung<br />

der Regelungen über die Spätabtreibungen<br />

nach § 218a Absatz 2 StGB inzwischen<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


geworden ist. Das Argument der schiefen<br />

Ebene nach dem Muster »Wenn A<br />

erst einmal erlaubt ist, kann auch B nicht<br />

mehr verboten sein« entfaltet eine suggestive<br />

Kraft, die rational kaum noch zu<br />

durchbrechen ist.<br />

Etwas Hoffnung machte zunächst die<br />

gegenteilige Meinung, die Frank Ulrich<br />

Montgomery, langjähriger Vizepräsident<br />

und seit Juni 2011 neuer Präsident der Bundesärztekammer,<br />

am 10. Dezember 2010<br />

im Deutschen Ärzteblatt artikulierte. Seine<br />

Argumente waren zwar eher pragmatischer<br />

Art, doch eignen sich gerade solche<br />

Ansätze, um diejenigen, die ein noch<br />

schwankendes Urteil haben, von der Sinnhaftigkeit<br />

eines PID-Verbots zu überzeugen.<br />

Montgomery betonte, dass es in Verbindung<br />

mit der PID drei Irrtümer gibt:<br />

1.) <strong>Die</strong> PID liefere immer eine ganz<br />

Birgitt Bender, Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen<br />

WWW.BIGGI-BENDER.DE<br />

RONNY BUCK / WWW.PASCAL-KOBER.NET<br />

klare Diagnose. Das tut sie in sehr vielen<br />

Fällen jedoch nicht. Ganz oft besteht eine<br />

Grauzone, ein Interpretationsspielraum, in<br />

dem meist gegen den Embryo entschieden<br />

wird. 2.) <strong>Die</strong> PID sei eine einfache und<br />

leicht durchzuführende Methode. Auch<br />

das ist sie nicht. <strong>Die</strong> PID setzt eine In-vitro-Fertilisation<br />

(IVF) voraus und ersetzt<br />

im Grunde genommen nur die »Tragik<br />

der Schwangerschaft auf Probe« mit der<br />

Pränataldiagnostik und der Abtreibung.<br />

3.) <strong>Die</strong> Baby-take-home-Rate sei hoch.<br />

In Wirklichkeit aber ist die Erfolgsrate<br />

der PID sogar noch etwas niedriger als<br />

die bei der normalen IVF, die in Deutschland<br />

bei 18 bis 25 Prozent liege. Bei der<br />

PID beträgt sie zwischen 12,5 und 18 Prozent.<br />

Montgomery wörtlich: »Möglicherweise<br />

<strong>sind</strong> Alternativen zum eigenen Kind<br />

denkbar, zum Beispiel eine Adoption. […]<br />

Und: Muss denn der Kinderwunsch eines<br />

Paares um jeden Preis erfüllt werden?«<br />

Dessen ungeachtet haben die Delegierten<br />

des 114. Deutschen Ärztetages in Kiel<br />

am 1. Juni 2011 mit 204 Ja-Stimmen bei<br />

nur 33 Nein-Stimmen und sechs Enthaltungen<br />

ein vom Vorstand der Bundesärztekammer<br />

am 17. Februar 2011 vorgelegtes<br />

Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) verabschiedet. <strong>Die</strong> Delegierten<br />

sprachen sich damit <strong>für</strong> eine »begrenzte<br />

Zulassung« der Selektion des in der Petrischale<br />

künstlich erzeugten Lebens aus.<br />

INTERNATIONALE ERFAHRUNGEN<br />

MIT DER PID UND DAS VOTUM DES<br />

DEUTSCHEN ETHIKRATES<br />

Pascal Kober, FDP<br />

Der Deutsche Ethikrat informierte sich<br />

am 16. Dezember 2010 in einer öffentlichen<br />

Anhörung darüber, wie die PID in<br />

anderen Ländern praktiziert wird und welche<br />

Erfahrungen man damit gemacht hat.<br />

Das beschrieben Emely Jackson von der<br />

Britischen Zulassungsbehörde HFEA, Patrick<br />

Gaudray vom Französischen Ethikrat,<br />

Paul Devroey, ein belgischer PID-Protagonist,<br />

und Luca Gianaroli von der European<br />

Society of Human Reproduction<br />

and Embryology. Obwohl keiner der Referenten<br />

ein Gegner der PID ist, ließ die<br />

Anhörung dennoch viele Fragen offen.<br />

Das Expertenhearing bestätigte nämlich:<br />

1.) <strong>Die</strong> PID geht einher mit hohem<br />

»Embryonenverbrauch« sowie steter Ausweitung<br />

der »Selektion«. Das liegt daran,<br />

dass die Methode nicht allein dazu dient,<br />

Paaren ein gesundes Kind zu bescheren,<br />

sondern vor allem auch die (bisher bescheidenen)<br />

Implantationschancen zu verbessern.<br />

2.) <strong>Die</strong> Liste der Indikationen wird<br />

stetig länger. Klinisch relevant <strong>sind</strong> derzeit<br />

30 bis 40 Tests, darunter so umstrittene<br />

wie die auf einzelne Krebsarten, künftig<br />

möglich etwa 100. 3.) Gesucht wird<br />

nicht nur nach monogenetischen Defekten,<br />

sondern weit mehr noch – 61 Prozent<br />

aller Testungen – nach chromosomalen<br />

Anomalien. 4.) Um den einen einzigen<br />

»tadellosen« Embryo herauszufinden,<br />

der Erfolg versprechend transferiert<br />

werden kann, müssen zuvor viele Embryonen<br />

getestet werden. <strong>Die</strong> Zahl der Embryonen<br />

muss <strong>für</strong> PID weitaus höher sein,<br />

als in Deutschland bisher erlaubt ist, nämlich<br />

sieben und mehr statt drei pro Zyklus.<br />

5.) »Verdächtige« Embryonen werden<br />

vernichtet, »gute« implantiert, »gute«<br />

überschüssige eingefroren und <strong>für</strong> eine<br />

spätere Implantation oder <strong>für</strong> andere<br />

Zwecke aufgehoben. 6.) <strong>Die</strong> PID ersetzt<br />

nicht die PND (Pränataldiagnostik). Vielfach<br />

wird in der Schwangerschaft vorsichtshalber<br />

zusätzlich mit einer PND »nachgetestet«.<br />

In Frankreich zum Beispiel <strong>sind</strong><br />

die Zahlen der Pränataldiagnosen (29.779<br />

im Jahre 2008) und der darauf folgenden<br />

Spätabtreibungen (6.876 im Jahre 2008)<br />

hoch und trotz PID weiter leicht steigend.<br />

Am 8. März 2011 legte der Deutsche<br />

Ethikrat selbst eine 108-seitige Stellungnahme<br />

zur Präimplantationsdiagnostik vor,<br />

die aufgrund ihrer Detailliertheit in biomedizinischer,<br />

juristischer wie moralphilosophischer<br />

Hinsicht erfreulicherweise<br />

allgemeine Beachtung fand. Am Ende der<br />

Stellungnahme entschieden sich unter jeweils<br />

ausführlicher Darlegung ihrer Argumente<br />

13 Mitglieder des Rates <strong>für</strong> eine begrenzte<br />

Zulassung der PID, elf Mitglieder<br />

traten <strong>für</strong> ein Verbot des Verfahrens ein.<br />

RESÜMEE<br />

Der Schutz des menschlichen Embryos<br />

in Deutschland ist in den letzten<br />

zehn Jahren sowohl durch den biomedizinischen<br />

Fortschritt als auch durch flankierende<br />

rechtspolitische Veränderungen<br />

nicht unerheblich geschwächt worden.<br />

Wir befinden uns hier ohne Zweifel auf<br />

einer schiefen Ebene, die nur eine Richtung<br />

zu kennen scheint: Immer mehr Freiheit<br />

<strong>für</strong> die Forscher auf Kosten des Lebensschutzes.<br />

Hier ist höchste Aufmerksamkeit<br />

geboten. Besonnenes, aber entschlossenes<br />

Handeln ist notwendig, denn<br />

die Entscheidung des Deutschen Bundestages<br />

dürfte von einschneidender Bedeutung<br />

<strong>für</strong> die zukünftige Wertschätzung des<br />

menschlichen Lebens sein.<br />

I M P O R T R A I T<br />

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer<br />

Professor Dr. med. Axel W. Bauer, geboren<br />

1955, lehrt nach dem Studium der<br />

Medizin in Freiburg,<br />

der Promotion<br />

und Approbation<br />

als Arzt (1980)<br />

und seiner Habilitation<br />

in Heidelberg<br />

(1986) heute<br />

Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin<br />

an der Universität Heidelberg.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 15


T I T E L<br />

Breites Bündnis <strong>für</strong> PID-Verbot<br />

Noch kein anderes bioethisches Streitthema ist in der<br />

Zivilgesellschaft auf eine derart breite und bunte Ablehnung<br />

getroffen wie die Präimplantationsdiagnostik (PID). Das<br />

Besondere: <strong>Die</strong> Koalition der PID-Gegner umfasst selbst Organisationen<br />

und Verbände, die sonst nicht einmal miteinander reden.<br />

Von Matthias Lochner<br />

Ob jung oder alt, politisch links<br />

oder rechts, christlich oder nichtchristlich<br />

– das Bündnis <strong>für</strong> ein<br />

Verbot der Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) wird immer größer und bunter. <strong>Alle</strong><br />

Teile der Zivilgesellschaft <strong>sind</strong> vertreten:<br />

alle Milieus, unterschiedliche Weltanschauungen,<br />

diverse politische Richtungen<br />

und verschiedene gesellschaftliche<br />

Strömungen. Wie nicht anders erwartet,<br />

treten die <strong>Lebensrecht</strong>sgruppen<br />

unisono <strong>für</strong> ein PID-Verbot ein, darunter<br />

etwa der Bundesverband <strong>Lebensrecht</strong><br />

(BVL), die <strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong><br />

e.V. (ALfA), die Christdemokraten <strong>für</strong> das<br />

Leben (CDL) und die Stiftung Ja zum Leben.<br />

<strong>Die</strong> Kirchen lehnen eine Zulassung<br />

der PID ebenfalls ab: ob die Deutsche Bischofskonferenz<br />

(DBK), die Evangelische<br />

Kirche Deutschlands (EKD), die Deutsche<br />

Evangelische Allianz (DEA) oder die<br />

Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche<br />

(SELK) – sie alle haben sich mehrfach<br />

<strong>für</strong> ein PID-Verbot ausgesprochen. Auch<br />

viele den Kirchen nahestehende Verbände<br />

<strong>sind</strong> gegen die Zulassung der PID, darunter<br />

etwa das Zentralkomitee der deutschen<br />

Katholiken (ZdK) oder das Kolpingwerk<br />

Deutschland. Neben den <strong>Lebensrecht</strong>lern<br />

und den Kirchen haben<br />

sich auch viele Vereine, Organisationen<br />

und Verbände gegen die PID ausgesprochen,<br />

bei denen dies nicht unbedingt zu<br />

erwarten war. So haben etwa zahlreiche<br />

Expertinnen, die das Schicksal der Ehepaare<br />

kennen, <strong>für</strong> die eine PID in Frage<br />

kommen soll, ihre Bedenken gegenüber<br />

einer Zulassung der PID geäußert, darunter<br />

der Deutsche Hebammenverband<br />

(DHV), der Arbeitskreis Frauengesundheit<br />

(AKF) oder die Gesellschaft <strong>für</strong> Geburtsvorbereitung<br />

– Familienbildung und<br />

Frauengesundheit – Bundesverband e.V.<br />

Auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe<br />

<strong>für</strong> Menschen mit geistiger Behinderung<br />

e.V. hat mehrfach ihre ablehnende<br />

Haltung gegenüber der PID zum Ausdruck<br />

gebracht.<br />

In der jüngeren Generation stößt die<br />

PID ebenfalls auf Ablehnung: sowohl die<br />

mitgliederstärkste politische Jugendorganisation,<br />

die Junge Union Deutschlands<br />

(JU), als auch der größte Dachverband<br />

katholischer Kinder- und Jugendverbände,<br />

der Bund der Deutschen Katholischen<br />

Jugend (BDKJ), plädieren <strong>für</strong> ein umfassendes<br />

Verbot der PID.<br />

Nicht zuletzt <strong>sind</strong> auch große bekannte<br />

Hilfsorganisationen unter den PID-<br />

Gegnern zu finden: der Malteser Hilfsdienst,<br />

der Deutsche Caritasverband oder<br />

die Von Bodelschwinghschen Stiftungen<br />

Bethel. Schon diese Beispiele zeigen: In<br />

der Zivilgesellschaft wird die PID kritisch<br />

gesehen. Hier gibt es ein breites<br />

und buntes Bündnis von Be<strong>für</strong>wortern<br />

eines PID-Verbotes. Nachfolgend <strong>sind</strong><br />

alle Gruppierungen alphabetisch zusammengetragen,<br />

die sich <strong>für</strong> ein PID-Verbot<br />

ausgesprochen haben.<br />

Alphabetische Liste der Be<strong>für</strong>worter eines PID-Verbotes<br />

• <strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e. V. (ALfA)<br />

• Ärzte <strong>für</strong> das Leben<br />

• Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AGV)<br />

• Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF)<br />

• Autismus Deutschland e.V.<br />

• BioSkop – Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften e.V.<br />

• Bremische Zentralstelle <strong>für</strong> die Verwirklichung der Gleichberechtigung<br />

der Frau<br />

• Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ)<br />

• Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften e.V.<br />

• Bundesverband <strong>Lebensrecht</strong> (BVL)<br />

• Bundesvereinigung Lebenshilfe <strong>für</strong> Menschen mit geistiger Behinderung<br />

e.V.<br />

• Christdemokraten <strong>für</strong> das Leben e. V. (CDL)<br />

• Deutsche Bischofskonferenz (DBK)<br />

• Deutscher Caritasverband<br />

• Deutsche Evangelische Allianz (DEA)<br />

• Deutscher Hebammenverband (DHV)<br />

• Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.<br />

• Durchblick e. V.<br />

• Europäische Ärzteaktion e. V.<br />

• Evangelische Allianz<br />

• Evangelische Kirchen in Deutschland (EKD)<br />

• Familienbund der Katholiken (FDK)<br />

• Gen-ethisches Netzwerk e.V. (GeN)<br />

• Gesellschaft <strong>für</strong> Geburtsvorbereitung – Familienbildung und Frauengesundheit<br />

– Bundesverband e.V.<br />

• Hilfe <strong>für</strong> Mutter und Kind e. V.<br />

• Junge Union Deutschlands (JU)<br />

• Juristen-Vereinigung <strong>Lebensrecht</strong> e. V. (JVL)<br />

• Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung (KKV)<br />

• Kolpingwerk Deutschland<br />

• Kooperative Arbeit Leben Ehr<strong>für</strong>chtig Bewahren e. V. (KALEB)<br />

• Landesverband der Hebammen NRW<br />

• Malteser Hilfsdienst<br />

• Pro Conscientia e. V.<br />

• Pro Vita - Freikirchliche Initiative <strong>für</strong> das Leben<br />

• Pro mundis e. V.<br />

• Rahel e. V.<br />

• Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK)<br />

• Stiftung Ja zum Leben<br />

• Treffen Christlicher <strong>Lebensrecht</strong>-Gruppen e. V. (TCLG)<br />

• Verband der wissenschaftlichen katholischen Studentenvereine<br />

UNITAS (UV)<br />

• Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF)<br />

• Von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel<br />

• Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)<br />

• Zivile Koalition e.V.<br />

16<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


T I T E L<br />

Menschwerdung durch Nidation?<br />

Der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier, dessen Berufung als Richter am Bundesverfassungsgericht<br />

jäh gestoppt wurde, nachdem zahlreiche Organisationen an seinen relativierenden Äußerungen<br />

zum Verbot der Folter Anstoß genommen hatten, behauptet in einem F.A.Z.-Beitrag, das Grundgesetz<br />

schütze menschliche Embryonen erst ab der Einnistung in die Gebärmutter. Für »LebensForum«<br />

weist der Würzburger Medizinrechtler Rainer Beckmann Dreiers Behauptung als »haltlos« zurück.<br />

Von Rainer Beckmann<br />

In der Diskussion über den Status<br />

menschlicher Embryonen wird der<br />

Einnistung des Embryos in die Gebärmutter<br />

(Nidation) besondere Bedeutung<br />

beigemessen. Eine grundrechtliche<br />

Zäsur zu diesem Zeitpunkt wäre äußerst<br />

»praktisch«, da sie verfassungsrechtliche<br />

Einwände gegen den »Verbrauch«<br />

menschlicher Embryonen beseitigen und<br />

dem Gesetzgeber freie Hand z. B. bei der<br />

Regelung der Präimplantationsdiagnostik<br />

geben würde. Genau hierauf zielt offensichtlich<br />

ein Beitrag des Würzburger<br />

Rechtsprofessors Horst Dreier ab, der Ende<br />

Juni in der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung veröffentlicht worden ist (Ausgabe<br />

v. 22.06.2011, S. 7). Seine zum wiederholten<br />

Mal vorgetragenen Argumente<br />

erweisen sich jedoch als nicht stichhaltig.<br />

Dreier meint, dass die in den ersten<br />

Entwicklungstagen bestehende Möglichkeit<br />

der Mehrlingsbildung den grundrechtlichen<br />

Schutz von Embryonen ausschließe.<br />

Grundrechtsschutz komme nur<br />

einem »Individuum (also etwas Unteilbarem)«<br />

zu. <strong>Die</strong> »Individuation« sei »ungefähr<br />

zeitgleich mit der Nidation ... abgeschlossen«.<br />

<strong>Die</strong> »Teilungsfähigkeit« früher Embryonen<br />

steht aber in keinem Widerspruch<br />

zur Individualität des ungeteilten Embryos.<br />

Der Begriff »Individuum« geht zurück<br />

auf die griechische Naturphilosophie<br />

und bezeichnet den »kleinstmöglichen<br />

Teil einer Substanz, bei deren analytischer<br />

Zertrennung der Charakter dieser Substanz<br />

verloren ginge ...« (H.-B. Wuermeling).<br />

Individualität in diesem Sinn steht<br />

also einem Teilungs-Begriff gegenüber,<br />

der zur Substanzzerstörung führt. Bei lebenden<br />

Organismen gibt es aber zwei gegensätzliche<br />

Arten der »Teilung«: die Zerstörung<br />

des Organismus durch Beschädigung<br />

der Ganzheit und die »Teilung«<br />

im Sinne einer ungeschlechtlichen Vermehrung.<br />

Formalisiert kann man dies so<br />

ausdrücken: bei echter Teilung entsteht<br />

aus X zweimal ½ X, bei Vermehrung entsteht<br />

dagegen aus X zweimal 1 X = 2 X.<br />

Wenn – in seltenen Fällen – am Anfang<br />

der Embryonalentwicklung aus einem<br />

Embryo z. B. zwei Embryonen entstehen,<br />

dann liegt hierin keine Zerteilung<br />

in zwei »halbe« Embryonen, sondern eine<br />

(ungeschlechtliche) Vermehrung in<br />

zwei ganze Embryonen. <strong>Die</strong>se ändert<br />

an der Individualität des Ausgangsembryos<br />

nichts. <strong>Alle</strong> Lebewesen, bei denen<br />

eine Vermehrung durch »Teilung« vorkommt<br />

(insbesondere bei Pflanzen, aber<br />

auch einigen Tierarten), waren auch vor<br />

dem Vermehrungsvorgang einzelne Exemplare<br />

ihrer Spezies, nämlich »Individuen«.<br />

Das Gleiche gilt <strong>für</strong> den menschlichen<br />

Embryo. Auch im Frühstadium<br />

seiner Entwicklung, in der eine ungeschlechtliche<br />

Vermehrung möglich ist,<br />

ist er ein Individuum, ein einzelnes Lebewesen<br />

der Gattung Mensch.<br />

Im Übrigen handelt es sich bei der<br />

Nidation nicht um einen exakt bestimmbaren<br />

Zeitpunkt, sondern um einen sich<br />

über mehrere Tage hinweg erstreckenden<br />

Vorgang, der keine besondere Zäsur oder<br />

etwa einen »qualitativen Sprung« erkennen<br />

lässt. <strong>Die</strong> Einnistung beginnt am 5.<br />

bis 6. Entwicklungstag des Embryos und<br />

ist ungefähr am 12. Tag abgeschlossen.<br />

Während dieses Zeitraums dringt der<br />

Embryo in die Gebärmutterschleimhaut<br />

ein. Obwohl das Embryonalgewebe <strong>für</strong><br />

den mütterlichen Körper immunologisch<br />

»fremd« ist, findet keine Abstoßungsreaktion<br />

statt. <strong>Die</strong> genauen Mechanismen<br />

hier<strong>für</strong> <strong>sind</strong> ungeklärt. Funktionell handelt<br />

es sich bei der Nidation um den Übergang<br />

von der Eigenversorgung zur Fremdversorgung.<br />

Der Kontakt zur Gebärmutterschleimhaut<br />

wird von der äußeren Zellhülle<br />

(»Trophoblast«/«Trophectoderm«)<br />

hergestellt. <strong>Die</strong> Trophoblastzellen heften<br />

sich an die Gebärmutterschleimhaut,<br />

dringen in sie ein und bilden im weiteren<br />

Verlauf zusammen mit mütterlichem<br />

ARCHIV<br />

Horst Dreier<br />

Gewebe die Plazenta. Über die Plazenta<br />

erfolgt die Versorgung des Embryos mit<br />

Nahrung und Sauerstoff bis zur Geburt.<br />

Während des Nidationsvorgangs zeigt<br />

sich keine kategoriale Änderung des Embryos.<br />

<strong>Alle</strong> Prozesse haben ihren Ausgangspunkt<br />

in der Verschmelzung von<br />

Ei- und Samenzelle und gehen kontinuierlich<br />

ineinander über. Von außen erfolgende<br />

»Eingriffe« oder »Wesensänderungen«<br />

<strong>sind</strong> auf biologisch-embryologischer<br />

Ebene nicht ersichtlich.<br />

Um seine These zu untermauern, dass<br />

es sich bei einem menschlichen Embryo<br />

vor der Nidation noch nicht um ein<br />

individuelles Lebewesen der Gattung<br />

»Mensch« handle, bezeichnet Dreier<br />

den Embryo in der »pränidativen Phase«<br />

als »gattungsspezifisches menschliches<br />

Leben«.<br />

Bei näherer Überlegung zeigt sich<br />

freilich, dass diese Bezeichnung <strong>für</strong> den<br />

Embryo unangemessen und daher irreführend<br />

ist. Sie legt die Vorstellung nahe,<br />

dass am Beginn der menschlichen Entwicklung<br />

kein konkreter Mensch als Individuum,<br />

sondern nur »der Art nach«<br />

menschliches Leben, also so etwas wie<br />

ein »Gattungswesen« ohne Individualität<br />

existiere (aus dem dann auf unerklärliche<br />

Weise durch die Nidation<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 17


T I T E L<br />

ein Mensch wird!). In der Natur gibt es<br />

aber keine Gattungswesen, sondern immer<br />

nur einzelne Exemplare einer Gattung.<br />

<strong>Die</strong> Zusammenfassung aller realen<br />

Einzelexemplare etwa des Menschen zur<br />

»Gattung Mensch« ist eine Abstraktion,<br />

ein rein gedanklicher Schritt zur Bildung<br />

von Allgemeinbegriffen (»Mensch« statt<br />

»Hans Huber, Eva Schmitt, Tobias Müller<br />

etc.«). Man kann in der Realität niemals<br />

der »Gattung Mensch« begegnen,<br />

18<br />

DANIEL RENNEN<br />

Macht die Nidation<br />

aus einem Etwas<br />

einen Jemand?<br />

Falls ja, wie?<br />

sondern immer nur einzelnen<br />

Exemplaren dieser<br />

Gattung. <strong>Die</strong> Wahrnehmung<br />

eines abgegrenzten,<br />

artspezifisch menschlichen<br />

Organismus – wie die<br />

des frühen Embryos – bedeutet<br />

daher, dass ein individuelles<br />

Exemplar der<br />

Gattung Mensch existiert.<br />

<strong>Die</strong> Bezeichnung »gattungsspezifisches<br />

menschliches<br />

Leben« könnte allenfalls<br />

in Bezug auf Zellen<br />

berechtigt sein, die dem<br />

menschlichen Körper entnommen wurden<br />

und unter bestimmten Bedingungen<br />

eine Zeit lang funktionsfähig bleiben<br />

können (wie z. B. Blutzellen). <strong>Die</strong>ses<br />

»Leben« ist aber nicht das eines Lebewesens<br />

und deshalb ist die Bezeichnung<br />

»Leben« hier<strong>für</strong> auch irreführend.<br />

Dem Menschen entnommenes Gewebe<br />

ist nicht identisch mit einem Lebewesen<br />

der Gattung Mensch. Aus Blutoder<br />

anderen Zellen (einschließlich einzelner<br />

Ei- oder Samenzellen) kann sich<br />

auch unter günstigsten Bedingungen kein<br />

ausgewachsenes Exemplar der Gattung<br />

Mensch entwickeln. Ganz anders sieht<br />

es mit dem Embryo aus. Seine Entwicklung<br />

führt (unter geeigneten äußeren Bedingungen)<br />

sehr wohl zu späteren Entwicklungsformen,<br />

denen zweifellos der<br />

Status »Mensch« zukommt. Wir haben<br />

es daher beim Embryo mit einem Lebewesen<br />

der Art Mensch zu tun und nicht<br />

nur mit »gattungspezifischem menschlichem<br />

Leben«.<br />

Als weiteres Argument <strong>für</strong> eine statusändernde<br />

Bedeutung der Nidation führt<br />

Dreier an, dass nur jeder dritten befruchteten<br />

Eizelle die Einnistung in die Gebärmutter<br />

gelinge. Unterstellt man dies<br />

als zutreffend – obwohl hierzu kaum belastbares<br />

Zahlenmaterial vorliegt –, bleibt<br />

doch schleierhaft, welche Schlüsse hieraus<br />

gezogen werden können. Soll etwa der<br />

»verschwenderische Umgang« der Natur<br />

mit menschlichen Embryonen als Begründung<br />

<strong>für</strong> ihre Rechtlosstellung und<br />

Vernichtung dienen? Ein solcher Schluss<br />

von Naturereignissen auf menschliches<br />

Handeln wäre verfehlt. Wird ein Mensch<br />

von einem Dachziegel erschlagen, den ein<br />

Windstoß vom Dach gefegt hat, dann ist<br />

das nicht dasselbe, wie wenn der Ziegel<br />

von einem Menschen gezielt herabgeworfen<br />

wurde. Der Ziegel-Werfer wird<br />

sich vor Gericht nicht damit rechtfertigen<br />

können, er habe doch nur das getan,<br />

was die Natur auch »macht«.<br />

An der grundsätzlichen Unterscheidung<br />

zwischen Naturereignissen und<br />

menschlichem Verhalten ändert auch<br />

die Höhe der Verlustquote von Embryonen<br />

vor der Nidation nichts. Würde<br />

man den Beobachtungszeitraum nur genügend<br />

verlängern, könnte man <strong>für</strong> den<br />

Menschen sogar eine hundertprozentige<br />

Todesrate feststellen. Ein Recht, Menschen<br />

umzubringen, oder die Annahme,<br />

Menschen seien deshalb nicht schutzwürdig,<br />

kann daraus nicht abgeleitet werden.<br />

Der Umstand, dass Lebewesen der Gattung<br />

Mensch bereits sehr früh und häufig<br />

sterben, macht den Embryonaltod nicht<br />

bedeutsamer als die unumstößliche Tatsache,<br />

dass Menschen früher oder später<br />

überhaupt sterben müssen.<br />

Besonders merkwürdig <strong>sind</strong> die Erörterungen<br />

Dreiers zum sogenannten »Sandhaufenparadoxon«.<br />

<strong>Die</strong>ses illustriere – so<br />

Dreier – unsere Fähigkeit, »qualitativ unterschiedliche<br />

Zustände zu unterscheiden«<br />

und wertend bestimmte Zäsuren<br />

vorzunehmen, »obwohl wir den exakten<br />

Zeitpunkt des Übergangs von einem Zustand<br />

zu einem anderen nicht benennen<br />

können«. Welches einzelne Sandkorn eine<br />

Ansammlung von Körnern zu einem<br />

Haufen werden lasse, könne man nicht<br />

sagen. »Und doch können wir«, so Dreier,<br />

»einen Sandhaufen sehr wohl von einer<br />

Ansammlung von drei Sandkörnern<br />

unterscheiden – wie wir einen Achtzeller<br />

von einem Fötus in der 24. Schwangerschaftswoche<br />

unterscheiden können.«<br />

Durch diese Überlegungen will Dreier<br />

offenbar Verständnis da<strong>für</strong> wecken, die<br />

Nidation als rechtlich bedeutsame Zäsur<br />

auch dann anzuerkennen, wenn es hier<strong>für</strong><br />

entwicklungsbiologisch keine konkreten<br />

Ansatzpunkte gibt.<br />

<strong>Die</strong> Überlegungen Dreiers <strong>sind</strong> jedoch<br />

von vornherein unbrauchbar. Der Fehler<br />

seines Gedankengangs liegt schon in<br />

der Prämisse, durch ein Anhäufen von<br />

Sandkörnern könne nach und nach ein<br />

»qualitativ« (!) anderer Zustand herbeigeführt<br />

werden. Offensichtlich geht es<br />

hier allein um eine quantitative Veränderung.<br />

Egal, ob man nun drei Körner,<br />

drei Schaufeln oder drei Lastwagenladungen<br />

Sand als »Sandhaufen« bezeichnet –<br />

es bleibt in jedem Fall Sand. In gleicher<br />

Weise bleibt die Eigenart eines Lebewesens<br />

während seiner Entwicklung gleich,<br />

auch wenn die Anzahl der Zellen, aus denen<br />

es besteht, zunimmt. So, wie das Baby<br />

sicherlich genauso ein Menschenkind ist<br />

wie ein Schulkind, ein Erwachsener oder<br />

ein Greis, so ist auch der neun Monate<br />

alte Embryo genauso von menschlicher<br />

Natur wie der drei Monate oder der nur<br />

wenige Tage alte Embryo. Das gilt ganz<br />

abgesehen davon, dass der Mensch nicht<br />

bloß eine Anhäufung von »Biomasse« darstellt,<br />

sondern eine immaterielle Dimension<br />

hat, die weder an seiner Größe noch<br />

seinem Gewicht abzulesen ist.<br />

Dreiers Ausführungen erweisen sich<br />

insgesamt als haltlos, auch wenn er sie<br />

an prominenter Stelle publizieren konnte.<br />

Sie lassen vor allem jegliche Begründung<br />

da<strong>für</strong> vermissen, wie aus einem<br />

nicht-menschlichen »Etwas« durch die<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


Aus Sand wird nie etwas anderes als Sand, egal wie viele Körner als Sandhaufen gelten.<br />

Einnistung in die Gebärmutter plötzlich<br />

ein »Jemand« werden soll, der von diesem<br />

Zeitpunkt an Grundrechtsschutz genießt.<br />

<strong>Die</strong>ses Manko trifft man leider bei allen<br />

Autoren, die der Nidation maßgebliche<br />

Bedeutung <strong>für</strong> die »Menschwerdung«<br />

beimessen. <strong>Alle</strong> Schritte der vorgeburtlichen<br />

Entwicklung haben sicherlich ihre<br />

je eigene Bedeutung <strong>für</strong> das Wachsen<br />

und Gedeihen des Menschen. <strong>Die</strong> Nidation<br />

führt aber nicht zu einer qualitativen<br />

Wesensverwandlung des Embryos<br />

während der Schwangerschaft.<br />

<strong>Alle</strong> Erkenntnisse der Embryologie<br />

sprechen eindeutig da<strong>für</strong>, im menschlichen<br />

Embryo eine frühe Entwicklungsform<br />

des Menschen zu sehen. Völlig<br />

zu Recht ging auch das Bundesverfassungsgericht<br />

in seinen Entscheidungen<br />

zum Abtreibungsstrafrecht davon aus,<br />

dass »die von Anfang an im menschlichen<br />

Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten<br />

genügen, um die Menschenwürde<br />

zu begründen« (BVerfGE 39, S.<br />

41). <strong>Die</strong> Würde des Menschseins liege<br />

auch <strong>für</strong> das ungeborene Leben im Dasein<br />

um seiner selbst willen; es verbiete<br />

sich daher »jegliche Differenzierung der<br />

Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter<br />

und Entwicklungsstand dieses Lebens«<br />

(BVerfGE 88, S. 267).<br />

Dem menschlichen Embryo in vitro<br />

kommt daher der gleiche Rechtsstatus<br />

und Schutzanspruch zu wie Menschen,<br />

deren Entwicklung bereits weiter fortgeschritten<br />

ist. Eine Ungleichbehandlung<br />

in Bezug auf sein Existenzrecht ist rational<br />

nicht zu begründen. Warum sollten<br />

das Alter und der damit einhergehende<br />

Entwicklungsstand eines Menschen seinen<br />

grundrechtlichen Status beeinflussen?<br />

Ein am Entwicklungsstand ausgerichteter<br />

Schutz des Menschen, wie ihn<br />

Horst Dreier auch sonst in seinen juristischen<br />

Schriften vertritt, wäre geradezu<br />

absurd. Neugeborene müssten dann<br />

einen geringeren Schutz genießen als<br />

Schulkinder und Schulkinder geringeren<br />

Schutz als Erwachsene. <strong>Die</strong> biologische<br />

Entwicklung des Menschen ist ein Kontinuum,<br />

wobei sich die äußere Erscheinungsform,<br />

die körperliche und die geistige<br />

Leistungsfähigkeit ständig – mehr<br />

oder weniger schnell – verändern, sowohl<br />

vor als auch nach der Geburt. Hieran<br />

unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe<br />

zu knüpfen, wäre willkürlich.<br />

I M P O R T R A I T<br />

Rainer Beckmann<br />

Der Autor, Jahrgang 1961, ist Richter am<br />

Amtsgericht Würzburg und Lehrbeauftragter<br />

<strong>für</strong> Medizinrecht an der Medizinischen<br />

Fakultät<br />

Mannheim der<br />

Universität Heidelberg<br />

sowie Dozent<br />

an der Palliativakademie<br />

Würzburg.<br />

Der Stellvertretende<br />

Vorsitzende der »Juristen-Vereinigung<br />

<strong>Lebensrecht</strong> e. V.« und Chefredakteur<br />

der »Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Lebensrecht</strong>« gehörte<br />

als Sachverständiger den beiden<br />

bioethischen Enquete-Kommissionen<br />

des Deutschen Bundestags »Recht und<br />

Ethik der modernen Medizin« (2000 -<br />

2002) und »Ethik und Recht der modernen<br />

Medizin« (2003-2005) an. Rainer<br />

Beckmann ist verheiratet und Vater von<br />

vier Kindern.<br />

GABI SCHOENEMANN / PIXELIO.DE<br />

++ Bioethik-Splitter<br />

Montgomery warnt vor PID-Ausweitung<br />

Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />

Frank Ulrich Montgomery, hat unmittelbar<br />

nach der Abstimmung im Deutschen<br />

Bundestag über die Zulassung der<br />

Präimplantationsdiagnostik (PID) erklärt,<br />

die Ärzteschaft wolle »auf jeden Fall verhindern,<br />

dass die PID zu einem Routineverfahren<br />

der In-vitro-Fertilisation wird«.<br />

In einem Interview mit der Zeitung »Das<br />

Parlament« sagte der Hamburger Radiologe,<br />

die Indikationen, bei denen die PID<br />

zur Anwendung kommen sollten, müssten<br />

»klar begrenzt« werden. Außerdem müssten<br />

die betroffenen<br />

Paare »objektiv,<br />

unabhängig<br />

und sehr intensiv<br />

beraten werden«,<br />

»auch und gerade<br />

über das mühevolle<br />

und schwierige<br />

Procedere einer<br />

In-vitro-Fertilisation«.<br />

Aufgrund<br />

der vorausgehenden<br />

Hormonstimulation<br />

und der<br />

operativen Entnahme<br />

der Eizellen<br />

sei die In-vitro-Fertilisation<br />

ARCHIV<br />

Montgomery<br />

»alles andere als ein einfacher Eingriff«.<br />

Oft würden auch die »Erwartungen zu<br />

hoch gesteckt«. »Selbst die besten Kinderwunschzentren<br />

kommen nicht über eine<br />

Erfolgsquote von 25 Prozent«, so Montgomery<br />

weiter.<br />

Auf die Frage, wie er im Bundestag<br />

abgestimmt hätte, erklärte der Bundesärztekammerpräsident:<br />

»Persönlich hätte<br />

ich den Gesetzentwurf <strong>für</strong> ein PID-Verbot<br />

unterstützt.« In der PID sei »immer<br />

auch ein Ansatz zur Selektion menschlichen<br />

Lebens angelegt«. Eine solche lehne<br />

er ab. Gleichwohl müsse er anerkennen,<br />

»dass der Damm an anderer Stelle schon<br />

gebrochen ist«. <strong>Die</strong> Pränataldiagnostik sei<br />

»längst Standard« und führe »zur Abtreibung<br />

lebensfähiger Föten«. Er sehe auch<br />

aber »bei Gentests an künstlich erzeugten<br />

Embryonen die große Gefahr, dass am Ende<br />

alles gemacht werden könnte, was medizin-technisch<br />

möglich ist«. Montgomery:<br />

»Wir leben in einer Welt der Salami-Ethik,<br />

wo Stückchen <strong>für</strong> Stückchen abgeschnitten<br />

wird.«<br />

reh<br />

Bioethik-Splitter ++<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 19


A U S L A N D<br />

Nicht ohne meinen Suizidbegleiter<br />

In der Schweiz soll alles so bleiben, wie es ist. Eine erstaunlich große Mehrheit der Bürger des Kantons<br />

Zürich vereitelte bei einem Referendum Mitte Mai gleich zwei Initiativen, die wegweisende Änderungen<br />

auf dem Feld der gewerblichen Suizidbeihilfe herbeiführen wollten.<br />

Von Stefan Rehder<br />

20<br />

<strong>Die</strong> Schweizer wollen den käuflichen<br />

Tod offenbar nicht missen.<br />

Jedenfalls nicht mehrheitlich.<br />

Obwohl Schweizer Sterbehilfeorganisationen<br />

wie Dignitas und Exit in<br />

der Vergangenheit mit den von ihnen<br />

gegen Entgelt begleiteten Suiziden immer<br />

wieder <strong>für</strong> skandalöse Schlagzeilen<br />

gesorgt haben, fielen bei einer Volksabstimmung<br />

im Kanton Zürich gleich beide<br />

Vorlagen durch, mit denen die Eidgenössisch-Demokratische<br />

Union (EDU) und<br />

die Evangelische Volkspartei (EVP) eine<br />

Änderung der geltenden Praxis erreichen<br />

wollten. Und das in einer Deutlichkeit,<br />

die Gegner wie Be<strong>für</strong>worter gleichermaßen<br />

überrascht.<br />

Selbst <strong>für</strong> die Initiative »Nein zum<br />

Sterbetourismus im Kanton Zürich«<br />

stimmten am 15. Mai lediglich rund 60.000<br />

Wahlberechtigte (21,6 %). Rund 218.600<br />

(78,4 %) lehnten die Vorlage ab, mit der<br />

EDU und EVP die käufliche Suizidbegleitung<br />

auf Personen beschränken wollten,<br />

die mindestens seit einem Jahr im<br />

Kanton wohnen. Dabei hatten die Initiatoren<br />

ihre Vorlage gut begründet und<br />

angeführt, dass der »Sterbetourismus«<br />

dem Kanton einen »erheblichen Imageschaden«<br />

beschere, da er die Gesetze<br />

derjenigen Nachbarstaaten unterlaufe,<br />

in denen die Beihilfe zum Suizid – so<br />

etwa in Österreich – verboten ist. Nicht<br />

einmal das Argument, dass jeder Suizid<br />

den Schweizer Steuerzahler teuer zu stehen<br />

komme, verfing. Obwohl der Suizidwillige<br />

der ihn begleitenden Organisation<br />

»in der Regel viele tausend Franken<br />

<strong>für</strong> ihre sogenannte <strong>Die</strong>nstleistung« zahle,<br />

müssten die Steuerzahler <strong>für</strong> »die Folgekosten<br />

<strong>für</strong> Justiz und Rechtsmedizin«<br />

aufkommen. Pro Suizid seien dies »zwischen<br />

3.000 und 5.000 Franken«, hieß<br />

es in der Vorlage. Das <strong>sind</strong> umgerechnet<br />

rund 2.400 bis 4.000 Euro pro Fall.<br />

Noch gewaltiger war die Ablehnung<br />

des Versuchs, die kommerzielle Suizidbeihilfe<br />

ganz zu verbieten. Für die Initiative<br />

»Stopp der Suizidhilfe«, mit der die<br />

Bürger des Kantons Zürichs nach dem<br />

Willen von EDU und EVP den Bund<br />

beauftragen sollten, eine Gesetzesänderung<br />

auf den Weg zu bringen, die »jede<br />

Art von Verleitung oder Beihilfe zum<br />

Selbstmord« verbietet und unter Strafe<br />

stellt, stimmten nur noch rund 43.000<br />

Wahlberechtigte (15,5 %). Rund 235.000<br />

Bürger (84,5 %) lehnten das Ansinnen ab.<br />

In der Schweiz ist Beihilfe zum Suizid<br />

laut Artikel 115 des Strafgesetzbuches nur<br />

dann strafbar, wenn sie aufgrund »selbstsüchtiger<br />

Motive« geleistet wird. Was als<br />

»selbstsüchtig« betrachtet werden muss,<br />

gilt als umstritten. Dass Menschen Geld<br />

da<strong>für</strong> verlangen, dass sie anderen einen<br />

begleiteten Suizid ermöglichen, gilt prinzipiell<br />

bislang nicht als strafwürdig.<br />

Interessante Erkenntnisse liefert auch<br />

ein Blick auf die Wahlbeteiligung. Zwar<br />

lag diese bei beiden Vorlagen nur bei rund<br />

33,6 Prozent. Doch stießen bei den zur<br />

Wahl Gegangenen die beiden Volksinitiativen<br />

zur Suizidbeihilfe auf besonders<br />

hohes Interesse. Bei den insgesamt 14<br />

Vorlagen, über die die Bürger des Kantons<br />

Zürich am 15. Mai abstimmen konnten,<br />

war mit 34,5 Prozent die Wahlbeteiligung<br />

einzig und allein bei der »Volksinitiative<br />

»Ja zur Mundart im Kindergarten«<br />

höher. Bei diversen Vorlagen zum<br />

Steuergesetz lag die Wahlbeteiligung sogar<br />

unter 32 Prozent.<br />

»Wir haben mit einer Ablehnung gerechnet«,<br />

doch liege »die Zahl der Nein-<br />

Stimmen deutlich über unseren Erwartungen«,<br />

zitierte denn auch die Neue<br />

Züricher Zeitung (NZZ) EDU-Präsi-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


D O K U M E N T AT I O N<br />

denten Peter Meier. EVP-Präsident Johannes<br />

Zollinger sprach gegenüber derselben<br />

Zeitung gar von einem »fatalen Signal«.<br />

Wenn der Griff zum Giftbecher<br />

normal werde, steige der Druck auf pflegebedürftige<br />

Menschen.<br />

<strong>Die</strong> Sterbehilfeorganisation Exit hat<br />

damit längst begonnen. Auf ihrer Jahresversammlung<br />

Anfang Mai ergänzte<br />

die Organisation, die eigenen Angaben<br />

zufolge mittlerweile 50.000 Mitglieder<br />

zählt, ihre Statuten um den Satz: »Exit<br />

setzt sich da<strong>für</strong> ein, dass betagte Menschen<br />

einen erleichterten Zugang zu Sterbemitteln<br />

haben sollen.« In der Vergangenheit<br />

war die Suizidbeihilfe von Dignitas<br />

und Exit vor allem damit gerechtfertigt<br />

worden, es gehe darum, todkranken<br />

und schwer leidenden Menschen einen<br />

»würdigen Tod« zu ermöglichen. Wer<br />

dagegen argumentierte, die sogenannten<br />

Sterbewilligen wollten in der Regel<br />

gar nicht sterben, sondern bloß anders<br />

leben, oder auch nur vor der Gefahr des<br />

Missbrauchs warnte, stand schnell im Verdacht,<br />

mitleids- oder gar herzlos zu sein.<br />

Inzwischen prägen jedoch vornehmlich<br />

Begriffe wie »Selbstbestimmung« und<br />

»Autonomie« die Stellungnahmen beider<br />

Organisationen.<br />

Der Ausgang des Referendums im Kanton<br />

Zürich dürfte auch Bewegung in die<br />

Debatte um eine Änderung der Bundesgesetzgebung<br />

bringen. Im Herbst 2009 hatte<br />

der Bundesrat, so heißt in der Schweiz<br />

die Regierung, einen Gesetzentwurf mit<br />

zwei Varianten auf den Weg gebracht,<br />

die beide geeignet schienen, dem Geschäft<br />

mit dem fremden Tod den Boden<br />

zu entziehen. <strong>Die</strong> damalige Justizministerin<br />

Eveline Widmer-Schlumpf von der<br />

Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP)<br />

galt als Gegnerin der Suizidbeihilfe, wie<br />

sie in der Schweiz praktiziert wird. Ihre<br />

Nachfolgerin Simonetta Sommaruga<br />

von der Sozialdemokratischen Partei der<br />

Schweiz gilt hingegen als deutlich liberaler.<br />

Da der Gesetzentwurf zudem schon<br />

unter Widmer-Schlumpf »referendumssicher«<br />

gemacht werden sollte und im<br />

Laufe des Gesetzgebungsverfahrens bereits<br />

deutlich Federn lassen musste, haben<br />

die Gegner der Suizidbeihilfe kaum<br />

noch Hoffnung auf den »großen Wurf«,<br />

der eine kommerzielle Suizidbeihilfe wirksam<br />

verbieten könnte.<br />

Beobachter rechnen vielmehr damit,<br />

dass Sommaruga demnächst einen Entwurf<br />

vorstellen wird, der ein »Maßnahmenpaket«<br />

enthält, das den Sterbehilfeorganisationen<br />

einerseits einige neue<br />

Auflagen bescheren, andererseits aber<br />

auch einige Hindernisse aus dem Weg<br />

räumen wird.<br />

Guck’ mal,<br />

wer da schreibt!<br />

Anfang Juli hat der Bundesvorstand der Senioren-Union der<br />

CDU Deutschlands ein Papier mit dem Titel »Manifest Kultur<br />

des Lebens« beschlossen. »LebensForum« dokumentiert<br />

in Auszügen das beeindruckende Manifest, das auf Anhieb die uneingeschränkte<br />

Unterstützung der Jungen Union (JU) fand und<br />

sich teilweise an die eigene Partei wendet.<br />

(...) <strong>Die</strong> CDU ist diejenige Partei in<br />

Deutschland, die sich klar und deutlich<br />

zum Christentum, zur Würde des Menschen<br />

und damit zu einer humanen Gesellschaft<br />

bekennt und <strong>für</strong> sie eintritt. In<br />

ihrem Grundsatzprogramm hat die CDU<br />

festgehalten, »dass unsere Politik auf dem<br />

christlichen Verständnis vom Menschen<br />

und seiner Verantwortung vor Gott beruht«.<br />

Aber: Das Grundsatzprogramm<br />

ist das eine, politisches Alltagshandeln<br />

das andere. Entscheidend ist letztendlich,<br />

wie CDU-Politik konkret im politischen<br />

Alltag gelebt und ob die CDU in ihrem<br />

Handeln von ihren Grundprinzipien und<br />

Werten getragen wird. (...)<br />

Mit dem christlichen Menschenbild einher geht<br />

die Idee einer unverlierbaren Menschenwürde<br />

Wir Christdemokraten müssen <strong>für</strong><br />

das christliche Menschenbild einstehen,<br />

immer und zu jeder Zeit. Das christliche<br />

Menschenbild, das in jedem Menschen<br />

ein Ebenbild Gottes sieht, zeichnet aus,<br />

dass es uns – unabhängig von unseren Talenten<br />

und Leistungen – zu gegenseitiger<br />

Anerkennung und Achtung verpflichtet.<br />

In einer pluralistischen Gesellschaft,<br />

die um den Ausgleich individueller Interessen<br />

ringen muss, kann das christliche<br />

Menschenbild daher nicht hoch genug<br />

geschätzt werden. Denn in dem es jeden<br />

Menschen als um »seiner willen gewollt«<br />

und als »Zweck an sich selbst« betrachtet,<br />

schafft es gewissermaßen erst die Voraussetzung<br />

da<strong>für</strong>, dass der Ausgleich widerstreitender<br />

Interessen in einem Mit-<br />

statt in einem Gegeneinander erfolgen<br />

kann. Mit dem christlichen Menschenbild<br />

einher geht die Idee von einer unverlierbaren<br />

Würde. <strong>Die</strong>se Würde kommt<br />

jedem Menschen zu, unabhängig davon,<br />

wie er entstanden ist, in welchem Entwicklungsstadium<br />

er ist und in welcher<br />

körperlichen oder geistigen Verfassung<br />

er sich befindet.<br />

In einer individualistisch geprägten<br />

Gesellschaft wirken das christliche Menschenbild<br />

und der aus ihm resultierende<br />

Würdegedanke also geradezu gemeinschaftsfördernd<br />

und -stabilisierend. Spitzenakteure<br />

der CDU sprechen gerne davon,<br />

dass die Kernideen und Werte unserer<br />

Partei immer wieder<br />

in die neue Zeit »übersetzt«<br />

werden müssen. Dem stimmen<br />

wir mit einer Ausnahme<br />

zu: das christliche Menschenbild<br />

ist zeitlos und davon ausgenommen.<br />

Auch wenn wir<br />

angesichts neuer technischer<br />

Möglichkeiten vor neuen Herausforderungen<br />

stehen, heißt das noch lange nicht,<br />

dass man deshalb seine ethischen Fundamente<br />

schleifen muss.<br />

Für die Senioren-Union gilt: <strong>Die</strong> Feststellung,<br />

dass in bioethischen Fragen Gott<br />

und die Ebenbildlichkeit des Menschen<br />

der letzte Maßstab bleiben müssen, hat<br />

nichts an Aktualität und Relevanz eingebüßt.<br />

Bei der CDU aber scheint dies<br />

leider nicht mehr uneingeschränkt der<br />

Fall zu sein. <strong>Die</strong> Senioren-Union fordert<br />

die CDU deshalb auf, sich aktiv <strong>für</strong> eine<br />

»Kultur des Lebens« einzusetzen und<br />

entsprechend konsequent – am »C« orientiert<br />

– politisch zu handeln. Folgende<br />

Themen <strong>sind</strong> der Senioren-Union dabei<br />

besonders wichtig:<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 21


D O K U M E N T AT I O N<br />

Präimplantationsdiagnostik (PID)<br />

Im Grundsatzprogramm hat die CDU<br />

festgelegt: »Wir treten <strong>für</strong> ein Verbot der<br />

Präimplantationsdiagnostik (PID) ein.«<br />

Darüber hinaus hat der CDU-Bundesparteitag<br />

in Karlsruhe im letzten Jahr mit<br />

knapper Mehrheit <strong>für</strong> ein Verbot der PID<br />

gestimmt. Vor diesem Hintergrund ist die<br />

Senioren-Union der CDU Deutschland<br />

darüber enttäuscht, dass die CDU/CSU-<br />

Bundestagsfraktion sich trotzdem nicht<br />

<strong>für</strong> ein Verbot entschieden hat.<br />

Wir fragen uns in diesem Zusammenhang:<br />

Was ist der Sinn eines Grundsatzprogramms,<br />

wenn inhaltliche Eckpfeiler<br />

und Leitplanken der CDU und Bundesparteitagsbeschlüsse<br />

im politischen Tagesgeschäft<br />

nichts mehr zählen? Es darf<br />

nicht sein, dass unser christlicher Kompass<br />

– unser <strong>Alle</strong>instellungsmerkmal unter<br />

den demokratischen Parteien – über Bord<br />

geworfen wird. Das beschädigt nicht nur<br />

»<strong>Die</strong> PID besitzt eine wesenhafte<br />

Tendenz zur Ausweitung.«<br />

die Glaubwürdigkeit der CDU, sondern<br />

schwächt auch das Vertrauen der Menschen<br />

und der Kirchen in das »C« in unserem<br />

Namen in ganz erheblicher Weise.<br />

Deshalb fordert die Senioren-Union<br />

die CDU Deutschlands die CDU/CSU-<br />

Bundestagsfraktion dazu auf, <strong>für</strong> den Gesetzesentwurf<br />

»Krings et al.« (Drucksache<br />

17/5450) zu stimmen, der ein umfassendes<br />

Verbot der PID vorsieht, weil<br />

dieser der Grundsatzhaltung der CDU<br />

entspricht.<br />

Wir verharmlosen weder das Leid, das<br />

die Behinderung eines Kindes <strong>für</strong> die betroffenen<br />

Eltern bedeuten kann, noch achten<br />

wir den natürlichen Wunsch von Eltern<br />

nach gesunden Kindern gering, wenn wir<br />

festhalten: Sollte die PID – wie begrenzt<br />

auch immer – in Deutschland zugelassen<br />

werden, stünde unsere Gesellschaft vor<br />

einem echten Paradigmenwechsel. Denn<br />

dann gäbe es erstmals Kinder, die nicht um<br />

ihrer selbst willen gewollt werden, sondern<br />

lediglich unter der Einschränkung,<br />

dass ihnen Eigenschaften fehlen, die ihren<br />

Eltern Sorgen bereiten.<br />

Wir verstehen, dass <strong>für</strong> Eltern, die sich<br />

mit der Frage beschäftigen, ob eine PID<br />

zu rechtfertigen ist, oft andere Aspekte<br />

als die faktische Selektion von Embryonen<br />

mit unerwünschten Merkmalen im<br />

Vordergrund stehen. Auch ihnen gilt ein<br />

besonderes Gespräch.<br />

22<br />

Otto Wulff, CDU<br />

Da Leid nicht objektivierbar ist, besitzt<br />

die PID als Instrument zur Leidvermeidung<br />

auch eine wesenhafte Tendenz<br />

zur Ausweitung. Im Ausland wird die<br />

PID daher nicht nur bereits zur Selektion<br />

von Embryonen eingesetzt, die lediglich<br />

ein erhöhtes Risiko besitzen, im Erwachsenalter<br />

an so genannten spätmanifestierenden<br />

Krankheiten zu erkranken,<br />

sondern – etwa in den USA – auch bereits<br />

zur Wahl des Geschlechts.<br />

Eine solche Entwicklung muss der<br />

Gesetzgeber verhindern. In einer zunehmend<br />

ökonomisierten Gesellschaft, in<br />

der tragende Werte ins Schwanken geraten<br />

und durch das ersetzt werden, was<br />

gerade gefällt und opportun ist, reicht<br />

es nicht mehr aus, auf eine Selbstdisziplinierung<br />

von Ärzten und Eltern zu setzen.<br />

<strong>Die</strong>s überfordert nicht nur die Beteiligten,<br />

sondern widerspricht auch jeder<br />

Lebenserfahrung.<br />

Stammzellforschung<br />

Unvereinbar mit dem christlichen<br />

Menschenbild und der Würde, die jedem<br />

Menschen zukommt, ist auch die<br />

Forschung mit menschlichen embryonalen<br />

Stammzellen. <strong>Die</strong>se werden überwiegend<br />

aus Embryonen gewonnen, die <strong>für</strong><br />

eine künstliche Befruchtung nicht mehr<br />

in Frage kommen. Für die Gewinnung<br />

der Stammzellen müssen die Embryonen<br />

getötet werden.<br />

Wissenschaftler erhoffen sich von dieser<br />

Forschung wichtige Erkenntnis <strong>für</strong><br />

WWW.SENIORENUNION-HERSCHEID.DE<br />

die Heilung von Krankheiten, die heute<br />

als unheilbar gelten. Bislang hat diese<br />

Hoffnung jedoch noch keine ernstzunehmende<br />

Bestätigung gefunden. Stattdessen<br />

werden menschliche embryonale<br />

Stammzellen inzwischen als kostengünstige<br />

Alternative zu Tierversuchen<br />

betrachtet, an denen sich neuartige Medikamente<br />

und chemische Substanzen<br />

auf gefährliche Wirkungen <strong>für</strong> den Menschen<br />

testen lassen.<br />

Angesichts solcher Szenarien gilt <strong>für</strong><br />

die Senioren-Union: Wer dauerhaft den<br />

Schutz menschlichen Lebens aufrechterhalten<br />

will, der muss mit Nachdruck<br />

auch an der Entwicklung und dem Ausbau<br />

ethisch unbedenklicher Alternativen<br />

arbeiten, wie z.B. der Forschung mit adulten<br />

Stammzellen.<br />

Adulte Stammzellen, die jeder Mensch<br />

besitzt, können ohne Schädigung des Organismus,<br />

entnommen und im Labor kultiviert<br />

werden. Anders als mit embryonalen<br />

Stammzellen konnten mit ihnen auch<br />

bereits eine ganze Reihe von Heilungserfolgen<br />

erzielt werden.<br />

Unser Ziel muss es daher sein, die<br />

technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

<strong>für</strong> eine ethisch unumstrittene<br />

Forschung zu verbessern,<br />

nicht ethisch umstrittene Forschung zu<br />

fördern. Leider ist dazu im Koalitionsvertrag<br />

zwischen und Union und FDP<br />

im Bund nichts aufgeführt. <strong>Die</strong> im Koalitionsvertrag<br />

angekündigte Prüfung<br />

der Einrichtung einer Dialogplattform<br />

»Deutsches Stammzellnetzwerk« muss<br />

endlich umgesetzt werden, und zwar mit<br />

einem Schwerpunkt im Bereich der adulten<br />

Stammzellen. <strong>Die</strong> Senioren-Union<br />

wird dazu einen Antrag an den nächsten<br />

CDU-Bundesparteitag richten.<br />

Tötung noch nicht geborener Kinder<br />

<strong>Die</strong> Senioren-Union lehnt Abtreibung<br />

und damit die Tötung noch nicht geborener,<br />

wehrloser Kinder grundsätzlich ab.<br />

Auch ihnen kommt jene Würde zu, die<br />

in unserer Rechtsordnung den Staat verpflichtet,<br />

sich schützend vor sie zu stellen.<br />

Auch hier fühlen wir uns dem »C«<br />

»<strong>Die</strong> Senioren-Union lehnt<br />

Abtreibung grundsätzlich ab.«<br />

in der CDU in besonderer Weise verpflichtet.<br />

<strong>Die</strong> CDU dagegen ist in dieser<br />

Frage leider nicht mehr konsequent.<br />

In ihrem Grundsatzprogramm hat die<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


CDU zur Tötung noch nicht geborener<br />

Kinder folgendermaßen Stellung genommen:<br />

»Mit den hohen Abtreibungszahlen,<br />

die sich auch aus Spätabtreibungen<br />

ergeben, finden wir uns nicht ab. Wir<br />

müssen Frauen und Männern dabei helfen,<br />

sich <strong>für</strong> das Leben zu entscheiden.«<br />

»An jedem Werktag sterben<br />

424 Kinder im Leib ihrer Mütter.«<br />

<strong>Die</strong>se Aussage greift aus Sicht der Senioren-Union<br />

viel zu kurz. Einerseits beklagt<br />

unsere Gesellschaft den Kindermangel<br />

und eine zu niedrige Geburtenrate.<br />

Auf der anderen Seite wurden dem Statistischen<br />

Bundesamt allein 2010 110.431<br />

Schwangerschaftsabbrüche gemeldet. Das<br />

entspricht der Einwohnerzahl einer Stadt<br />

wie Ingolstadt oder Salzgitter.<br />

Ernstzunehmende Schätzungen gehen<br />

davon aus, dass die Dunkelziffer bei Abtreibungen<br />

mindestens noch einmal so<br />

hoch ist wie die Hellziffer und beziffern<br />

die Zahl der tatsächlich durchgeführten<br />

Abtreibungen in Deutschland auf 1.000<br />

pro Werktag. Aber auch nach den offiziellen<br />

Zahlen sterben in Deutschland<br />

an jedem Werktag 424 Kinder im Leib<br />

ihrer Mütter. Das <strong>sind</strong> 14 Schulklassen.<br />

Da bereits jedes abgetriebene Kind eines<br />

zu viel ist, fordern wir eine gesetzliche<br />

Umsetzung der lebensbejahenden Beschlüsse<br />

des CDU-Grundsatzprogramms.<br />

<strong>Die</strong> im Jahr 2009 nach jahrelangen Diskussionen<br />

beschlossenen Verbesserungen<br />

bei der gesetzlichen Regelung von<br />

Spätabtreibungen gehen nicht weit genug.<br />

Zwar ist es zu begrüßen, dass danach<br />

der schwangeren Frau erstmals eine<br />

Bedenkzeit von drei Tagen auferlegt<br />

wurde, um so einen pathologischen Befund<br />

wenigstens ansatzweise verarbeiten<br />

zu können und das Kind davor zu schützen,<br />

Opfer einer unüberlegten Spätabtreibung<br />

zu werden.<br />

Und doch wird man fragen müssen:<br />

Darf es ausreichen, dass Arzt und Patientin<br />

nach reichlicher Überlegung darin<br />

übereinstimmen, eine Diagnose als Abtreibungsgrund<br />

anzusehen? Haben Kinder<br />

mit Behinderungen kein grundsätzliches<br />

Recht, das Licht der Welt zu erblicken?<br />

Kommt ihnen nicht auch jene<br />

Würde zu, aufgrund derer der Staat das<br />

Leben seiner anderen Bürger schützt?<br />

Aus Sicht der Senioren-Union ist es<br />

inhuman, ein lebensfähiges Kind zu töten<br />

– nur weil es wahrscheinlich eine Behinderung<br />

haben wird! Unsere Gesellschaft<br />

muss »Ja« zur Vielfalt des Lebens sagen,<br />

nicht »Nein« oder »Vielleicht«.<br />

Adoption<br />

<strong>Die</strong> Senioren-Union unterstützt die<br />

geplante Lockerung der gesetzlichen Regeln<br />

bei Adoptionen. Im Mittelpunkt des<br />

gesetzgeberischen Handelns muss dabei<br />

immer das Kindeswohl stehen. Deshalb<br />

ist es richtig, wenn Bundesfamilienministerin<br />

Schröder den derzeitig erlaubten<br />

Altersabstand zwischen Kind und Adoptiveltern<br />

von 40 Jahren überdenken will.<br />

<strong>Die</strong> Senioren-Union fordert eine Anhebung<br />

des Altersabstandes auf maximal<br />

50 Jahre. (...)<br />

Aktive Sterbehilfe<br />

»Gesellschaft muss ›Ja‹ zur Vielfalt<br />

des Lebens sagen, nicht ›Nein‹.«<br />

<strong>Die</strong> CDU lehnt aktive Sterbehilfe<br />

ab und hat diese Position auch in ihrem<br />

Grundsatzprogramm fest verankert. (...)<br />

CDU und Kirche stehen bei der Ablehnung<br />

aktiver Sterbehilfe fest Seite an Seite.<br />

<strong>Die</strong> Senioren-Union begrüßt ausdrücklich,<br />

dass der Vorsitzende der Deutschen<br />

Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert<br />

Zollitsch, und der Vorsitzende der Bundesärztekammer,<br />

Prof. Dr. Jörg-<strong>Die</strong>trich<br />

Hoppe, in einer gemeinsamen Erklärung<br />

vom 15. Mai 2011 Tötung auf<br />

Verlangen und die Mithilfe des Arztes<br />

bei der Selbsttötung des Patienten unmissverständlich<br />

abgelehnt haben. Sehr<br />

besorgniserregend aber ist, dass derzeit<br />

unter einer Gruppe von Ärztinnen und<br />

Ärzte darüber diskutiert wird, ob es ihnen<br />

freigestellt werden soll, bei Selbsttötungen<br />

unterstützend zu wirken. <strong>Die</strong>s<br />

kann und darf nicht Aufgabe von Ärztinnen<br />

und Ärzte sein und widerspricht dem<br />

ärztlichen Ethos! Sterbehilfe – gleich welcher<br />

Art und welchen Umfangs – gibt eine<br />

Entscheidung in die Hand von Mitmenschen,<br />

deren Beurteilung niemals objektiv<br />

erfolgen kann, deren Folgen aber unumkehrbar<br />

<strong>sind</strong>.<br />

Das gilt auch <strong>für</strong> die Unterstützung<br />

eines Suizids. <strong>Die</strong> Legalisierung aktiver<br />

Sterbehilfe oder auch des ärztlich assistierten<br />

Suizids würde unsere Gesellschaft<br />

radikal verändern. Denn wenn die Verkürzung<br />

eines sich seinem Ende zuneigenden<br />

Lebens eine staatlich anerkannte<br />

oder auch nur respektierte Alternative<br />

wird, kann niemand mehr sicherstellen,<br />

dass viele ältere Menschen dies nicht<br />

als »Aufforderung« verstehen, ihrer Familie,<br />

ihren Freunden und Bekannten<br />

nicht »unnötig« zur Last zu fallen. <strong>Die</strong>s<br />

muss im Interesse aller Beteiligten verhindert<br />

werden.<br />

Betont werden muss in diesem Zusammenhang<br />

auch, dass die Weigerung<br />

»Tötung auf Verlangen« zu leisten oder<br />

bei einem Suizid zu assistieren, nicht als<br />

Verletzung der Autonomie des »Sterbewilligen«<br />

verstanden werden kann. <strong>Die</strong>s<br />

umso mehr, als die Suizidforschung längst<br />

übereinstimmend lehrt, dass so genannte<br />

Bilanz- oder rationale Suizide, sofern sie<br />

überhaupt vorkommen, allenfalls sehr selten<br />

<strong>sind</strong>. So haben Nachuntersuchungen<br />

ergeben, dass rund 90 Prozent aller untersuchten<br />

Suizide mit psychischen Störungen<br />

der Suizidenten einhergingen, die<br />

eine »Freiheit der Entscheidung« entweder<br />

verunmöglichten oder aber zumindest<br />

stark einschränkten.<br />

»Legalisierte Sterbehilfe würde die<br />

Gesellschaft radikal verändern.«<br />

Der Tod gehört zum Leben. Deswegen<br />

dürfen Sterbende auch »nicht gewaltsam<br />

am Sterben gehindert« werden<br />

(Robert Spaemann). Lebensverkürzende<br />

Maßnahmen lehnen wir als Senioren-<br />

Union aber kategorisch ab. Statt auf Sterbehilfe<br />

setzen wir auf Sterbebegleitung.<br />

Deshalb ist es richtig, dass die CDU die<br />

Palliativmedizin, die Hospize und andere<br />

Formen der Sterbebegleitung unterstützt,<br />

die Sterbenden ihre letzte Lebensphase<br />

erleichtert und ihnen und ihren Angehörigen<br />

ein würdiges, schmerzfreies Abschiednehmen<br />

ermöglicht.<br />

Union und FDP haben im Koalitionsvertrag<br />

festgehalten, dass »die gewerbsmäßige<br />

Vermittlung von Gelegenheiten<br />

zur Selbsttötung unter Strafe gestellt werden<br />

soll«. Da dies bisher nicht geschehen<br />

ist, fordert die Senioren-Union die CDU<br />

dazu auf, diesen Punkt zeitnah umzusetzen.<br />

Zugleich muss ausgeschlossen werden,<br />

dass die im Koalitionsvertrag gewählte<br />

Formulierung nicht andere Formen<br />

der »Vermittlung von Gelegenheiten<br />

zur Selbsttötung« ermöglicht. Darüber<br />

hinaus plädiert die Senioren-Union<br />

da<strong>für</strong>, dass die CDU sich innerhalb der<br />

Bundesregierung da<strong>für</strong> einsetzt, dass auf<br />

europäischer Ebene Schritte eingeleitet<br />

werden, sich dem Verbot auf aktive Sterbehilfe<br />

anzuschließen.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 23


E S S AY<br />

DANIEL RENNEN<br />

Im Zweifel <strong>für</strong> das Leben<br />

<strong>Die</strong> Vorbereitungen <strong>für</strong> eine Änderung des Transplantationsgesetzes laufen auf Hochtouren.<br />

Und der Bundestag ist sich einig: Ziel müsse sein, die Zahl der Organspender zu steigern.<br />

Neue Zweifel daran, dass der hirntote Spender vor der Entnahme lebenswichtiger<br />

Organe tatsächlich tot ist, werden bislang völlig ignoriert. Mit ihnen befasst sich der<br />

nachfolgende Beitrag, der auf einem Vortrag basiert, den der Autor auf der diesjährigen<br />

Bundesdelegiertenversammlung der ALfA in Fulda gehalten hat.<br />

Von Stefan Rehder<br />

24<br />

Dass der Hirntod nicht nur der<br />

Tod eines Organs – nämlich des<br />

Gehirns – ist, sondern auch mit<br />

dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden<br />

kann, daran gab und gibt es Zweifel.<br />

<strong>Die</strong> ersten wurden schon sehr früh –<br />

nämlich im September 1968 – und von<br />

keinem Geringeren als dem großen Technikphilosophen<br />

Hans Jonas (1903-1993)<br />

formuliert. Nur einen Monat zuvor hatte<br />

eine interdisziplinär besetzte Ad-hoc-<br />

Kommission der Harvard Medical School<br />

in Boston – bestehend aus zehn Medizinern<br />

sowie je einem Juristen, Theologen<br />

und Wissenschaftshistoriker – ein Aufsehen<br />

erregendes Gutachten vorgelegt, das<br />

den Status von Patienten klären sollte, die<br />

sich in einem als irreversibel erachteten<br />

Koma befanden.<br />

Unter der Bezeichnung »Coma dépassé«<br />

war das Phänomen des irreversiblen<br />

Komas erstmals 1959 von den französischen<br />

Neurologen Pierre Mollaret (1898-<br />

1987) und Maurice Goulon (1919-2008)<br />

in der französischen Fachzeitschrift »Revue<br />

Nerologique« beschrieben worden.<br />

Beide hatten auf den noch jungen Intensivstationen<br />

künstlich beatmete Patienten<br />

beobachtet, die sich in einem bis dahin<br />

unbekannten Zustand permanenter,<br />

tiefer Bewusstlosigkeit befanden, nachdem<br />

sie einen längeren Atemstillstand<br />

erlitten hatten.<br />

Möglich geworden war die Beobachtung<br />

derart tiefer Bewusstlosigkeit erst<br />

durch die Fortentwicklung der künstlichen<br />

Langzeitbeatmung durch den dänischen<br />

Anästhesisten Björn Ibsen (1915-<br />

2007), der diese Methode 1952 im Zuge<br />

der Bekämpfung der Kinderlähmung revolutionierte<br />

und deshalb auch als »Vater<br />

der Intensivtherapie« gilt. Vor Ibsen<br />

konnte eine derart tiefe Bewusstlosigkeit<br />

nie beobachtet werden, da diese Patienten<br />

ohne die revolutionierte Lang-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


zeitbeatmung alle an Atemstillstand gestorben<br />

waren. Aus den Symptomen, die<br />

Mollaret und Goulon bei diesen Patienten<br />

beobachteten – darunter fehlende<br />

Hirnstammreflexe, fehlende Spontanatmung<br />

und anhaltende Bewusstlosigkeit<br />

– schlossen sie, dass die Hirne der Patienten<br />

an Sauerstoffmangel zugrunde gegangen<br />

sein mussten, ihre Tätigkeit vollständig<br />

eingestellt hätten und sich bereits<br />

in einem Zersetzungsprozess befänden.<br />

Der spätere pathologische Befund bestätigte<br />

dies. Bei einigen Patienten war<br />

die Nekrose des Hirngewebes in Abhängigkeit<br />

von der Dauer der künstlichen<br />

Beatmung bereits bis zur Verflüssigung<br />

fortgeschritten. Damit war klar: Anders<br />

als etwa bei Wachkoma-Patienten konnte<br />

eine Rückkehr von Patienten, die sich<br />

im irreversiblen Koma befanden, in ein<br />

bewusstes Leben ausgeschlossen werden.<br />

<strong>Alle</strong>rdings setzen Mollaret und Goulon<br />

die Zerstörung des Gehirns nicht mit<br />

dem Tod des Menschen gleich. Dazu entschloss<br />

sich erst neun Jahre später die bereits<br />

erwähnte Ad-hoc-Kommission der<br />

Harvard Medicial School. In ihrem Report<br />

»A definition of irreversible coma«<br />

empfahl die Kommission den Nachweis,<br />

dass ein Koma irreversibel sei, künftig als<br />

Beleg da<strong>für</strong> zu betrachten, dass der Tod<br />

einen Menschen ereilt habe.<br />

Auch wenn hier nicht ausführlich auf<br />

diesen Report eingegangen werden kann,<br />

so muss doch festgehalten werden: Tragischerweise<br />

lässt sich unbestreitbar belegen,<br />

dass die von der Harvard Kommission<br />

vollführte Gleichsetzung des irreversiblen<br />

Komas mit dem Tod des Menschen<br />

keinesfalls neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

geschuldet war. <strong>Die</strong> Gleichsetzung<br />

des Hirntods mit dem Tod des<br />

Menschen, vor der Mollaret und Goulon<br />

noch zurückgeschreckt waren, resultierte<br />

allein aus praktischen Überlegungen,<br />

wie etwa der, dass Ärzte <strong>für</strong> Patienten,<br />

die sich in einem irreversiblen<br />

Koma befanden, nichts mehr tun konnten.<br />

So heißt es in dem Report bezeichnenderweise<br />

etwa: »Ein Organ, das Gehirn<br />

oder ein anderes, das nicht länger<br />

funktioniert und keine Möglichkeit besitzt,<br />

erneut zu funktionieren, ist <strong>für</strong> alle<br />

praktischen Zielsetzungen tot.« Üblicherweise<br />

sprechen wir jedoch vom Tod<br />

als einem biologischen Faktum. Tot ist,<br />

wer aufgehört hat zu leben. Der Tod ließe<br />

sich demnach definieren als die Abwesenheit<br />

von Leben. <strong>Die</strong> Harvard-Kommission<br />

hatte dagegen einen anderen,<br />

völlig operationalisierten Todesbegriff<br />

im Blick. Denn als tot wurde hier definiert,<br />

was <strong>für</strong> eine medizinisch sinnvolle<br />

Therapie unerreichbar geworden ist.<br />

»Das Gehirn verbraucht allein 20<br />

Prozent der Stoffwechselenergie.«<br />

Es ist jedoch eine Sache, ob etwas tatsächlich<br />

tot, im Sinne von unbelebt ist,<br />

und eine ganz andere, ob etwas lediglich<br />

derart funktionsuntüchtig ist, dass es <strong>für</strong><br />

die heilenden Ziele anderer, die selbstverständlich<br />

als solche lobenswert <strong>sind</strong>,<br />

nicht mehr erreichbar ist.<br />

Wer um Fairness bemüht ist, wird freilich<br />

sogleich einräumen, dass aus der mit<br />

fragwürdigen standespolitischen Interessen<br />

kontaminierten ersten Hirntod-Definition<br />

keineswegs auch schon folgt, dass<br />

die bis heute unter Medizinern mehrheitlich<br />

vertretene These, der Nachweis des<br />

Hirntods sei ein sicheres Todeszeichen,<br />

unzutreffend sein muss. Im Gegenteil:<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, dass die Hirntod-Theorie<br />

trotz ihrer wenig ruhmreichen Geburtsstunde<br />

bis heute von so vielen vertreten<br />

wird, darunter von solchen, die weder das<br />

Interesse besitzen, von komatösen Patienten<br />

belegte Krankenhausbetten neu<br />

zu vergeben noch günstige Bedingungen<br />

<strong>für</strong> potentielle Organempfänger zu<br />

schaffen, lässt vermuten, dass die Theorie<br />

eine enorme Plausibilität beanspruchen<br />

kann. <strong>Die</strong>s umso mehr, als die Hirntod-<br />

Theorie bis auf den heutigen Tag auch<br />

von Menschen vertreten wird, die in anderen<br />

bioethischen Konfliktfeldern ausnahmslos<br />

auf der Seite des Lebens stehen<br />

und etwa Abtreibungen, Euthanasie<br />

sowie die Forschung mit embryonalen<br />

Stammzellen als unethisch zurückweisen.<br />

Da es ebenso dumm wie unredlich<br />

wäre, ihnen zu unterstellen, sie könnten<br />

sich <strong>für</strong> den Pragmatismus der Harvard-<br />

Kommission erwärmen, spricht viel <strong>für</strong><br />

die Annahme, dass sich <strong>für</strong> die These, der<br />

Hirntod sei auch der Tod des Menschen,<br />

andere Gründe ins Feld führen lassen, als<br />

die, die die Harvard-Kommission umtrieb.<br />

Bevor wir uns mit diesen im Detail auseinandersetzen,<br />

lohnt aber ein Blick darauf,<br />

wie der Tod vor der Hirntod-Definition<br />

festgestellt wurde. Über Jahrtausende<br />

hinweg war es nämlich Menschen<br />

möglich, den Tod eines ihrer Artgenossen<br />

vergleichsweise sicher zu diagnostizieren.<br />

Wessen Herz aufgehört hatte zu<br />

schlagen, wer nicht mehr atmete, keinen<br />

Puls und keinen Blutdruck mehr aufwies,<br />

wessen Lippen und Fingernägel sich blau<br />

färbten, wessen Körper erkaltete, wessen<br />

Muskeln allmählich erstarrten, wessen<br />

Haut sich verfärbte und wer schließlich<br />

Verwesungsgeruch verströmte, der<br />

wies keinerlei Lebenszeichen mehr auf,<br />

war offensichtlich verstorben und konnte<br />

folglich – zweifelsfrei – <strong>für</strong> tot »erklärt«<br />

werden.<br />

Inzwischen ist das anders. Denn längst<br />

werden auch Menschen <strong>für</strong> tot erklärt,<br />

noch bevor ihr Organismus auch nur ein<br />

einziges dieser seit Urzeiten bekannten,<br />

untrügerischen Todeszeichen aufweist.<br />

<strong>Die</strong>se Menschen weisen allerdings eine<br />

bereits erwähnte Besonderheit auf. Sie<br />

»Ein Organ, das nicht funktioniert,<br />

ist <strong>für</strong> praktische Zielsetzungen tot.«<br />

liegen – <strong>für</strong> »hirntot« erklärt – auf Intensivstationen.<br />

Ein Beatmungsgerät, der<br />

sogenannte Respirator, übernimmt die<br />

Steuerung ihrer Atmung und sorgt da<strong>für</strong>,<br />

dass ihre Herzen nicht zu schlagen<br />

aufhören und das Blut in ihren Körpern<br />

weiter zirkuliert.<br />

<strong>Die</strong> Folge: Das biologische System, als<br />

das jeder Mensch auch – wenn auch nicht<br />

ausschließlich – betrachtet werden darf,<br />

besteht in Teilen fort. Denn auch bei einem<br />

<strong>für</strong> hirntot erklärten, künstlich beatmeten<br />

menschlichen Organismus funktionieren<br />

Blutkreislauf, Stoffwechsel und<br />

Immunsystem, erfolgt der <strong>für</strong> eine erfolgreiche<br />

Beatmung unverzichtbare Gasaustausch<br />

in der Lunge, laufen energieverbrauchende<br />

Prozesse ab, wird künstlich<br />

zugeführte Nahrung weiterhin enzymatisch<br />

aufgespaltet, arbeiten die Nieren,<br />

funktioniert die Verdauung, kann Fieber<br />

gemessen werden, lassen sich – im Falle<br />

von Männern – selbst Erektionen und Samenergüsse<br />

beobachten. Sogar Schwangerschaften<br />

können bei <strong>für</strong> hirntot erklärten<br />

Frauen unter Umständen aufrechterhalten<br />

werden und führen – wenn auch<br />

nicht in der Mehrzahl der Fälle – zur Geburt<br />

lebender Kinder.<br />

Wie der Neurochirurg David Powner<br />

und die Gynäkologin Ira Bernstein von<br />

der Houston Medical School der Universität<br />

von Texas berichten, wurden bis<br />

zum Jahr 2003 insgesamt zehn erfolgreich<br />

verlaufene Schwangerschaften von Müttern,<br />

die zuvor <strong>für</strong> hirntot erklärt worden<br />

waren, dokumentiert. Glaubt man<br />

den Verfechtern der Hirntod-Konzeption,<br />

dann beatmet der Respirator trotz<br />

aller beobachtbaren biologischen Aktivität<br />

keine Menschen mehr, sondern bloß<br />

noch warme Leichen.<br />

Eingetreten sei der Tod bei einem<br />

künstlich beatmeten Menschen, behaup-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 25


E S S AY<br />

ten diejenigen, die im Hirntod ein untrügerisches<br />

Kriterium <strong>für</strong> den bereits eingetretenen<br />

Tod erblicken, nämlich nicht<br />

erst dann, wenn das Herz dieses Menschen<br />

zum Stillstand gekommen sei oder<br />

dieser seinen letzten Atemzug getan habe,<br />

sondern bereits dann, wenn das gesamte<br />

Gehirn derart geschädigt sei, dass<br />

alle Hirnfunktionen unwiderruflich zum<br />

Erliegen gekommen seien.<br />

So definiert etwa der Wissenschaftliche<br />

Beirat der Bundesärztekammer in den<br />

von der Standesvertretung der Ärzte im<br />

Jahr 1982 erlassenen und seitdem mehrfach<br />

fortgeschriebenen »Richtlinien zur<br />

Feststellung des Hirntods« den Hirntod<br />

DANIEL RENNEN<br />

als »Zustand des irreversiblen Erloschenseins<br />

der Gesamtfunktion des Großhirns,<br />

des Kleinhirns und des Hirnstamms bei<br />

einer durch kontrollierte Beatmung noch<br />

aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion«<br />

und folgert: »Der Hirntod ist der<br />

Tod des Menschen.«<br />

Begründet wird die Gleichsetzung<br />

des irreversiblen Erloschenseins sämtlicher<br />

Hirnfunktionen – man kann auch<br />

knapper vom irreversiblem Koma sprechen<br />

– mit dem Tod des Menschen von<br />

den Be<strong>für</strong>wortern der Hirntod-Konzeption<br />

vor allem mit einer Sonderstellung,<br />

die dem Gehirn innerhalb des menschlichen<br />

Organismus zukomme. Dabei wird<br />

das Gehirn als das übergeordnete Organ<br />

betrachtet, welches die Integration des<br />

Organismus in entscheidender Weise<br />

steuere. Falle es unwiederbringlich aus,<br />

dann zerfalle der menschliche Organismus<br />

in seine Einzelteile. Anders formuliert:<br />

»Nach dem Ausfall des Steuerungsorgans<br />

Gehirn« existiere lediglich noch<br />

»vegetatives Leben« in einem »Restkörper«,<br />

der nur noch als »Teilsumme der<br />

Organe« oder als »Organkonglomerat«<br />

betrachtet werden könne. So jedenfalls<br />

fasst die Soziologin Martina Spirgatis<br />

die Sicht derer zusammen, die mit dem<br />

Hirntod den tatsächlichen Tod des Menschen<br />

festzustellen meinen.<br />

Dabei können sich die Be<strong>für</strong>worter der<br />

Hirntod-Theorie auf eine ganze Reihe<br />

medizinischer Fakten berufen, die auch<br />

von den Kritikern der Theorie in aller<br />

Regel anerkannt werden. Zu diesen zählt,<br />

dass das Gehirn das »Sterblichste« aller<br />

Organe des Menschen ist. Denn von allen<br />

Organen reagiert das Gehirn am empfindlichsten<br />

auf eine Unterbrechung der<br />

Zufuhr von Sauerstoff und Nahrung. Das<br />

ist insofern nicht sonderlich verwunderlich,<br />

als das Gehirn, obwohl es nicht einmal<br />

drei Prozent der gesamten Körpermasse<br />

eines Menschen auf die Waage<br />

dies zu einer Lähmung der Atmung. <strong>Die</strong>se<br />

provoziert den Ausfall der Sauerstoffversorgung<br />

des Herzens, was wiederum<br />

einen Herzstillstand verursacht, in dessen<br />

Folge dann die bekannten klassischen<br />

Todeszeichen auftreten.<br />

»Tot ist derjenige, der aufgehört<br />

hat zu leben.«<br />

26<br />

Das Gehirn ist das Sterblichste aller Organe. Aber stirbt mit ihm auch der Mensch?<br />

»Tot ist, wer <strong>für</strong> sinnvolle Therapien<br />

unerreichbar geworden ist.«<br />

bringt, rund 20 Prozent der Stoffwechselenergie<br />

und des Sauerstoffs verbraucht.<br />

Aufgrund dieses enormen Bedarfs kann<br />

bereits eine wenige Minuten anhaltende<br />

Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zu<br />

einer irreparablen Schädigung des Gehirns<br />

führen und den Ausfall wichtiger<br />

Hirnfunktionen nach sich ziehen.<br />

Dabei fallen zunächst die Prozesse in<br />

der Großhirnrinde aus, die <strong>für</strong> die Steuerung<br />

aller bewussten Prozesse, einschließlich<br />

der Ich-Empfindungen, verantwortlich<br />

gemacht werden. Im Anschluss daran<br />

fallen die Prozesse im Hirnstamm aus, der<br />

unter anderem <strong>für</strong> die Steuerung der Atmung<br />

zuständig ist. Fallen die vom Hirnstamm<br />

gesteuerten Prozesse aus, führt<br />

Fassen wir das Bisherige kurz zusammen:<br />

Erleidet ein Mensch eine derart<br />

schwere Hirnschädigung, dass diese den<br />

Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen provoziert,<br />

dann führt dies unter normalen<br />

Bedingungen zu einem baldigen Herzstillstand.<br />

Weil das so ist, gestehen denn<br />

auch wohlmeinende Kritiker der Hirntod-<br />

Theorie Be<strong>für</strong>wortern derselben durchaus<br />

zu, dass »nichts näher« gelegen habe,<br />

»als nunmehr im irreversiblen Funktionsausfall<br />

des gesamten Gehirns – besser<br />

in der Zerstörung des Gehirns – das<br />

entscheidende zweifelsfreie Todeszeichen<br />

zu sehen«.<br />

Insofern ist es auch völlig nachzuvollziehen,<br />

dass sich Be<strong>für</strong>worter der Hirntod-Theorie<br />

ungerecht bewertet sehen,<br />

wenn ihnen Kritiker unterstellen, sie<br />

verträten eine »Umdefinition« des Todes<br />

oder verlegten den Todeszeitpunkt<br />

des Menschen vor. Ernstzunehmende<br />

Be<strong>für</strong>worter der Hirntod-Theorie werden<br />

denn auch nicht müde zu betonen,<br />

dass es nur einen Tod des Menschen ge-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


»Stoffwechsel und Homöostase:<br />

Leistung einer Luftpumpe?«<br />

be. <strong>Alle</strong>rdings ereignet sich – wie bereits<br />

erwähnt – der Hirntod im eigentlichen<br />

Sinne nie unter normalen Bedingungen.<br />

Dass ein Gehirn derart zerstört ist, dass<br />

mit einem baldigen Herzstillstand gerechnet<br />

werden muss, kommt überhaupt erst<br />

unter Bedingungen zur Anschauung, die<br />

durch und durch künstlich genannt werden<br />

können. <strong>Die</strong>selben künstlichen Bedingungen,<br />

die es dank Ibsen Ärzten heute<br />

ermöglichen, Aussagen über den Grad<br />

der Zerstörung eines Gehirns zu treffen,<br />

sorgen zugleich da<strong>für</strong>, dass das, was unter<br />

normalen Bedingungen angesichts<br />

einer als irreversibel erachteten Zerstörung<br />

des Gehirns erwartet werden sollte,<br />

gerade nicht eintritt.<br />

Denn indem der Respirator die aus<strong>gefallen</strong>en<br />

Hirnfunktionen des Patienten<br />

zumindest teilweise substituiert, verhindert<br />

er, dass dessen Herz aufgrund von<br />

Sauerstoffmangel zu schlagen aufhört.<br />

Kritiker der Hirntod-Theorie sehen darin<br />

einen Beleg da<strong>für</strong>, dass es eben doch<br />

möglich sei, zeitweise ohne Hirnfunktionen<br />

zu leben.<br />

So betrachtet etwa der Kölner Neuropathologe<br />

Hans Thomas den Respirator<br />

als eine Art »Prothese«. So wie ein Herzschrittmacher<br />

die Steuerung des Herzens<br />

übernehme, steuere der Respirator<br />

die Atmung. Be<strong>für</strong>wortern der Hirntod-<br />

Theorie, die dagegen einwenden, dass die<br />

Kreislauffunktion bloß technisch-maschinell<br />

und von außen aufrechterhalten werde<br />

und daher Leben nur simuliere, hält<br />

er entgegen: Das Atemgerät sei zwar eine<br />

»notwendige«, aber keine »hinreichende<br />

Bedingung«, um die »physiologischen<br />

Funktionen im Hirntoten« aufrechterhalten<br />

zu können. Schließlich sorge die<br />

Prothese da<strong>für</strong>, dass im Organismus eines<br />

Hirntoten Stoffwechsel und Homöostase<br />

(Selbstregulierung) aufrechterhalten<br />

würden, energieverbrauchende Prozesse<br />

in Gang blieben, Nahrung verwertet und<br />

sogar Schwangerschaften fortgeführt würden.<br />

Solche Phänomene seien aber keine<br />

»naturgemäßen Leistungen einer Luftpumpe,<br />

einer Nährinfusion« und anderer<br />

»zusätzlicher Mittel«.<br />

»Würde man«, illustriert der Würzburger<br />

Medizinrechtler Rainer Beckmann<br />

denselben Befund, »eine Leiche<br />

an ein Beatmungsgerät anschließen und<br />

ihr Medikamente zuführen, bliebe dies<br />

ohne Effekt. Sie würde sich nicht erwärmen,<br />

die Lungenflügel würden nur aufgeblasen,<br />

statt Sauerstoff aufzunehmen,<br />

und der Zerfall des Körpers würde sich<br />

ohne Anzeichen von Leben fortsetzen.<br />

Bei einem hirntoten Patienten sieht das<br />

»Der Respirator wirkt, ähnlich dem<br />

Herzschrittmacher, als Prothese.«<br />

»Hält man die Hirntot-Theorie <strong>für</strong><br />

wahr, dann gibt es warme Leichen.«<br />

anders aus: Der Luftsauerstoff wird aufgenommen,<br />

im Körper verteilt, und alle<br />

Organe und Gewebe ›leben‹ weiter.«<br />

Fassen wir also noch einmal zusammen:<br />

Der medizintechnische Fortschritt<br />

auf dem Gebiet der Langzeitbeatmung<br />

ermöglicht heute die Anschauung eines<br />

Phänomens, das sich vordem nicht beobachten<br />

ließ. Das, was sich beobachten<br />

lässt – der Hirntote nämlich –, unterscheidet<br />

sich jedoch signifikant von gewöhnlichen<br />

Toten. Konkret: »Ein beatmeter<br />

Hirntoter bleibt warm, schwitzt,<br />

zeigt noch Reflexe; eine Leiche wird<br />

kalt, starr, verfärbt sich, verbreitet Verwesungsgeruch.«<br />

Das erkenntnistheoretische<br />

Problem, das sich aus diesen unterschiedlichen<br />

Beobachtungen ergibt,<br />

bringt Thomas auf den Punkt, wenn er<br />

sagt: »Zwei empirisch verschiedene Zustände<br />

oder Prozesse können mit Berufung<br />

auf Empirie nicht als identisch erklärt<br />

werden.«<br />

Nun könnte man erwarten, dass, wenn<br />

eine These, wie die, dass der Hirntod<br />

auch der Tod des Menschen sei, weithin<br />

als »Tatsache« betrachtet wird, zumindest<br />

unter den Be<strong>für</strong>wortern Einigkeit<br />

darüber herrscht, wie sich das Vorliegen<br />

dieser als »Tatsache« erachteten<br />

These nachweisen lässt. Erstaunlicherweise<br />

ist aber genau das beim Hirntod<br />

nicht der Fall.<br />

Bereits 1978 – zehn Jahre nach der<br />

Veröffentlichung des Harvard-Reports<br />

– hatten Verfechter der Hirntod-Theorie<br />

mehr als 30 unterschiedliche Kriterien-Sets<br />

publiziert, mit denen die Verfasser<br />

jeweils den Anspruch verbanden,<br />

den Hirntod »sicher« nachweisen zu<br />

können. Im Jahr 1977 verglich der 1995<br />

verstorbene, in Kanada geborene, bedeutende<br />

US-amerikanische Neurochirurg<br />

Arthur Earl Walker, selbst Anhänger<br />

der Hirntod-Theorie, erstmals 18 dieser<br />

Sets und konnte dabei zeigen, dass viele<br />

von ihnen gravierende Unterschiede<br />

aufwiesen. Seitdem ist eine ganze Reihe<br />

weiterer Sets hinzugekommen. Ihre beachtliche<br />

Vielfalt führt im Extremfall dazu,<br />

dass ein Patient nach der Durchführung<br />

sämtlicher Untersuchungen des einen<br />

Sets »sicher« <strong>für</strong> »tot« erklärt werden<br />

kann, während er, würde er nach einem<br />

anderen Set untersucht, genauso<br />

»sicher« als »lebend« betrachtet werden<br />

müsste. Ein Beispiel kann diese paradoxe<br />

Situation, die auch von vielen Be<strong>für</strong>wortern<br />

der Hirntod-Theorie als unbefriedigend<br />

erachtet wird, verdeutlichen.<br />

So schreiben etwa die Harvard-Kriterien<br />

unter anderem vor, dass ein schwer<br />

komatöser Patient »regungslos« sein<br />

müsse, um <strong>für</strong> »hirntot« erklärt werden<br />

zu können. Der <strong>für</strong> eine Therapie als unerreichbar<br />

erachtete Patient, <strong>für</strong> den die<br />

Mitglieder der Harvard-Kommission keine<br />

medizinischen Ressourcen mehr aufwenden,<br />

dessen Organe sie jedoch auch<br />

nicht »verschwenden« wollten, sollte<br />

nicht nur zu keinerlei Eigenbewegungen<br />

mehr fähig sein, sondern auch keinerlei<br />

Reflexe mehr zeigen. Dagegen verzichtete<br />

die Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> Chirurgie<br />

in ihrer im selben Jahr publizierten<br />

Stellungnahme darauf, den Nachweis der<br />

»Reglosigkeit« und einer vollkommenen<br />

»Areflexie« zur Bedingung <strong>für</strong> die Feststellung<br />

des Hirntodes zu machen. Verlangten<br />

die Harvard-Kriterien also, wie<br />

die deutsche Soziologin Gesa Lindemann<br />

treffend formulierte, noch »totere<br />

Tote«, weil bei ihnen keinerlei Aktivität<br />

des gesamten zentralen Nervensystems<br />

mehr beobachtet werden darf, um<br />

sie <strong>für</strong> tot erklären zu können, so werden<br />

die vom Rückenmark gesteuerten<br />

Bewegungen und Reflexe in vielen anderen<br />

Sets, einschließlich der von der Bundesärztekammer<br />

erlassenen »Richtlinien<br />

zur Feststellung des Hirntodes«, welche<br />

die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft<br />

<strong>für</strong> Chirurgie ablösten, offensichtlich<br />

als mit dem Tod vereinbar betrachtet.<br />

Mit anderen Worten: Hält man die<br />

Hirntod-Theorie <strong>für</strong> zutreffend, dann<br />

muss man gemäß den in Deutschland<br />

geltenden »Richtlinien zur Feststellung<br />

des Hirntodes« nicht nur künstlich beatmete<br />

warme Körper als Leichen betrachten,<br />

sondern auch solche, die sich<br />

noch bewegen.<br />

Auch bei den klinischen Tests, mit denen<br />

der Hirntod üblicherweise »nachgewiesen«<br />

wird, wird nicht direkt geprüft,<br />

ob der Patient bereits tot oder noch le-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 27


E S S AY<br />

bendig ist, sondern lediglich, ob der Patient<br />

noch Reflexe zeigt. <strong>Die</strong> Testergebnisse<br />

erlaubten es jedoch dann – so lautet<br />

jedenfalls die herrschende Meinung<br />

– den Ärzten, »wissenschaftlich hinreichend«<br />

begründete »Rückschlüsse« auf<br />

die »Endgültigkeit des Hirnfunktionsausfalls«<br />

zu ziehen. Überprüft werden<br />

dazu meist fünf Reflexe, die in den Nervenkernen<br />

des Hirnstamms verschaltet<br />

<strong>sind</strong>. Im Einzelnen <strong>sind</strong> das der Pupillenreflex,<br />

der Hornhautreflex, der okulozephale<br />

Reflex, der Husten- und Würgereflex<br />

sowie die Schmerzreaktion im<br />

Gesicht. Wie diese Tests im Einzelnen<br />

genau durchgeführt werden, beschreibt<br />

der Münchener Arzt und Be<strong>für</strong>worter der<br />

Hirntod-Theorie Fuat Oduncu in seinem<br />

Buch »Hirntod und Organtransplantation«<br />

sehr anschaulich.<br />

Wir brauchen daher hier nur festhalten:<br />

Zeigt der Patient – und sei es auch<br />

nur halbseitig – bei einem einzigen dieser<br />

Tests einen Reflex, dann kann der Hirntod<br />

auch nach Ansicht der allermeisten<br />

Be<strong>für</strong>worter der Hirntod-Theorie nicht<br />

festgestellt werden. In Deutschland muss<br />

das Fehlen aller dieser fünf Hirnstammreflexe<br />

zudem von zwei getrennt voneinander<br />

arbeitenden Ärzten wiederholt<br />

nachgewiesen und dokumentiert werden.<br />

Auch <strong>sind</strong> die Ärzte verpflichtet, jeweils<br />

einen Beobachtungszeitraum von zwölf<br />

Stunden nach einer primären Hirnschädigung<br />

beziehungsweise von drei Tagen<br />

nach einer sekundären Hirnschädigung<br />

»Klinische Tests bieten eine<br />

Genauigkeit von rund 90 Prozent.«<br />

28<br />

einzuhalten. Erst wenn auch dann keinerlei<br />

Reflexe beobachtet werden können,<br />

darf der Patient <strong>für</strong> hirntot erklärt<br />

werden. Auf diese Weise soll sichergestellt<br />

werden, dass das Hirn des Patienten<br />

ausreichend Gelegenheit hatte, sich<br />

von der jeweiligen Schädigung zu erholen.<br />

Da die Ärzte zudem gehalten <strong>sind</strong>, vor<br />

Aufnahme der Hirntod-Diagnostik andere<br />

denkbare Ursachen <strong>für</strong> den Ausfall der<br />

Hirnfunktionen auszuschließen, wozu unter<br />

anderem Vergiftungen, die dämpfende<br />

Wirkung von Medikamenten, neuromuskuläre<br />

Blockaden oder eine primäre<br />

Unterkühlung gerechnet werden, kann<br />

zumindest hierzulande auch keine Rede<br />

davon sei, dass Ärzte, die bei einem Patienten<br />

den Hirntod »feststellen«, lediglich<br />

auf die Organe der Betreffenden aus<br />

seien. Schwieriger ist das schon in Finnland,<br />

wo der vorgeschriebene Beobachtungszeitraum<br />

bei einer primären Hirnschädigung<br />

lediglich eine Stunde beträgt.<br />

Im Vergleich dazu sehen die Harvard-Kriterien<br />

übrigens noch einen Beobachtungszeitraum<br />

von 24 Stunden vor.<br />

B U C H T I P P<br />

Stefan Rehder: Grauzone Hirntod.<br />

Organspende verantworten. Sankt<br />

Ulrich Verlag, Augsburg 2010.<br />

190 Seiten. Gebunden. 22,00 EUR.<br />

»Hirntote <strong>sind</strong> vielfach schwerst<br />

geschädigte Sterbende.«<br />

Dass es unredlich wäre, Ärzten, die<br />

gemäß den Richtlinien der Bundesärztekammer<br />

den Hirntod feststellen, zu unterstellen,<br />

sie hätten anstelle des komatösen<br />

Patienten nur jene Patienten im<br />

Blick, die ein fremdes Organ zum Weiterleben<br />

benötigen, bedeutet jedoch wiederum<br />

nicht, dass auch die Hirntod-Diagnostik<br />

selbst schon über jeden Zweifel<br />

erhaben wäre. Im Gegenteil: Denn anders<br />

als die den Hirntod diagnostizierenden<br />

Ärzte in Deutschland, die zudem keinerlei<br />

Bezug zur Transplantationsmedizin<br />

haben dürfen, wirft die Hirntod-Diagnostik<br />

durchaus Fragen auf.<br />

Dabei dürfte die wichtigste zweifellos<br />

lauten: Welcher Grad an Gewissheit<br />

kann mit den praktizierten klinischen<br />

Tests überhaupt erreicht werden,<br />

wenn sich, wie etwa auch Oduncu einräumt,<br />

»der Nachweis der Irreversibilität<br />

des Hirnfunktionsausfalls« gar nicht<br />

»unmittelbar durchführen« lässt? So berechtigt<br />

diese Frage ist und so sehr sie<br />

sich aufdrängt, eine wirklich zufrieden<br />

stellende Antwort auf diese Frage kann<br />

es leider gar nicht geben. Sie wäre nämlich<br />

erst dann möglich, wenn das Gehirn<br />

jedes <strong>für</strong> hirntot erklärten Menschen im<br />

Anschluss an diese Diagnose einer zeitnahen<br />

Untersuchung durch einen Pathologen<br />

unterzogen würde. Da dies jedoch<br />

weder durchführbar und noch viel<br />

weniger wünschenswert wäre – nicht zuletzt,<br />

da das Feststellen einer Fehldiagnose<br />

mittels eines entsprechenden pathologischen<br />

Befundes <strong>für</strong> den Patienten völlig<br />

bedeutungslos wäre –, kann man sich<br />

der Beantwortung dieser Frage auch lediglich<br />

annähern.<br />

Schon Walker ging davon aus, dass die<br />

klinischen Tests allein allenfalls eine »Genauigkeit<br />

von annähernd 90 Prozent« gewährleisten<br />

können. In der bislang einzigen<br />

großangelegten Studie, die an über<br />

500 komatösen Patienten durchgeführt<br />

wurde, wies er nach, dass praktisch alle<br />

klinischen Tests, mit denen der Hirntod<br />

nachgewiesen werden soll, »Schwierigkeiten<br />

haben«. Damit nicht genug: Sofern<br />

keine apparative Diagnostik zum Einsatz<br />

kommt, werden auch die Funktionen des<br />

Cortex (Hirnrinde) sowie des Klein- und<br />

Mittelhirns überhaupt nicht untersucht.<br />

Ist dies der Fall, und werden mit den<br />

klinischen Tests jedoch nur Funktionen<br />

des Hirnstamms untersucht, dann stellt<br />

sich allerdings die Frage, ob nicht der als<br />

Hirntod definierte »Zustand des irreversiblen<br />

Erloschenseins der Gesamtfunktion<br />

des Großhirns, des Kleinhirns und des<br />

Hirnstamms bei einer durch kontrollierte<br />

Beatmung noch aufrechterhaltenen Herz-<br />

Kreislauffunktion« – so lautet ja die Definition<br />

der Bundesärztekammer – nicht<br />

zumindest in vielen Fällen eher als eine<br />

»Prognose« denn als echte »Diagnose«<br />

betrachtet werden muss.<br />

<strong>Die</strong>s gilt um so mehr, als auch der<br />

Neurologe Steven Laureys, Leiter einer<br />

angesehenen Arbeitsgruppe von Medizinern,<br />

die sich an der Universität Lüttich<br />

der wissenschaftlichen Untersuchung<br />

aller Formen des Komas widmen, einräumt:<br />

»Theoretisch« könne eine mehrere<br />

Stellen betreffende Verletzung des<br />

Stammhirns »alle klinisch nachweisbaren<br />

Funktionen der Region auslöschen, während<br />

irgendeine klinisch nicht detektierbare<br />

Restfunktion des sogenannten aufsteigenden<br />

retikulären Aktivierungssystems<br />

noch eine marginale, fluktuierende<br />

Form des Bewusstseins gewährleistet«.<br />

»Fehldiagnosen wären dann«, so<br />

der überzeugte Anhänger der Hirntod-<br />

Theorie, »denkbar«. Um einen solchen<br />

Zustand überhaupt erkennen zu können,<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


wären laut Laureys jedoch »Zusatzuntersuchungen<br />

wie funktionelle Bildgebung<br />

oder elektrophysiologische Messungen<br />

erforderlich«. Fehldiagnosen, die nicht<br />

auf menschliches Versagen, sondern auf<br />

ein unzureichendes Diagnostik-Besteck<br />

zurückzuführen <strong>sind</strong>, <strong>sind</strong> jedoch nicht<br />

nur »theoretisch denkbar«, sie kommen<br />

auch tatsächlich vor.<br />

Unter der ironisch anmutenden Überschrift<br />

»Chronischer Hirntod« dokumentierte<br />

der hochangesehene US-amerikanische<br />

Neurologe Daniel Alan Shewmon,<br />

der an der Universität von Kalifornien<br />

in Los Angeles lehrt und sich von<br />

einem überzeugten Anhänger der Hirntod-Theorie<br />

zu einem ihrer entschiedensten<br />

Gegner wandelte, 1998 in der<br />

Fachzeitschrift »Neurology« 175 Fälle<br />

von Patienten, die einen zuvor diagnostizierten<br />

Hirntod überlebt hatten. Dabei<br />

betrug die »Überlebenszeit im Hirntod«<br />

in nicht wenigen Fällen Wochen oder gar<br />

Monate. In einem außergewöhnlichen<br />

Fall lebte ein Patient sogar noch ganze<br />

14 Jahre, nachdem er <strong>für</strong> hirntot erklärt<br />

worden war.<br />

»Keine Struktur hat die Funktion<br />

des unverzichtbaren Integrators.«<br />

2008 berichteten die beiden Radiologen<br />

Lionel Zuckier und Johanna Kolano<br />

von der Newark Medical School im US-<br />

Bundesstaat New Jersey in einer Studie<br />

<strong>für</strong> die Fachzeitschrift »Seminars in nuclear<br />

medicine«, dass bei 21 von 188 Patienten,<br />

die nach klinischen Test <strong>für</strong> »hirntot«<br />

erklärt worden waren, eine permanente<br />

Durchblutung des Gehirns nachgewiesen<br />

werden konnte. Für ihre Studie<br />

hatten die Mediziner sämtliche Hirntod-<br />

Diagnosen überprüft, die an ihrer Universitätsklinik<br />

in den vorausgegangenen<br />

vier Jahren gestellt worden waren. Das<br />

vernichtende Ergebnis: elf Prozent der<br />

Diagnosen waren offenkundig falsch.<br />

Im Dezember 2008 veröffentlichte das<br />

»President’s Council on Bioethics«, das<br />

den US-amerikanischen Präsidenten in<br />

bioethischen Fragen berät, ein sogenanntes<br />

»White Paper«, das den Titel »Controversies<br />

in the Determination of Death«<br />

trägt. Darin räumen die Experten ein,<br />

dass angesichts der Daten, wie sie unter<br />

anderem von Shewmon anhand zahlreicher<br />

Fälle erbracht wurden, nicht mehr<br />

behauptet werden könne, dass der Organismus<br />

mit dem Hirntod jedes Mal in seine<br />

Einzelteile zerfalle. Wörtlich heißt es<br />

in der Stellungnahme: »In solchen Fällen<br />

wird eine allgemein koordinierte Tätigkeit<br />

des Körpers von mehreren Systemen<br />

aufrechterhalten, die alle auf das fortbestehende<br />

Funktionieren des Körpers als<br />

Ganzem gerichtet <strong>sind</strong>. Wenn das Lebendig-Sein<br />

als biologischer Organismus<br />

ein Ganzes zu sein erfordert, ist damit<br />

mehr gemeint als die bloße Summe<br />

seiner Teile. Wer hiervon ausgeht, dem<br />

würde es schwierig werden zu leugnen,<br />

dass der Körper eines Patienten mit dem<br />

totalen Verlust der Hirnfunktion immer<br />

noch am Leben ist – zumindest in bestimmten<br />

Fällen.«<br />

Und an anderer Stelle der gleichen<br />

Stellungnahme heißt es: Es gebe einen<br />

gewissen Grad an somatisch integrierter<br />

Aktivität, »die in den Körpern der Patienten<br />

erhalten bleibt, die entsprechend<br />

den neurologischen Standards <strong>für</strong> tot<br />

erklärt wurden«. <strong>Die</strong>s erläuternd, hält<br />

das White Paper fest: »Der Grund, dass<br />

diese somatischen Aktivitäten bestehen<br />

bleiben, besteht – wie Shewmon richtig<br />

bemerkt – darin, dass das Gehirn nicht<br />

der Integrator der vielen verschiedenen<br />

Funktionen des Körpers ist. Unter normalen<br />

Umständen spielt der Hirnstamm<br />

eine wichtige und komplexe Rolle bei<br />

der Unterstützung der körperlichen Integration.<br />

Aber keine einzelne Struktur<br />

im Körper hat die Funktion eines unverzichtbaren<br />

Integrators, vielmehr ist sie<br />

[die körperliche Integration] eine emergente<br />

Eigenschaft des gesamten Organismus<br />

– eine Eigenschaft, die nicht von<br />

irgendeinem Teil abhängt, sondern das<br />

Produkt der Orchestrierung seiner verschiedenen<br />

Teile ist.«<br />

Fassen wir das im White Paper Formulierte<br />

noch einmal zusammen: Unter<br />

normalen Umständen spielt das Gehirn<br />

eine wichtige und komplexe Rolle<br />

bei der Aufrechterhaltung des Organismus<br />

als Ganzem. Fällt es jedoch aus und<br />

können einige seiner Funktionen durch<br />

eine Prothese namens Respirator erfolgreich<br />

ersetzt werden, dann erweist sich das<br />

Gehirn nicht mehr als der unverzichtbare<br />

Integrator, <strong>für</strong> den es von vielen gehalten<br />

wird, zerfällt der Organismus trotz eines<br />

nach den Regeln der Kunst festgestellten<br />

Hirntods nicht in seine Einzelteile.<br />

Wenn aber der Organismus auch nach<br />

dem Hirntod als Ganzer fortbesteht,<br />

dann kann nicht nur keine Rede davon<br />

sein, dieser sei lediglich ein »Restkörper«<br />

oder »Organkonglomerat«. Dann ist es<br />

auch Zeit, sich von der These, der Tod<br />

des Organs Gehirn sei auch der Tod des<br />

Menschen, zu verabschieden. Ein solcher<br />

Organismus müsste vielmehr als schwer<br />

geschädigter Körper eines Menschen betrachtet<br />

werden, der entweder die Fähigkeit,<br />

bewusst erleben zu können, bereits<br />

tatsächlich eingebüßt hat, oder diese<br />

derzeit nicht unter Beweis stellen kann.<br />

»Integration ist eine emergente<br />

Eigenschaft des Organismus.«<br />

Es ist keine Schande, sondern der Normalfall<br />

der Wissenschaften, dass ein Zuwachs<br />

an Erkenntnissen auch dazu führt,<br />

zuvor <strong>für</strong> zutreffend Erachtetes im Licht<br />

neuer Erkenntnisse korrigieren zu müssen.<br />

Was daraus <strong>für</strong> die Praxis der Transplantationsmedizin<br />

folgt, liegt meines Erachtens<br />

auf der Hand. Hier nur so viel: Menschen<br />

dürfen – unabhängig vom Grad der<br />

Schädigung ihres Körpers – nicht dadurch<br />

getötet werden, dass ihnen lebenswichtige<br />

Organe entnommen werden. Denn<br />

das Recht des hirntoten Patienten, nicht<br />

getötet zu werden, wiegt schwerer als der<br />

verständliche Wunsch eines anderen Patienten<br />

nach einem längeren Leben, das<br />

ihm durch eine Transplantation ermöglicht<br />

werden könnte. Wenn die Leben<br />

verlängernde Transplantation nur möglich<br />

ist durch einen Eingriff in den Sterbeprozess,<br />

ist sie zu unterlassen. Da kein<br />

Mensch ein Anrecht auf ein fremdes Organ<br />

hat, aber jedem Menschen das Recht<br />

zukommt, von einem anderen – außer in<br />

Notwehr – nicht getötet zu werden, hat<br />

die Würde des Sterbenden Vorrang gegenüber<br />

dem Interesse eines Kranken an<br />

einem neuen Organ.<br />

I M P O R T R A I T<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Geb. 1967, ist Journalist, Buchautor und<br />

Leiter der Rehder Medienagentur in<br />

Aachen. Er studierte Geschichte, Germanistik<br />

und Philosophie<br />

in Köln und<br />

München, schreibt<br />

<strong>für</strong> Tageszeitungen<br />

und Magazine<br />

(u. a. als Korrespondent<br />

<strong>für</strong> die<br />

überregionale katholische Tageszeitung<br />

»<strong>Die</strong> Tagespost«), ist Redaktionsleiter<br />

von »LebensForum« und hat mehrere<br />

Bücher verfasst (u.a.: »<strong>Die</strong> Todesengel.<br />

Euthanasie auf dem Vormarsch«, Sankt<br />

Ulrich Verlag, Augsburg 2009). Stefan<br />

Rehder ist verheiratet und Vater von drei<br />

Kindern.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 29


B Ü C H E R F O R U M<br />

Was die Autoren Peter Wissmann<br />

und Reimer Gronemeyer<br />

bearbeiten, erweist sich<br />

als realistischer Auftrag an eine Gesellschaft,<br />

die sich einer<br />

immer höheren Lebenserwartung<br />

erfreut.<br />

Er richtet sich<br />

nicht vornehmlich<br />

an die »ewig Junggebliebenen«,<br />

Dauertrainierten<br />

oder geistig präsenten Alters-Weisen;<br />

vielmehr muss sich die Zivilgesellschaft<br />

auf den Bürger mit Demenz<br />

(wörtlich: den »des Geistes Beraubten«)<br />

einstellen und ihm trotz<br />

seiner kognitiven Verluste<br />

einen sicheren Platz in<br />

der Gesellschaft einräumen.<br />

Demenz darf nicht<br />

als Tabu gelten, das aus<br />

der schnelllebigen Wissensgesellschaft<br />

schamhaft<br />

wegzusperren bleibt.<br />

Trotz »Vieles« versprechender<br />

und kostspieliger<br />

medizinischer Forschung<br />

gibt es bislang<br />

keine Therapie; so lässt<br />

sich fragen, ob »Alzheimer«<br />

oder »Demenz«<br />

ihrem Wesen nach überhaupt<br />

Pathologien und<br />

ausschließlich im »Alzheimer<br />

Imperium« der Pharmaindustrie<br />

zu versorgen <strong>sind</strong>.<br />

Wesentlicher noch <strong>sind</strong> die Fragen: ob<br />

sich der Mensch im »cogito« raumzeitlicher<br />

Orientierung und Planung umfassend<br />

aufgehoben weiß; sich die Beurteilung<br />

von Wirklichkeit in »der Definition«,<br />

der »Grenzziehung«, erschöpft, obwohl<br />

die Grenze des Wissbaren doch nicht erreicht<br />

werden kann? Und entdeckt nicht<br />

die »Weisheit der Gefühle«, unsere Intuition,<br />

oft mehr als unser Verstand? Sich<br />

an der streichelnden Hand des Anderen<br />

zu orientieren, vermittelt schon dem Kind<br />

mehr Selbst-Sicherheit als ein technokratisches<br />

Pädagogikkonzept – und dem verunsicherten<br />

Alten weit mehr als ein raffiniertes<br />

»brain aging«. »Gegen den Strich<br />

gebürstet« entpuppt sich der derzeitige<br />

gesellschaftliche Umgang mit Demenz<br />

als beängstigender Kampf gegen einen<br />

bislang unbesiegten »Feind der Menschheit«<br />

und verwehrt so den Blick auf den<br />

Menschen in seiner Ganzheit als leibgeistiges<br />

und soziales Wesen.<br />

Neue Programme zur Inklusion von<br />

Mitbürgern mit Demenz zielen die Erschließung<br />

sinnesorientierter Wahrnehmungs-<br />

und Interaktionsräume an, welche<br />

30<br />

Keine<br />

Sozialromantik<br />

die Kommunikation von Erleben und damit<br />

gesellschaftliche Teilhabe (u. a. über<br />

Musik/Malen) eröffnen. So verbleiben<br />

nicht hoffnungslos Kranke, Dahinvegetierende,<br />

»Verblödete«<br />

und schließlich<br />

aus Kostengründen<br />

»Abzuschaffende«.<br />

Für derartige »Endlösungen«<br />

scheinen<br />

sich trotz noch immer<br />

vorhandenen »Wohlstands« ja bedenkliche<br />

Symptome vorzubereiten.<br />

Ohne eine romantische Verherrlichung<br />

oder Verharmlosung von Behinderung<br />

aller Art zu propagieren,<br />

soll »Demenz« als<br />

mitbürgerliche Aufgabe<br />

in Nachbarschaft, im<br />

Vereinswesen, in Kirche<br />

und Öffentlichkeit<br />

wahrgenommen werden<br />

und in der Kommune<br />

zum lohnenden<br />

Austausch führen. Bietet<br />

sich hier nicht die<br />

Chance zur Erkenntnis,<br />

dass wir alle vom Beginn<br />

unseres Daseins an von<br />

der Zuwendung anderer<br />

Menschen abhängig<br />

<strong>sind</strong>, von Anderen<br />

als soziale Wesen in gelebter<br />

Humanität wahrgenommen<br />

werden und von ihnen in unserer<br />

Würde wertgeschätzt bleiben?<br />

Insofern bedarf es »neuer Kommunen«,<br />

wie der 2. Teil des Buches anregt.<br />

Nicht die »Industrialisierung des Sozialen«,<br />

wobei der alte Mensch zum »Pillenschlucker«<br />

und zum »Verpflegten« verkommt,<br />

führt zum Ziel. Generell bedarf<br />

es der »neuen Architektur des Sozialen«,<br />

da der »sensus communis« bereits innerhalb<br />

der aktiven Leistungsgesellschaft<br />

verloren geht: im »carpe diem« der Singles,<br />

der Selbstisolierung des PC-Freaks,<br />

in einer »Selbstbestimmung«, welche die<br />

Entmündigung des Alten fordert und zur<br />

»Stilllegungsprämie« des Hochbetagten<br />

durch seine Erben tendiert. Für die von<br />

den Autoren aufgezeigten verschiedenen<br />

Wege in eine neue Praxis des Alltags sei<br />

gedankt. Wir stehen – wieder einmal – am<br />

Anfang. Als nicht nur denkende Naturen,<br />

sondern fühlende, einfühlende, lernende<br />

in Gegenseitigkeit!<br />

Dr. med. Maria Overdick-Gulden<br />

Peter Wissmann/Reimer Gronemeyer: Demenz und<br />

Zivilgesellschaft – eine Streitschrift. Mabuse-<br />

Verlag, Frankfurt a.M. 2008. 200 Seiten. 21,80 EUR.<br />

Im Schaufenster<br />

Der machbare<br />

Mensch?<br />

Der vorliegende<br />

Sammelband ist im<br />

vergangenen Jahr in<br />

der Schriftenreihe<br />

des Evangelischen<br />

Studienwerks Villigst<br />

erschienen und<br />

geht auf einen Kongress<br />

zurück, der sich mit den medizinischen<br />

und technischen Möglichkeiten der »Verbesserung«<br />

natürlicher Eigenschaften des Menschen<br />

beschäftigte. Er gibt, trotz einiger<br />

Schwächen und unvermeidbaren Auslassungen,<br />

einen recht soliden Überblick über das<br />

bereits technisch Mögliche (Neurochirurgische<br />

Eingriffe, Neuroprothesen, Gendiagnostik,<br />

Stammzellforschung, psychopharmakologische<br />

Interventionen), diskutiert viele realistische<br />

und einige eher utopische Zukunftsszenarien<br />

und hinterfragt kritisch deren Auswirkungen<br />

auf unsere Sicht des Menschen.<br />

Fazit: Lesenswert.<br />

reh<br />

Peter Böhlemann/Almuth Hattenbach/Lars Klinnert/<br />

Peter Markus (Hrsg.): Der machbare Mensch? Moderne<br />

Hirnforschung, biomedizinisches Enhancement<br />

und christliches Menschenbild.<br />

Lit-Verlag, Berlin 2010. 136 Seiten. 19,90 EUR.<br />

Life Talk<br />

In dem als Tagebuch<br />

verfassten Buch erzählt<br />

die Autorin die<br />

Geschichte zweier<br />

Konfliktschwangerschaften.<br />

<strong>Die</strong> der<br />

bereits 30-jährigen<br />

Catharina und die<br />

der erst 17-jährigen<br />

Maria. <strong>Die</strong> eine mündet in eine Geburt, die<br />

andere in eine Abtreibung. Inwieweit beide<br />

Geschichten authentisch oder fiktiv <strong>sind</strong>, wird<br />

nicht klar. So oder so handelt es sich jedoch<br />

um ein letztlich lesenswertes Werk, das realistisch<br />

die Konflikte zur Sprache bringt, in die<br />

Frauen – nicht zuletzt durch den Druck aus ihrem<br />

Umfeld – geraten können, wenn sie überraschend<br />

schwanger werden. <strong>Die</strong> von der Autorin<br />

gewählte Sprache dürfte <strong>für</strong> viele Leser<br />

freilich gewöhnungsbedürftig sein, nicht zuletzt,<br />

weil sie über weite Strecken auch die<br />

E-Mail-Korrespondenz in ihren Text mit ein-<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


fließen lässt, mittels der sie mit ihrem Umfeld<br />

und Maria, die sie in einem Chatroom kennengelernt<br />

hat, führt.<br />

Fazit: Für junge und robustere Leser. reh<br />

Catharina Paul: Life Talk. Ein Tagebuch. Verlag Dr.<br />

Klein Media, Augsburg 2009. 256 Seiten. 12,90 EUR.<br />

Leben als<br />

Maschine?<br />

Auf den ersten Blick<br />

mag dieses Buch<br />

<strong>für</strong> <strong>Lebensrecht</strong>ler<br />

wenn überhaupt,<br />

dann nur von nachrangigem<br />

Interesse<br />

sein. Das ändert<br />

sich jedoch auf den<br />

zweiten Blick dramatisch.<br />

Denn letztlich stellen Disziplinen wie<br />

die Systembiologie, die Robotik und die Künstliche<br />

Intelligenz unser Menschenbild und damit<br />

auch die Gültigkeit von Menschenrechten<br />

in Frage. <strong>Die</strong>ses Buch zeigt, wie weit die genannten<br />

Disziplinen fortgeschritten <strong>sind</strong>, welche<br />

Visionen die dort arbeitenden Forscher<br />

antreiben und welche Konsequenzen dies <strong>für</strong><br />

die Zukunft der Menschheit haben könnte.<br />

Fazit: Ein Buch <strong>für</strong> alle, die weiter denken. reh<br />

Klaus Mainzer: Leben als Maschine? Von der Systembiologie<br />

zur Robotik und Künstlichen Intelligenz.<br />

Mentis Verlag, Paderborn 2010. 274 Seiten.<br />

29,80 EUR.<br />

Entgrenzung der<br />

Medizin<br />

Schönheitschirurgie<br />

und »Anti-Aging« boomen,<br />

Neuropharmaka<br />

zur Verbesserung der<br />

Stimmung oder der<br />

Gedächtnisleistung<br />

finden reißenden Absatz.<br />

Anzeichen da<strong>für</strong>,<br />

dass sich die Medizin längst nicht mehr nur<br />

der Heilung kranker, sondern auch der »Optimierung«<br />

gesunder Menschen widmet.<br />

<strong>Die</strong> Autoren des Bandes beschreiben anhand<br />

zahlreicher Fallbeispiele diese »Entgrenzung<br />

der Medizin«, fragen nach historischen Vorbildern<br />

und erörtern ihre sozialen Folgen.<br />

Fazit: Lesenswert.<br />

reh<br />

Willy Viehöver/Peter Wehling (Hrsg.): Entgrenzung<br />

der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung<br />

des Menschen? Verlag Transcript , Bielefeld<br />

2011. 308 Seiten. 29,80 EUR.<br />

Forschungspraxis<br />

Bioethik<br />

Jede Wissenschaft ist gut beraten,<br />

sich regelmäßig ihrer Grundlagen<br />

zu vergewissern. Das gilt auch <strong>für</strong><br />

die Bioethik, die danach fragt, wie<br />

der Umgang mit<br />

dem technologischen<br />

Fortschritt<br />

in den Biowissenschaften<br />

aus ethischer<br />

Perspektive<br />

bewertet und<br />

gestaltet werden muss. Das bisweilen –<br />

keineswegs nur im übertragenen Sinne –<br />

mörderische Tempo, mit dem die Biotechnologien<br />

derzeit voranschreiten,<br />

macht es<br />

jedoch der ethischen<br />

Reflexion zunehmend<br />

schwerer, Schritt zu<br />

halten. Bei der gegenwärtigen<br />

Geschwindigkeit<br />

droht vor allem<br />

die Reflexion der<br />

Reflexion schnell zu<br />

kurz zu kommen.<br />

Dabei ist es, wie<br />

etwa der Begriff der<br />

»Ethik des Heilens«<br />

zeigt, alles andere<br />

als unerheblich,<br />

vor welchem Hintergrund<br />

einzelne Technologien<br />

ethisch bewertet<br />

werden. Insofern<br />

ist also durchaus<br />

zu begrüßen, dass<br />

der vorliegende Band<br />

beabsichtigt, »Vorschläge zur Verortung,<br />

Strukturierung und Implementierung der<br />

Bioethik« zu machen.<br />

Gegliedert ist er in fünf Teile. Ein erster<br />

Teil widmet sich theoretischen Grundfragen,<br />

befasst sich mit der Terminologie<br />

bioethischer Diskurse, fragt nach der<br />

Bedeutung häufig benutzter Metaphern<br />

und untersucht verschiedene Kategorien<br />

der Bioethik. Ein zweiter Teil beleuchtet<br />

anthropologische Aspekte und sucht<br />

Licht in das Dunkel von Begriffen wie<br />

»Bewusstsein« und »Selbstbewusstsein«<br />

oder auch »Persönlichkeit« zu bringen.<br />

Erhellt wird ferner, was die monotheistischen<br />

Buchreligionen, Judentum, Christentum<br />

und Islam, über die Entstehung<br />

und Beseelung des Menschen lehren und<br />

auf welche Quellen sie sich dabei stützen.<br />

Ein dritter, erstaunlich umfangreicher<br />

Teil beschäftigt sich mit der Tierethik,<br />

sucht nach Kriterien <strong>für</strong> die ethische<br />

Vertretbarkeit von Tierexperimenten,<br />

fragt nach Sinn und Grenzen des Anthropozentrismus<br />

in der Ethik und stellt<br />

sogar Spekulationen darüber an, inwieweit<br />

»nichtmenschliche Tiere« in einen<br />

»vertragstheoretischen Argumentationsrahmen«<br />

einbezogen werden können und<br />

sollten. Der vierte Teil des Bandes ist der<br />

Ethik in der Medizin<br />

gewidmet.<br />

Dabei untersucht<br />

er beispielsweise,<br />

welche Rolle<br />

Werturteile in der<br />

Evidenz-basierten<br />

Medizin spielen oder wie die Steigerung<br />

kognitiver Fähigkeiten durch Psychopharmaka<br />

ethisch bewertet werden könnte. Ein<br />

fünfter und letzter<br />

Teil beschäftigt sich<br />

schließlich mit gesellschaftlichen<br />

Auswirkungen,<br />

die die Implementierung<br />

biotechnologischer<br />

Erfindungen<br />

und Techniken<br />

mit sich bringt.<br />

Dabei werden etwa<br />

Gendatenbanken und<br />

Patente besonders in<br />

den Blick genommen.<br />

<strong>Die</strong>se nicht einmal<br />

vollständige Übersicht<br />

zeigt freilich<br />

auch, wie uferlos die<br />

Bioethik längst geworden<br />

ist. Wer sich<br />

in die einzelnen Beiträge<br />

vertieft, trifft<br />

dort zwar fast überall<br />

auf interessante<br />

Einsichten und bedenkenswerte Argumente,<br />

doch dürfte außer den Experten<br />

selbst kaum noch jemand in der Lage<br />

sei, diese zu einem halbwegs stimmigen<br />

Gesamtbild zusammenzufügen. Das<br />

wirft freilich die Frage nach dem Nutzen<br />

derartiger Publikationen auf.<br />

Der Gefahr, dass die Bioethik zu einem<br />

intellektuell hochstehenden Selbstgespräch<br />

wird, in dem am Ende nur noch<br />

Spezialisten mit Spezialisten über sehr<br />

spezielle Fragen diskutieren, anstatt Politik<br />

und Gesellschaft die dringend benötigten<br />

Optionen <strong>für</strong> einen ethischen Umgang<br />

mit den nicht selten bedrohlichen<br />

Biotechnologien zu liefern, lässt sich so<br />

jedenfalls kaum erfolgreich begegnen.<br />

Sebastian Sander<br />

László Kovács/Cordula Brand (Hrsg.): Forschungspraxis<br />

Bioethik. Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau<br />

2011. 382 Seiten. 39,00 EUR.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 31


K U R Z V O R S C H L U S S<br />

Expressis verbis<br />

Ȇber die Abtreibung zu diskutieren, bedeutet<br />

das Gesetz anzutasten versuchen.«<br />

Frankreichs Bildungsministerin Luc Chatel in einem<br />

Brief an den Gymnasiallehrer Philippe Isnard,<br />

der seinen Schülern im Unterricht ein Video<br />

gezeigt hatte, in dem abgetriebene Kinder zu sehen<br />

<strong>sind</strong>. Laut dem Schweizer »mamma-info« Nr.<br />

19, Mai/Juni 2010 wurde Isnard daraufhin die<br />

Lehrbefugnis entzogen.<br />

Gewiss ist die Seele noch im Leib anwesend.<br />

<strong>Die</strong> Situation ist vielleicht wie jene einer<br />

Gitarre, deren Saiten gerissen <strong>sind</strong>, so<br />

dass man nicht mehr auf ihr spielen kann.<br />

So ist auch das Instrument des Leibes gebrechlich,<br />

es ist verletzlich, und die Seele<br />

kann es sozusagen nicht mehr spielen, doch<br />

sie bleibt anwesend. Ich bin auch sicher,<br />

dass diese verborgene Seele in der Tiefe eure<br />

Liebe verspürt, auch wenn sie nicht die<br />

Einzelheiten begreift, die Worte und so weiter.<br />

Doch die Gegenwart einer Liebe spürt<br />

sie.«<br />

Antwort Papst Benedikts XVI. in einem von der<br />

italienischen RAI am 22. April (Karfreitag) ausgestrahlten<br />

Interview auf die Frage einer Mutter,<br />

deren Sohn seit Ostern 2009 im Wachkoma liegt.<br />

»<br />

Ich denke, wir müssen auch als Politik erst<br />

einmal anerkennen, dass der säkulare Staat<br />

kein Schicksal mehr kennt und dass die Leute<br />

machen, was sie machen können. Im Moment<br />

fahren die Deutschen in großer Zahl<br />

nach Belgien und lassen sich dort entsprechend<br />

behandeln.«<br />

<strong>Die</strong> ehemalige Bundesjustizministerin Brigitte<br />

Zypries (SPD) in der N24-Talk-Show »Deutschland<br />

akut« (22.6.) auf die Frage, was die Politik<br />

tun müsse, um zu verhindern, dass die Zulassung<br />

der Präimplantationsdiagnostik (PID) zu einem<br />

Dammbruch führe.<br />

»<br />

In-vitro-Fertilisation <strong>für</strong> alleinstehende<br />

Frauen und lesbische Paare, Eizellspenden,<br />

Präimplantationsdiagnostik.«<br />

<strong>Die</strong> Vorsitzende der österreichischen Bioethikkommission<br />

Christiane Druml im Interview mit<br />

der Tageszeitung »<strong>Die</strong> Presse« auf die Frage, was<br />

ihr in der österreichischen Gesetzgebung zur Fortpflanzungsmedizin<br />

fehle.<br />

Öffentliche Kritik an der<br />

Abtreibung aus dem Mund<br />

eines Politikers hat Seltenheitswert.<br />

Den CDU-Bundestagsabgeordneten<br />

Günter Krings hat<br />

dies nicht gehindert, sie trotzdem zu äußern.<br />

In einem Interview mit der Beilage<br />

»Christ und Welt« der Wochenzeitung<br />

»<strong>Die</strong> Zeit« sagte der Protestant: »Man<br />

kann angesichts der Zahlen nicht beruhigt<br />

sein, man kann auch angesichts des<br />

täglichen Gesetzesbruchs aufgrund von<br />

embryopathischer Indikation,<br />

also der Abtreibung<br />

möglicherwei-<br />

ARCHIV»<br />

se behinderter Kinder,<br />

nicht zufrieden sein.«<br />

Durch die geltende Regelung<br />

zum Schwangerschaftsabbruch<br />

habe<br />

sich der Gesetzgeber<br />

»moralisch angreifbar<br />

gemacht«,<br />

Günter Krings<br />

bekannte<br />

Krings, nicht ohne daran zu erinnern,<br />

dass die Spätabtreibungen inzwischen<br />

»immerhin an eine Beratungspflicht« gebunden<br />

seien. Kritik übte Krings auch an<br />

der »Rechtsdurchsetzung«. »Wenn bei<br />

der Spätabtreibung gegen die Diskriminierung<br />

behinderten Lebens verstoßen<br />

wird, so ist hier nicht der Gesetzgeber,<br />

sondern die Rechtsprechung gefordert«,<br />

sagte der CDU-Politiker.<br />

reh<br />

Tops & Flops<br />

WWW:BUNDESTAG.DE<br />

... so schaffen<br />

wir .. auch hier<br />

kunftig die<br />

KRANKEN ab,<br />

nicht etwa die<br />

KRANKHEITEN!<br />

GAS<br />

Der Transplantationsmediziner<br />

Eckhard Nagel zieht<br />

gegen ein absolutes PID-<br />

Verbot zu Feld. In der Zeitung<br />

»<strong>Die</strong> Welt« forderte er, die PID zuzulassen,<br />

um Embryonen mit Fehlbildungen<br />

zu selektieren, die mit dem Leben unvereinbar<br />

seien. Auf die Frage, wie viele<br />

das seien, antwortete er: »Ungefähr zehn<br />

Indikationen, mit maximal 200 Fällen<br />

pro Jahr in Deutschland.« Wenig später<br />

räumt er allerdings ein, in »biologischen<br />

Kontexten« gebe es immer<br />

nur »Unschärferelationen«.<br />

Weil das so<br />

ist, ist Nagels Forderung<br />

auch eine Kopfgeburt.<br />

Es ist unmöglich,<br />

mittels PID festzustellen,<br />

ob ein Embryo eine<br />

mit dem Leben unvereinbare<br />

Krankheit besitzt.<br />

Frühe Embryonen<br />

Eckhard Nagel<br />

weisen oftmals nur in einigen Zellen eine<br />

unnormale Verteilung der Chromosomen<br />

auf (Mosaikbildung). Wird eine gesunde<br />

Zelle untersucht, können Chromosomenanomalien<br />

unentdeckt bleiben. Wird eine<br />

anormale Zelle untersucht, bedeutet dies<br />

nicht, dass der Embryo mit einer genetischen<br />

Beeinträchtigung geboren würde.<br />

Frühe Embryonen können nämlich<br />

abnormale Zellen absondern. reh<br />

32<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


Aus dem Netz gefischt<br />

Es ist kein Lebensschutz-Portal. Und<br />

doch ist die Plattform www.netmoms.de,<br />

auf der Frauen so ziemlich alles rund um<br />

Themen wie Schwangerschaft, Geburt<br />

und Babypflege<br />

finden und sich<br />

miteinander vernetzten,<br />

Fragen<br />

loswerden und<br />

Erfahrungen austauschen<br />

können,<br />

sicherlich<br />

auch geeignet,<br />

so mancher Frau<br />

Mut zu machen,<br />

auch eine »völlig<br />

überraschende«<br />

Schwangerschaft<br />

bewältigen<br />

zu können. Denn<br />

das farbenfrohe,<br />

ansprechend gestaltete<br />

Portal<br />

vermittelt – gewollt<br />

oder ungewollt<br />

– neben vielem<br />

Wissenswerten auch die Botschaft,<br />

dass Kinder keineswegs nur Arbeit erfordern,<br />

sondern das Leben von Eltern, Geschwistern<br />

und Gesellschaft bereichern.<br />

www.netmoms.de<br />

Rund 1,5 Millionen Besucher im Monat<br />

und 32 Millionen Seitenaufrufe sprechen<br />

eine eindeutige Sprache, was den Nutzwert<br />

des übersichtlich angelegten Portals<br />

angeht. Ins Leben gerufen wurde es übrigens<br />

von der promovierten Betriebswirtin<br />

und dreifachen Mutter, Prinzessin Tanja<br />

Cassandra zu Waldeck und Pyrmont. reh<br />

K U R Z & B Ü N D I G<br />

WWW.MARAHVISTENDAHL.COM<br />

Asien und die Folgen der Abtreibung<br />

Jüngsten Berechnungen zufolge gibt es in<br />

Asien 163 Millionen weniger Frauen als<br />

Männer. Das berichtet das Online-Magazin<br />

des Spiegels unter Berufung auf das in englischer<br />

Sprache erschienene Buch »Unnatürliche<br />

Selektion« der US-Journalistin Mara<br />

Hvistendahl. Hvistendahl zufolge ließen vor<br />

allem reiche Städter in China und Indien, die<br />

sich Ultraschalluntersuchungen leisten könnten,<br />

das Geschlecht ihrer Kinder bestimmen<br />

und Mädchen systematisch abtreiben. Während<br />

in Indien auf diese Weise die Mitgift gespart<br />

werden solle, die die Eltern mit der<br />

Hochzeit der Tochter der Familie des Mannes<br />

zu entrichten pflegen, würden in China wegen<br />

der Ein-Kind-Politik Söhne als Stammhalter<br />

bevorzugt. <strong>Die</strong> Folgen: In den Regionen, in<br />

denen ein Überschuss an Männer herrscht,<br />

nähmen Prostitution und andere Formen des<br />

»<strong>Die</strong> Welt. <strong>Die</strong> von morgen« (10)<br />

»Sein Gewissen war rein. Er benutzte<br />

es nie«, notiert der Schriftsteller Jerzy<br />

Lec in seinen »Unfrisierten Gedanken«.<br />

Dass er dabei gar nicht an Arbeitsministerin<br />

Ursula von der Leyen gedacht haben<br />

kann, macht nicht nur das von Lec<br />

gewählte Geschlecht klar, sondern auch<br />

die Fönfrisur, mit der die Ministerin bei<br />

der Abstimmung über die Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) die Abgeordneten<br />

beschwor, der »Gewissensentscheidung«<br />

der Betroffenen Raum zu geben.<br />

Dass dem Gewissen in Fragen von Leben<br />

und Tod besondere Bedeutung zukommt,<br />

bestreitet niemand. Dass es aber<br />

den Staat, dessen vornehmste Aufgabe<br />

in seiner Sorge <strong>für</strong> Leib und Leben seiner<br />

Bürger besteht, zur Zurückhaltung<br />

verpflichten soll, ist ein völlig neuer Politikansatz.<br />

Einer, der zu begrüßen wäre, wenn<br />

er nur niederschwelliger ansetzte. Warum<br />

soll der Staat es in der Welt von<br />

morgen nicht der Gewissensentscheidung<br />

seiner Bürger überlassen, ob sie<br />

sich bereitfinden, Steuern zu zahlen oder<br />

nicht? Oder ob sie die Straßenverkehrsregeln<br />

be- oder missachten wollen? Warum<br />

kann der Staat es nicht den Gewissen<br />

der Einzelnen überlassen, ob sie einander<br />

betrügen und bestehlen oder sich<br />

fair und ehrlich verhalten wollen? Vielleicht<br />

weil Politiker ohne Steuern kein<br />

Gehalt mehr bekämen und Gefahr liefen,<br />

wie jeder andere, Opfer von Betrügereien<br />

oder Verkehrsrowdys zu werden.<br />

Natürlich wissen wir nicht, ob das der<br />

Grund ist, warum die Ministerin nicht<br />

auch auf diesen Gebieten »Gewissensentscheidungen«<br />

Raum geben will. Was<br />

wir wissen, ist viel bescheidener: <strong>Die</strong><br />

Fönfrisur steht Ursula von der Leyen<br />

viel besser zu Gesicht als ihr frisiertes<br />

Gewissen.<br />

Stefan Rehder<br />

Mara Hvistendahl<br />

Menschenhandels besonders besorgniserregende<br />

Dimensionen an. Auch die Mordrate<br />

sei dort am höchsten.<br />

reh<br />

Stammzellkongress im Vatikan<br />

Im Herbst wird der Vatikan erstmals eine internationale<br />

Konferenz zur Forschung mit<br />

adulten Stammzellen veranstalten. Der Kongress<br />

sei <strong>für</strong> den 9. bis 11. November geplant.<br />

Das erklärte das vatikanische Presseamt.<br />

Organisiert wird die Tagung demnach<br />

von der Abteilung »Wissenschaft und Glaube«<br />

des Päpstlichen Kulturrates, der von dem<br />

italienischen Kurienkardinal Gianfranco Ravasi<br />

geleitet wird. Im Gegensatz zu der<br />

menschliche Embryonen verbrauchenden Forschung<br />

an embryonalen Stammzellen be<strong>für</strong>wortet<br />

der Vatikan ausdrücklich die Forschung<br />

mit adulten Stammzellen, die ohne<br />

die Tötung von Embryonen auskommt. Adulte<br />

Stammzellen lassen sich an verschiedenen<br />

Orten aus dem Organismus eines geborenen<br />

Menschen relativ problemlos gewinnen und<br />

im Labor vermehren.<br />

reh<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 33


L E S E R F O R U M<br />

Aus der Seele gesprochen<br />

Der Beitrag von Professor Dr. Christoph<br />

von Ritter »<strong>Die</strong> Last der Selektion<br />

trägt die Frau« (LF, Nr. 97 S. 7ff) spricht<br />

mir in vielem aus der Seele. So etwa die<br />

Einschätzung des Autors, dass die Fortpflanzungsmedizin<br />

zu einem Industriezweig<br />

geworden ist, der mit »Kinderlosigkeit<br />

und dem Leid von Eltern, die sich<br />

Gratulation zu dieser sehr<br />

informativen Ausgabe von<br />

»LebensForum«, die so gar<br />

nicht zu dem in anderen<br />

Medien vermittelten Bild von<br />

Lebensschützern passt.<br />

Nehmen Sie bitte daher zur<br />

Kenntnis: Ich fühle mich nicht<br />

nur umfassend, sondern auch<br />

überaus seriös informiert.<br />

Hildegard Püllen, Stolberg<br />

zu »LebensForum« Nr. 98<br />

(LF 98, S. 19): Sobald es Kritik an der<br />

Abtreibung gibt, ist die Toleranz der Toleranten<br />

schnell am Ende. Wenn Wertkonservative<br />

mit den Verfechtern des<br />

Gender-Mainstreamings so umgingen,<br />

wie die angeblich so tolerante Linke mit<br />

den Gegnerinnen und Gegnern der Abtreibung,<br />

wäre das Geschrei in der Republik<br />

groß.<br />

Michaela Meyer, Frankfurt a. Main<br />

Missverständlich<br />

Wer den Beitrag »Zeichen setzen«<br />

(LF 98, S. 36) genau liest, der wird zwar<br />

feststellen, dass Matthias Lochner keinesfalls<br />

behauptet, mit einem Wechsel<br />

zur BKK IHV könne der Versicherte<br />

da<strong>für</strong> sorgen, dass seine Beiträge nicht<br />

auch zur Finanzierung von Abtreibungen<br />

verwandt werden. Dennoch erweckt<br />

der Beitrag unglücklicherweise genau den<br />

Eindruck, als könne der zur BKK IHV<br />

Wechselnde damit rechnen, dass seine<br />

Versichertenkarte der BKK IHV<br />

Beiträge nicht auch zur Finanzierung von<br />

Abtreibungen verwandt würden. Das ist<br />

jedoch nicht der Fall und rechtlich auch<br />

gar nicht möglich. Wer zur BKK IHV<br />

wechselt, erhält im Grunde lediglich eine<br />

Versicherungskarte mit der Aufschrift<br />

»Ich verzichte auf Abtreibung« und damit<br />

die Möglichkeit, jede Sprechstundenhilfe<br />

und jeden Arzt von seiner löblichen<br />

Gesinnung in Kenntnis zu setzen.<br />

Das wäre allerdings auch auf anderem<br />

Wege möglich. Erst die Überschrift<br />

und der Vorspann lassen erahnen, dass<br />

es hier zwar um lobenswerte Symbolpolitik<br />

geht, nicht aber um einen handfesten<br />

Beitrag zum Lebensschutz. Ich meine,<br />

dass hätte trotz des begrenzten Umfangs<br />

des Beitrags auch in diesem selbst<br />

unmissverständlich zum Ausdruck gebracht<br />

werden müssen.<br />

Hannelore Baumann, Hannover<br />

Frühkindliche Qualitätsprüfung<br />

A N Z E I G E<br />

Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder<br />

machen, riesige Summen Geld verdient«.<br />

Schade, dass eine derart kritische Sicht<br />

der Fortpflanzungsmedizin nicht auch<br />

das Interesse der großen überregionalen<br />

Tageszeitungen weckt. Aber vielleicht ist<br />

dort die Angst, wichtige Anzeigenkunden<br />

wie Pharmaunternehmen zu verärgern,<br />

einfach zu groß. Was ein Glück, dass es<br />

das »LebensForum« gibt.<br />

Roman Schneider, Düsseldorf<br />

Toleranz der Toleranten<br />

Zum Beitrag von Alexandra Linder<br />

»Mit Nazis und Taliban gleichgesetzt«<br />

34<br />

L e b e n s F o r u m 9 8


I M P R E S S U M<br />

IMPRESSUM<br />

LEBENSFORUM<br />

Ausgabe Nr. 98, 2. Quartal 2011<br />

ISSN 0945-4586<br />

Verlag<br />

<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> (ALfA) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

www.alfa-ev.de, E-Mail: info@alfa-ev.de<br />

Herausgeber<br />

<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e.V.<br />

Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)<br />

Kooperation<br />

Ärzte <strong>für</strong> das Leben e.V. – Geschäftsstelle<br />

z.H. Frau Dr. Bärbel Dirksen<br />

Ludwig-Schüsselerstr. 29, 64678 Lindenfels<br />

Tel.: 06254 / 430, E-Mail: dr.b.dirksen@gmx.de<br />

www.aerzte-fuer-das-leben.de<br />

Treffen Christlicher <strong>Lebensrecht</strong>-Gruppen e. V.<br />

Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin<br />

Tel.: 030 / 521 399 39, Fax 030 / 440 588 67 Fax<br />

Internet: www.tclrg.de · E-Mail: info@tclrg.de<br />

Redaktionsleitung<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Redaktion<br />

Veronika Blasel, M.A., Alexandra Linder, M.A.,<br />

Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Ingolf Schmid-<br />

Tannwald (Ärzte <strong>für</strong> das Leben e.V.)<br />

Anzeigenverwaltung<br />

<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> (ALfA) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

www.alfa-ev.de, E-Mail: info@alfa-ev.de<br />

Satz / Layout<br />

Rehder Medienagentur, Aachen<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Auflage<br />

6.500 Exemplare<br />

Anzeigen<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom 1.06.2005<br />

Erscheinungsweise<br />

Vierteljährlich, LebensForum Nr. 99 erscheint am 31.08.2011,<br />

Redaktionsschluss ist der 29.07.2011<br />

Jahresbezugspreis<br />

16,– EUR (<strong>für</strong> ordentliche Mitglieder der ALfA und der Ärzte <strong>für</strong><br />

das Leben im Beitrag enthalten)<br />

Bankverbindung<br />

Augusta-Bank<br />

Konto Nr. 50 40 990 - BLZ 720 900 00<br />

Spenden erwünscht<br />

Druck<br />

Reiner Winters GmbH<br />

Wiesenstraße 11, 57537 Wissen<br />

www.rewi.de<br />

Titelbild<br />

Dipl.-Des. Daniel Rennen / Rehder Medienagentur<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Das Lebensforum ist auf umweltfreundlichem chlorfrei gebleichtem<br />

Papier gedruckt.<br />

Mit vollem Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion oder der ALfA wieder und stehen<br />

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Fotomechanische Wiedergabe und Nachdruck – auch auszugsweise<br />

– nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangt<br />

eingesandte Beiträge können wir keine Haftung übernehmen.<br />

Unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare werden<br />

nicht zurückgesandt. <strong>Die</strong> Redaktion behält sich vor, Leserbriefe<br />

zu kürzen.<br />

Helfen Sie Leben retten!<br />

<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> (ALfA) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Telefon (08 21) 51 20 31,Fax (08 21) 156407, http://www.alfa-ev.de<br />

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Bezug des Lebensforums ist im Beitrag schon enthalten. <strong>Die</strong> Höhe des Beitrages, die ich leisten möchte, habe ich angekreuzt:<br />

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Meine Adresse<br />

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Name<br />

Geboren am<br />

Straße, Nr.<br />

Telefon<br />

PLZ, Ort<br />

Religion<br />

Beruf<br />

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einzuziehen:<br />

Institut<br />

Konto.-Nr.<br />

BLZ<br />

Datum, Unterschrift<br />

L e b e n s F o r u m 9 8 35


L E T Z T E S E I T E<br />

Gott spielen<br />

<strong>Die</strong> Politik hat die PID erlaubt. Um Eltern<br />

vor Totgeburten und kranken Kindern zu<br />

bewahren. <strong>Die</strong> USA <strong>sind</strong> da schon weiter.<br />

Von Stefan Rehder<br />

Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />

Deutsche Post AG (DPAG)<br />

<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e.V. (ALfA)<br />

Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />

Ich finde es toll, dass heute getestet<br />

werden kann, ob es ein gesundes Baby<br />

wird, und dass wir sogar das Geschlecht<br />

wählen können. Das ist fantastisch«,<br />

sagt Mary Johnson. <strong>Die</strong> 39-jährige<br />

US-Amerikanerin besucht das Fertility<br />

Institute in Los Angeles. Begleitet<br />

wird sie von einem deutschen Fernsehteam.<br />

Dessen fertiger, <strong>für</strong> das ZDF produzierte<br />

Film kann auch im Internet angeschaut<br />

werden. Nicht in der ZDF-<br />

Mediathek, sondern auf der Website des<br />

Fertility Institutes, wo der Film, trotz<br />

kritischer Passagen, offenbar zu Werbezwecken<br />

eingepflegt wurde.<br />

Mary Johnson, erfahren wir, müsste<br />

sich gar keiner künstlichen Befruchtung<br />

unterziehen, um schwanger zu werden.<br />

Sie und ihr Mann wären durchaus in der<br />

Lage, Kinder zu zeugen. Nur willens <strong>sind</strong><br />

36<br />

Internetauftritt der »Fertility Institutes«<br />

sie dazu nicht. Denn die Johnsons wollen<br />

das Geschlecht ihres Kindes nicht dem<br />

Zufall überlassen und unbedingt ein Mädchen.<br />

Ihr Mann sei schon älter. Da wäre<br />

ein Junge einfach zu anstrengend, begründet<br />

Mary Johnson ihre Wahl.<br />

Im Fertility Institute ist sie da an der<br />

richtigen Adresse. <strong>Die</strong> 1986 gegründete<br />

Fortpflanzungsklinik wird von Jeffrey<br />

Steinberg geleitet. Der 56-jährige Reproduktionsmediziner<br />

hat sein Handwerk an<br />

der Wiege der künstlichen Befruchtung<br />

erlernt und an der Bourne Hall Clinic der<br />

Universität Cambridge mit den Pionieren<br />

der In-vitro-Fertilisation Patrick Steptoe<br />

und Robert Edwards gearbeitet. 1999 begann<br />

Steinberg dann in Los Angeles damit,<br />

die von ihm hergestellten Embryonen<br />

vor der Übertragung in den Uterus<br />

mittels Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) auf genetische Anomalien zu untersuchen.<br />

2003 spezialisierte er sich darauf,<br />

Kinder per Geschlecht zu selektieren.<br />

Möglich ist dies, weil sich bei Neonlicht<br />

das Y-Chromosom, das nur Jungen<br />

besitzen, unter dem Mikroskop zweifelsfrei<br />

ausfindig machen lässt.<br />

Pro Geschlechtsselektion verlangt<br />

Steinberg, der mittlerweile auch Filialen<br />

in New York und Guadalajara (Mexiko)<br />

betreibt, umgerechnet rund 14.000<br />

Euro. 7.000 Paaren will er so schon zum<br />

Wunschkind verholfen haben. Fast Dreiviertel<br />

seiner Kunden kämen nur zu ihm,<br />

weil sie sich bei ihm das Geschlecht des<br />

Kindes aussuchen könnten, verrät Steinberg.<br />

Darunter auch viele Deutsche. Für<br />

sie hat Steinberg eigens weite Teile der<br />

Website des Fertility Institutes, wenn auch<br />

mehr schlecht als recht, übersetzen lassen.<br />

Weitere Fassungen <strong>sind</strong> in chinesischer,<br />

französischer und spanischer Sprache<br />

gehalten.<br />

Ethische Bedenken quälen Steinberg,<br />

der pro Tag rund drei Geschlechtsselektionen<br />

mittels PID durchführt, keine.<br />

Ganz im Gegenteil: »Wir arbeiten Hand<br />

in Hand mit Gott«, behauptet der Multimillionär.<br />

»Wenn jemand eine Blinddarmentzündung<br />

bekommt, würde Gott ihn<br />

sterben lassen. Der Arzt kommt, operiert<br />

und rettet Leben. Spielt er Gott oder arbeitet<br />

er Hand in Hand mit ihm?«, fragt<br />

Steinberg, um gleich darauf seine schlichte<br />

Sicht der Dinge zu präsentieren: »Wir<br />

studieren Gottes Arbeit. Das Paar macht<br />

den Jungen oder das Mädchen, welches<br />

Geschlecht es zurückbekommen will, ist<br />

die Entscheidung des Paars.«<br />

Steinberg würde noch weiter gehen,<br />

wenn man ihn ließe. Unlängst versprach<br />

er, mit einer neuen Methode da<strong>für</strong> zu sorgen,<br />

dass Eltern auch Haar- und Augenfarbe<br />

des Kindes auswählen könnten. Als<br />

es Kritik hagelte, machte er einen Rückzieher.<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft sei da<strong>für</strong> wohl<br />

noch nicht bereit. Vielleicht aber in 30<br />

Jahren. Dann stehe er bereit, droht er.<br />

L e b e n s F o r u m 9 8

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