Die Würfel sind gefallen - Aktion Lebensrecht für Alle eV
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Nr. 98 | 2. Quartal 2011 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– E B 42890<br />
LEBENSFORUM<br />
Zeitschrift der <strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e.V. (ALfA)<br />
Titel<br />
Menschwerdung<br />
durch Nidation?<br />
Dokumentation<br />
Manifest »Kultur<br />
des Lebens«<br />
Hirntod<br />
Im Zweifel<br />
<strong>für</strong> das Leben<br />
Präimplantationsdiagnostik<br />
<strong>Die</strong> <strong>Würfel</strong> <strong>sind</strong><br />
<strong>gefallen</strong><br />
L e b e n s F o r u m 9 8 1<br />
In Kooperation mit Ärzte <strong>für</strong> das Leben e.V. und Treffen Christlicher <strong>Lebensrecht</strong>-Gruppen e.V. (TCLG)
I N H A LT<br />
LEBENSFORUM 98<br />
EDITORIAL<br />
<strong>Die</strong> <strong>Würfel</strong> <strong>sind</strong> <strong>gefallen</strong> 3<br />
Dr. med. Claudia Kaminski<br />
4 - 10<br />
TITEL<br />
<strong>Die</strong> blinden Flecken der PID-Debatte 4<br />
Prof. Dr. phil. Manfred Spieker<br />
<strong>Die</strong> PID und ihre negativen Folgen 11<br />
Prof. Dr. med. Axel W. Bauer<br />
Breites Bündnis <strong>für</strong> PID-Verbot 16<br />
Matthias Lochner<br />
Menschwerdung durch Nidation? 17<br />
Rainer Beckmann<br />
AUSLAND<br />
Nicht ohne meinen Suizidbegleiter 20<br />
Stefan Rehder<br />
<strong>Die</strong> Präimplantationsdiagnostik stellt die Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen fundamental<br />
in Frage und widerspricht dem grundlegenden Prinzip gegenseitiger Anerkennung.<br />
Guck’ mal, wer da schreibt! 21<br />
Manifest der Senioren-Union<br />
ESSAY<br />
Im Zweifel <strong>für</strong> das Leben 24<br />
Stefan Rehder<br />
BÜCHERFORUM 30<br />
21 - 23<br />
Anfang Juli hat der Bundesvorstand der Senioren-Union der CDU Deutschlands ein Papier mit<br />
dem Titel »Manifest Kultur des Lebens« beschlossen. »LebensForum« dokumentiert in Auszügen<br />
das beeindruckende Manifest, das auf Anhieb die volle Unterstützung der Jungen Union fand.<br />
KURZ VOR SCHLUSS 32<br />
LESERBRIEFE 34<br />
IMPRESSUM 35<br />
LETZTE SEITE 36<br />
17 - 19<br />
Der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier<br />
behauptet in einem F.A.Z.-Beitrag, das Grundgesetz<br />
schütze menschliche Embryonen erst ab der<br />
Einnistung in die Gebärmutter. Der Würzburger<br />
Medizinrechtler Rainer Beckmann weist Dreiers<br />
Behauptung als »haltlos« zurück.<br />
2<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
E D I T O R I A L<br />
24 - 29<br />
<strong>Die</strong> postmortale Organspende beruht auf der<br />
Annahme, dass hirntote Menschen Leichen<br />
<strong>sind</strong>. Immer mehr Fachleute halten diese<br />
Annahme jedoch <strong>für</strong> falsch. Stefan Rehder<br />
erklärt, warum.<br />
11 - 15<br />
T I T E L<br />
<strong>Die</strong> Zulassung der Präimplantationsdiagnostik<br />
hat keineswegs nur Konsequenzen <strong>für</strong> die<br />
Embryonen, die ihr unterzogen werden. Der<br />
Medizinhistoriker Axel W. Bauer erläutert die<br />
Folgen, die PID <strong>für</strong> den Lebensschutz hat.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Würfel</strong><br />
<strong>sind</strong> <strong>gefallen</strong><br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
mit 326 gegen 260 Stimmen hat der<br />
Deutsche Bundestag am 7. Juli in Dritter<br />
Lesung die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) in Deutschland<br />
beschlossen. Eine genaue Auswertung<br />
der Namentlichen Abstimmung werden<br />
wir in der nächsten Ausgabe von »LebensForum«<br />
nachreichen. Hier nur so<br />
viel: Am Ende fehlten 66 Stimmen <strong>für</strong><br />
ein gesetzliches Verbot der PID. Aus<br />
Sicht der ALfA ist es daher ein Skandal,<br />
dass aus den Reihen der Christdemokraten<br />
und Christsozialen 70 Parlamentarier<br />
<strong>für</strong> die Zulassung der PID gestimmt<br />
haben. Nicht nur, weil man an Parteien,<br />
die das »C« im Namen<br />
tragen, höhere Anforderungen<br />
stellen muss<br />
als an solche, die darauf<br />
verzichten, sondern<br />
»Der Embryo hat nur<br />
eine Stimme. Unsere!«<br />
auch, weil die CDU in<br />
ihrem neuen, 2007 verfassten<br />
Grundsatzprogramm<br />
den Satz aufgenommen hatte:<br />
»Wir treten <strong>für</strong> ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) ein.«<br />
Dass so viele Mandatsträger diesen Satz<br />
mit ihrer Stimme Lügen gestraft haben,<br />
mehr noch, dass sie, wie etwa Bundesarbeitsministerin<br />
Ursula von der Leyen<br />
(Hannover) oder die Parlamentarischen<br />
Staatssekretäre Peter Hintze (Wuppertal)<br />
und Katharina Reiche (Potsdam), massiv<br />
bei anderen da<strong>für</strong> geworben haben, das<br />
ist starker Tobak. Wir empfehlen daher<br />
allen Leserinnen und Lesern von »LebensForum«<br />
zu prüfen, ob sie diesen Abgeordneten<br />
nicht endgültig das Vertrauen<br />
entziehen sollten. Da tut es gut, dass<br />
die Senioren-Union der CDU ein Manifest<br />
mit dem Titel »Kultur des Lebens«<br />
verabschiedet hat, das wir hier auszugsweise<br />
dokumentieren und dessen Lektüre<br />
ich Ihnen ausdrücklich ans Herz legen<br />
möchte.<br />
<strong>Die</strong> Entscheidung, die PID zuzulassen,<br />
ist keine Kleinigkeit. Sie ist auch<br />
nicht, wie manche meinen, ein kleineres<br />
Übel als die Abtreibung. Jedes Leben ist<br />
einmalig und schon deshalb unverzicht-<br />
bar. Daher wäre es<br />
auch verkehrt, wollte<br />
jemand Leben gegen<br />
Leben aufrechnen<br />
oder die demnächst<br />
zu beklagenden<br />
Opfer der PID<br />
gegen jene aufwiegen,<br />
die durch Abtreibung<br />
getötet<br />
werden. Ob durch<br />
PID oder durch Abtreibung:<br />
Jedes Mal<br />
stirbt hier ein einzigartiger,<br />
wehrloser und unschuldiger<br />
Mensch. Und das, obwohl unsere Verfassung<br />
ihm sowohl den Schutz seiner<br />
Würde als auch den von Leib und Leben<br />
garantiert.<br />
Es wäre ehrlicher gewesen, der Deutsche<br />
Bundestag hätte am 7. Juli die ersten<br />
drei Artikel des Grundgesetzes geändert.<br />
Denn mit Inkrafttreten des beschlossenen<br />
Gesetzes zur PID gilt auch im Reagenzglas:<br />
Nicht jeder hat<br />
ein Recht auf Leben! <strong>Die</strong><br />
Würde des Menschen<br />
ist antastbar! Und: Jeder<br />
darf wegen seiner<br />
Behinderung benachteiligt<br />
werden, dessen Eltern<br />
den Menschen im<br />
Frühstadium seiner Entwicklung einer<br />
PID unterziehen!<br />
Ferner gilt: Mit diesem Gesetz ist unser<br />
Kampf gegen die Geißel der Abtreibung<br />
nicht aussichtsreicher geworden. Im<br />
Gegenteil. Jetzt, da auch der außerhalb<br />
des Mutterleibs befindliche Embryo <strong>für</strong><br />
vogelfrei erklärt wurde, wird es <strong>für</strong> uns<br />
noch schwieriger werden, seinen Schutz<br />
im Mutterleib durchzusetzen.<br />
Natürlich geben wir nicht auf. Der<br />
ungeborene Mensch, ob im Labor oder<br />
auf natürlichem Wege gezeugt, außerhalb<br />
wie innerhalb des Mutterleibs, hat nur<br />
eine Stimme. Unsere. Wenn wir stumm<br />
bleiben, wird es totenstill in Deutschland<br />
werden. Und das werden wir nicht zulassen.<br />
Niemals.<br />
Eine erhellende Lektüre wünscht Ihnen<br />
Claudia Kaminski<br />
Bundesvorsitzende der ALfA<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 3
T I T E L<br />
<strong>Die</strong> blinden Flecken<br />
der PID-Debatte<br />
<strong>Die</strong> Präimplantationsdiagnostik (PID) ist kein bioethisches Nischenthema, das nur wenige<br />
Menschen beträfe, sondern eines, das die Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen<br />
fundamental in Frage stellt. Denn die PID widerspricht dem jeder freiheitlichen Gesellschaft<br />
zugrundeliegenden Prinzip gegenseitiger Anerkennung des anderen als mir Gleichem.<br />
Von Professor Dr. phil. Manfred Spieker<br />
AUSGANGSLAGE<br />
Ende der 80er Jahre des vergangenen<br />
Jahrhunderts wurde in der Reproduktionsmedizin<br />
ein Verfahren entwickelt,<br />
mit dem im Labor erzeugte Embryonen<br />
vor der Übertragung in eine Gebärmutter<br />
auf bestimmte genetische Merkmale<br />
oder Chromosomenstörungen untersucht<br />
werden können. Zweck dieses Verfahrens,<br />
der sogenannten Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID), ist es, Embryonen<br />
mit bestimmten<br />
Krankheitsdispositionen<br />
oder Behinderungen<br />
zu<br />
erkennen und von einer<br />
Übertragung in<br />
die Gebärmutter auszuschließen.<br />
Eltern,<br />
die auf Grund ihrer<br />
genetischen Anlagen<br />
mit dem Risiko belastet<br />
<strong>sind</strong>, eine Erbkrankheit<br />
auf ihr Kind<br />
zu übertragen, hoffen,<br />
mit diesem Verfahren<br />
gesunden Kindern das Leben schenken<br />
zu können. Sie unterziehen sich, obwohl<br />
sie zeugungsfähig <strong>sind</strong>, der belastenden<br />
und risikoreichen Prozedur einer<br />
künstlichen Befruchtung und verwerfen<br />
im Falle eines positiven Befundes<br />
bei der PID alle Embryonen, die<br />
Träger der getesteten Merkmale <strong>sind</strong>.<br />
Der verständliche Wunsch nach einem<br />
gesunden Kind lässt sich mithin nur realisieren,<br />
wenn die Unterscheidung zwischen<br />
lebenswertem und lebensunwertem<br />
Leben stillschweigend akzeptiert und das<br />
lebensunwerte Leben im frühesten Stadium<br />
seiner Existenz getötet wird.<br />
4<br />
Bis zum Urteil des Bundesgerichtshofes<br />
vom 6. Juli 2010 war es herrschende<br />
Ansicht in Politik, Medizin und Jurisprudenz,<br />
dass das Embryonenschutzgesetz<br />
vom 13. Dezember 1990 die PID verbietet.<br />
Das Gesetz untersagt in § 1 Abs. 1 Nr.<br />
2, »eine Eizelle zu einem anderen Zweck<br />
künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft<br />
der Frau herbeizuführen, von<br />
der die Eizelle<br />
stammt«. Es sanktioniert darüber hinaus<br />
in § 2 Abs. 1 mit Freiheits- oder Geldstrafe<br />
denjenigen, der einen extrakorporal<br />
erzeugten menschlichen Embryo »zu<br />
einem nicht seiner Erhaltung dienenden<br />
Zweck (...) verwendet«. So war es um die<br />
Stellungnahme der Bundesärztekammer<br />
zur PID vom 3. März 2000, in der die Legalisierung<br />
der PID nach »äußerst strenger«<br />
Indikation<br />
be<strong>für</strong>wortet wurde,<br />
schnell wieder<br />
still geworden. <strong>Die</strong><br />
Behauptung von<br />
Herrmann Hepp,<br />
dem Vorsitzenden<br />
des Arbeitskreises,<br />
der die Stellungnahme ausgearbeitet hatte,<br />
die PID verstoße »bei Entnahme und<br />
Diagnostik an einer nicht mehr totipotenten<br />
Zelle« nicht gegen § 1 Abs. 1 Nr.<br />
2 ESchG, fand keine Zustimmung. <strong>Die</strong><br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
»nicht mehr totipotente Zelle« verstellte<br />
seinen Blick auf den Embryo, von dem<br />
diese Zelle stammt und um dessen tödliche<br />
Selektion bei positivem Ergebnis der<br />
Diagnose es geht. Der Deutsche Ärztetag<br />
wies die Stellungnahme 2002 in Rostock<br />
zurück und plädierte <strong>für</strong> ein striktes<br />
Verbot der PID. Auch die Enquete-<br />
Kommission Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin des 14. Deutschen Bundestages<br />
war mit einer Mehrheit von 16 zu<br />
3 Stimmen der Überzeugung, »dass die<br />
PID nach geltendem Recht verboten ist«.<br />
Um einen Vorschlag der Deutschen<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> Gynäkologie und Geburtshilfe<br />
(DGGG) zur Änderung des<br />
Embryonenschutzgesetzes war es 2005<br />
ebenfalls schnell wieder still geworden.<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft verlangte unter ihrem<br />
Präsidenten Klaus <strong>Die</strong>drich eine Änderung<br />
des § 1 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 5<br />
ESchG. Um der Vermeidung von Mehrlingsgeburten<br />
und der Verbesserung der<br />
Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung<br />
willen sollten so viele Eizellen<br />
befruchtet werden können, wie zum<br />
Zweck einer erfolgreichen IVF- oder<br />
ICSI-Behandlung erforderlich seien. Für<br />
dieses Ziel, mit dem sich die Erfolgsraten<br />
der assistierten Reproduktion verdoppeln<br />
ließen, streitet <strong>Die</strong>drich schon<br />
seit vielen Jahren. Den Preis <strong>für</strong> dieses<br />
Ziel, die tödliche Selektion zahlreicher<br />
Embryonen, versuchte der Gesetzesvorschlag<br />
der DGGG dadurch zu relativieren,<br />
dass er behauptete, »befruchtete Eizellen,<br />
denen die Entwicklungsfähigkeit<br />
fehlt, fallen (...) nicht in den Schutzbereich<br />
des ESchG«. Er ignorierte die verfassungsrechtliche<br />
Vorgabe, dass jedem<br />
Embryo Würdeanspruch und <strong>Lebensrecht</strong><br />
unabhängig von seiner Lebensfähigkeit<br />
und Lebenstüchtigkeit zustehen,<br />
die voraussichtliche Dauer des individuellen<br />
Lebens also <strong>für</strong> sein <strong>Lebensrecht</strong> irrelevant<br />
ist. Der Vorschlag der DGGG<br />
hätte sich erübrigt, wenn sie nicht davon<br />
ausgegangen wäre, dass das Embryonenschutzgesetz<br />
die PID verbietet. Festgehalten<br />
zu werden verdient schließlich auch<br />
die Bemerkung der DGGG, dass die PID<br />
bei der Verabschiedung des ESchG bereits<br />
bekannt war, wird doch in den gegenwärtigen<br />
Forderungen nach ihrer Legalisierung<br />
immer wieder behauptet, sie<br />
sei damals noch nicht bekannt gewesen.<br />
Von einem Verbot der PID war schließlich<br />
auch die Erörterung und Verabschiedung<br />
des Gendiagnostikgesetzes vom 31.<br />
Juli 2009 ausgegangen. <strong>Die</strong> PID war von<br />
den gesetzlichen Regelungen der Gendiagnostik<br />
ausgespart worden, weil die Ansicht<br />
vorherrschte, ihr Verbot sei durch<br />
das ESchG bereits hinreichend geregelt.<br />
DANIEL RENNEN<br />
DAS URTEIL DES BUNDESGERICHTSHOFES<br />
Der 5. Strafsenat des BGH entschied<br />
dagegen am 6. Juli 2010, dass die PID<br />
nicht gegen das Embryonenschutzgesetz<br />
verstoße. Das Urteil lautete: »<strong>Die</strong> nach<br />
extrakorporaler Befruchtung beabsichtigte<br />
Präimplantationsdiagnostik mittels<br />
Blastozystenbiopsie und anschließender<br />
Untersuchung der entnommenen pluripotenten<br />
Trophoblastzellen auf schwere<br />
genetische Schäden hin begründet keine<br />
Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG.<br />
Deren Durchführung ist keine nach §<br />
2 Abs. 1 ESchG strafbare Verwendung<br />
menschlicher Embryonen.« Der angeklagte<br />
Berliner Frauenarzt Matthias Bloechle,<br />
der an drei Paaren mit unterschiedlichen<br />
Voraussetzungen eine PID vorgenommen<br />
und sich selbst angezeigt hatte,<br />
wurde freigesprochen. Sein Handeln<br />
sei von dem Willen getragen gewesen,<br />
bei seinen Patientinnen »eine Schwangerschaft<br />
herbeizuführen«. Aus der PID<br />
machte das Gericht ein »unselbstständiges<br />
Zwischenziel«. Dass das Endziel der<br />
PID bei positivem Befund aber nicht die<br />
Schwangerschaft, sondern die Selektion<br />
und Tötung des Embryos ist, das zu reflektieren<br />
weigerte sich das Gericht. Es<br />
hielt an der Fiktion »Endziel Schwangerschaft«<br />
fest. Offenkundig war dem Gericht<br />
bei dieser Fiktion aber nicht ganz<br />
wohl, denn es bediente sich noch eines<br />
zweiten Argumentationsstranges, den es<br />
sogar als »ausschlaggebend« bezeichnete.<br />
Es behauptete, auch das Embryonenschutzgesetz<br />
erlaube eine Selektion. Zur<br />
Begründung dieser Behauptung verwies<br />
das Gericht auf § 3 Satz 2 ESchG. Darin<br />
erlaubt der Gesetzgeber dem Arzt bei einer<br />
künstlichen Befruchtung die »Auswahl<br />
der Samenzelle«, wenn diese Auswahl dazu<br />
dient, das Kind vor schwerwiegenden<br />
geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten<br />
Vor dem BGH-Urteil waren selbst Be<strong>für</strong>worter der Ansicht, PID sei gesetzlich verboten.<br />
zu bewahren. Unabhängig davon, ob die<br />
künstliche Befruchtung akzeptiert oder,<br />
wie von der katholischen Kirche, abgelehnt<br />
wird, die Auswahl und Verwerfung<br />
einer getesteten Samenzelle in der Reproduktionsmedizin<br />
ist etwas anderes als<br />
die Auswahl und Tötung eines Embryos.<br />
Eine Samenzelle ist kein Mensch im frühesten<br />
Stadium seiner Existenz. Ein Embryo<br />
ist ein Mensch im frühesten Stadium<br />
seiner Existenz. Dass das Gericht diesen<br />
Unterschied nicht beachtete, dass es<br />
bei der Spermienselektion und bei der<br />
tödlichen Embryonenselektion von einer<br />
»gleichgelagerten Konfliktsituation«<br />
spricht, legt die Vermutung nahe,<br />
dass das Urteil feststand, bevor die Fakten<br />
geprüft wurden.<br />
DAS GUTACHTEN DER LEOPOLDINA<br />
<strong>Die</strong>s gilt auch <strong>für</strong> das Gutachten zur<br />
PID, das die Nationale Akademie der<br />
Wissenschaften Leopoldina zusammen<br />
mit der Deutschen Akademie <strong>für</strong> Technikwissenschaften<br />
und der Berlin-Brandenburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften<br />
am 18. Januar 2011 vorgelegt<br />
hat. Das Gutachten plädiert <strong>für</strong> eine begrenzte<br />
Zulassung der PID. <strong>Die</strong> Autoren<br />
– Reproduktionsmediziner, Genetiker<br />
und Juristen, die seit Jahren als Be<strong>für</strong>worter<br />
der Reproduktionsmedizin,<br />
der embryonalen Stammzellforschung<br />
und der PID bekannt <strong>sind</strong> und die von<br />
der Leopoldina offenkundig interessenbedingt<br />
und gegen die internen Verfahrensregeln<br />
<strong>für</strong> die Auswahl solcher Gutachterkommissionen<br />
bestellt wurden –<br />
betrachteten es nicht »als ihre Aufgabe<br />
(…), die Entscheidung des BGH zu hinterfragen«.<br />
Mit verschiedenen Anläufen<br />
versuchten sie vielmehr, das BGH-Urteil<br />
zu bekräftigen. Da die PID sich nicht<br />
mehr totipotenter, sondern pluripotenter<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 5
T I T E L<br />
6<br />
Zellen bediene, verstoße sie nicht gegen<br />
§ 2 Abs. 2 ESchG. Pluripotente Zellen<br />
unterlägen »keinem gesetzlichen oder<br />
ethischen Verwendungsverbot«. <strong>Die</strong> PID<br />
wird auf eine »Untersuchungsmethode«<br />
reduziert. Der tödliche Selektionsaspekt<br />
wird, wie schon von Hepp in der Verteidigung<br />
der Stellungnahme der Bundesärztekammer<br />
im Jahr 2000, ausgeblendet.<br />
Dann wird die Diagnostik auf ein »Zwischenziel«<br />
im Gesamtvorgang »Herbeiführung<br />
einer Schwangerschaft« reduziert,<br />
das im Übrigen »dem Informationsrecht<br />
der Eltern« diene. Da sich der Selektionsaspekt<br />
aber nicht vollkommen ignorieren<br />
lässt, wird auch in dieser Stellungnahme<br />
§ 3 Satz 2 ESchG bemüht, der bei<br />
der In-vitro-Fertilisation die Auswahl einer<br />
Samenzelle ermöglicht. <strong>Die</strong> Gutachter<br />
– überwiegend Naturwissenschaftler<br />
– halten immerhin fest: »Samenzellen<br />
stellen noch kein individuell festgelegtes<br />
Leben dar.« Aber diese Feststellung<br />
bleibt <strong>für</strong> das Ergebnis ihres Gutachtens<br />
folgenlos. Ebenso wie der Gesetzgeber in<br />
§ 218 StGB wertende Entscheidungen<br />
und in § 3 ESchG ausnahmsweise eine<br />
Geschlechtswahl zugelassen habe, müsse<br />
er auch <strong>für</strong> die Regelung der PID eine<br />
Wahl durch eine »persönliche Gewissensentscheidung«<br />
erlauben. An zahlreichen<br />
Stellen des Gutachtens greifen die<br />
Gutachter auf das Gewissen zurück. Im<br />
Konflikt zwischen den sozialen und gesundheitlichen<br />
Lebensinteressen der Frau<br />
und dem <strong>Lebensrecht</strong> des Embryos komme<br />
»der Gewissensentscheidung der Frau<br />
eine überragende Bedeutung zu«. Eine<br />
solche Gewissensentscheidung zu achten,<br />
sei »eine Errungenschaft des freiheitlich<br />
demokratischen Verfassungsstaates«.<br />
Starke Worte, die allerdings die Entscheidung<br />
des Bundesverfassungsgerichts<br />
zum Abtreibungsstrafrecht vom 28. Mai<br />
1993 ignorieren. Darin war genau dieser<br />
Rückgriff auf das Gewissen ausgeschlossen<br />
worden: Eine Frau, die sich <strong>für</strong> eine<br />
Abtreibung entschieden habe, so erklärte<br />
das Gericht, könne »<strong>für</strong> die damit einhergehende<br />
Tötung des Ungeborenen nicht<br />
etwa eine grundrechtlich in Art. 4 Abs.<br />
1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch<br />
nehmen«. <strong>Die</strong> Gewissensfreiheit<br />
hat ihre Grenze mithin am <strong>Lebensrecht</strong>.<br />
Das Gutachten unterstellt schließlich<br />
– wie auch der Gesetzentwurf der Abgeordneten<br />
Ulrike Flach, Peter Hintze u.a.<br />
Rechtlose Objekte oder Subjekte mit Rechten? Der Mensch kurz nach seiner Zeugung.<br />
DANIEL RENNEN<br />
zur Legalisierung der PID – einen »Wertungswiderspruch«<br />
zwischen dem strikten<br />
Embryonenschutz im ESchG und den<br />
Regelungen des Abtreibungsstrafrechts,<br />
die eine Abtreibung nach einer Pränataldiagnostik<br />
(PND) »sogar bis zum Einsetzen<br />
der Eröffnungswehen« erlauben.<br />
Der Embryo in vitro sei viel besser geschützt<br />
als der Embryo in utero. <strong>Die</strong> PID<br />
solle deshalb als eine vorgezogene PND,<br />
die die Frau viel weniger belaste als eine<br />
Abtreibung, ermöglicht werden. Von einem<br />
»Wertungswiderspruch« zwischen<br />
dem Verbot der PID und der Erlaubnis<br />
einer Abtreibung nach § 218a Abs. 2<br />
StGB lässt sich aber nur sprechen, wenn<br />
unterstellt wird, das Strafgesetzbuch erlaube<br />
eine Abtreibung auf Grund einer<br />
Behinderung des Kindes. Das aber wollte<br />
die Reform des § 218 StGB 1995 gerade<br />
ausschließen, indem sie auf eine eugenische<br />
oder embryopathische Indikation<br />
verzichtete. Sie hätte ganz offenkundig<br />
dem 1994 in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG<br />
eingefügten Diskriminierungsverbot Behinderter<br />
widersprochen. Nach § 218a<br />
Abs. 2 StGB sollte nur jene Abtreibung<br />
»nicht rechtswidrig« sein, die eine Gefahr<br />
<strong>für</strong> das Leben oder den körperlichen<br />
oder seelischen Gesundheitszustand der<br />
Schwangeren abwenden will und die auf<br />
eine andere <strong>für</strong> die Schwangere zumutbare<br />
Weise nicht abgewendet werden kann.<br />
Wenn realistischerweise unterstellt wird,<br />
dass sich in der weiten medizinischen Indikation<br />
des § 218a Abs. 2 jedwede Abtreibung<br />
aus embryopathischen Gründen<br />
verstecken lässt, dann ließe sich ein<br />
solcher »Widerspruch« logischerweise<br />
auch dadurch auflösen, dass die weite<br />
medizinische Indikation durch eine enge<br />
ersetzt wird, die eine Abtreibung nur<br />
dann straflos stellt, wenn das Leben der<br />
Frau bedroht ist.<br />
<strong>Die</strong> Auflösung eines solchen Wertungswiderspruchs,<br />
wenn er denn vorläge,<br />
hätte sich am Grundgesetz, also am<br />
Verfassungsrecht, und nicht am untergeordneten<br />
und überaus problematischen<br />
Abtreibungsstrafrecht zu orientieren. Gegen<br />
die Unterstellung eines »Wertungswiderspruchs«<br />
spricht schließlich auch<br />
noch die Vorschrift in § 218a Abs. 2, dass<br />
die Gefahr <strong>für</strong> die Schwangere »nicht<br />
auf eine andere <strong>für</strong> sie zumutbare Weise<br />
abgewendet werden kann«. Für eine<br />
Frau oder ein Paar, das sich auf Grund<br />
einer erblichen Belastung in einem Konflikt<br />
sieht und deshalb eine PID in Erwägung<br />
zieht, ist die Gefahr durch einen<br />
Verzicht auf die assistierte Reproduktion<br />
vermeidbar. Der existentielle Konflikt einer<br />
Schwangeren ist von anderer Qualität<br />
als der Konflikt eines solchen Paares. Kinderlosigkeit<br />
ist keine Notlage. <strong>Die</strong> Frau<br />
oder das Paar haben kein Recht auf ein<br />
Kind um den Preis einer tödlichen Selektion.<br />
Das Recht auf reproduktive Freiheit<br />
hat wie das Recht auf Gewissensfreiheit<br />
seine Grenze an den Grundrechten<br />
Dritter. »Noch so verständliche Wünsche<br />
und Sehnsüchte <strong>sind</strong> keine Rechte.<br />
Es gibt kein Recht auf Kinder. Aber<br />
es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder<br />
auf liebende Eltern – und vor allem das<br />
Recht darauf, um ihrer selbst willen auf<br />
die Welt zu kommen und geliebt zu werden.«<br />
(Johannes Rau)<br />
Was schließlich die Unterstellung eines<br />
»Wertungswiderspruchs« zwischen<br />
dem Verbot der PID und der Tolerierung<br />
von Nidationshemmern betrifft,<br />
so ist festzuhalten, dass sich das Strafgesetzbuch<br />
mit Straftaten beschäftigt, die<br />
als solche erkennbar sein müssen. <strong>Die</strong><br />
Wirkungen nidationshemmender Mittel<br />
aber <strong>sind</strong> als solche nicht erkennbar.<br />
Sie können logischerweise kein Gegenstand<br />
des Strafgesetzbuches sein.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
§ 218 Abs. 1 Satz 2 (»Handlungen, deren<br />
Wirkung vor Abschluss der Einnistung<br />
des befruchteten Eies in die Gebärmutter<br />
eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch<br />
im Sinne dieses Gesetzes«)<br />
lässt sich deshalb nicht als Beleg<br />
<strong>für</strong> die Behauptung gebrauchen, die<br />
deutsche Rechtsordnung vertrete unterschiedliche<br />
Definitionen des Lebensbeginns.<br />
Unbenommen bliebe es dem Gesetzgeber<br />
aber auch hier, Besorgnissen<br />
wegen der Abtreibungswirkung nidationshemmender<br />
Mittel durch ein Verbot<br />
ihres Vertriebs zu begegnen. Ein aufgeklärter<br />
Lebensschutz würde ein solches<br />
Verbot rechtfertigen.<br />
DIE ESHRE-DATEN<br />
Hoher Verschleiß – von der Eizelle zum Kind<br />
DANIEL RENNEN<br />
68.568<br />
gewonnene Eizellen<br />
56.325<br />
befruchtete Eizellen<br />
40.713<br />
Zu den vom Gericht und auch von der<br />
Stellungnahme der Leopoldina nicht hinreichend<br />
beachteten Fakten, die die mit<br />
der PID verbundene Selektion belegen,<br />
gehören die von der Europäischen Gesellschaft<br />
<strong>für</strong> Humanreproduktion und<br />
Embryologie jährlich publizierten Daten.<br />
<strong>Die</strong> European Society of Human<br />
Reproduction and Embryology (ESH-<br />
RE) ist keine Lebensschutzorganisation,<br />
sondern die Berufsvereinigung der<br />
Reproduktionsmediziner. Sie sammelt<br />
die Daten der PID-Zentren über die behandelten<br />
Zyklen, die Biopsien, die Diagnosen,<br />
auch die Fehldiagnosen, die<br />
Implantationen, die Schwangerschaften<br />
und die geborenen Kinder. Ein internationales<br />
Team von Reproduktionsmedizinern<br />
und Genetikern wertet die Daten<br />
aus und berichtet seit 2001 jährlich in der<br />
in Oxford erscheinenden Zeitschrift Human<br />
Reproduction über die Ergebnisse.<br />
entstandene Embryonen<br />
Einstufung als<br />
transferierbar<br />
10.084<br />
Quelle: Bericht der Berufsvereinigung der Reproduktionsmediziner, 2007<br />
Transfer in<br />
Gebärmutter<br />
7.183<br />
Schwangerschaften<br />
Geburten<br />
1.609 1.206<br />
In den Jahren 2009 und 2010 wurden die<br />
Daten von jeweils 57 Zentren ausgewertet.<br />
<strong>Die</strong> Zentren verteilen sich über den<br />
ganzen Globus von Argentinien über<br />
Taiwan bis Finnland und von der Ukraine<br />
über die Türkei und Israel bis in die<br />
USA. Auch sechs deutsche Zentren <strong>sind</strong><br />
dabei. <strong>Die</strong> Volksrepublik China und Afrika<br />
fehlen und von den USA hat vermutlich<br />
die Mehrheit der PID-Zentren ihre<br />
Daten nicht gemeldet. Dennoch <strong>sind</strong><br />
die Daten repräsentativ <strong>für</strong> das Ausmaß<br />
der Selektion, die mit der PID verbunden<br />
ist. Sie zeigen, dass auf einen Embryo,<br />
der es 2007 nach einer PID bis zur<br />
Geburt schaffte, mehr als 33 Embryonen<br />
kamen, die der PID zum Opfer fielen.<br />
<strong>Die</strong> einzelnen Schritte dieser Selektion<br />
werden in den Daten minutiös dokumentiert<br />
(siehe Grafik).<br />
In 5.887 Zyklen wurden 68.568 Eizellen<br />
gewonnen, von denen 56.325 einer<br />
Insemination zugeführt wurden. Daraus<br />
entstanden 40.713 Embryonen. Eine<br />
erfolgreiche Zellentnahme zur Biopsie<br />
fand bei 31.520 Embryonen statt. Davon<br />
wurden 28.998 einer Diagnose unterzogen<br />
und 10.084, also knapp 35 Prozent,<br />
als transferierbar eingestuft. In eine Gebärmutter<br />
transferiert wurden 7.183 Embryonen,<br />
1.386 wurden kryokonserviert.<br />
Erfolgreich war die Implantation aber nur<br />
in rund 22 Prozent der Fälle, das heißt,<br />
sie führte zu 1.609 Schwangerschaften.<br />
<strong>Die</strong>se wiederum endeten in 977 Geburten<br />
mit 1.206 Kindern. Bei 40.713 Embryonen<br />
und 1.206 geborenen Kindern<br />
bedeutet PID somit: auf ein Kind kommen<br />
33,7 selektierte und verworfene Embryonen.<br />
<strong>Die</strong> Daten der ESHRE zeigen<br />
das dramatische Ausmaß der Selektion.<br />
<strong>Die</strong> Diagnostik hat nie den Zweck einer<br />
üblichen medizinischen Diagnostik,<br />
nämlich dem diagnostizierten Patienten<br />
eine angemessene Therapie zukommen<br />
zu lassen, sondern immer den Zweck einer<br />
Fahndung nach Embryonen mit bestimmten<br />
Krankheitsdispositionen zum<br />
Zweck der Selektion und Tötung. Mit<br />
dem ärztlichen Heilauftrag hat die PID<br />
nichts zu tun. Darüber hinaus informieren<br />
die Daten der ESHRE auch über die<br />
Geschlechtsselektion, das sogenannte Social<br />
Sexing, über den Fetozid und die Pränataldiagnostik,<br />
die 2007 in 25 Prozent<br />
der PID-Fälle während der Schwangerschaft<br />
zur Absicherung der PID durchgeführt<br />
wurde. Damit wird auch die Behauptung<br />
relativiert, die PID sei eine Art<br />
vorverlagerte Pränataldiagnose. <strong>Die</strong> 2010<br />
veröffentlichte Statistik enthält auch eine<br />
Zusammenfassung der von 2001 bis<br />
2009 präsentierten Daten. Danach wurden<br />
in den neun Jahren 161.644 Embryonen<br />
zum Zweck einer PID hergestellt.<br />
Davon wurden 28.761 in eine Gebärmutter<br />
übertragen. Sie führten zu 5.135 Geburten.<br />
Im Vergleich mit diesen Zahlen<br />
zeigen die Daten von 2010 auch die rasante<br />
Ausbreitung der PID. Sie bestätigen<br />
Regine Kolleks These, dass die Durchführung<br />
reproduktionsmedizinischer und<br />
genetischer <strong>Die</strong>nstleistungen »in hohem<br />
Maße angebotsgesteuert« ist. Nicht die<br />
Nachfrage nach PID führt zur Vermehrung<br />
der PID-Zentren, sondern die Vermehrung<br />
der PID-Zentren führt zur Zunahme<br />
der PID.<br />
KONSEQUENZEN FÜR STAAT UND GE-<br />
SELLSCHAFT<br />
<strong>Die</strong> Legalisierung der PID hat erhebliche<br />
Konsequenzen <strong>für</strong> den Rechtsstaat,<br />
seine Verfassung und seine Rechtsordnung.<br />
Sie konterkariert das Embryonenschutzgesetz.<br />
Sie widerspricht den<br />
ersten drei Artikeln des Grundgesetzes,<br />
der Gewährleistung der Menschenwürde<br />
(Art. 1 Abs. 1), dem <strong>Lebensrecht</strong> (Art. 2<br />
Abs. 2) sowie dem Diskriminierungsverbot<br />
Behinderter (Art. 3 Abs. 3). Nicht zuletzt<br />
gefährdet sie mit dem Gleichheitsprinzip<br />
einen Pfeiler des Demokratieverständnisses.<br />
DAS EMBRYONENSCHUTZGESETZ<br />
Das ESchG von 1990 hatte das Ziel,<br />
die assistierte Reproduktion, die 1982 in<br />
Deutschland zur Geburt des ersten im Labor<br />
erzeugten Kindes führte, zu regulieren,<br />
um den künstlich erzeugten Embryo<br />
zu schützen. Das ESchG war ein Instrument<br />
des <strong>Lebensrecht</strong>s von Embryonen,<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 7
T I T E L<br />
nicht der Fortpflanzungsfreiheit von Eltern.<br />
Es verbot den Reproduktionsmedizinern<br />
deshalb, »mehr Eizellen einer Frau<br />
zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus<br />
übertragen werden sollen« (§ 1 Abs.<br />
1 Nr. 5) und es verbot zugleich, »innerhalb<br />
eines Zyklus mehr als drei Embryonen<br />
auf eine Frau zu übertragen« (§ 1<br />
Abs. 1 Nr. 3). Mit diesen Verboten sollte<br />
verhindert werden, dass im Labor Embryonen<br />
erzeugt werden, die keine Chance<br />
mehr auf einen Transfer in eine Gebärmutter<br />
haben, denen also noch vor<br />
der Implantation das <strong>Lebensrecht</strong> abgesprochen<br />
wird. <strong>Die</strong> Anwälte einer Zulassung<br />
der PID, wie die Gutachter der Leopoldina,<br />
versuchen, ihr Plädoyer <strong>für</strong> eine<br />
Legalisierung dadurch zu stützen, dass<br />
sie der Frau ein Recht zugestehen, sich<br />
auch im Rahmen einer künstlichen Befruchtung<br />
<strong>für</strong> oder gegen den Embryo zu<br />
entscheiden. Auch ohne eine PID könne<br />
die Frau den Transfer des im Labor<br />
erzeugten Embryos ablehnen. Deshalb<br />
sei es ihr Recht, die Übertragung eines<br />
Embryos auch nach einer PID abzulehnen.<br />
<strong>Die</strong> Gutachter ignorieren die Logik<br />
der assistierten Reproduktion. Sie setzen<br />
sich darüber hinweg, dass zwischen einer<br />
künstlichen Befruchtung und der Implantation<br />
des im Labor erzeugten Embryos<br />
ein »strenges Konnexitätsverhältnis« besteht.<br />
Eltern, die sich zu einer assistierten<br />
Reproduktion entschließen, haben<br />
mit der Spende der Eizelle und der Samenzelle<br />
bei erfolgreicher Befruchtung<br />
bereits die Elternverantwortung im Sinne<br />
von Art. 6 Abs. 2 GG übernommen, der<br />
sie sich nicht nachträglich und willkürlich<br />
wieder entziehen dürfen. »Elternschaft<br />
8<br />
»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«, so das Grundgesetz.<br />
kann man nicht wie Erbschaft beliebig<br />
annehmen oder ausschlagen.« (Christian<br />
Hillgruber) Wer sich auf eine künstliche<br />
Befruchtung einlässt, ist demnach<br />
moralisch verpflichtet, sich den erzeugten<br />
Embryo auch implantieren zu lassen.<br />
Deshalb schrieb das ESchG vor, nur so<br />
viele Embryonen zu erzeugen, wie in einem<br />
Zyklus implantiert werden können.<br />
Für die PID aber würden nach dem Papier<br />
der DGGG von 2005 »mindestens 4<br />
bis 6 Embryonen (in Schweden10)« benötigt.<br />
Letztlich würde bei einer Legalisierung<br />
der PID aber jede Begrenzung<br />
der Zahl der Embryonen hinfällig. Wenn<br />
nämlich die »erfolgreiche Behandlung«<br />
zum Maßstab der künstlichen Befruchtung<br />
mit PID wird, können so viele Embryonen<br />
erzeugt werden, wie zum Zweck<br />
des Transfers eines gewünschten Embryos<br />
notwendig <strong>sind</strong>. Unter der Hand hätten<br />
mit der Legalisierung der PID auch die<br />
Reproduktionsmediziner ihr Ziel erreicht,<br />
mehr Eizellen befruchten zu können, um<br />
die Erfolgsquote der künstlichen Befruchtung<br />
zu erhöhen. Das ESchG würde von<br />
einem Instrument des <strong>Lebensrecht</strong>es des<br />
Embryos zu einem Instrument der Fortpflanzungsfreiheit<br />
der Frau.<br />
DIE MENSCHENWÜRDEGARANTIE<br />
(ART. 1 ABS. 1 GG)<br />
<strong>Die</strong> Anerkennung einer unantastbaren<br />
Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG beinhaltet<br />
das Verbot, den Menschen wie eine<br />
Sache zu behandeln. Würde ist Anspruch<br />
auf Achtung allein auf Grund des Menschseins.<br />
Mensch sein heißt Person sein und<br />
Person sein heißt, ein »Jemand« und nicht<br />
DANIEL RENNEN<br />
ein »Etwas« zu sein. Aus einem »Etwas«<br />
kann nie ein »Jemand« werden. Das Personsein<br />
des Menschen beginnt deshalb mit<br />
dem Menschsein, also mit der Zeugung.<br />
Jeder spätere Beginn des Personseins wäre<br />
willkürlich und würde den Embryo der<br />
Macht derjenigen ausliefern, die die Zäsur<br />
– Nidation, Hirntätigkeit, Empfindungsoder<br />
Kommunikationsfähigkeit, extrauterine<br />
Lebensfähigkeit, Geburt oder was auch<br />
immer – definieren. Nicht das Vorliegen<br />
bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten<br />
verleiht die Menschenwürde, sondern<br />
allein das Menschsein, das heißt die<br />
Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Das<br />
Bundesverfassungsgericht stellte deshalb<br />
in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht<br />
vom 25. Februar 1975 fest: »Wo<br />
menschliches Leben existiert, kommt ihm<br />
Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend,<br />
ob der Träger sich dieser Würde bewusst<br />
ist und sie selbst zu wahren weiß. <strong>Die</strong><br />
von Anfang an im menschlichen Sein angelegten<br />
potentiellen Fähigkeiten genügen,<br />
um die Menschenwürde zu begründen.«<br />
Über Jahrzehnte galt das Verdinglichungsverbot<br />
in der Interpretation des<br />
Grundgesetzes wie auch in der Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts als<br />
Kern der Menschenwürdegarantie. <strong>Die</strong>ses<br />
Verdinglichungsverbot gilt <strong>für</strong> jeden<br />
Menschen und in allen Phasen seiner Existenz,<br />
mithin auch in der frühesten Phase.<br />
<strong>Alle</strong>s, was mit einem Menschen in dieser<br />
frühesten Phase seiner Existenz im Labor<br />
oder in der Gebärmutter getan wird,<br />
muss deshalb »nicht nur im Interesse der<br />
Eltern, sondern vor allem in seinem eigenen<br />
Interesse liegen. Der menschliche<br />
Embryo ist bereits ›Selbstzweck‹, propter<br />
seipsum existens, um seiner selbst willen<br />
existierend, wie Thomas von Aquin sagt<br />
und worin Kant mit ihm einig ist.« Aus<br />
dem Verdinglichungsverbot ergibt sich<br />
die Verfassungswidrigkeit der PID. In der<br />
diagnostischen Selektion liegt eine Instrumentalisierung<br />
des menschlichen Embryos<br />
vor, die ihn nicht mehr als Subjekt,<br />
sondern ausschließlich als Objekt behandelt.<br />
<strong>Die</strong>s gilt nicht nur bei der Erzeugung<br />
von sogenannten Rettungsgeschwistern,<br />
die unter einer Vielzahl von Embryonen<br />
nach bestimmten genetischen Merkmalen<br />
als passende Zell-, Knochenmarks- oder<br />
Blutspender ausgewählt werden, sondern<br />
bei jedem Embryo, der nach PID selektiert<br />
wird. <strong>Die</strong> PID verletzt deshalb die Würde<br />
des Embryos ebenso wie sein Recht auf<br />
Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />
Sie widerspricht dem Grundgesetz und<br />
dem ESchG. Darin stimmen zahlreiche<br />
Medizinrechtler und Verfassungsrechtler,<br />
aber auch Philosophen und Theologen<br />
überein.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
DAS RECHT AUF LEBEN UND KÖRPERLI-<br />
CHE UNVERSEHRTHEIT (ART. 2 ABS. 2 GG)<br />
Das Recht auf Leben und körperliche<br />
Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG<br />
kommt »jedem« Menschen vom Anfang<br />
seiner Existenz an zu. Auch hier hat das<br />
Bundesverfassungsgericht in seinem ersten<br />
Urteil zum Abtreibungsstrafrecht 1975<br />
klare Worte gefunden. Weil der Entwicklungsprozess<br />
des Menschen »ein kontinuierlicher<br />
Vorgang« sei, der keine scharfen<br />
Einschnitte aufweise und eine genaue<br />
Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen<br />
nicht zulasse, sei er auch nicht<br />
mit der Geburt beendet. Deshalb könne<br />
»der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG<br />
weder auf den ›fertigen‹ Menschen nach<br />
der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen<br />
nasciturus beschränkt werden«.<br />
<strong>Die</strong> PID missachtet dieses Recht,<br />
indem sie es auf das gewünschte gesunde<br />
oder unbelastete Kind beschränkt. Dem<br />
kranken oder belasteten Kind wird dieses<br />
Recht verwehrt. <strong>Die</strong> PID verletzt das<br />
den Rechtsstaat konstituierende Verbot,<br />
Unschuldige zu töten. <strong>Die</strong> Legalisierung<br />
der tödlichen Selektion erkrankter oder<br />
belasteter Embryonen wäre gleichbedeutend<br />
mit der Legalisierung privater Gewaltanwendung,<br />
die ebenfalls gegen eine<br />
Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates<br />
verstößt. So kam auch die Enquete-<br />
Kommission Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin 2002 mit 16 zu 3 Stimmen<br />
zu dem Ergebnis, »dass die PID<br />
die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs.<br />
1 und das Recht auf Leben gemäß Art. 2<br />
Abs. 2 Satz 1 GG verletzt«. Nur mit einem<br />
gehörigen Maß an Betriebsblindheit<br />
oder Chuzpe lässt sich diese Logik leugnen.<br />
Klaus <strong>Die</strong>drich besitzt dieses Maß<br />
an Chuzpe, wenn er behauptet, die PID<br />
»Wer seinen Eltern Leid verursacht, darf beseitigt werden«, so müsste es künftig heißen.<br />
bedeute »keine Entscheidung gegen ein<br />
Kind mit einer bestimmten Erkrankung,<br />
sondern <strong>für</strong> die Gesundheit des betroffenen<br />
Paares, wenn dieses die Erkrankung<br />
des zu erwartenden kranken Kindes nicht<br />
in die zukünftige Lebensplanung zu integrieren<br />
imstande ist.« <strong>Die</strong>se Chuzpe erinnert<br />
an die Antwort der Regierung Kohl<br />
vom 29. Juni 1996 auf eine Kleine Anfrage<br />
zur Problematik der Spätabtreibungen<br />
und der weiten medizinischen Indikation,<br />
in der die Fiktion verbreitet wurde,<br />
Ziel des Schwangerschaftsabbruches sei<br />
die »Beendigung der Schwangerschaft«,<br />
nicht jedoch »die Tötung des Kindes«.<br />
<strong>Die</strong> PID stellt das <strong>Lebensrecht</strong> des Embryos<br />
zur Disposition der Eltern. Sie macht<br />
es vom Bestehen eines Eignungstests abhängig.<br />
Sie beinhaltet den Anspruch der<br />
Mutter und der Reproduktionsmediziner,<br />
eine Lizenz zum Leben zu erteilen<br />
oder zu verweigern. Der Preis <strong>für</strong> ein gesundes<br />
Kind nach PID ist der Tod von<br />
weit über 30 Embryonen, wie die Daten<br />
der ESHRE jährlich zeigen. Aber selbst<br />
wenn nur ein Embryo der tödlichen Selektion<br />
zum Opfer fallen würde, wäre die<br />
PID eine Verletzung des Rechts auf Leben,<br />
mithin verfassungswidrig.<br />
DAS DISKRIMINIERUNGSVERBOT<br />
BEHINDERTER (ART. 3 ABS. 3 GG)<br />
»Niemand darf wegen seiner Behinderung<br />
benachteiligt werden.« <strong>Die</strong>se 1994<br />
beschlossene Ergänzung des Gleichheitsgrundsatzes<br />
in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG<br />
veranlasste den Bundestag bei der Reform<br />
des Abtreibungsstrafrechts in § 218a StGB<br />
ein Jahr später auf die noch 1992 eingeführte<br />
embryopathische Indikation, die<br />
eine Abtreibung rechtfertigen sollte und<br />
vom Bundesverfassungsgericht in seinem<br />
DANIEL RENNEN<br />
Urteil 1993 auch noch als grundgesetzkonform<br />
eingeschätzt wurde, wieder zu<br />
verzichten. Eine Abtreibung auf Grund<br />
einer Behinderung des Embryos wäre ein<br />
offenkundiger Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot<br />
in Art. 3 Abs. 3 Satz 2<br />
GG. Genauso ist aber auch die PID eine<br />
Verletzung dieses Diskriminierungsverbots.<br />
Sie sucht gezielt nach behinderten<br />
oder genetisch belasteten Embryonen,<br />
um sie von einer Übertragung<br />
in eine Gebärmutter auszuschließen. Sie<br />
setzt die stillschweigende oder auch katalogisierte<br />
Unterscheidung von lebenswertem<br />
und lebensunwertem Leben voraus.<br />
Sie dient nicht der Verhinderung,<br />
sondern der Vernichtung von erkrankten<br />
oder belasteten Embryonen.<br />
<strong>Die</strong> Legalisierung der PID wäre auch<br />
ein Verstoß gegen die UN-Konvention<br />
über die Rechte von Menschen mit Behinderung,<br />
die von Deutschland am 30.<br />
März 2007 unterzeichnet wurde und die<br />
am 3. Mai 2008 völkerrechtlich in Kraft<br />
trat. In Art. 7 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten,<br />
»alle erforderlichen<br />
Maßnahmen« zu treffen, »um zu gewährleisten,<br />
dass Kinder mit Behinderungen<br />
gleichberechtigt mit anderen Kindern<br />
alle Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
genießen können« (Abs. 1), und dass<br />
»bei allen Maßnahmen, die Kinder mit<br />
Behinderungen betreffen, … das Wohl<br />
des Kindes ein Gesichtspunkt (ist), der<br />
vorrangig zu berücksichtigen ist« (Abs.<br />
2). <strong>Die</strong>ses vorrangige Wohl des Kindes,<br />
das als gleichberechtigtes Grundrechtssubjekt<br />
gesehen wird, schließt eine Legalisierung<br />
der PID aus.<br />
<strong>Die</strong> PID öffnet das Tor zur vorgeburtlichen<br />
Qualitätskontrolle. Sie erzeugt gesellschaftliche<br />
Erwartungen, dass behindertes<br />
Leben vermeidbar sei. Sie verstärkt<br />
den bereits durch die Praxis der Pränataldiagnostik<br />
auf die Mütter ausgeübten<br />
Druck, gesunde Kinder zu gebären. Sie<br />
fördert die Vorstellung, die Reproduktionsmedizin<br />
erfülle Optimierungswünsche.<br />
Eine solche Entwicklung entspräche<br />
dem, was der Pionier der assistierten<br />
Reproduktion und Träger des Medizinnobelpreises<br />
2010 Robert Edwards<br />
schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />
mit seinen Forschungen verband,<br />
nämlich den Eltern zu ermöglichen, die<br />
Verantwortung <strong>für</strong> die Gesundheit ihrer<br />
künftigen Kinder zu übernehmen. Eine<br />
solche Entwicklung würde dazu führen,<br />
dass »eine ungetestete Elternschaft im<br />
Ruf der Verantwortungslosigkeit« steht.<br />
Auch der Pionier der Genetik und Träger<br />
des Medizinnobelpreises 1962 James<br />
D. Watson forderte, Kinder, »deren Gene<br />
kein sinnvolles Leben zulassen, (…)<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 9
T I T E L<br />
10<br />
sollten gar nicht erst geboren werden«.<br />
Keine Mutter soll »unter einem Kind<br />
mit furchtbaren Entwicklungsfehlern leiden«.<br />
Deshalb solle man »bis zwei Tage<br />
nach der Geburt warten, bevor man etwas<br />
als Leben deklariert, als ein Kind mit<br />
Zukunft«. Den IVF-Patientinnen würde<br />
»der Qualitätscheck per Embryonenauswahl<br />
(…) potenzielles Leiden ersparen –<br />
und den Krankenkassen Kosten. Routinemäßig<br />
durchgeführt, dürfte die Selektionstechnik<br />
viel preiswerter sein als ein<br />
weiterer IVF-Zyklus.« <strong>Die</strong> Legalisierung<br />
der PID führt »zur gesellschaftlichen<br />
Legitimierung einer zunehmenden Diskriminierung,<br />
Stigmatisierung und Entsolidarisierung<br />
von chronisch Kranken,<br />
Behinderten und deren Familien«. <strong>Die</strong><br />
Stellungnahme der Leopoldina behauptet<br />
zwar, dass von der Zulassung der PID<br />
»negative Auswirkungen auf Integration<br />
und Unterstützung geborener Menschen<br />
mit erblichen Krankheiten (…) ebenso<br />
wenig zu erwarten« seien, »wie sie bisher<br />
durch die PND-Praxis eingetreten« <strong>sind</strong>.<br />
Den gesellschaftlichen Auswirkungen der<br />
PND-Praxis wird diese Behauptung wohl<br />
kaum gerecht, gibt es doch genügend Erfahrungen<br />
von Eltern behinderter Kinder,<br />
die immer wieder implizit oder explizit<br />
zu hören bekamen, dass »so etwas«<br />
doch heute nicht mehr sein müsse. <strong>Die</strong><br />
Gutachter, denen solche Erfahrungen offenkundig<br />
nicht ganz verborgen blieben,<br />
wissen dem nur einen moralischen Appell<br />
entgegenzusetzen: »Einem respektlosen<br />
Verhalten gegen Menschen mit Behinderungen<br />
oder ihre Eltern ist jedenfalls<br />
entgegenzuwirken.« Mit der Legalisierung<br />
der PID werden aber die Verschiebung<br />
gesellschaftlicher Erwartungen<br />
und der Druck auf die Eltern gefördert.<br />
Das Diskriminierungsverbot Behinderter<br />
kann deshalb nur durch ein Verbot der<br />
PID aufrechterhalten werden.<br />
DAS DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS<br />
Der demokratische Rechtsstaat setzt<br />
die Gleichheit der Bürger voraus – nicht<br />
die soziale Gleichheit oder die Gleichheit<br />
der Anlagen, der Fähigkeiten oder<br />
des Vermögens, aber die Gleichheit »vor<br />
dem Gesetz«, wie es in Art. 3 GG heißt,<br />
das heißt die Gleichheit im Menschsein<br />
oder im »naturwüchsigen Ursprung«.<br />
Das Prüfsiegel verletzt auch die Würde derer, die den Gen-Check überlebt haben.<br />
Dass die Menschen gezeugt und nicht<br />
erzeugt werden, ist die Voraussetzung<br />
der prinzipiellen Gleichheit, mithin die<br />
Grundlage einer Demokratie. Werden<br />
Menschen dagegen einer PID unterzogen,<br />
bevor sie die Lizenz zum Leben erhalten,<br />
hängt ihr Leben vom Urteil und<br />
vom Willen des Reproduktionsmediziners<br />
ab, dem die Eltern die Ressourcen geliefert<br />
haben. Durch die PID gewöhnt sich<br />
die Gesellschaft nicht nur »an eine Einkaufsmentalität<br />
bei der Fortpflanzung«,<br />
sie öffnet vielmehr das Tor zu einer eugenischen<br />
Gesellschaft. Eine Reproduktionsmedizin,<br />
die den Menschen nicht mehr<br />
als empfangenes Geschöpf, sondern als<br />
bestelltes Produkt betrachtet, verändert<br />
die gesellschaftlichen Beziehungen. Der<br />
Mensch, der »gemacht« wird, kann auch<br />
zerstört werden. <strong>Die</strong> Gemachten <strong>sind</strong> die<br />
Geschöpfe der Macher. <strong>Die</strong>s zerstört die<br />
Symmetrie der Beziehungen, auf die jede<br />
Zivilgesellschaft und jede Demokratie<br />
angewiesen <strong>sind</strong>.<br />
DANIEL RENNEN<br />
In der Warnung vor dieser Gefahr <strong>sind</strong><br />
sich die katholische Kirche und Jürgen<br />
Habermas einig. Für Habermas verletzt<br />
die PID die »Reziprozitätsbedingungen<br />
der kommunikativen Verständigung«,<br />
die bei allen gentechnischen und medizinischen<br />
Eingriffen die Möglichkeit einer<br />
Konsensunterstellung des betroffenen<br />
Embryos verlangen. Menschenwürde<br />
sei an die »Symmetrie der Beziehungen«<br />
gebunden. »Sie ist nicht eine Eigenschaft,<br />
die man von Natur aus ›besitzen‹<br />
kann wie Intelligenz oder blaue Augen;<br />
sie markiert vielmehr diejenige ›Unantastbarkeit‹,<br />
die allein in den interpersonalen<br />
Beziehungen reziproker Anerkennung,<br />
im egalitären Umgang der Personen<br />
miteinander eine Bedeutung haben<br />
kann«. <strong>Die</strong> katholische Kirche stellte bereits<br />
1987 in der Instruktion »Donum Vitae«<br />
über die Achtung vor dem beginnenden<br />
menschlichen Leben und die Würde<br />
der Fortpflanzung und dann erneut<br />
2008 in »Dignitas Personae«, der Fortschreibung<br />
von »Donum Vitae«, fest, die<br />
künstliche Befruchtung vertraue »das Leben<br />
und die Identität des Embryos der<br />
Macht der Mediziner und Biologen an«<br />
und errichte »dadurch eine Herrschaft<br />
der Technik über Ursprung und Bestimmung<br />
der menschlichen Person«. Eine<br />
derartige »Herrschaftsbeziehung« aber<br />
widerspreche »in sich selbst der Würde<br />
und der Gleichheit, die Eltern und Kindern<br />
gemeinsam sein muss«. Künstliche<br />
Befruchtung und PID widersprechen dem<br />
jeder freiheitlichen Gesellschaft und somit<br />
auch jeder rechtsstaatlichen Demokratie<br />
zugrundeliegenden Prinzip gegenseitiger<br />
Anerkennung des jeweils anderen<br />
als mir Gleichem, und eben nicht als<br />
von mir Gewolltem bzw. Ausgewähltem.<br />
I M P O R T R A I T<br />
Prof. Dr. phil. Manfred Spieker<br />
Geboren 1943 in München. Studium der<br />
Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte<br />
an den Universitäten Freiburg,<br />
Berlin und München.<br />
1968 Diplom<br />
in Politologie. 1973<br />
Promotion zum Dr.<br />
phil. 1982 Habilitation<br />
im Fach Politische<br />
Wissenschaft.<br />
Ab 1983 Professor <strong>für</strong> Christliche<br />
Sozialwissenschaften am Institut <strong>für</strong> Katholische<br />
Theologie an der Universität<br />
Osnabrück. Verschiedene Gastprofessuren<br />
im Ausland.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
T I T E L<br />
<strong>Die</strong> PID und ihre negativen<br />
Folgen <strong>für</strong> den Lebensschutz<br />
Der Streit um die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist kein bioethischer<br />
Nebenkriegsschauplatz, sondern von erheblicher Bedeutung <strong>für</strong> die generelle Wertschätzung des<br />
<strong>Lebensrecht</strong>s ungeborener Menschen. Der nachfolgende Beitrag basiert auf dem 2. Teil eines<br />
fulminanten Vortrags, den der Autor auf der diesjährigen Bundesdelegiertenversammlung<br />
der ALfA in Fulda gehalten hat.<br />
Von Professor Dr. med. Axel W. Bauer<br />
Bei der Präimplantationsdiagnostik<br />
handelt es sich um einen manipulativen<br />
Eingriff in den frühen Embryo,<br />
bei dem Zellen <strong>für</strong> Untersuchungszwecke<br />
entnommen werden. Der Gesundheit<br />
des betroffenen Embryos dient ein solcher<br />
Eingriff sicher nicht. Zum einen kann<br />
der winzige Embryo bei der Zellentnahme<br />
selbst irreparabel beschädigt werden,<br />
zum anderen fehlen ihm, jedenfalls nach<br />
der Entnahme, die besagten Zellen. Da<br />
die Zellen in diesem Stadium vermutlich<br />
nicht mehr totipotent <strong>sind</strong>, ist es keineswegs<br />
sicher, dass ihre Wegnahme in allen<br />
Fällen problemlos durch weitere Zellteilungen<br />
kompensiert werden kann.<br />
Ferner gibt es bei jedem biomedizinischen<br />
Untersuchungsverfahren »falsch<br />
positive« und »falsch negative« Ergebnisse.<br />
Bei einem »falsch positiven« Resultat<br />
wird die zu testende Krankheitsanlage<br />
fälschlicherweise diagnostiziert, obwohl<br />
sie gar nicht vorhanden ist. Bei einem<br />
»falsch negativen« Ergebnis würde<br />
die gesuchte Krankheitsanlage dagegen<br />
fälschlicherweise übersehen, obwohl sie<br />
vorliegt. »Falsch positive« Ergebnisse<br />
kommen besonders dann zustande, wenn<br />
die angewendete Untersuchungsmethode<br />
eine hohe Sensitivität aufweist, wenn<br />
sie also darauf angelegt ist, möglichst wenige<br />
Krankheitsanlagen zu übersehen.<br />
Ein Reproduktionsmediziner, der sich<br />
gegen die spätere Forderung zivilrechtlichen<br />
Schadensersatzes nach der Geburt<br />
eines von seinen Eltern so nicht erwünschten<br />
Kindes absichern will, täte also<br />
im eigenen Interesse gut daran, Embryonen<br />
mit einem »positiven« Testergebnis<br />
auf keinen Fall zu implantieren, denn<br />
der wegen eines falsch positiven Untersuchungsresultats<br />
»verworfene« und deshalb<br />
nie geborene Mensch (be)klagt (sich)<br />
nicht. Im Fall der Geburt eines falsch negativ<br />
Getesteten lägen die Dinge hingegen<br />
anders, denn es könnten dem an der<br />
Zeugung beteiligten Arzt erheblicher finanzieller<br />
Schaden sowie eine Minderung<br />
seines beruflichen Ansehens wegen mangelhafter<br />
fachlicher Expertise drohen.<br />
Schließlich kann man gegen die Präimplantationsdiagnostik<br />
einwenden, dass<br />
die genetische Untersuchung eines wenige<br />
Tage alten Embryos nicht ausreichen<br />
kann, um seine spätere körperliche und<br />
geistige Entwicklung im Detail sicher zu<br />
prognostizieren. Es ist also vollkommen<br />
spekulativ, wenn jetzt mitunter behauptet<br />
wird, durch die Einführung der PID<br />
könne die Zahl der Spätabtreibungen ge-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 11
A U S L A N D<br />
senkt werden. Es dürfte eher so sein, dass<br />
die Bandbreite von »Normalität«, die in<br />
unserer Gesellschaft künftig noch toleriert<br />
werden wird, durch die Möglichkeiten,<br />
welche die PID bietet, deutlich schmaler<br />
werden wird. Immer geringere Abweichungen<br />
von der vermeintlichen »Idealnorm«<br />
werden künftig bereits durch die<br />
PID vorselektiert werden, und diese Entwicklung<br />
wird sich nach erfolgter Pränataldiagnostik<br />
weiter fortsetzen. Denn<br />
ein Embryo, der nach einer PID erfolgreich<br />
in die Gebärmutter implantiert werden<br />
konnte, hätte ja nur die erste Hürde<br />
künftiger »Qualitäts-Checks« überlebt.<br />
Bis zur Geburt blieben dann immer noch<br />
rund 260 Tage Zeit, in denen Humangenetiker,<br />
Gynäkologen und werdende Eltern<br />
dem Embryo bzw. dem Fötus das (Über-)<br />
Leben weiterhin schwermachen können.<br />
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich<br />
die PID dauerhaft auf bestimmte, als besonders<br />
schwerwiegend geltende Krankheiten<br />
oder Behinderungen eingrenzen<br />
ließe. Zum einen läge dann tatsächlich<br />
eine grundgesetzwidrige Diskriminierung<br />
derjenigen Menschen vor, die unter<br />
einer solchen Krankheit oder Behinderung<br />
leiden. Eine konkrete Liste mit<br />
<strong>für</strong> eine PID zugelassenen Krankheiten<br />
oder Behinderungen wird es also schon<br />
aus diesem Grund nicht geben. Zum anderen<br />
werden aber die dann als Alternative<br />
zu Gebot stehenden Einzelfallentscheidungen<br />
die Tendenz haben, immer<br />
mehr Normabweichungen <strong>für</strong> »schwerwiegend«<br />
zu erklären, denn dieser wertende<br />
Begriff ist nirgendwo scharf definiert<br />
und unterliegt naturgemäß einem<br />
enormen kulturellen, sozialen und historischen<br />
Interpretationsspielraum. Mit<br />
Recht halten zum Beispiel viele langjährige<br />
Diabetiker ihre Erkrankung <strong>für</strong> durchaus<br />
schwerwiegend und wünschen sich,<br />
dass ihre Kinder vor dieser Stoffwechselstörung<br />
bewahrt bleiben mögen. Könnte<br />
also nicht auch eine genetisch erkennbare<br />
Disposition <strong>für</strong> den Diabetes mellitus<br />
schon bald eine mögliche Indikation zur<br />
PID und damit zur Tötung der entsprechenden<br />
Embryonen darstellen?<br />
Grundsätzlich müssen Gesetze einen<br />
gewissen Abstraktionsgrad besitzen, um<br />
auf Dauer anwendbar und flexibel zu bleiben.<br />
<strong>Die</strong> jeweils aktuelle Interpretation<br />
von Gesetzen erfolgt schließlich durch<br />
die Gerichte. Das ist im Prinzip nicht zu<br />
kritisieren. Problematisch <strong>sind</strong> die Dinge<br />
jedoch vor allem im Strafrecht, das ja<br />
seiner Natur nach fragmentarisch angelegt<br />
ist und das, wie ich eingangs schon<br />
erwähnt habe, sehr präzise formuliert sein<br />
muss, da es nicht analog und rückwirkend<br />
interpretiert werden darf.<br />
12<br />
WEITGEHENDE ERLAUBNIS DER PID:<br />
DER GESETZENTWURF FLACH/HINTZE<br />
Noch vor der Sommerpause 2011 trifft<br />
der Deutsche Bundestag eine Entscheidung<br />
darüber, ob die Präimplantationsdiagnostik<br />
künftig ausdrücklich von Gesetzes<br />
wegen erlaubt oder aber explizit<br />
verboten werden soll. Wie schon in früheren<br />
biopolitischen Streitfällen gibt es<br />
auch dieses Mal keinen Fraktionszwang.<br />
Vielmehr liegen drei interfraktionelle Gesetzentwürfe<br />
vor.<br />
Der erste und zugleich der im Sinne einer<br />
Zulassung der PID »liberalste« Entwurf,<br />
den die Abgeordneten Ulrike Flach<br />
(FDP), Peter Hintze (CDU), Carola Reimann<br />
(SPD), Jerzy Montag (Bündnis 90/<br />
DIE GRÜNEN) und Petra Sitte (<strong>Die</strong><br />
Peter Hintze, CDU<br />
WWW.BMWI.DE<br />
WWW.ULRIKE-FLACH.DE<br />
Ulrike Flach, FDP<br />
LINKE) eingebracht haben, zielt auf eine<br />
weite Erlaubnis der PID durch formale<br />
Änderung des Embryonenschutzgesetzes<br />
(ESchG) ab. »Fehl- oder Totgeburten<br />
oder die Geburt eines schwer kranken<br />
Kindes sollen auf diese Weise verhindert<br />
werden«, schrieb Ulrike Flach, die<br />
im Mai 2011 Parlamentarische Staatssekretärin<br />
im Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit<br />
(BMG) wurde, dazu im Januar<br />
2011 auf ihrer Homepage. Formal soll dazu<br />
in das Embryonenschutzgesetz im Anschluss<br />
an den § 3, der die Geschlechtswahl<br />
verbietet, ein neuer § 3a mit 6 Absätzen<br />
und der Überschrift Präimplantationsdiagnostik<br />
eingefügt werden.<br />
In Absatz 1 wird die PID zunächst<br />
grundsätzlich als strafbewehrtes Vergehen<br />
eingestuft und der Täter mit einer<br />
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder<br />
mit Geldstrafe bedroht. In Absatz 2 folgen<br />
jedoch sogleich die Ausnahmen von<br />
diesem Verbot: Besteht auf Grund genetischer<br />
Disposition der Eltern oder eines<br />
Elternteils <strong>für</strong> deren Nachkommen<br />
eine »hohe Wahrscheinlichkeit« <strong>für</strong> eine<br />
»schwerwiegende Erbkrankheit«, so<br />
handelt nicht rechtswidrig, wer den Embryo<br />
in vitro vor dem intrauterinen Transfer<br />
auf die Gefahr dieser Krankheit untersucht.<br />
Ebenso wenig handelt rechtswidrig,<br />
wer eine PID zur Feststellung einer<br />
Schädigung des Embryos vornimmt,<br />
die mit »hoher Wahrscheinlichkeit« zu<br />
einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird.<br />
<strong>Die</strong> Begriffe »hohe Wahrscheinlichkeit«,<br />
»schwerwiegend« und »Erbkrankheit«<br />
<strong>sind</strong> selbstverständlich deutungsoffen<br />
und gegebenenfalls weit auslegbar.<br />
So dürfte nicht nur eine Mukoviszidose,<br />
sondern etwa auch eine vererbte Anlage<br />
zum Diabetes mellitus Typ 2 durch<br />
angeborene Insulinunempfindlichkeit<br />
von den Betroffenen als eine durchaus<br />
»schwerwiegende« Gesundheitsstörung<br />
erlebt werden. Auch familiäre Genvarianten,<br />
die eine Entwicklung von Brustkrebs<br />
oder Darmkrebs im höheren Lebensalter<br />
begünstigen können, wird man<br />
als Träger solcher Gene sicherlich nicht<br />
auf die leichte Schulter nehmen. Je nach<br />
der künftigen Interpretation dieses Absatzes<br />
wäre damit zu rechnen, dass in absehbarer<br />
Zeit praktisch jedes gravierende<br />
genetische Erkrankungsrisiko einen akzeptablen<br />
Grund <strong>für</strong> die Durchführung<br />
einer PID und die anschließende »Verwerfung«<br />
der betroffenen Embryonen<br />
liefern würde.<br />
Bemerkenswert ist, dass eben diese<br />
»Verwerfung«, also die Tötung der Embryonen<br />
durch Nicht-Implantation in<br />
die Gebärmutter der Frau, im geplanten<br />
Gesetzestext mit keinem Wort erwähnt<br />
wird. Sie wird lediglich stillschweigend<br />
als »logische« Konsequenz mitgedacht<br />
bzw. in Rechnung gestellt, da es ja letztlich<br />
der formalen Entscheidung der Frau<br />
überlassen bleibt, ob sie sich einen bestimmten<br />
Embryo implantieren lassen<br />
will oder nicht.<br />
Zudem haben es die Autoren des Gesetzentwurfs<br />
unterlassen, zugleich eine<br />
Änderung von § 1 Absatz 1 Nr. 5 ESchG<br />
vorzuschlagen, ohne welche die effek-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
tive Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik<br />
indessen nicht möglich<br />
sein wird. Nach diesen Bestimmungen<br />
in ihrer gegenwärtigen Fassung ist es<br />
nämlich verboten, mehr Eizellen einer<br />
Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines<br />
Zyklus übertragen werden sollen (§<br />
1 Abs. 1 Nr. 5). Da innerhalb eines Zyklus<br />
aber nicht mehr als drei Embryonen<br />
auf eine Frau übertragen werden dürfen<br />
(§ 1 Abs. 1 Nr. 3), folgt daraus, dass auch<br />
jeweils maximal drei Embryonen je Zyklus<br />
befruchtet und mittels PID untersucht<br />
werden können. Sofern von diesen<br />
nach der Diagnostik dann ein oder zwei<br />
Embryonen als geschädigt »ausgesondert«<br />
werden, sinken die Aussichten <strong>für</strong><br />
den Erfolg der In-vitro-Fertilisation beträchtlich.<br />
Für eine im technischen Sinne<br />
»gute« PID benötigt man wenigstens<br />
acht Embryonen zur Auswahl.<br />
<strong>Die</strong> Tatsache, dass § 1 Abs. 1 ESchG<br />
zunächst offenbar unverändert bleiben<br />
soll, bedeutet nicht, dass die Autoren<br />
des Gesetzentwurfs an dieser Stelle unaufmerksam<br />
gewesen wären. Vielmehr<br />
dürfte es das Kalkül sein, diesen technisch<br />
erforderlichen Schritt erst dann zu<br />
gehen, wenn die PID im Grundsatz erlaubt<br />
sein wird. Denn eine Änderung von<br />
§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG würde die logische<br />
Verknüpfung von PID und embryonaler<br />
Stammzellforschung im Moment<br />
allzu deutlich in den Blick der Öffentlichkeit<br />
geraten lassen: Je mehr »überzählige«,<br />
weil nicht implantierte Embryonen<br />
nach einer PID vorhanden <strong>sind</strong>, desto<br />
stärker wird der politische Druck werden,<br />
diese anschließend <strong>für</strong> die Stammzellforschung<br />
einzusetzen, damit sie wenigstens<br />
noch einem »nützlichen« Zweck<br />
zur Verfügung stehen. Der Import embryonaler<br />
Stammzelllinien aus dem Ausland<br />
könnte dann reduziert oder gar eingestellt<br />
werden. Da die PID-Be<strong>für</strong>worter<br />
die Stammzelldebatte im Augenblick aus<br />
taktischen Erwägungen <strong>für</strong>chten, haben<br />
sie auf die Änderung von § 1 Abs. 1 Nr.<br />
5 ESchG verzichtet. Der Preis da<strong>für</strong> ist<br />
allerdings darin zu sehen, dass der jetzige<br />
Änderungsvorschlag nicht geeignet ist, die<br />
Präimplantationsdiagnostik in der Praxis<br />
effektiv durchzuführen. Seine Funktion<br />
ist die eines »Türöffners«.<br />
In dem geplanten Absatz 3 des Gesetzentwurfs<br />
wird sodann eine Beratungsregelung<br />
vorgesehen, die noch komplexer<br />
anmutet als diejenige vor einem späten<br />
Schwangerschaftsabbruch nach § 218a<br />
Abs. 2 StGB und die vermutlich noch<br />
wirkungsloser bleiben dürfte als jene.<br />
So darf die PID nur nach einer medizinischen<br />
und psychologischen Beratung<br />
und schriftlichen Einwilligung der »Mutter«<br />
von fachlich geschulten Ärzten (also<br />
nicht: Fachärzten) – nach einem positiven<br />
Votum einer interdisziplinär zusammengesetzten<br />
Ethikkommission – nur in<br />
<strong>für</strong> die Präimplantationsdiagnostik lizenzierten<br />
Zentren vorgenommen werden.<br />
<strong>Die</strong> durchgeführten Maßnahmen sollen<br />
in einer Zentralstelle dokumentiert werden.<br />
Wer ohne diese Voraussetzungen eine<br />
PID vornimmt, handelt ordnungswidrig<br />
und riskiert nach Absatz 4 eine Geldbuße<br />
bis zu 50.000 Euro.<br />
Absatz 5 stellt fest, dass kein Arzt verpflichtet<br />
werden kann, sich an einer PID<br />
zu beteiligen. Aus seiner Weigerung dürfen<br />
ihm keine Nachteile erwachsen, doch<br />
schweigt der Gesetzentwurf darüber,<br />
durch welche arbeitsrechtlichen Maßnahmen<br />
dieses löbliche Ziel sichergestellt<br />
werden könnte. <strong>Alle</strong>in der Nachweis, dass<br />
eine berufliche Benachteiligung im Krankenhaus<br />
darauf beruht, dass eine Ärztin<br />
oder ein Arzt nicht an der Präimplantationsdiagnostik<br />
mitwirkt, dürfte in der Realität<br />
kaum jemals gelingen. Der soziale<br />
Druck innerhalb der Kollegenschaft und<br />
die bekanntermaßen mangelhafte Solidarität<br />
unter Ärzten im Allgemeinen <strong>sind</strong><br />
hier in Rechnung zu stellen.<br />
Absatz 6 schließlich ist vor allem dazu<br />
geeignet, der Bürokratie neue Arbeit<br />
zu verschaffen. Dem Lebensschutz<br />
dient es jedenfalls nicht, wenn die Bundesregierung<br />
in jeder Legislaturperiode,<br />
frühestens aber zwei Jahre nach Inkrafttreten<br />
des Gesetzes, einen Bericht<br />
über die Erfahrungen mit der PID erstellen<br />
muss. <strong>Die</strong>ser Bericht soll auf der<br />
Grundlage der zentralen Dokumentation<br />
die Zahl der jährlich durchgeführten<br />
Maßnahmen sowie eine wissenschaftliche<br />
Auswertung auf der Basis anonymisierter<br />
Daten enthalten.<br />
Im Allgemeinen Teil ihrer Begründung<br />
führen die Autoren aus, dass »bei der Abwägung<br />
zwischen den Ängsten und Nöten<br />
der Betroffenen und ethischen Bedenken<br />
wegen der Nichtimplantation eines<br />
schwer geschädigten Embryos« der vorliegende<br />
Gesetzentwurf »eine Entscheidung<br />
zugunsten der betroffenen Frau«<br />
treffe. Damit wird in letzter Konsequenz<br />
auch der Frau die moralische Verantwortung<br />
<strong>für</strong> den Tod ihrer nicht implantierten<br />
Embryonen persönlich zugewiesen.<br />
Es darf bezweifelt werden, dass diese<br />
Sicht der Dinge von den Betroffenen<br />
tatsächlich als »Gunst« empfunden werden<br />
wird, denn die moralischen Skrupel<br />
enden nicht am Tag nach der PID. Sie<br />
können noch nach Jahren oder gar Jahrzehnten<br />
in Erscheinung treten und unter<br />
Umständen gerade die Frau außerordentlich<br />
belasten.<br />
Auch bei der formalen Einreihung der<br />
PID als § 3a des Embryonenschutzgesetzes<br />
haben sich die Verfasserinnen und Verfasser<br />
etwas gedacht. Doch das, was sie sich<br />
dabei gedacht haben, zeigt in erschreckender<br />
Weise ihre ethische Indifferenz: »Eine<br />
Einfügung der Bestimmung nach § 3<br />
empfiehlt sich wegen einer Vergleichbarkeit<br />
der Regelungsinhalte: § 3 Satz 2 lässt<br />
aus schwerwiegenden genetischen Gründen<br />
eine Ausnahme von dem grundsätzlichen<br />
Verbot des Satzes 1 zu, eine Samenzelle<br />
<strong>für</strong> die künstliche Befruchtung<br />
nach dem Geschlecht auszuwählen; § 3a<br />
will aus entsprechenden Gründen – allerdings<br />
<strong>für</strong> den Fall einer Nichtimplantation<br />
bereits befruchteter Eizellen – eine<br />
begrenzte Ausnahme vom grundsätzlichen<br />
Schutz der Embryonen regeln.«<br />
Durch die erkennbar unzulässige Analogisierung<br />
von Samenzelle (Spermium) und<br />
befruchteter Eizelle (Embryo) soll offenbar<br />
mit Absicht verschleiert werden, dass<br />
es in der Folge einer PID zum Tod eines,<br />
wenn auch noch winzigen menschlichen<br />
Lebewesens geht und nicht »nur« um die<br />
Verwerfung einer haploiden Keimzelle.<br />
EIN BISSCHEN PID? DER »KOMPRO-<br />
MISSVORSCHLAG« RÖSPEL/HINZ<br />
Am 29. Dezember 2010 warnte Priska<br />
Hinz, Bundestagsabgeordnete von Bündnis<br />
90/<strong>Die</strong> GRÜNEN, vor einer breiten<br />
Zulassung der PID. Sie warb <strong>für</strong> eine Begrenzung<br />
der Methode auf die Lebensfähigkeit<br />
des Embryos. »Mir geht es […]<br />
nicht um die Frage, ob der Embryo lebenswert<br />
ist.« Frau Hinz legte gemeinsam<br />
mit dem SPD-Abgeordneten René<br />
Röspel, dem FDP-Abgeordneten Patrick<br />
Meinhardt und dem CDU-Abgeordneten<br />
Norbert Lammert am 28. Januar<br />
2011 einen eigenen Gesetzentwurf<br />
vor, der im Bundestag zu Unrecht als<br />
»Kompromiss« gehandelt wird. Durch<br />
eine initial scheinbar sehr restriktive Zulassung<br />
der PID würde nämlich der Weg<br />
<strong>für</strong> spätere gesetzliche Erweiterungen gebahnt<br />
werden, sodass am Ende des Weges<br />
auch hier das Argument der schiefen<br />
Ebene griffe. Der Entwurf sieht vor, dass<br />
die PID ausnahmsweise <strong>für</strong> solche Paare<br />
zugelassen werden soll, die eine »genetische<br />
Vorbelastung da<strong>für</strong> haben, dass<br />
Schwangerschaften in der Regel mit einer<br />
Fehl- oder Totgeburt oder dem sehr<br />
frühen Tod des Kindes innerhalb des ersten<br />
Lebensjahres enden«. Da<strong>für</strong> muss<br />
bei den Eltern oder einem Elternteil eine<br />
humangenetisch diagnostizierte Disposition<br />
vorliegen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
eine Schädigung des Embryos,<br />
Fötus oder Kindes zur Folge hat,<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 13
T I T E L<br />
René Röspel, SPD<br />
welche zur Tot- oder Fehlgeburt oder zum<br />
Tod im ersten Lebensjahr führen kann.<br />
<strong>Die</strong> Durchführung der PID soll nur an<br />
einem lizenzierten Zentrum zulässig sein.<br />
Nach Darlegung der Autoren macht<br />
damit ihr Gesetzentwurf die Lebensfähigkeit<br />
und nicht den Lebenswert des Embryos<br />
zum zentralen Maßstab des erlaubten<br />
Handelns. Doch bereits diese Aussage<br />
ist falsch, da ja auch solche Menschen<br />
nicht zur Entwicklung kommen sollen,<br />
deren Leben womöglich nicht länger als<br />
ein Jahr dauern würde. An einer zentralen<br />
Stelle geht der Gesetzentwurf sogar<br />
über den Entwurf Flach/Hintze hinaus,<br />
indem er nämlich in § 1 Absatz 1 ESchG<br />
einen Satz 2 anfügen will, wonach künftig<br />
mehr als drei Eizellen je Zyklus befruchtet<br />
werden dürfen. Für eine technisch<br />
sinnvolle Durchführung der PID<br />
benötigt man nämlich wenigstens acht<br />
Embryonen zur »Auswahl«. <strong>Die</strong> Frage,<br />
was anschließend mit den »überzähligen«<br />
Embryonen geschehen soll, klammert der<br />
Gesetzentwurf wohlweislich aus.<br />
GESETZENTWURF FÜR EIN<br />
VOLLSTÄNDIGES VERBOT DER PID<br />
VON BENDER/KOBER<br />
Am 17. Dezember 2010 veröffentlichte<br />
eine weitere Gruppe von Bundestagsabgeordneten,<br />
zu denen Andrea Nahles<br />
(SPD), Johannes Singhammer (CSU),<br />
Rudolf Henke (CDU), Birgitt Bender<br />
(Bündnis 90/DIE GRÜNEN), Kathrin<br />
Vogler (DIE LINKE) und Pascal Kober<br />
(FDP) gehörten, ein Eckpunktepapier mit<br />
Gründen <strong>für</strong> ein umfassendes Verbot der<br />
PID. <strong>Die</strong> Autoren begründeten ihre Initiative<br />
so: »<strong>Die</strong> durch Legalisierung der<br />
PID gesetzlich legitimierte Selektion vor<br />
Beginn der Schwangerschaft würde einen<br />
Paradigmenwechsel darstellen. Eine Gesellschaft,<br />
in der der Staat darüber entscheidet<br />
oder andere darüber entscheiden<br />
14<br />
WWW.SPD-HAGEN.DE<br />
WW.PRISKAHINZ.DE<br />
lässt, welches Leben gelebt werden darf<br />
und welches nicht, verliert ihre Menschlichkeit.<br />
Ein immer weiter um sich greifendes<br />
medizinisches Optimierungsstreben<br />
verletzt und stigmatisiert alle Menschen,<br />
die sich bewusst gegen die Idee<br />
Priska Hinz, Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen<br />
der Machbarkeit entscheiden. Ein gewichtiges<br />
Argument gegen die PID <strong>sind</strong><br />
ferner die internationalen Erfahrungen,<br />
nach denen eine Begrenzung auf Einzelfälle<br />
nicht möglich ist. <strong>Die</strong> hohen gesundheitlichen<br />
Belastungen und die unsicheren<br />
›Erfolgs‹prognosen der PID zeigen,<br />
dass diese die geweckten Hoffnungen<br />
nicht erfüllt.«<br />
Kritisch bewerteten die Abgeordneten<br />
den Vorschlag der PID-Be<strong>für</strong>worter<br />
hinsichtlich einer Begrenzung der medizinischen<br />
Indikation durch einen Katalog:<br />
»Ein solcher Katalog hat Selektionscharakter<br />
und lädt zur Ausweitung auf weitere<br />
Indikationen ein. Auch der Versuch,<br />
die Anwendung der PID auf Fälle erwarteter<br />
Totgeburten oder früher Kindssterblichkeit<br />
zu begrenzen, löst dieses Grundproblem<br />
nicht. Hierdurch würde die Ausnahme<br />
vom gesetzlichen Verbot abhängig<br />
gemacht vom jeweils aktuellen Stand<br />
des medizinischen Fortschritts und damit<br />
weder Rechtssicherheit noch eine die Eltern<br />
befriedende Abgrenzung geschaffen.<br />
Der Vorschlag, die Entscheidung dem<br />
betroffenen Paar und/oder Arzt, ggf. mit<br />
Zustimmung einer Ethikkommission, zu<br />
überlassen, würde faktisch einer kompletten<br />
Freigabe der PID gleichkommen.«<br />
Am 8. Februar 2011 brachte die interfraktionelle<br />
Gruppe um Birgitt Bender<br />
(Bündnis 90/<strong>Die</strong> GRÜNEN), Pascal<br />
Kober (FDP), Dr. Günter Krings (CDU)<br />
und Johannes Singhammer (CSU) einen<br />
entsprechenden Gesetzentwurf ein, der<br />
das vollständige Verbot der PID über eine<br />
Änderung des 2009 verabschiedeten<br />
Gendiagnostikgesetzes (GenDG) erreichen<br />
will. <strong>Die</strong>ses Gesetz soll in seinem<br />
Anwendungsbereich auf den menschlichen<br />
Embryo vor dem Beginn der Schwangerschaft<br />
ausgedehnt werden, indem in § 2<br />
GenDG die Worte »während der Schwangerschaft«<br />
wegfallen. Ferner wird die Embryo-Definition<br />
des Embryonenschutzgesetzes<br />
in das Gendiagnostikgesetz (§ 3<br />
Ziffer 2a GenDG) übernommen und klargestellt,<br />
dass sich die in § 15 erwähnten<br />
genetischen Untersuchungen ausschließlich<br />
auf Embryonen und Föten während<br />
der Schwangerschaft beziehen. In einem<br />
neu geschaffenen § 15a GenDG wird die<br />
PID ausdrücklich verboten. Schließlich<br />
werden die Strafvorschriften in § 25 Abs.<br />
4 GenDG entsprechend erweitert.<br />
<strong>Die</strong> drei Gesetzentwürfe wurden am<br />
15. April 2011 in erster Lesung im Deutschen<br />
Bundestag behandelt. Nach einer<br />
am 25. Mai 2011 durchgeführten Expertenanhörung<br />
soll das Gesetz noch vor der<br />
Sommerpause verabschiedet werden. Derzeit<br />
ist unklar, welcher Entwurf am Ende<br />
die meisten Stimmen auf sich vereinigen<br />
wird, doch dürfte es in jedem Fall<br />
ein hartes Ringen um jene »unentschlossenen«<br />
bzw. biopolitisch nicht engagierten<br />
Abgeordneten geben, die sich bis jetzt<br />
noch nicht entschieden haben.<br />
GESPALTENES MEINUNGSBILD IN DER<br />
FÜHRUNG DER BUNDESÄRZTEKAMMER<br />
Am 27. Dezember 2010 prognostizierte<br />
der im Juni 2011 aus dem Amt geschiedene<br />
langjährige Präsident der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), Prof. Dr. Jörg-<strong>Die</strong>trich<br />
Hoppe, dass sich der am 31. Mai 2011 in<br />
Kiel beginnende 114. Deutsche Ärztetag<br />
<strong>für</strong> die Zulassung der PID »in engen<br />
Grenzen« aussprechen werde. Das 2002<br />
auf dem Ärztetag in Rostock beschlossene<br />
Verbot werde keinen Bestand haben.<br />
Hoppe hielt zudem den Vorschlag der<br />
PID-Be<strong>für</strong>worter im Parlament <strong>für</strong> sinnvoll,<br />
die Diagnostik auf wenige spezialisierte<br />
Zentren zu begrenzen und bei jedem<br />
Fall eine Ethikkommission einzuschalten.<br />
Ein PID-Verbot führe zu einer<br />
»unlogischen Diskrepanz« im Vergleich<br />
zur erlaubten Untersuchung des Kindes<br />
während der Schwangerschaft. »Warum<br />
sollte es untersagt sein, ein[en] Embryo<br />
vor der Einpflanzung in den Mutterleib<br />
auf genetische Schäden zu untersuchen,<br />
wenn gleichzeitig bei einer festgestellten<br />
Behinderung Spätabtreibungen erlaubt<br />
<strong>sind</strong>?«, fragte Hoppe rhetorisch.<br />
<strong>Die</strong>se Aussage des bis dahin in ethischen<br />
Fragen eher als konservativ geltenden<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
dokumentiert, wie stark die Sogwirkung<br />
der Regelungen über die Spätabtreibungen<br />
nach § 218a Absatz 2 StGB inzwischen<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
geworden ist. Das Argument der schiefen<br />
Ebene nach dem Muster »Wenn A<br />
erst einmal erlaubt ist, kann auch B nicht<br />
mehr verboten sein« entfaltet eine suggestive<br />
Kraft, die rational kaum noch zu<br />
durchbrechen ist.<br />
Etwas Hoffnung machte zunächst die<br />
gegenteilige Meinung, die Frank Ulrich<br />
Montgomery, langjähriger Vizepräsident<br />
und seit Juni 2011 neuer Präsident der Bundesärztekammer,<br />
am 10. Dezember 2010<br />
im Deutschen Ärzteblatt artikulierte. Seine<br />
Argumente waren zwar eher pragmatischer<br />
Art, doch eignen sich gerade solche<br />
Ansätze, um diejenigen, die ein noch<br />
schwankendes Urteil haben, von der Sinnhaftigkeit<br />
eines PID-Verbots zu überzeugen.<br />
Montgomery betonte, dass es in Verbindung<br />
mit der PID drei Irrtümer gibt:<br />
1.) <strong>Die</strong> PID liefere immer eine ganz<br />
Birgitt Bender, Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen<br />
WWW.BIGGI-BENDER.DE<br />
RONNY BUCK / WWW.PASCAL-KOBER.NET<br />
klare Diagnose. Das tut sie in sehr vielen<br />
Fällen jedoch nicht. Ganz oft besteht eine<br />
Grauzone, ein Interpretationsspielraum, in<br />
dem meist gegen den Embryo entschieden<br />
wird. 2.) <strong>Die</strong> PID sei eine einfache und<br />
leicht durchzuführende Methode. Auch<br />
das ist sie nicht. <strong>Die</strong> PID setzt eine In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) voraus und ersetzt<br />
im Grunde genommen nur die »Tragik<br />
der Schwangerschaft auf Probe« mit der<br />
Pränataldiagnostik und der Abtreibung.<br />
3.) <strong>Die</strong> Baby-take-home-Rate sei hoch.<br />
In Wirklichkeit aber ist die Erfolgsrate<br />
der PID sogar noch etwas niedriger als<br />
die bei der normalen IVF, die in Deutschland<br />
bei 18 bis 25 Prozent liege. Bei der<br />
PID beträgt sie zwischen 12,5 und 18 Prozent.<br />
Montgomery wörtlich: »Möglicherweise<br />
<strong>sind</strong> Alternativen zum eigenen Kind<br />
denkbar, zum Beispiel eine Adoption. […]<br />
Und: Muss denn der Kinderwunsch eines<br />
Paares um jeden Preis erfüllt werden?«<br />
Dessen ungeachtet haben die Delegierten<br />
des 114. Deutschen Ärztetages in Kiel<br />
am 1. Juni 2011 mit 204 Ja-Stimmen bei<br />
nur 33 Nein-Stimmen und sechs Enthaltungen<br />
ein vom Vorstand der Bundesärztekammer<br />
am 17. Februar 2011 vorgelegtes<br />
Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) verabschiedet. <strong>Die</strong> Delegierten<br />
sprachen sich damit <strong>für</strong> eine »begrenzte<br />
Zulassung« der Selektion des in der Petrischale<br />
künstlich erzeugten Lebens aus.<br />
INTERNATIONALE ERFAHRUNGEN<br />
MIT DER PID UND DAS VOTUM DES<br />
DEUTSCHEN ETHIKRATES<br />
Pascal Kober, FDP<br />
Der Deutsche Ethikrat informierte sich<br />
am 16. Dezember 2010 in einer öffentlichen<br />
Anhörung darüber, wie die PID in<br />
anderen Ländern praktiziert wird und welche<br />
Erfahrungen man damit gemacht hat.<br />
Das beschrieben Emely Jackson von der<br />
Britischen Zulassungsbehörde HFEA, Patrick<br />
Gaudray vom Französischen Ethikrat,<br />
Paul Devroey, ein belgischer PID-Protagonist,<br />
und Luca Gianaroli von der European<br />
Society of Human Reproduction<br />
and Embryology. Obwohl keiner der Referenten<br />
ein Gegner der PID ist, ließ die<br />
Anhörung dennoch viele Fragen offen.<br />
Das Expertenhearing bestätigte nämlich:<br />
1.) <strong>Die</strong> PID geht einher mit hohem<br />
»Embryonenverbrauch« sowie steter Ausweitung<br />
der »Selektion«. Das liegt daran,<br />
dass die Methode nicht allein dazu dient,<br />
Paaren ein gesundes Kind zu bescheren,<br />
sondern vor allem auch die (bisher bescheidenen)<br />
Implantationschancen zu verbessern.<br />
2.) <strong>Die</strong> Liste der Indikationen wird<br />
stetig länger. Klinisch relevant <strong>sind</strong> derzeit<br />
30 bis 40 Tests, darunter so umstrittene<br />
wie die auf einzelne Krebsarten, künftig<br />
möglich etwa 100. 3.) Gesucht wird<br />
nicht nur nach monogenetischen Defekten,<br />
sondern weit mehr noch – 61 Prozent<br />
aller Testungen – nach chromosomalen<br />
Anomalien. 4.) Um den einen einzigen<br />
»tadellosen« Embryo herauszufinden,<br />
der Erfolg versprechend transferiert<br />
werden kann, müssen zuvor viele Embryonen<br />
getestet werden. <strong>Die</strong> Zahl der Embryonen<br />
muss <strong>für</strong> PID weitaus höher sein,<br />
als in Deutschland bisher erlaubt ist, nämlich<br />
sieben und mehr statt drei pro Zyklus.<br />
5.) »Verdächtige« Embryonen werden<br />
vernichtet, »gute« implantiert, »gute«<br />
überschüssige eingefroren und <strong>für</strong> eine<br />
spätere Implantation oder <strong>für</strong> andere<br />
Zwecke aufgehoben. 6.) <strong>Die</strong> PID ersetzt<br />
nicht die PND (Pränataldiagnostik). Vielfach<br />
wird in der Schwangerschaft vorsichtshalber<br />
zusätzlich mit einer PND »nachgetestet«.<br />
In Frankreich zum Beispiel <strong>sind</strong><br />
die Zahlen der Pränataldiagnosen (29.779<br />
im Jahre 2008) und der darauf folgenden<br />
Spätabtreibungen (6.876 im Jahre 2008)<br />
hoch und trotz PID weiter leicht steigend.<br />
Am 8. März 2011 legte der Deutsche<br />
Ethikrat selbst eine 108-seitige Stellungnahme<br />
zur Präimplantationsdiagnostik vor,<br />
die aufgrund ihrer Detailliertheit in biomedizinischer,<br />
juristischer wie moralphilosophischer<br />
Hinsicht erfreulicherweise<br />
allgemeine Beachtung fand. Am Ende der<br />
Stellungnahme entschieden sich unter jeweils<br />
ausführlicher Darlegung ihrer Argumente<br />
13 Mitglieder des Rates <strong>für</strong> eine begrenzte<br />
Zulassung der PID, elf Mitglieder<br />
traten <strong>für</strong> ein Verbot des Verfahrens ein.<br />
RESÜMEE<br />
Der Schutz des menschlichen Embryos<br />
in Deutschland ist in den letzten<br />
zehn Jahren sowohl durch den biomedizinischen<br />
Fortschritt als auch durch flankierende<br />
rechtspolitische Veränderungen<br />
nicht unerheblich geschwächt worden.<br />
Wir befinden uns hier ohne Zweifel auf<br />
einer schiefen Ebene, die nur eine Richtung<br />
zu kennen scheint: Immer mehr Freiheit<br />
<strong>für</strong> die Forscher auf Kosten des Lebensschutzes.<br />
Hier ist höchste Aufmerksamkeit<br />
geboten. Besonnenes, aber entschlossenes<br />
Handeln ist notwendig, denn<br />
die Entscheidung des Deutschen Bundestages<br />
dürfte von einschneidender Bedeutung<br />
<strong>für</strong> die zukünftige Wertschätzung des<br />
menschlichen Lebens sein.<br />
I M P O R T R A I T<br />
Prof. Dr. med. Axel W. Bauer<br />
Professor Dr. med. Axel W. Bauer, geboren<br />
1955, lehrt nach dem Studium der<br />
Medizin in Freiburg,<br />
der Promotion<br />
und Approbation<br />
als Arzt (1980)<br />
und seiner Habilitation<br />
in Heidelberg<br />
(1986) heute<br />
Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin<br />
an der Universität Heidelberg.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 15
T I T E L<br />
Breites Bündnis <strong>für</strong> PID-Verbot<br />
Noch kein anderes bioethisches Streitthema ist in der<br />
Zivilgesellschaft auf eine derart breite und bunte Ablehnung<br />
getroffen wie die Präimplantationsdiagnostik (PID). Das<br />
Besondere: <strong>Die</strong> Koalition der PID-Gegner umfasst selbst Organisationen<br />
und Verbände, die sonst nicht einmal miteinander reden.<br />
Von Matthias Lochner<br />
Ob jung oder alt, politisch links<br />
oder rechts, christlich oder nichtchristlich<br />
– das Bündnis <strong>für</strong> ein<br />
Verbot der Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) wird immer größer und bunter. <strong>Alle</strong><br />
Teile der Zivilgesellschaft <strong>sind</strong> vertreten:<br />
alle Milieus, unterschiedliche Weltanschauungen,<br />
diverse politische Richtungen<br />
und verschiedene gesellschaftliche<br />
Strömungen. Wie nicht anders erwartet,<br />
treten die <strong>Lebensrecht</strong>sgruppen<br />
unisono <strong>für</strong> ein PID-Verbot ein, darunter<br />
etwa der Bundesverband <strong>Lebensrecht</strong><br />
(BVL), die <strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong><br />
e.V. (ALfA), die Christdemokraten <strong>für</strong> das<br />
Leben (CDL) und die Stiftung Ja zum Leben.<br />
<strong>Die</strong> Kirchen lehnen eine Zulassung<br />
der PID ebenfalls ab: ob die Deutsche Bischofskonferenz<br />
(DBK), die Evangelische<br />
Kirche Deutschlands (EKD), die Deutsche<br />
Evangelische Allianz (DEA) oder die<br />
Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche<br />
(SELK) – sie alle haben sich mehrfach<br />
<strong>für</strong> ein PID-Verbot ausgesprochen. Auch<br />
viele den Kirchen nahestehende Verbände<br />
<strong>sind</strong> gegen die Zulassung der PID, darunter<br />
etwa das Zentralkomitee der deutschen<br />
Katholiken (ZdK) oder das Kolpingwerk<br />
Deutschland. Neben den <strong>Lebensrecht</strong>lern<br />
und den Kirchen haben<br />
sich auch viele Vereine, Organisationen<br />
und Verbände gegen die PID ausgesprochen,<br />
bei denen dies nicht unbedingt zu<br />
erwarten war. So haben etwa zahlreiche<br />
Expertinnen, die das Schicksal der Ehepaare<br />
kennen, <strong>für</strong> die eine PID in Frage<br />
kommen soll, ihre Bedenken gegenüber<br />
einer Zulassung der PID geäußert, darunter<br />
der Deutsche Hebammenverband<br />
(DHV), der Arbeitskreis Frauengesundheit<br />
(AKF) oder die Gesellschaft <strong>für</strong> Geburtsvorbereitung<br />
– Familienbildung und<br />
Frauengesundheit – Bundesverband e.V.<br />
Auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe<br />
<strong>für</strong> Menschen mit geistiger Behinderung<br />
e.V. hat mehrfach ihre ablehnende<br />
Haltung gegenüber der PID zum Ausdruck<br />
gebracht.<br />
In der jüngeren Generation stößt die<br />
PID ebenfalls auf Ablehnung: sowohl die<br />
mitgliederstärkste politische Jugendorganisation,<br />
die Junge Union Deutschlands<br />
(JU), als auch der größte Dachverband<br />
katholischer Kinder- und Jugendverbände,<br />
der Bund der Deutschen Katholischen<br />
Jugend (BDKJ), plädieren <strong>für</strong> ein umfassendes<br />
Verbot der PID.<br />
Nicht zuletzt <strong>sind</strong> auch große bekannte<br />
Hilfsorganisationen unter den PID-<br />
Gegnern zu finden: der Malteser Hilfsdienst,<br />
der Deutsche Caritasverband oder<br />
die Von Bodelschwinghschen Stiftungen<br />
Bethel. Schon diese Beispiele zeigen: In<br />
der Zivilgesellschaft wird die PID kritisch<br />
gesehen. Hier gibt es ein breites<br />
und buntes Bündnis von Be<strong>für</strong>wortern<br />
eines PID-Verbotes. Nachfolgend <strong>sind</strong><br />
alle Gruppierungen alphabetisch zusammengetragen,<br />
die sich <strong>für</strong> ein PID-Verbot<br />
ausgesprochen haben.<br />
Alphabetische Liste der Be<strong>für</strong>worter eines PID-Verbotes<br />
• <strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e. V. (ALfA)<br />
• Ärzte <strong>für</strong> das Leben<br />
• Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AGV)<br />
• Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF)<br />
• Autismus Deutschland e.V.<br />
• BioSkop – Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften e.V.<br />
• Bremische Zentralstelle <strong>für</strong> die Verwirklichung der Gleichberechtigung<br />
der Frau<br />
• Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ)<br />
• Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften e.V.<br />
• Bundesverband <strong>Lebensrecht</strong> (BVL)<br />
• Bundesvereinigung Lebenshilfe <strong>für</strong> Menschen mit geistiger Behinderung<br />
e.V.<br />
• Christdemokraten <strong>für</strong> das Leben e. V. (CDL)<br />
• Deutsche Bischofskonferenz (DBK)<br />
• Deutscher Caritasverband<br />
• Deutsche Evangelische Allianz (DEA)<br />
• Deutscher Hebammenverband (DHV)<br />
• Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.<br />
• Durchblick e. V.<br />
• Europäische Ärzteaktion e. V.<br />
• Evangelische Allianz<br />
• Evangelische Kirchen in Deutschland (EKD)<br />
• Familienbund der Katholiken (FDK)<br />
• Gen-ethisches Netzwerk e.V. (GeN)<br />
• Gesellschaft <strong>für</strong> Geburtsvorbereitung – Familienbildung und Frauengesundheit<br />
– Bundesverband e.V.<br />
• Hilfe <strong>für</strong> Mutter und Kind e. V.<br />
• Junge Union Deutschlands (JU)<br />
• Juristen-Vereinigung <strong>Lebensrecht</strong> e. V. (JVL)<br />
• Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung (KKV)<br />
• Kolpingwerk Deutschland<br />
• Kooperative Arbeit Leben Ehr<strong>für</strong>chtig Bewahren e. V. (KALEB)<br />
• Landesverband der Hebammen NRW<br />
• Malteser Hilfsdienst<br />
• Pro Conscientia e. V.<br />
• Pro Vita - Freikirchliche Initiative <strong>für</strong> das Leben<br />
• Pro mundis e. V.<br />
• Rahel e. V.<br />
• Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK)<br />
• Stiftung Ja zum Leben<br />
• Treffen Christlicher <strong>Lebensrecht</strong>-Gruppen e. V. (TCLG)<br />
• Verband der wissenschaftlichen katholischen Studentenvereine<br />
UNITAS (UV)<br />
• Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF)<br />
• Von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel<br />
• Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)<br />
• Zivile Koalition e.V.<br />
16<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
T I T E L<br />
Menschwerdung durch Nidation?<br />
Der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier, dessen Berufung als Richter am Bundesverfassungsgericht<br />
jäh gestoppt wurde, nachdem zahlreiche Organisationen an seinen relativierenden Äußerungen<br />
zum Verbot der Folter Anstoß genommen hatten, behauptet in einem F.A.Z.-Beitrag, das Grundgesetz<br />
schütze menschliche Embryonen erst ab der Einnistung in die Gebärmutter. Für »LebensForum«<br />
weist der Würzburger Medizinrechtler Rainer Beckmann Dreiers Behauptung als »haltlos« zurück.<br />
Von Rainer Beckmann<br />
In der Diskussion über den Status<br />
menschlicher Embryonen wird der<br />
Einnistung des Embryos in die Gebärmutter<br />
(Nidation) besondere Bedeutung<br />
beigemessen. Eine grundrechtliche<br />
Zäsur zu diesem Zeitpunkt wäre äußerst<br />
»praktisch«, da sie verfassungsrechtliche<br />
Einwände gegen den »Verbrauch«<br />
menschlicher Embryonen beseitigen und<br />
dem Gesetzgeber freie Hand z. B. bei der<br />
Regelung der Präimplantationsdiagnostik<br />
geben würde. Genau hierauf zielt offensichtlich<br />
ein Beitrag des Würzburger<br />
Rechtsprofessors Horst Dreier ab, der Ende<br />
Juni in der Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung veröffentlicht worden ist (Ausgabe<br />
v. 22.06.2011, S. 7). Seine zum wiederholten<br />
Mal vorgetragenen Argumente<br />
erweisen sich jedoch als nicht stichhaltig.<br />
Dreier meint, dass die in den ersten<br />
Entwicklungstagen bestehende Möglichkeit<br />
der Mehrlingsbildung den grundrechtlichen<br />
Schutz von Embryonen ausschließe.<br />
Grundrechtsschutz komme nur<br />
einem »Individuum (also etwas Unteilbarem)«<br />
zu. <strong>Die</strong> »Individuation« sei »ungefähr<br />
zeitgleich mit der Nidation ... abgeschlossen«.<br />
<strong>Die</strong> »Teilungsfähigkeit« früher Embryonen<br />
steht aber in keinem Widerspruch<br />
zur Individualität des ungeteilten Embryos.<br />
Der Begriff »Individuum« geht zurück<br />
auf die griechische Naturphilosophie<br />
und bezeichnet den »kleinstmöglichen<br />
Teil einer Substanz, bei deren analytischer<br />
Zertrennung der Charakter dieser Substanz<br />
verloren ginge ...« (H.-B. Wuermeling).<br />
Individualität in diesem Sinn steht<br />
also einem Teilungs-Begriff gegenüber,<br />
der zur Substanzzerstörung führt. Bei lebenden<br />
Organismen gibt es aber zwei gegensätzliche<br />
Arten der »Teilung«: die Zerstörung<br />
des Organismus durch Beschädigung<br />
der Ganzheit und die »Teilung«<br />
im Sinne einer ungeschlechtlichen Vermehrung.<br />
Formalisiert kann man dies so<br />
ausdrücken: bei echter Teilung entsteht<br />
aus X zweimal ½ X, bei Vermehrung entsteht<br />
dagegen aus X zweimal 1 X = 2 X.<br />
Wenn – in seltenen Fällen – am Anfang<br />
der Embryonalentwicklung aus einem<br />
Embryo z. B. zwei Embryonen entstehen,<br />
dann liegt hierin keine Zerteilung<br />
in zwei »halbe« Embryonen, sondern eine<br />
(ungeschlechtliche) Vermehrung in<br />
zwei ganze Embryonen. <strong>Die</strong>se ändert<br />
an der Individualität des Ausgangsembryos<br />
nichts. <strong>Alle</strong> Lebewesen, bei denen<br />
eine Vermehrung durch »Teilung« vorkommt<br />
(insbesondere bei Pflanzen, aber<br />
auch einigen Tierarten), waren auch vor<br />
dem Vermehrungsvorgang einzelne Exemplare<br />
ihrer Spezies, nämlich »Individuen«.<br />
Das Gleiche gilt <strong>für</strong> den menschlichen<br />
Embryo. Auch im Frühstadium<br />
seiner Entwicklung, in der eine ungeschlechtliche<br />
Vermehrung möglich ist,<br />
ist er ein Individuum, ein einzelnes Lebewesen<br />
der Gattung Mensch.<br />
Im Übrigen handelt es sich bei der<br />
Nidation nicht um einen exakt bestimmbaren<br />
Zeitpunkt, sondern um einen sich<br />
über mehrere Tage hinweg erstreckenden<br />
Vorgang, der keine besondere Zäsur oder<br />
etwa einen »qualitativen Sprung« erkennen<br />
lässt. <strong>Die</strong> Einnistung beginnt am 5.<br />
bis 6. Entwicklungstag des Embryos und<br />
ist ungefähr am 12. Tag abgeschlossen.<br />
Während dieses Zeitraums dringt der<br />
Embryo in die Gebärmutterschleimhaut<br />
ein. Obwohl das Embryonalgewebe <strong>für</strong><br />
den mütterlichen Körper immunologisch<br />
»fremd« ist, findet keine Abstoßungsreaktion<br />
statt. <strong>Die</strong> genauen Mechanismen<br />
hier<strong>für</strong> <strong>sind</strong> ungeklärt. Funktionell handelt<br />
es sich bei der Nidation um den Übergang<br />
von der Eigenversorgung zur Fremdversorgung.<br />
Der Kontakt zur Gebärmutterschleimhaut<br />
wird von der äußeren Zellhülle<br />
(»Trophoblast«/«Trophectoderm«)<br />
hergestellt. <strong>Die</strong> Trophoblastzellen heften<br />
sich an die Gebärmutterschleimhaut,<br />
dringen in sie ein und bilden im weiteren<br />
Verlauf zusammen mit mütterlichem<br />
ARCHIV<br />
Horst Dreier<br />
Gewebe die Plazenta. Über die Plazenta<br />
erfolgt die Versorgung des Embryos mit<br />
Nahrung und Sauerstoff bis zur Geburt.<br />
Während des Nidationsvorgangs zeigt<br />
sich keine kategoriale Änderung des Embryos.<br />
<strong>Alle</strong> Prozesse haben ihren Ausgangspunkt<br />
in der Verschmelzung von<br />
Ei- und Samenzelle und gehen kontinuierlich<br />
ineinander über. Von außen erfolgende<br />
»Eingriffe« oder »Wesensänderungen«<br />
<strong>sind</strong> auf biologisch-embryologischer<br />
Ebene nicht ersichtlich.<br />
Um seine These zu untermauern, dass<br />
es sich bei einem menschlichen Embryo<br />
vor der Nidation noch nicht um ein<br />
individuelles Lebewesen der Gattung<br />
»Mensch« handle, bezeichnet Dreier<br />
den Embryo in der »pränidativen Phase«<br />
als »gattungsspezifisches menschliches<br />
Leben«.<br />
Bei näherer Überlegung zeigt sich<br />
freilich, dass diese Bezeichnung <strong>für</strong> den<br />
Embryo unangemessen und daher irreführend<br />
ist. Sie legt die Vorstellung nahe,<br />
dass am Beginn der menschlichen Entwicklung<br />
kein konkreter Mensch als Individuum,<br />
sondern nur »der Art nach«<br />
menschliches Leben, also so etwas wie<br />
ein »Gattungswesen« ohne Individualität<br />
existiere (aus dem dann auf unerklärliche<br />
Weise durch die Nidation<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 17
T I T E L<br />
ein Mensch wird!). In der Natur gibt es<br />
aber keine Gattungswesen, sondern immer<br />
nur einzelne Exemplare einer Gattung.<br />
<strong>Die</strong> Zusammenfassung aller realen<br />
Einzelexemplare etwa des Menschen zur<br />
»Gattung Mensch« ist eine Abstraktion,<br />
ein rein gedanklicher Schritt zur Bildung<br />
von Allgemeinbegriffen (»Mensch« statt<br />
»Hans Huber, Eva Schmitt, Tobias Müller<br />
etc.«). Man kann in der Realität niemals<br />
der »Gattung Mensch« begegnen,<br />
18<br />
DANIEL RENNEN<br />
Macht die Nidation<br />
aus einem Etwas<br />
einen Jemand?<br />
Falls ja, wie?<br />
sondern immer nur einzelnen<br />
Exemplaren dieser<br />
Gattung. <strong>Die</strong> Wahrnehmung<br />
eines abgegrenzten,<br />
artspezifisch menschlichen<br />
Organismus – wie die<br />
des frühen Embryos – bedeutet<br />
daher, dass ein individuelles<br />
Exemplar der<br />
Gattung Mensch existiert.<br />
<strong>Die</strong> Bezeichnung »gattungsspezifisches<br />
menschliches<br />
Leben« könnte allenfalls<br />
in Bezug auf Zellen<br />
berechtigt sein, die dem<br />
menschlichen Körper entnommen wurden<br />
und unter bestimmten Bedingungen<br />
eine Zeit lang funktionsfähig bleiben<br />
können (wie z. B. Blutzellen). <strong>Die</strong>ses<br />
»Leben« ist aber nicht das eines Lebewesens<br />
und deshalb ist die Bezeichnung<br />
»Leben« hier<strong>für</strong> auch irreführend.<br />
Dem Menschen entnommenes Gewebe<br />
ist nicht identisch mit einem Lebewesen<br />
der Gattung Mensch. Aus Blutoder<br />
anderen Zellen (einschließlich einzelner<br />
Ei- oder Samenzellen) kann sich<br />
auch unter günstigsten Bedingungen kein<br />
ausgewachsenes Exemplar der Gattung<br />
Mensch entwickeln. Ganz anders sieht<br />
es mit dem Embryo aus. Seine Entwicklung<br />
führt (unter geeigneten äußeren Bedingungen)<br />
sehr wohl zu späteren Entwicklungsformen,<br />
denen zweifellos der<br />
Status »Mensch« zukommt. Wir haben<br />
es daher beim Embryo mit einem Lebewesen<br />
der Art Mensch zu tun und nicht<br />
nur mit »gattungspezifischem menschlichem<br />
Leben«.<br />
Als weiteres Argument <strong>für</strong> eine statusändernde<br />
Bedeutung der Nidation führt<br />
Dreier an, dass nur jeder dritten befruchteten<br />
Eizelle die Einnistung in die Gebärmutter<br />
gelinge. Unterstellt man dies<br />
als zutreffend – obwohl hierzu kaum belastbares<br />
Zahlenmaterial vorliegt –, bleibt<br />
doch schleierhaft, welche Schlüsse hieraus<br />
gezogen werden können. Soll etwa der<br />
»verschwenderische Umgang« der Natur<br />
mit menschlichen Embryonen als Begründung<br />
<strong>für</strong> ihre Rechtlosstellung und<br />
Vernichtung dienen? Ein solcher Schluss<br />
von Naturereignissen auf menschliches<br />
Handeln wäre verfehlt. Wird ein Mensch<br />
von einem Dachziegel erschlagen, den ein<br />
Windstoß vom Dach gefegt hat, dann ist<br />
das nicht dasselbe, wie wenn der Ziegel<br />
von einem Menschen gezielt herabgeworfen<br />
wurde. Der Ziegel-Werfer wird<br />
sich vor Gericht nicht damit rechtfertigen<br />
können, er habe doch nur das getan,<br />
was die Natur auch »macht«.<br />
An der grundsätzlichen Unterscheidung<br />
zwischen Naturereignissen und<br />
menschlichem Verhalten ändert auch<br />
die Höhe der Verlustquote von Embryonen<br />
vor der Nidation nichts. Würde<br />
man den Beobachtungszeitraum nur genügend<br />
verlängern, könnte man <strong>für</strong> den<br />
Menschen sogar eine hundertprozentige<br />
Todesrate feststellen. Ein Recht, Menschen<br />
umzubringen, oder die Annahme,<br />
Menschen seien deshalb nicht schutzwürdig,<br />
kann daraus nicht abgeleitet werden.<br />
Der Umstand, dass Lebewesen der Gattung<br />
Mensch bereits sehr früh und häufig<br />
sterben, macht den Embryonaltod nicht<br />
bedeutsamer als die unumstößliche Tatsache,<br />
dass Menschen früher oder später<br />
überhaupt sterben müssen.<br />
Besonders merkwürdig <strong>sind</strong> die Erörterungen<br />
Dreiers zum sogenannten »Sandhaufenparadoxon«.<br />
<strong>Die</strong>ses illustriere – so<br />
Dreier – unsere Fähigkeit, »qualitativ unterschiedliche<br />
Zustände zu unterscheiden«<br />
und wertend bestimmte Zäsuren<br />
vorzunehmen, »obwohl wir den exakten<br />
Zeitpunkt des Übergangs von einem Zustand<br />
zu einem anderen nicht benennen<br />
können«. Welches einzelne Sandkorn eine<br />
Ansammlung von Körnern zu einem<br />
Haufen werden lasse, könne man nicht<br />
sagen. »Und doch können wir«, so Dreier,<br />
»einen Sandhaufen sehr wohl von einer<br />
Ansammlung von drei Sandkörnern<br />
unterscheiden – wie wir einen Achtzeller<br />
von einem Fötus in der 24. Schwangerschaftswoche<br />
unterscheiden können.«<br />
Durch diese Überlegungen will Dreier<br />
offenbar Verständnis da<strong>für</strong> wecken, die<br />
Nidation als rechtlich bedeutsame Zäsur<br />
auch dann anzuerkennen, wenn es hier<strong>für</strong><br />
entwicklungsbiologisch keine konkreten<br />
Ansatzpunkte gibt.<br />
<strong>Die</strong> Überlegungen Dreiers <strong>sind</strong> jedoch<br />
von vornherein unbrauchbar. Der Fehler<br />
seines Gedankengangs liegt schon in<br />
der Prämisse, durch ein Anhäufen von<br />
Sandkörnern könne nach und nach ein<br />
»qualitativ« (!) anderer Zustand herbeigeführt<br />
werden. Offensichtlich geht es<br />
hier allein um eine quantitative Veränderung.<br />
Egal, ob man nun drei Körner,<br />
drei Schaufeln oder drei Lastwagenladungen<br />
Sand als »Sandhaufen« bezeichnet –<br />
es bleibt in jedem Fall Sand. In gleicher<br />
Weise bleibt die Eigenart eines Lebewesens<br />
während seiner Entwicklung gleich,<br />
auch wenn die Anzahl der Zellen, aus denen<br />
es besteht, zunimmt. So, wie das Baby<br />
sicherlich genauso ein Menschenkind ist<br />
wie ein Schulkind, ein Erwachsener oder<br />
ein Greis, so ist auch der neun Monate<br />
alte Embryo genauso von menschlicher<br />
Natur wie der drei Monate oder der nur<br />
wenige Tage alte Embryo. Das gilt ganz<br />
abgesehen davon, dass der Mensch nicht<br />
bloß eine Anhäufung von »Biomasse« darstellt,<br />
sondern eine immaterielle Dimension<br />
hat, die weder an seiner Größe noch<br />
seinem Gewicht abzulesen ist.<br />
Dreiers Ausführungen erweisen sich<br />
insgesamt als haltlos, auch wenn er sie<br />
an prominenter Stelle publizieren konnte.<br />
Sie lassen vor allem jegliche Begründung<br />
da<strong>für</strong> vermissen, wie aus einem<br />
nicht-menschlichen »Etwas« durch die<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
Aus Sand wird nie etwas anderes als Sand, egal wie viele Körner als Sandhaufen gelten.<br />
Einnistung in die Gebärmutter plötzlich<br />
ein »Jemand« werden soll, der von diesem<br />
Zeitpunkt an Grundrechtsschutz genießt.<br />
<strong>Die</strong>ses Manko trifft man leider bei allen<br />
Autoren, die der Nidation maßgebliche<br />
Bedeutung <strong>für</strong> die »Menschwerdung«<br />
beimessen. <strong>Alle</strong> Schritte der vorgeburtlichen<br />
Entwicklung haben sicherlich ihre<br />
je eigene Bedeutung <strong>für</strong> das Wachsen<br />
und Gedeihen des Menschen. <strong>Die</strong> Nidation<br />
führt aber nicht zu einer qualitativen<br />
Wesensverwandlung des Embryos<br />
während der Schwangerschaft.<br />
<strong>Alle</strong> Erkenntnisse der Embryologie<br />
sprechen eindeutig da<strong>für</strong>, im menschlichen<br />
Embryo eine frühe Entwicklungsform<br />
des Menschen zu sehen. Völlig<br />
zu Recht ging auch das Bundesverfassungsgericht<br />
in seinen Entscheidungen<br />
zum Abtreibungsstrafrecht davon aus,<br />
dass »die von Anfang an im menschlichen<br />
Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten<br />
genügen, um die Menschenwürde<br />
zu begründen« (BVerfGE 39, S.<br />
41). <strong>Die</strong> Würde des Menschseins liege<br />
auch <strong>für</strong> das ungeborene Leben im Dasein<br />
um seiner selbst willen; es verbiete<br />
sich daher »jegliche Differenzierung der<br />
Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter<br />
und Entwicklungsstand dieses Lebens«<br />
(BVerfGE 88, S. 267).<br />
Dem menschlichen Embryo in vitro<br />
kommt daher der gleiche Rechtsstatus<br />
und Schutzanspruch zu wie Menschen,<br />
deren Entwicklung bereits weiter fortgeschritten<br />
ist. Eine Ungleichbehandlung<br />
in Bezug auf sein Existenzrecht ist rational<br />
nicht zu begründen. Warum sollten<br />
das Alter und der damit einhergehende<br />
Entwicklungsstand eines Menschen seinen<br />
grundrechtlichen Status beeinflussen?<br />
Ein am Entwicklungsstand ausgerichteter<br />
Schutz des Menschen, wie ihn<br />
Horst Dreier auch sonst in seinen juristischen<br />
Schriften vertritt, wäre geradezu<br />
absurd. Neugeborene müssten dann<br />
einen geringeren Schutz genießen als<br />
Schulkinder und Schulkinder geringeren<br />
Schutz als Erwachsene. <strong>Die</strong> biologische<br />
Entwicklung des Menschen ist ein Kontinuum,<br />
wobei sich die äußere Erscheinungsform,<br />
die körperliche und die geistige<br />
Leistungsfähigkeit ständig – mehr<br />
oder weniger schnell – verändern, sowohl<br />
vor als auch nach der Geburt. Hieran<br />
unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe<br />
zu knüpfen, wäre willkürlich.<br />
I M P O R T R A I T<br />
Rainer Beckmann<br />
Der Autor, Jahrgang 1961, ist Richter am<br />
Amtsgericht Würzburg und Lehrbeauftragter<br />
<strong>für</strong> Medizinrecht an der Medizinischen<br />
Fakultät<br />
Mannheim der<br />
Universität Heidelberg<br />
sowie Dozent<br />
an der Palliativakademie<br />
Würzburg.<br />
Der Stellvertretende<br />
Vorsitzende der »Juristen-Vereinigung<br />
<strong>Lebensrecht</strong> e. V.« und Chefredakteur<br />
der »Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Lebensrecht</strong>« gehörte<br />
als Sachverständiger den beiden<br />
bioethischen Enquete-Kommissionen<br />
des Deutschen Bundestags »Recht und<br />
Ethik der modernen Medizin« (2000 -<br />
2002) und »Ethik und Recht der modernen<br />
Medizin« (2003-2005) an. Rainer<br />
Beckmann ist verheiratet und Vater von<br />
vier Kindern.<br />
GABI SCHOENEMANN / PIXELIO.DE<br />
++ Bioethik-Splitter<br />
Montgomery warnt vor PID-Ausweitung<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Frank Ulrich Montgomery, hat unmittelbar<br />
nach der Abstimmung im Deutschen<br />
Bundestag über die Zulassung der<br />
Präimplantationsdiagnostik (PID) erklärt,<br />
die Ärzteschaft wolle »auf jeden Fall verhindern,<br />
dass die PID zu einem Routineverfahren<br />
der In-vitro-Fertilisation wird«.<br />
In einem Interview mit der Zeitung »Das<br />
Parlament« sagte der Hamburger Radiologe,<br />
die Indikationen, bei denen die PID<br />
zur Anwendung kommen sollten, müssten<br />
»klar begrenzt« werden. Außerdem müssten<br />
die betroffenen<br />
Paare »objektiv,<br />
unabhängig<br />
und sehr intensiv<br />
beraten werden«,<br />
»auch und gerade<br />
über das mühevolle<br />
und schwierige<br />
Procedere einer<br />
In-vitro-Fertilisation«.<br />
Aufgrund<br />
der vorausgehenden<br />
Hormonstimulation<br />
und der<br />
operativen Entnahme<br />
der Eizellen<br />
sei die In-vitro-Fertilisation<br />
ARCHIV<br />
Montgomery<br />
»alles andere als ein einfacher Eingriff«.<br />
Oft würden auch die »Erwartungen zu<br />
hoch gesteckt«. »Selbst die besten Kinderwunschzentren<br />
kommen nicht über eine<br />
Erfolgsquote von 25 Prozent«, so Montgomery<br />
weiter.<br />
Auf die Frage, wie er im Bundestag<br />
abgestimmt hätte, erklärte der Bundesärztekammerpräsident:<br />
»Persönlich hätte<br />
ich den Gesetzentwurf <strong>für</strong> ein PID-Verbot<br />
unterstützt.« In der PID sei »immer<br />
auch ein Ansatz zur Selektion menschlichen<br />
Lebens angelegt«. Eine solche lehne<br />
er ab. Gleichwohl müsse er anerkennen,<br />
»dass der Damm an anderer Stelle schon<br />
gebrochen ist«. <strong>Die</strong> Pränataldiagnostik sei<br />
»längst Standard« und führe »zur Abtreibung<br />
lebensfähiger Föten«. Er sehe auch<br />
aber »bei Gentests an künstlich erzeugten<br />
Embryonen die große Gefahr, dass am Ende<br />
alles gemacht werden könnte, was medizin-technisch<br />
möglich ist«. Montgomery:<br />
»Wir leben in einer Welt der Salami-Ethik,<br />
wo Stückchen <strong>für</strong> Stückchen abgeschnitten<br />
wird.«<br />
reh<br />
Bioethik-Splitter ++<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 19
A U S L A N D<br />
Nicht ohne meinen Suizidbegleiter<br />
In der Schweiz soll alles so bleiben, wie es ist. Eine erstaunlich große Mehrheit der Bürger des Kantons<br />
Zürich vereitelte bei einem Referendum Mitte Mai gleich zwei Initiativen, die wegweisende Änderungen<br />
auf dem Feld der gewerblichen Suizidbeihilfe herbeiführen wollten.<br />
Von Stefan Rehder<br />
20<br />
<strong>Die</strong> Schweizer wollen den käuflichen<br />
Tod offenbar nicht missen.<br />
Jedenfalls nicht mehrheitlich.<br />
Obwohl Schweizer Sterbehilfeorganisationen<br />
wie Dignitas und Exit in<br />
der Vergangenheit mit den von ihnen<br />
gegen Entgelt begleiteten Suiziden immer<br />
wieder <strong>für</strong> skandalöse Schlagzeilen<br />
gesorgt haben, fielen bei einer Volksabstimmung<br />
im Kanton Zürich gleich beide<br />
Vorlagen durch, mit denen die Eidgenössisch-Demokratische<br />
Union (EDU) und<br />
die Evangelische Volkspartei (EVP) eine<br />
Änderung der geltenden Praxis erreichen<br />
wollten. Und das in einer Deutlichkeit,<br />
die Gegner wie Be<strong>für</strong>worter gleichermaßen<br />
überrascht.<br />
Selbst <strong>für</strong> die Initiative »Nein zum<br />
Sterbetourismus im Kanton Zürich«<br />
stimmten am 15. Mai lediglich rund 60.000<br />
Wahlberechtigte (21,6 %). Rund 218.600<br />
(78,4 %) lehnten die Vorlage ab, mit der<br />
EDU und EVP die käufliche Suizidbegleitung<br />
auf Personen beschränken wollten,<br />
die mindestens seit einem Jahr im<br />
Kanton wohnen. Dabei hatten die Initiatoren<br />
ihre Vorlage gut begründet und<br />
angeführt, dass der »Sterbetourismus«<br />
dem Kanton einen »erheblichen Imageschaden«<br />
beschere, da er die Gesetze<br />
derjenigen Nachbarstaaten unterlaufe,<br />
in denen die Beihilfe zum Suizid – so<br />
etwa in Österreich – verboten ist. Nicht<br />
einmal das Argument, dass jeder Suizid<br />
den Schweizer Steuerzahler teuer zu stehen<br />
komme, verfing. Obwohl der Suizidwillige<br />
der ihn begleitenden Organisation<br />
»in der Regel viele tausend Franken<br />
<strong>für</strong> ihre sogenannte <strong>Die</strong>nstleistung« zahle,<br />
müssten die Steuerzahler <strong>für</strong> »die Folgekosten<br />
<strong>für</strong> Justiz und Rechtsmedizin«<br />
aufkommen. Pro Suizid seien dies »zwischen<br />
3.000 und 5.000 Franken«, hieß<br />
es in der Vorlage. Das <strong>sind</strong> umgerechnet<br />
rund 2.400 bis 4.000 Euro pro Fall.<br />
Noch gewaltiger war die Ablehnung<br />
des Versuchs, die kommerzielle Suizidbeihilfe<br />
ganz zu verbieten. Für die Initiative<br />
»Stopp der Suizidhilfe«, mit der die<br />
Bürger des Kantons Zürichs nach dem<br />
Willen von EDU und EVP den Bund<br />
beauftragen sollten, eine Gesetzesänderung<br />
auf den Weg zu bringen, die »jede<br />
Art von Verleitung oder Beihilfe zum<br />
Selbstmord« verbietet und unter Strafe<br />
stellt, stimmten nur noch rund 43.000<br />
Wahlberechtigte (15,5 %). Rund 235.000<br />
Bürger (84,5 %) lehnten das Ansinnen ab.<br />
In der Schweiz ist Beihilfe zum Suizid<br />
laut Artikel 115 des Strafgesetzbuches nur<br />
dann strafbar, wenn sie aufgrund »selbstsüchtiger<br />
Motive« geleistet wird. Was als<br />
»selbstsüchtig« betrachtet werden muss,<br />
gilt als umstritten. Dass Menschen Geld<br />
da<strong>für</strong> verlangen, dass sie anderen einen<br />
begleiteten Suizid ermöglichen, gilt prinzipiell<br />
bislang nicht als strafwürdig.<br />
Interessante Erkenntnisse liefert auch<br />
ein Blick auf die Wahlbeteiligung. Zwar<br />
lag diese bei beiden Vorlagen nur bei rund<br />
33,6 Prozent. Doch stießen bei den zur<br />
Wahl Gegangenen die beiden Volksinitiativen<br />
zur Suizidbeihilfe auf besonders<br />
hohes Interesse. Bei den insgesamt 14<br />
Vorlagen, über die die Bürger des Kantons<br />
Zürich am 15. Mai abstimmen konnten,<br />
war mit 34,5 Prozent die Wahlbeteiligung<br />
einzig und allein bei der »Volksinitiative<br />
»Ja zur Mundart im Kindergarten«<br />
höher. Bei diversen Vorlagen zum<br />
Steuergesetz lag die Wahlbeteiligung sogar<br />
unter 32 Prozent.<br />
»Wir haben mit einer Ablehnung gerechnet«,<br />
doch liege »die Zahl der Nein-<br />
Stimmen deutlich über unseren Erwartungen«,<br />
zitierte denn auch die Neue<br />
Züricher Zeitung (NZZ) EDU-Präsi-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
D O K U M E N T AT I O N<br />
denten Peter Meier. EVP-Präsident Johannes<br />
Zollinger sprach gegenüber derselben<br />
Zeitung gar von einem »fatalen Signal«.<br />
Wenn der Griff zum Giftbecher<br />
normal werde, steige der Druck auf pflegebedürftige<br />
Menschen.<br />
<strong>Die</strong> Sterbehilfeorganisation Exit hat<br />
damit längst begonnen. Auf ihrer Jahresversammlung<br />
Anfang Mai ergänzte<br />
die Organisation, die eigenen Angaben<br />
zufolge mittlerweile 50.000 Mitglieder<br />
zählt, ihre Statuten um den Satz: »Exit<br />
setzt sich da<strong>für</strong> ein, dass betagte Menschen<br />
einen erleichterten Zugang zu Sterbemitteln<br />
haben sollen.« In der Vergangenheit<br />
war die Suizidbeihilfe von Dignitas<br />
und Exit vor allem damit gerechtfertigt<br />
worden, es gehe darum, todkranken<br />
und schwer leidenden Menschen einen<br />
»würdigen Tod« zu ermöglichen. Wer<br />
dagegen argumentierte, die sogenannten<br />
Sterbewilligen wollten in der Regel<br />
gar nicht sterben, sondern bloß anders<br />
leben, oder auch nur vor der Gefahr des<br />
Missbrauchs warnte, stand schnell im Verdacht,<br />
mitleids- oder gar herzlos zu sein.<br />
Inzwischen prägen jedoch vornehmlich<br />
Begriffe wie »Selbstbestimmung« und<br />
»Autonomie« die Stellungnahmen beider<br />
Organisationen.<br />
Der Ausgang des Referendums im Kanton<br />
Zürich dürfte auch Bewegung in die<br />
Debatte um eine Änderung der Bundesgesetzgebung<br />
bringen. Im Herbst 2009 hatte<br />
der Bundesrat, so heißt in der Schweiz<br />
die Regierung, einen Gesetzentwurf mit<br />
zwei Varianten auf den Weg gebracht,<br />
die beide geeignet schienen, dem Geschäft<br />
mit dem fremden Tod den Boden<br />
zu entziehen. <strong>Die</strong> damalige Justizministerin<br />
Eveline Widmer-Schlumpf von der<br />
Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP)<br />
galt als Gegnerin der Suizidbeihilfe, wie<br />
sie in der Schweiz praktiziert wird. Ihre<br />
Nachfolgerin Simonetta Sommaruga<br />
von der Sozialdemokratischen Partei der<br />
Schweiz gilt hingegen als deutlich liberaler.<br />
Da der Gesetzentwurf zudem schon<br />
unter Widmer-Schlumpf »referendumssicher«<br />
gemacht werden sollte und im<br />
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens bereits<br />
deutlich Federn lassen musste, haben<br />
die Gegner der Suizidbeihilfe kaum<br />
noch Hoffnung auf den »großen Wurf«,<br />
der eine kommerzielle Suizidbeihilfe wirksam<br />
verbieten könnte.<br />
Beobachter rechnen vielmehr damit,<br />
dass Sommaruga demnächst einen Entwurf<br />
vorstellen wird, der ein »Maßnahmenpaket«<br />
enthält, das den Sterbehilfeorganisationen<br />
einerseits einige neue<br />
Auflagen bescheren, andererseits aber<br />
auch einige Hindernisse aus dem Weg<br />
räumen wird.<br />
Guck’ mal,<br />
wer da schreibt!<br />
Anfang Juli hat der Bundesvorstand der Senioren-Union der<br />
CDU Deutschlands ein Papier mit dem Titel »Manifest Kultur<br />
des Lebens« beschlossen. »LebensForum« dokumentiert<br />
in Auszügen das beeindruckende Manifest, das auf Anhieb die uneingeschränkte<br />
Unterstützung der Jungen Union (JU) fand und<br />
sich teilweise an die eigene Partei wendet.<br />
(...) <strong>Die</strong> CDU ist diejenige Partei in<br />
Deutschland, die sich klar und deutlich<br />
zum Christentum, zur Würde des Menschen<br />
und damit zu einer humanen Gesellschaft<br />
bekennt und <strong>für</strong> sie eintritt. In<br />
ihrem Grundsatzprogramm hat die CDU<br />
festgehalten, »dass unsere Politik auf dem<br />
christlichen Verständnis vom Menschen<br />
und seiner Verantwortung vor Gott beruht«.<br />
Aber: Das Grundsatzprogramm<br />
ist das eine, politisches Alltagshandeln<br />
das andere. Entscheidend ist letztendlich,<br />
wie CDU-Politik konkret im politischen<br />
Alltag gelebt und ob die CDU in ihrem<br />
Handeln von ihren Grundprinzipien und<br />
Werten getragen wird. (...)<br />
Mit dem christlichen Menschenbild einher geht<br />
die Idee einer unverlierbaren Menschenwürde<br />
Wir Christdemokraten müssen <strong>für</strong><br />
das christliche Menschenbild einstehen,<br />
immer und zu jeder Zeit. Das christliche<br />
Menschenbild, das in jedem Menschen<br />
ein Ebenbild Gottes sieht, zeichnet aus,<br />
dass es uns – unabhängig von unseren Talenten<br />
und Leistungen – zu gegenseitiger<br />
Anerkennung und Achtung verpflichtet.<br />
In einer pluralistischen Gesellschaft,<br />
die um den Ausgleich individueller Interessen<br />
ringen muss, kann das christliche<br />
Menschenbild daher nicht hoch genug<br />
geschätzt werden. Denn in dem es jeden<br />
Menschen als um »seiner willen gewollt«<br />
und als »Zweck an sich selbst« betrachtet,<br />
schafft es gewissermaßen erst die Voraussetzung<br />
da<strong>für</strong>, dass der Ausgleich widerstreitender<br />
Interessen in einem Mit-<br />
statt in einem Gegeneinander erfolgen<br />
kann. Mit dem christlichen Menschenbild<br />
einher geht die Idee von einer unverlierbaren<br />
Würde. <strong>Die</strong>se Würde kommt<br />
jedem Menschen zu, unabhängig davon,<br />
wie er entstanden ist, in welchem Entwicklungsstadium<br />
er ist und in welcher<br />
körperlichen oder geistigen Verfassung<br />
er sich befindet.<br />
In einer individualistisch geprägten<br />
Gesellschaft wirken das christliche Menschenbild<br />
und der aus ihm resultierende<br />
Würdegedanke also geradezu gemeinschaftsfördernd<br />
und -stabilisierend. Spitzenakteure<br />
der CDU sprechen gerne davon,<br />
dass die Kernideen und Werte unserer<br />
Partei immer wieder<br />
in die neue Zeit »übersetzt«<br />
werden müssen. Dem stimmen<br />
wir mit einer Ausnahme<br />
zu: das christliche Menschenbild<br />
ist zeitlos und davon ausgenommen.<br />
Auch wenn wir<br />
angesichts neuer technischer<br />
Möglichkeiten vor neuen Herausforderungen<br />
stehen, heißt das noch lange nicht,<br />
dass man deshalb seine ethischen Fundamente<br />
schleifen muss.<br />
Für die Senioren-Union gilt: <strong>Die</strong> Feststellung,<br />
dass in bioethischen Fragen Gott<br />
und die Ebenbildlichkeit des Menschen<br />
der letzte Maßstab bleiben müssen, hat<br />
nichts an Aktualität und Relevanz eingebüßt.<br />
Bei der CDU aber scheint dies<br />
leider nicht mehr uneingeschränkt der<br />
Fall zu sein. <strong>Die</strong> Senioren-Union fordert<br />
die CDU deshalb auf, sich aktiv <strong>für</strong> eine<br />
»Kultur des Lebens« einzusetzen und<br />
entsprechend konsequent – am »C« orientiert<br />
– politisch zu handeln. Folgende<br />
Themen <strong>sind</strong> der Senioren-Union dabei<br />
besonders wichtig:<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 21
D O K U M E N T AT I O N<br />
Präimplantationsdiagnostik (PID)<br />
Im Grundsatzprogramm hat die CDU<br />
festgelegt: »Wir treten <strong>für</strong> ein Verbot der<br />
Präimplantationsdiagnostik (PID) ein.«<br />
Darüber hinaus hat der CDU-Bundesparteitag<br />
in Karlsruhe im letzten Jahr mit<br />
knapper Mehrheit <strong>für</strong> ein Verbot der PID<br />
gestimmt. Vor diesem Hintergrund ist die<br />
Senioren-Union der CDU Deutschland<br />
darüber enttäuscht, dass die CDU/CSU-<br />
Bundestagsfraktion sich trotzdem nicht<br />
<strong>für</strong> ein Verbot entschieden hat.<br />
Wir fragen uns in diesem Zusammenhang:<br />
Was ist der Sinn eines Grundsatzprogramms,<br />
wenn inhaltliche Eckpfeiler<br />
und Leitplanken der CDU und Bundesparteitagsbeschlüsse<br />
im politischen Tagesgeschäft<br />
nichts mehr zählen? Es darf<br />
nicht sein, dass unser christlicher Kompass<br />
– unser <strong>Alle</strong>instellungsmerkmal unter<br />
den demokratischen Parteien – über Bord<br />
geworfen wird. Das beschädigt nicht nur<br />
»<strong>Die</strong> PID besitzt eine wesenhafte<br />
Tendenz zur Ausweitung.«<br />
die Glaubwürdigkeit der CDU, sondern<br />
schwächt auch das Vertrauen der Menschen<br />
und der Kirchen in das »C« in unserem<br />
Namen in ganz erheblicher Weise.<br />
Deshalb fordert die Senioren-Union<br />
die CDU Deutschlands die CDU/CSU-<br />
Bundestagsfraktion dazu auf, <strong>für</strong> den Gesetzesentwurf<br />
»Krings et al.« (Drucksache<br />
17/5450) zu stimmen, der ein umfassendes<br />
Verbot der PID vorsieht, weil<br />
dieser der Grundsatzhaltung der CDU<br />
entspricht.<br />
Wir verharmlosen weder das Leid, das<br />
die Behinderung eines Kindes <strong>für</strong> die betroffenen<br />
Eltern bedeuten kann, noch achten<br />
wir den natürlichen Wunsch von Eltern<br />
nach gesunden Kindern gering, wenn wir<br />
festhalten: Sollte die PID – wie begrenzt<br />
auch immer – in Deutschland zugelassen<br />
werden, stünde unsere Gesellschaft vor<br />
einem echten Paradigmenwechsel. Denn<br />
dann gäbe es erstmals Kinder, die nicht um<br />
ihrer selbst willen gewollt werden, sondern<br />
lediglich unter der Einschränkung,<br />
dass ihnen Eigenschaften fehlen, die ihren<br />
Eltern Sorgen bereiten.<br />
Wir verstehen, dass <strong>für</strong> Eltern, die sich<br />
mit der Frage beschäftigen, ob eine PID<br />
zu rechtfertigen ist, oft andere Aspekte<br />
als die faktische Selektion von Embryonen<br />
mit unerwünschten Merkmalen im<br />
Vordergrund stehen. Auch ihnen gilt ein<br />
besonderes Gespräch.<br />
22<br />
Otto Wulff, CDU<br />
Da Leid nicht objektivierbar ist, besitzt<br />
die PID als Instrument zur Leidvermeidung<br />
auch eine wesenhafte Tendenz<br />
zur Ausweitung. Im Ausland wird die<br />
PID daher nicht nur bereits zur Selektion<br />
von Embryonen eingesetzt, die lediglich<br />
ein erhöhtes Risiko besitzen, im Erwachsenalter<br />
an so genannten spätmanifestierenden<br />
Krankheiten zu erkranken,<br />
sondern – etwa in den USA – auch bereits<br />
zur Wahl des Geschlechts.<br />
Eine solche Entwicklung muss der<br />
Gesetzgeber verhindern. In einer zunehmend<br />
ökonomisierten Gesellschaft, in<br />
der tragende Werte ins Schwanken geraten<br />
und durch das ersetzt werden, was<br />
gerade gefällt und opportun ist, reicht<br />
es nicht mehr aus, auf eine Selbstdisziplinierung<br />
von Ärzten und Eltern zu setzen.<br />
<strong>Die</strong>s überfordert nicht nur die Beteiligten,<br />
sondern widerspricht auch jeder<br />
Lebenserfahrung.<br />
Stammzellforschung<br />
Unvereinbar mit dem christlichen<br />
Menschenbild und der Würde, die jedem<br />
Menschen zukommt, ist auch die<br />
Forschung mit menschlichen embryonalen<br />
Stammzellen. <strong>Die</strong>se werden überwiegend<br />
aus Embryonen gewonnen, die <strong>für</strong><br />
eine künstliche Befruchtung nicht mehr<br />
in Frage kommen. Für die Gewinnung<br />
der Stammzellen müssen die Embryonen<br />
getötet werden.<br />
Wissenschaftler erhoffen sich von dieser<br />
Forschung wichtige Erkenntnis <strong>für</strong><br />
WWW.SENIORENUNION-HERSCHEID.DE<br />
die Heilung von Krankheiten, die heute<br />
als unheilbar gelten. Bislang hat diese<br />
Hoffnung jedoch noch keine ernstzunehmende<br />
Bestätigung gefunden. Stattdessen<br />
werden menschliche embryonale<br />
Stammzellen inzwischen als kostengünstige<br />
Alternative zu Tierversuchen<br />
betrachtet, an denen sich neuartige Medikamente<br />
und chemische Substanzen<br />
auf gefährliche Wirkungen <strong>für</strong> den Menschen<br />
testen lassen.<br />
Angesichts solcher Szenarien gilt <strong>für</strong><br />
die Senioren-Union: Wer dauerhaft den<br />
Schutz menschlichen Lebens aufrechterhalten<br />
will, der muss mit Nachdruck<br />
auch an der Entwicklung und dem Ausbau<br />
ethisch unbedenklicher Alternativen<br />
arbeiten, wie z.B. der Forschung mit adulten<br />
Stammzellen.<br />
Adulte Stammzellen, die jeder Mensch<br />
besitzt, können ohne Schädigung des Organismus,<br />
entnommen und im Labor kultiviert<br />
werden. Anders als mit embryonalen<br />
Stammzellen konnten mit ihnen auch<br />
bereits eine ganze Reihe von Heilungserfolgen<br />
erzielt werden.<br />
Unser Ziel muss es daher sein, die<br />
technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
<strong>für</strong> eine ethisch unumstrittene<br />
Forschung zu verbessern,<br />
nicht ethisch umstrittene Forschung zu<br />
fördern. Leider ist dazu im Koalitionsvertrag<br />
zwischen und Union und FDP<br />
im Bund nichts aufgeführt. <strong>Die</strong> im Koalitionsvertrag<br />
angekündigte Prüfung<br />
der Einrichtung einer Dialogplattform<br />
»Deutsches Stammzellnetzwerk« muss<br />
endlich umgesetzt werden, und zwar mit<br />
einem Schwerpunkt im Bereich der adulten<br />
Stammzellen. <strong>Die</strong> Senioren-Union<br />
wird dazu einen Antrag an den nächsten<br />
CDU-Bundesparteitag richten.<br />
Tötung noch nicht geborener Kinder<br />
<strong>Die</strong> Senioren-Union lehnt Abtreibung<br />
und damit die Tötung noch nicht geborener,<br />
wehrloser Kinder grundsätzlich ab.<br />
Auch ihnen kommt jene Würde zu, die<br />
in unserer Rechtsordnung den Staat verpflichtet,<br />
sich schützend vor sie zu stellen.<br />
Auch hier fühlen wir uns dem »C«<br />
»<strong>Die</strong> Senioren-Union lehnt<br />
Abtreibung grundsätzlich ab.«<br />
in der CDU in besonderer Weise verpflichtet.<br />
<strong>Die</strong> CDU dagegen ist in dieser<br />
Frage leider nicht mehr konsequent.<br />
In ihrem Grundsatzprogramm hat die<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
CDU zur Tötung noch nicht geborener<br />
Kinder folgendermaßen Stellung genommen:<br />
»Mit den hohen Abtreibungszahlen,<br />
die sich auch aus Spätabtreibungen<br />
ergeben, finden wir uns nicht ab. Wir<br />
müssen Frauen und Männern dabei helfen,<br />
sich <strong>für</strong> das Leben zu entscheiden.«<br />
»An jedem Werktag sterben<br />
424 Kinder im Leib ihrer Mütter.«<br />
<strong>Die</strong>se Aussage greift aus Sicht der Senioren-Union<br />
viel zu kurz. Einerseits beklagt<br />
unsere Gesellschaft den Kindermangel<br />
und eine zu niedrige Geburtenrate.<br />
Auf der anderen Seite wurden dem Statistischen<br />
Bundesamt allein 2010 110.431<br />
Schwangerschaftsabbrüche gemeldet. Das<br />
entspricht der Einwohnerzahl einer Stadt<br />
wie Ingolstadt oder Salzgitter.<br />
Ernstzunehmende Schätzungen gehen<br />
davon aus, dass die Dunkelziffer bei Abtreibungen<br />
mindestens noch einmal so<br />
hoch ist wie die Hellziffer und beziffern<br />
die Zahl der tatsächlich durchgeführten<br />
Abtreibungen in Deutschland auf 1.000<br />
pro Werktag. Aber auch nach den offiziellen<br />
Zahlen sterben in Deutschland<br />
an jedem Werktag 424 Kinder im Leib<br />
ihrer Mütter. Das <strong>sind</strong> 14 Schulklassen.<br />
Da bereits jedes abgetriebene Kind eines<br />
zu viel ist, fordern wir eine gesetzliche<br />
Umsetzung der lebensbejahenden Beschlüsse<br />
des CDU-Grundsatzprogramms.<br />
<strong>Die</strong> im Jahr 2009 nach jahrelangen Diskussionen<br />
beschlossenen Verbesserungen<br />
bei der gesetzlichen Regelung von<br />
Spätabtreibungen gehen nicht weit genug.<br />
Zwar ist es zu begrüßen, dass danach<br />
der schwangeren Frau erstmals eine<br />
Bedenkzeit von drei Tagen auferlegt<br />
wurde, um so einen pathologischen Befund<br />
wenigstens ansatzweise verarbeiten<br />
zu können und das Kind davor zu schützen,<br />
Opfer einer unüberlegten Spätabtreibung<br />
zu werden.<br />
Und doch wird man fragen müssen:<br />
Darf es ausreichen, dass Arzt und Patientin<br />
nach reichlicher Überlegung darin<br />
übereinstimmen, eine Diagnose als Abtreibungsgrund<br />
anzusehen? Haben Kinder<br />
mit Behinderungen kein grundsätzliches<br />
Recht, das Licht der Welt zu erblicken?<br />
Kommt ihnen nicht auch jene<br />
Würde zu, aufgrund derer der Staat das<br />
Leben seiner anderen Bürger schützt?<br />
Aus Sicht der Senioren-Union ist es<br />
inhuman, ein lebensfähiges Kind zu töten<br />
– nur weil es wahrscheinlich eine Behinderung<br />
haben wird! Unsere Gesellschaft<br />
muss »Ja« zur Vielfalt des Lebens sagen,<br />
nicht »Nein« oder »Vielleicht«.<br />
Adoption<br />
<strong>Die</strong> Senioren-Union unterstützt die<br />
geplante Lockerung der gesetzlichen Regeln<br />
bei Adoptionen. Im Mittelpunkt des<br />
gesetzgeberischen Handelns muss dabei<br />
immer das Kindeswohl stehen. Deshalb<br />
ist es richtig, wenn Bundesfamilienministerin<br />
Schröder den derzeitig erlaubten<br />
Altersabstand zwischen Kind und Adoptiveltern<br />
von 40 Jahren überdenken will.<br />
<strong>Die</strong> Senioren-Union fordert eine Anhebung<br />
des Altersabstandes auf maximal<br />
50 Jahre. (...)<br />
Aktive Sterbehilfe<br />
»Gesellschaft muss ›Ja‹ zur Vielfalt<br />
des Lebens sagen, nicht ›Nein‹.«<br />
<strong>Die</strong> CDU lehnt aktive Sterbehilfe<br />
ab und hat diese Position auch in ihrem<br />
Grundsatzprogramm fest verankert. (...)<br />
CDU und Kirche stehen bei der Ablehnung<br />
aktiver Sterbehilfe fest Seite an Seite.<br />
<strong>Die</strong> Senioren-Union begrüßt ausdrücklich,<br />
dass der Vorsitzende der Deutschen<br />
Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert<br />
Zollitsch, und der Vorsitzende der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. Jörg-<strong>Die</strong>trich<br />
Hoppe, in einer gemeinsamen Erklärung<br />
vom 15. Mai 2011 Tötung auf<br />
Verlangen und die Mithilfe des Arztes<br />
bei der Selbsttötung des Patienten unmissverständlich<br />
abgelehnt haben. Sehr<br />
besorgniserregend aber ist, dass derzeit<br />
unter einer Gruppe von Ärztinnen und<br />
Ärzte darüber diskutiert wird, ob es ihnen<br />
freigestellt werden soll, bei Selbsttötungen<br />
unterstützend zu wirken. <strong>Die</strong>s<br />
kann und darf nicht Aufgabe von Ärztinnen<br />
und Ärzte sein und widerspricht dem<br />
ärztlichen Ethos! Sterbehilfe – gleich welcher<br />
Art und welchen Umfangs – gibt eine<br />
Entscheidung in die Hand von Mitmenschen,<br />
deren Beurteilung niemals objektiv<br />
erfolgen kann, deren Folgen aber unumkehrbar<br />
<strong>sind</strong>.<br />
Das gilt auch <strong>für</strong> die Unterstützung<br />
eines Suizids. <strong>Die</strong> Legalisierung aktiver<br />
Sterbehilfe oder auch des ärztlich assistierten<br />
Suizids würde unsere Gesellschaft<br />
radikal verändern. Denn wenn die Verkürzung<br />
eines sich seinem Ende zuneigenden<br />
Lebens eine staatlich anerkannte<br />
oder auch nur respektierte Alternative<br />
wird, kann niemand mehr sicherstellen,<br />
dass viele ältere Menschen dies nicht<br />
als »Aufforderung« verstehen, ihrer Familie,<br />
ihren Freunden und Bekannten<br />
nicht »unnötig« zur Last zu fallen. <strong>Die</strong>s<br />
muss im Interesse aller Beteiligten verhindert<br />
werden.<br />
Betont werden muss in diesem Zusammenhang<br />
auch, dass die Weigerung<br />
»Tötung auf Verlangen« zu leisten oder<br />
bei einem Suizid zu assistieren, nicht als<br />
Verletzung der Autonomie des »Sterbewilligen«<br />
verstanden werden kann. <strong>Die</strong>s<br />
umso mehr, als die Suizidforschung längst<br />
übereinstimmend lehrt, dass so genannte<br />
Bilanz- oder rationale Suizide, sofern sie<br />
überhaupt vorkommen, allenfalls sehr selten<br />
<strong>sind</strong>. So haben Nachuntersuchungen<br />
ergeben, dass rund 90 Prozent aller untersuchten<br />
Suizide mit psychischen Störungen<br />
der Suizidenten einhergingen, die<br />
eine »Freiheit der Entscheidung« entweder<br />
verunmöglichten oder aber zumindest<br />
stark einschränkten.<br />
»Legalisierte Sterbehilfe würde die<br />
Gesellschaft radikal verändern.«<br />
Der Tod gehört zum Leben. Deswegen<br />
dürfen Sterbende auch »nicht gewaltsam<br />
am Sterben gehindert« werden<br />
(Robert Spaemann). Lebensverkürzende<br />
Maßnahmen lehnen wir als Senioren-<br />
Union aber kategorisch ab. Statt auf Sterbehilfe<br />
setzen wir auf Sterbebegleitung.<br />
Deshalb ist es richtig, dass die CDU die<br />
Palliativmedizin, die Hospize und andere<br />
Formen der Sterbebegleitung unterstützt,<br />
die Sterbenden ihre letzte Lebensphase<br />
erleichtert und ihnen und ihren Angehörigen<br />
ein würdiges, schmerzfreies Abschiednehmen<br />
ermöglicht.<br />
Union und FDP haben im Koalitionsvertrag<br />
festgehalten, dass »die gewerbsmäßige<br />
Vermittlung von Gelegenheiten<br />
zur Selbsttötung unter Strafe gestellt werden<br />
soll«. Da dies bisher nicht geschehen<br />
ist, fordert die Senioren-Union die CDU<br />
dazu auf, diesen Punkt zeitnah umzusetzen.<br />
Zugleich muss ausgeschlossen werden,<br />
dass die im Koalitionsvertrag gewählte<br />
Formulierung nicht andere Formen<br />
der »Vermittlung von Gelegenheiten<br />
zur Selbsttötung« ermöglicht. Darüber<br />
hinaus plädiert die Senioren-Union<br />
da<strong>für</strong>, dass die CDU sich innerhalb der<br />
Bundesregierung da<strong>für</strong> einsetzt, dass auf<br />
europäischer Ebene Schritte eingeleitet<br />
werden, sich dem Verbot auf aktive Sterbehilfe<br />
anzuschließen.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 23
E S S AY<br />
DANIEL RENNEN<br />
Im Zweifel <strong>für</strong> das Leben<br />
<strong>Die</strong> Vorbereitungen <strong>für</strong> eine Änderung des Transplantationsgesetzes laufen auf Hochtouren.<br />
Und der Bundestag ist sich einig: Ziel müsse sein, die Zahl der Organspender zu steigern.<br />
Neue Zweifel daran, dass der hirntote Spender vor der Entnahme lebenswichtiger<br />
Organe tatsächlich tot ist, werden bislang völlig ignoriert. Mit ihnen befasst sich der<br />
nachfolgende Beitrag, der auf einem Vortrag basiert, den der Autor auf der diesjährigen<br />
Bundesdelegiertenversammlung der ALfA in Fulda gehalten hat.<br />
Von Stefan Rehder<br />
24<br />
Dass der Hirntod nicht nur der<br />
Tod eines Organs – nämlich des<br />
Gehirns – ist, sondern auch mit<br />
dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden<br />
kann, daran gab und gibt es Zweifel.<br />
<strong>Die</strong> ersten wurden schon sehr früh –<br />
nämlich im September 1968 – und von<br />
keinem Geringeren als dem großen Technikphilosophen<br />
Hans Jonas (1903-1993)<br />
formuliert. Nur einen Monat zuvor hatte<br />
eine interdisziplinär besetzte Ad-hoc-<br />
Kommission der Harvard Medical School<br />
in Boston – bestehend aus zehn Medizinern<br />
sowie je einem Juristen, Theologen<br />
und Wissenschaftshistoriker – ein Aufsehen<br />
erregendes Gutachten vorgelegt, das<br />
den Status von Patienten klären sollte, die<br />
sich in einem als irreversibel erachteten<br />
Koma befanden.<br />
Unter der Bezeichnung »Coma dépassé«<br />
war das Phänomen des irreversiblen<br />
Komas erstmals 1959 von den französischen<br />
Neurologen Pierre Mollaret (1898-<br />
1987) und Maurice Goulon (1919-2008)<br />
in der französischen Fachzeitschrift »Revue<br />
Nerologique« beschrieben worden.<br />
Beide hatten auf den noch jungen Intensivstationen<br />
künstlich beatmete Patienten<br />
beobachtet, die sich in einem bis dahin<br />
unbekannten Zustand permanenter,<br />
tiefer Bewusstlosigkeit befanden, nachdem<br />
sie einen längeren Atemstillstand<br />
erlitten hatten.<br />
Möglich geworden war die Beobachtung<br />
derart tiefer Bewusstlosigkeit erst<br />
durch die Fortentwicklung der künstlichen<br />
Langzeitbeatmung durch den dänischen<br />
Anästhesisten Björn Ibsen (1915-<br />
2007), der diese Methode 1952 im Zuge<br />
der Bekämpfung der Kinderlähmung revolutionierte<br />
und deshalb auch als »Vater<br />
der Intensivtherapie« gilt. Vor Ibsen<br />
konnte eine derart tiefe Bewusstlosigkeit<br />
nie beobachtet werden, da diese Patienten<br />
ohne die revolutionierte Lang-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
zeitbeatmung alle an Atemstillstand gestorben<br />
waren. Aus den Symptomen, die<br />
Mollaret und Goulon bei diesen Patienten<br />
beobachteten – darunter fehlende<br />
Hirnstammreflexe, fehlende Spontanatmung<br />
und anhaltende Bewusstlosigkeit<br />
– schlossen sie, dass die Hirne der Patienten<br />
an Sauerstoffmangel zugrunde gegangen<br />
sein mussten, ihre Tätigkeit vollständig<br />
eingestellt hätten und sich bereits<br />
in einem Zersetzungsprozess befänden.<br />
Der spätere pathologische Befund bestätigte<br />
dies. Bei einigen Patienten war<br />
die Nekrose des Hirngewebes in Abhängigkeit<br />
von der Dauer der künstlichen<br />
Beatmung bereits bis zur Verflüssigung<br />
fortgeschritten. Damit war klar: Anders<br />
als etwa bei Wachkoma-Patienten konnte<br />
eine Rückkehr von Patienten, die sich<br />
im irreversiblen Koma befanden, in ein<br />
bewusstes Leben ausgeschlossen werden.<br />
<strong>Alle</strong>rdings setzen Mollaret und Goulon<br />
die Zerstörung des Gehirns nicht mit<br />
dem Tod des Menschen gleich. Dazu entschloss<br />
sich erst neun Jahre später die bereits<br />
erwähnte Ad-hoc-Kommission der<br />
Harvard Medicial School. In ihrem Report<br />
»A definition of irreversible coma«<br />
empfahl die Kommission den Nachweis,<br />
dass ein Koma irreversibel sei, künftig als<br />
Beleg da<strong>für</strong> zu betrachten, dass der Tod<br />
einen Menschen ereilt habe.<br />
Auch wenn hier nicht ausführlich auf<br />
diesen Report eingegangen werden kann,<br />
so muss doch festgehalten werden: Tragischerweise<br />
lässt sich unbestreitbar belegen,<br />
dass die von der Harvard Kommission<br />
vollführte Gleichsetzung des irreversiblen<br />
Komas mit dem Tod des Menschen<br />
keinesfalls neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />
geschuldet war. <strong>Die</strong> Gleichsetzung<br />
des Hirntods mit dem Tod des<br />
Menschen, vor der Mollaret und Goulon<br />
noch zurückgeschreckt waren, resultierte<br />
allein aus praktischen Überlegungen,<br />
wie etwa der, dass Ärzte <strong>für</strong> Patienten,<br />
die sich in einem irreversiblen<br />
Koma befanden, nichts mehr tun konnten.<br />
So heißt es in dem Report bezeichnenderweise<br />
etwa: »Ein Organ, das Gehirn<br />
oder ein anderes, das nicht länger<br />
funktioniert und keine Möglichkeit besitzt,<br />
erneut zu funktionieren, ist <strong>für</strong> alle<br />
praktischen Zielsetzungen tot.« Üblicherweise<br />
sprechen wir jedoch vom Tod<br />
als einem biologischen Faktum. Tot ist,<br />
wer aufgehört hat zu leben. Der Tod ließe<br />
sich demnach definieren als die Abwesenheit<br />
von Leben. <strong>Die</strong> Harvard-Kommission<br />
hatte dagegen einen anderen,<br />
völlig operationalisierten Todesbegriff<br />
im Blick. Denn als tot wurde hier definiert,<br />
was <strong>für</strong> eine medizinisch sinnvolle<br />
Therapie unerreichbar geworden ist.<br />
»Das Gehirn verbraucht allein 20<br />
Prozent der Stoffwechselenergie.«<br />
Es ist jedoch eine Sache, ob etwas tatsächlich<br />
tot, im Sinne von unbelebt ist,<br />
und eine ganz andere, ob etwas lediglich<br />
derart funktionsuntüchtig ist, dass es <strong>für</strong><br />
die heilenden Ziele anderer, die selbstverständlich<br />
als solche lobenswert <strong>sind</strong>,<br />
nicht mehr erreichbar ist.<br />
Wer um Fairness bemüht ist, wird freilich<br />
sogleich einräumen, dass aus der mit<br />
fragwürdigen standespolitischen Interessen<br />
kontaminierten ersten Hirntod-Definition<br />
keineswegs auch schon folgt, dass<br />
die bis heute unter Medizinern mehrheitlich<br />
vertretene These, der Nachweis des<br />
Hirntods sei ein sicheres Todeszeichen,<br />
unzutreffend sein muss. Im Gegenteil:<br />
<strong>Die</strong> Tatsache, dass die Hirntod-Theorie<br />
trotz ihrer wenig ruhmreichen Geburtsstunde<br />
bis heute von so vielen vertreten<br />
wird, darunter von solchen, die weder das<br />
Interesse besitzen, von komatösen Patienten<br />
belegte Krankenhausbetten neu<br />
zu vergeben noch günstige Bedingungen<br />
<strong>für</strong> potentielle Organempfänger zu<br />
schaffen, lässt vermuten, dass die Theorie<br />
eine enorme Plausibilität beanspruchen<br />
kann. <strong>Die</strong>s umso mehr, als die Hirntod-<br />
Theorie bis auf den heutigen Tag auch<br />
von Menschen vertreten wird, die in anderen<br />
bioethischen Konfliktfeldern ausnahmslos<br />
auf der Seite des Lebens stehen<br />
und etwa Abtreibungen, Euthanasie<br />
sowie die Forschung mit embryonalen<br />
Stammzellen als unethisch zurückweisen.<br />
Da es ebenso dumm wie unredlich<br />
wäre, ihnen zu unterstellen, sie könnten<br />
sich <strong>für</strong> den Pragmatismus der Harvard-<br />
Kommission erwärmen, spricht viel <strong>für</strong><br />
die Annahme, dass sich <strong>für</strong> die These, der<br />
Hirntod sei auch der Tod des Menschen,<br />
andere Gründe ins Feld führen lassen, als<br />
die, die die Harvard-Kommission umtrieb.<br />
Bevor wir uns mit diesen im Detail auseinandersetzen,<br />
lohnt aber ein Blick darauf,<br />
wie der Tod vor der Hirntod-Definition<br />
festgestellt wurde. Über Jahrtausende<br />
hinweg war es nämlich Menschen<br />
möglich, den Tod eines ihrer Artgenossen<br />
vergleichsweise sicher zu diagnostizieren.<br />
Wessen Herz aufgehört hatte zu<br />
schlagen, wer nicht mehr atmete, keinen<br />
Puls und keinen Blutdruck mehr aufwies,<br />
wessen Lippen und Fingernägel sich blau<br />
färbten, wessen Körper erkaltete, wessen<br />
Muskeln allmählich erstarrten, wessen<br />
Haut sich verfärbte und wer schließlich<br />
Verwesungsgeruch verströmte, der<br />
wies keinerlei Lebenszeichen mehr auf,<br />
war offensichtlich verstorben und konnte<br />
folglich – zweifelsfrei – <strong>für</strong> tot »erklärt«<br />
werden.<br />
Inzwischen ist das anders. Denn längst<br />
werden auch Menschen <strong>für</strong> tot erklärt,<br />
noch bevor ihr Organismus auch nur ein<br />
einziges dieser seit Urzeiten bekannten,<br />
untrügerischen Todeszeichen aufweist.<br />
<strong>Die</strong>se Menschen weisen allerdings eine<br />
bereits erwähnte Besonderheit auf. Sie<br />
»Ein Organ, das nicht funktioniert,<br />
ist <strong>für</strong> praktische Zielsetzungen tot.«<br />
liegen – <strong>für</strong> »hirntot« erklärt – auf Intensivstationen.<br />
Ein Beatmungsgerät, der<br />
sogenannte Respirator, übernimmt die<br />
Steuerung ihrer Atmung und sorgt da<strong>für</strong>,<br />
dass ihre Herzen nicht zu schlagen<br />
aufhören und das Blut in ihren Körpern<br />
weiter zirkuliert.<br />
<strong>Die</strong> Folge: Das biologische System, als<br />
das jeder Mensch auch – wenn auch nicht<br />
ausschließlich – betrachtet werden darf,<br />
besteht in Teilen fort. Denn auch bei einem<br />
<strong>für</strong> hirntot erklärten, künstlich beatmeten<br />
menschlichen Organismus funktionieren<br />
Blutkreislauf, Stoffwechsel und<br />
Immunsystem, erfolgt der <strong>für</strong> eine erfolgreiche<br />
Beatmung unverzichtbare Gasaustausch<br />
in der Lunge, laufen energieverbrauchende<br />
Prozesse ab, wird künstlich<br />
zugeführte Nahrung weiterhin enzymatisch<br />
aufgespaltet, arbeiten die Nieren,<br />
funktioniert die Verdauung, kann Fieber<br />
gemessen werden, lassen sich – im Falle<br />
von Männern – selbst Erektionen und Samenergüsse<br />
beobachten. Sogar Schwangerschaften<br />
können bei <strong>für</strong> hirntot erklärten<br />
Frauen unter Umständen aufrechterhalten<br />
werden und führen – wenn auch<br />
nicht in der Mehrzahl der Fälle – zur Geburt<br />
lebender Kinder.<br />
Wie der Neurochirurg David Powner<br />
und die Gynäkologin Ira Bernstein von<br />
der Houston Medical School der Universität<br />
von Texas berichten, wurden bis<br />
zum Jahr 2003 insgesamt zehn erfolgreich<br />
verlaufene Schwangerschaften von Müttern,<br />
die zuvor <strong>für</strong> hirntot erklärt worden<br />
waren, dokumentiert. Glaubt man<br />
den Verfechtern der Hirntod-Konzeption,<br />
dann beatmet der Respirator trotz<br />
aller beobachtbaren biologischen Aktivität<br />
keine Menschen mehr, sondern bloß<br />
noch warme Leichen.<br />
Eingetreten sei der Tod bei einem<br />
künstlich beatmeten Menschen, behaup-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 25
E S S AY<br />
ten diejenigen, die im Hirntod ein untrügerisches<br />
Kriterium <strong>für</strong> den bereits eingetretenen<br />
Tod erblicken, nämlich nicht<br />
erst dann, wenn das Herz dieses Menschen<br />
zum Stillstand gekommen sei oder<br />
dieser seinen letzten Atemzug getan habe,<br />
sondern bereits dann, wenn das gesamte<br />
Gehirn derart geschädigt sei, dass<br />
alle Hirnfunktionen unwiderruflich zum<br />
Erliegen gekommen seien.<br />
So definiert etwa der Wissenschaftliche<br />
Beirat der Bundesärztekammer in den<br />
von der Standesvertretung der Ärzte im<br />
Jahr 1982 erlassenen und seitdem mehrfach<br />
fortgeschriebenen »Richtlinien zur<br />
Feststellung des Hirntods« den Hirntod<br />
DANIEL RENNEN<br />
als »Zustand des irreversiblen Erloschenseins<br />
der Gesamtfunktion des Großhirns,<br />
des Kleinhirns und des Hirnstamms bei<br />
einer durch kontrollierte Beatmung noch<br />
aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion«<br />
und folgert: »Der Hirntod ist der<br />
Tod des Menschen.«<br />
Begründet wird die Gleichsetzung<br />
des irreversiblen Erloschenseins sämtlicher<br />
Hirnfunktionen – man kann auch<br />
knapper vom irreversiblem Koma sprechen<br />
– mit dem Tod des Menschen von<br />
den Be<strong>für</strong>wortern der Hirntod-Konzeption<br />
vor allem mit einer Sonderstellung,<br />
die dem Gehirn innerhalb des menschlichen<br />
Organismus zukomme. Dabei wird<br />
das Gehirn als das übergeordnete Organ<br />
betrachtet, welches die Integration des<br />
Organismus in entscheidender Weise<br />
steuere. Falle es unwiederbringlich aus,<br />
dann zerfalle der menschliche Organismus<br />
in seine Einzelteile. Anders formuliert:<br />
»Nach dem Ausfall des Steuerungsorgans<br />
Gehirn« existiere lediglich noch<br />
»vegetatives Leben« in einem »Restkörper«,<br />
der nur noch als »Teilsumme der<br />
Organe« oder als »Organkonglomerat«<br />
betrachtet werden könne. So jedenfalls<br />
fasst die Soziologin Martina Spirgatis<br />
die Sicht derer zusammen, die mit dem<br />
Hirntod den tatsächlichen Tod des Menschen<br />
festzustellen meinen.<br />
Dabei können sich die Be<strong>für</strong>worter der<br />
Hirntod-Theorie auf eine ganze Reihe<br />
medizinischer Fakten berufen, die auch<br />
von den Kritikern der Theorie in aller<br />
Regel anerkannt werden. Zu diesen zählt,<br />
dass das Gehirn das »Sterblichste« aller<br />
Organe des Menschen ist. Denn von allen<br />
Organen reagiert das Gehirn am empfindlichsten<br />
auf eine Unterbrechung der<br />
Zufuhr von Sauerstoff und Nahrung. Das<br />
ist insofern nicht sonderlich verwunderlich,<br />
als das Gehirn, obwohl es nicht einmal<br />
drei Prozent der gesamten Körpermasse<br />
eines Menschen auf die Waage<br />
dies zu einer Lähmung der Atmung. <strong>Die</strong>se<br />
provoziert den Ausfall der Sauerstoffversorgung<br />
des Herzens, was wiederum<br />
einen Herzstillstand verursacht, in dessen<br />
Folge dann die bekannten klassischen<br />
Todeszeichen auftreten.<br />
»Tot ist derjenige, der aufgehört<br />
hat zu leben.«<br />
26<br />
Das Gehirn ist das Sterblichste aller Organe. Aber stirbt mit ihm auch der Mensch?<br />
»Tot ist, wer <strong>für</strong> sinnvolle Therapien<br />
unerreichbar geworden ist.«<br />
bringt, rund 20 Prozent der Stoffwechselenergie<br />
und des Sauerstoffs verbraucht.<br />
Aufgrund dieses enormen Bedarfs kann<br />
bereits eine wenige Minuten anhaltende<br />
Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zu<br />
einer irreparablen Schädigung des Gehirns<br />
führen und den Ausfall wichtiger<br />
Hirnfunktionen nach sich ziehen.<br />
Dabei fallen zunächst die Prozesse in<br />
der Großhirnrinde aus, die <strong>für</strong> die Steuerung<br />
aller bewussten Prozesse, einschließlich<br />
der Ich-Empfindungen, verantwortlich<br />
gemacht werden. Im Anschluss daran<br />
fallen die Prozesse im Hirnstamm aus, der<br />
unter anderem <strong>für</strong> die Steuerung der Atmung<br />
zuständig ist. Fallen die vom Hirnstamm<br />
gesteuerten Prozesse aus, führt<br />
Fassen wir das Bisherige kurz zusammen:<br />
Erleidet ein Mensch eine derart<br />
schwere Hirnschädigung, dass diese den<br />
Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen provoziert,<br />
dann führt dies unter normalen<br />
Bedingungen zu einem baldigen Herzstillstand.<br />
Weil das so ist, gestehen denn<br />
auch wohlmeinende Kritiker der Hirntod-<br />
Theorie Be<strong>für</strong>wortern derselben durchaus<br />
zu, dass »nichts näher« gelegen habe,<br />
»als nunmehr im irreversiblen Funktionsausfall<br />
des gesamten Gehirns – besser<br />
in der Zerstörung des Gehirns – das<br />
entscheidende zweifelsfreie Todeszeichen<br />
zu sehen«.<br />
Insofern ist es auch völlig nachzuvollziehen,<br />
dass sich Be<strong>für</strong>worter der Hirntod-Theorie<br />
ungerecht bewertet sehen,<br />
wenn ihnen Kritiker unterstellen, sie<br />
verträten eine »Umdefinition« des Todes<br />
oder verlegten den Todeszeitpunkt<br />
des Menschen vor. Ernstzunehmende<br />
Be<strong>für</strong>worter der Hirntod-Theorie werden<br />
denn auch nicht müde zu betonen,<br />
dass es nur einen Tod des Menschen ge-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
»Stoffwechsel und Homöostase:<br />
Leistung einer Luftpumpe?«<br />
be. <strong>Alle</strong>rdings ereignet sich – wie bereits<br />
erwähnt – der Hirntod im eigentlichen<br />
Sinne nie unter normalen Bedingungen.<br />
Dass ein Gehirn derart zerstört ist, dass<br />
mit einem baldigen Herzstillstand gerechnet<br />
werden muss, kommt überhaupt erst<br />
unter Bedingungen zur Anschauung, die<br />
durch und durch künstlich genannt werden<br />
können. <strong>Die</strong>selben künstlichen Bedingungen,<br />
die es dank Ibsen Ärzten heute<br />
ermöglichen, Aussagen über den Grad<br />
der Zerstörung eines Gehirns zu treffen,<br />
sorgen zugleich da<strong>für</strong>, dass das, was unter<br />
normalen Bedingungen angesichts<br />
einer als irreversibel erachteten Zerstörung<br />
des Gehirns erwartet werden sollte,<br />
gerade nicht eintritt.<br />
Denn indem der Respirator die aus<strong>gefallen</strong>en<br />
Hirnfunktionen des Patienten<br />
zumindest teilweise substituiert, verhindert<br />
er, dass dessen Herz aufgrund von<br />
Sauerstoffmangel zu schlagen aufhört.<br />
Kritiker der Hirntod-Theorie sehen darin<br />
einen Beleg da<strong>für</strong>, dass es eben doch<br />
möglich sei, zeitweise ohne Hirnfunktionen<br />
zu leben.<br />
So betrachtet etwa der Kölner Neuropathologe<br />
Hans Thomas den Respirator<br />
als eine Art »Prothese«. So wie ein Herzschrittmacher<br />
die Steuerung des Herzens<br />
übernehme, steuere der Respirator<br />
die Atmung. Be<strong>für</strong>wortern der Hirntod-<br />
Theorie, die dagegen einwenden, dass die<br />
Kreislauffunktion bloß technisch-maschinell<br />
und von außen aufrechterhalten werde<br />
und daher Leben nur simuliere, hält<br />
er entgegen: Das Atemgerät sei zwar eine<br />
»notwendige«, aber keine »hinreichende<br />
Bedingung«, um die »physiologischen<br />
Funktionen im Hirntoten« aufrechterhalten<br />
zu können. Schließlich sorge die<br />
Prothese da<strong>für</strong>, dass im Organismus eines<br />
Hirntoten Stoffwechsel und Homöostase<br />
(Selbstregulierung) aufrechterhalten<br />
würden, energieverbrauchende Prozesse<br />
in Gang blieben, Nahrung verwertet und<br />
sogar Schwangerschaften fortgeführt würden.<br />
Solche Phänomene seien aber keine<br />
»naturgemäßen Leistungen einer Luftpumpe,<br />
einer Nährinfusion« und anderer<br />
»zusätzlicher Mittel«.<br />
»Würde man«, illustriert der Würzburger<br />
Medizinrechtler Rainer Beckmann<br />
denselben Befund, »eine Leiche<br />
an ein Beatmungsgerät anschließen und<br />
ihr Medikamente zuführen, bliebe dies<br />
ohne Effekt. Sie würde sich nicht erwärmen,<br />
die Lungenflügel würden nur aufgeblasen,<br />
statt Sauerstoff aufzunehmen,<br />
und der Zerfall des Körpers würde sich<br />
ohne Anzeichen von Leben fortsetzen.<br />
Bei einem hirntoten Patienten sieht das<br />
»Der Respirator wirkt, ähnlich dem<br />
Herzschrittmacher, als Prothese.«<br />
»Hält man die Hirntot-Theorie <strong>für</strong><br />
wahr, dann gibt es warme Leichen.«<br />
anders aus: Der Luftsauerstoff wird aufgenommen,<br />
im Körper verteilt, und alle<br />
Organe und Gewebe ›leben‹ weiter.«<br />
Fassen wir also noch einmal zusammen:<br />
Der medizintechnische Fortschritt<br />
auf dem Gebiet der Langzeitbeatmung<br />
ermöglicht heute die Anschauung eines<br />
Phänomens, das sich vordem nicht beobachten<br />
ließ. Das, was sich beobachten<br />
lässt – der Hirntote nämlich –, unterscheidet<br />
sich jedoch signifikant von gewöhnlichen<br />
Toten. Konkret: »Ein beatmeter<br />
Hirntoter bleibt warm, schwitzt,<br />
zeigt noch Reflexe; eine Leiche wird<br />
kalt, starr, verfärbt sich, verbreitet Verwesungsgeruch.«<br />
Das erkenntnistheoretische<br />
Problem, das sich aus diesen unterschiedlichen<br />
Beobachtungen ergibt,<br />
bringt Thomas auf den Punkt, wenn er<br />
sagt: »Zwei empirisch verschiedene Zustände<br />
oder Prozesse können mit Berufung<br />
auf Empirie nicht als identisch erklärt<br />
werden.«<br />
Nun könnte man erwarten, dass, wenn<br />
eine These, wie die, dass der Hirntod<br />
auch der Tod des Menschen sei, weithin<br />
als »Tatsache« betrachtet wird, zumindest<br />
unter den Be<strong>für</strong>wortern Einigkeit<br />
darüber herrscht, wie sich das Vorliegen<br />
dieser als »Tatsache« erachteten<br />
These nachweisen lässt. Erstaunlicherweise<br />
ist aber genau das beim Hirntod<br />
nicht der Fall.<br />
Bereits 1978 – zehn Jahre nach der<br />
Veröffentlichung des Harvard-Reports<br />
– hatten Verfechter der Hirntod-Theorie<br />
mehr als 30 unterschiedliche Kriterien-Sets<br />
publiziert, mit denen die Verfasser<br />
jeweils den Anspruch verbanden,<br />
den Hirntod »sicher« nachweisen zu<br />
können. Im Jahr 1977 verglich der 1995<br />
verstorbene, in Kanada geborene, bedeutende<br />
US-amerikanische Neurochirurg<br />
Arthur Earl Walker, selbst Anhänger<br />
der Hirntod-Theorie, erstmals 18 dieser<br />
Sets und konnte dabei zeigen, dass viele<br />
von ihnen gravierende Unterschiede<br />
aufwiesen. Seitdem ist eine ganze Reihe<br />
weiterer Sets hinzugekommen. Ihre beachtliche<br />
Vielfalt führt im Extremfall dazu,<br />
dass ein Patient nach der Durchführung<br />
sämtlicher Untersuchungen des einen<br />
Sets »sicher« <strong>für</strong> »tot« erklärt werden<br />
kann, während er, würde er nach einem<br />
anderen Set untersucht, genauso<br />
»sicher« als »lebend« betrachtet werden<br />
müsste. Ein Beispiel kann diese paradoxe<br />
Situation, die auch von vielen Be<strong>für</strong>wortern<br />
der Hirntod-Theorie als unbefriedigend<br />
erachtet wird, verdeutlichen.<br />
So schreiben etwa die Harvard-Kriterien<br />
unter anderem vor, dass ein schwer<br />
komatöser Patient »regungslos« sein<br />
müsse, um <strong>für</strong> »hirntot« erklärt werden<br />
zu können. Der <strong>für</strong> eine Therapie als unerreichbar<br />
erachtete Patient, <strong>für</strong> den die<br />
Mitglieder der Harvard-Kommission keine<br />
medizinischen Ressourcen mehr aufwenden,<br />
dessen Organe sie jedoch auch<br />
nicht »verschwenden« wollten, sollte<br />
nicht nur zu keinerlei Eigenbewegungen<br />
mehr fähig sein, sondern auch keinerlei<br />
Reflexe mehr zeigen. Dagegen verzichtete<br />
die Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> Chirurgie<br />
in ihrer im selben Jahr publizierten<br />
Stellungnahme darauf, den Nachweis der<br />
»Reglosigkeit« und einer vollkommenen<br />
»Areflexie« zur Bedingung <strong>für</strong> die Feststellung<br />
des Hirntodes zu machen. Verlangten<br />
die Harvard-Kriterien also, wie<br />
die deutsche Soziologin Gesa Lindemann<br />
treffend formulierte, noch »totere<br />
Tote«, weil bei ihnen keinerlei Aktivität<br />
des gesamten zentralen Nervensystems<br />
mehr beobachtet werden darf, um<br />
sie <strong>für</strong> tot erklären zu können, so werden<br />
die vom Rückenmark gesteuerten<br />
Bewegungen und Reflexe in vielen anderen<br />
Sets, einschließlich der von der Bundesärztekammer<br />
erlassenen »Richtlinien<br />
zur Feststellung des Hirntodes«, welche<br />
die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft<br />
<strong>für</strong> Chirurgie ablösten, offensichtlich<br />
als mit dem Tod vereinbar betrachtet.<br />
Mit anderen Worten: Hält man die<br />
Hirntod-Theorie <strong>für</strong> zutreffend, dann<br />
muss man gemäß den in Deutschland<br />
geltenden »Richtlinien zur Feststellung<br />
des Hirntodes« nicht nur künstlich beatmete<br />
warme Körper als Leichen betrachten,<br />
sondern auch solche, die sich<br />
noch bewegen.<br />
Auch bei den klinischen Tests, mit denen<br />
der Hirntod üblicherweise »nachgewiesen«<br />
wird, wird nicht direkt geprüft,<br />
ob der Patient bereits tot oder noch le-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 27
E S S AY<br />
bendig ist, sondern lediglich, ob der Patient<br />
noch Reflexe zeigt. <strong>Die</strong> Testergebnisse<br />
erlaubten es jedoch dann – so lautet<br />
jedenfalls die herrschende Meinung<br />
– den Ärzten, »wissenschaftlich hinreichend«<br />
begründete »Rückschlüsse« auf<br />
die »Endgültigkeit des Hirnfunktionsausfalls«<br />
zu ziehen. Überprüft werden<br />
dazu meist fünf Reflexe, die in den Nervenkernen<br />
des Hirnstamms verschaltet<br />
<strong>sind</strong>. Im Einzelnen <strong>sind</strong> das der Pupillenreflex,<br />
der Hornhautreflex, der okulozephale<br />
Reflex, der Husten- und Würgereflex<br />
sowie die Schmerzreaktion im<br />
Gesicht. Wie diese Tests im Einzelnen<br />
genau durchgeführt werden, beschreibt<br />
der Münchener Arzt und Be<strong>für</strong>worter der<br />
Hirntod-Theorie Fuat Oduncu in seinem<br />
Buch »Hirntod und Organtransplantation«<br />
sehr anschaulich.<br />
Wir brauchen daher hier nur festhalten:<br />
Zeigt der Patient – und sei es auch<br />
nur halbseitig – bei einem einzigen dieser<br />
Tests einen Reflex, dann kann der Hirntod<br />
auch nach Ansicht der allermeisten<br />
Be<strong>für</strong>worter der Hirntod-Theorie nicht<br />
festgestellt werden. In Deutschland muss<br />
das Fehlen aller dieser fünf Hirnstammreflexe<br />
zudem von zwei getrennt voneinander<br />
arbeitenden Ärzten wiederholt<br />
nachgewiesen und dokumentiert werden.<br />
Auch <strong>sind</strong> die Ärzte verpflichtet, jeweils<br />
einen Beobachtungszeitraum von zwölf<br />
Stunden nach einer primären Hirnschädigung<br />
beziehungsweise von drei Tagen<br />
nach einer sekundären Hirnschädigung<br />
»Klinische Tests bieten eine<br />
Genauigkeit von rund 90 Prozent.«<br />
28<br />
einzuhalten. Erst wenn auch dann keinerlei<br />
Reflexe beobachtet werden können,<br />
darf der Patient <strong>für</strong> hirntot erklärt<br />
werden. Auf diese Weise soll sichergestellt<br />
werden, dass das Hirn des Patienten<br />
ausreichend Gelegenheit hatte, sich<br />
von der jeweiligen Schädigung zu erholen.<br />
Da die Ärzte zudem gehalten <strong>sind</strong>, vor<br />
Aufnahme der Hirntod-Diagnostik andere<br />
denkbare Ursachen <strong>für</strong> den Ausfall der<br />
Hirnfunktionen auszuschließen, wozu unter<br />
anderem Vergiftungen, die dämpfende<br />
Wirkung von Medikamenten, neuromuskuläre<br />
Blockaden oder eine primäre<br />
Unterkühlung gerechnet werden, kann<br />
zumindest hierzulande auch keine Rede<br />
davon sei, dass Ärzte, die bei einem Patienten<br />
den Hirntod »feststellen«, lediglich<br />
auf die Organe der Betreffenden aus<br />
seien. Schwieriger ist das schon in Finnland,<br />
wo der vorgeschriebene Beobachtungszeitraum<br />
bei einer primären Hirnschädigung<br />
lediglich eine Stunde beträgt.<br />
Im Vergleich dazu sehen die Harvard-Kriterien<br />
übrigens noch einen Beobachtungszeitraum<br />
von 24 Stunden vor.<br />
B U C H T I P P<br />
Stefan Rehder: Grauzone Hirntod.<br />
Organspende verantworten. Sankt<br />
Ulrich Verlag, Augsburg 2010.<br />
190 Seiten. Gebunden. 22,00 EUR.<br />
»Hirntote <strong>sind</strong> vielfach schwerst<br />
geschädigte Sterbende.«<br />
Dass es unredlich wäre, Ärzten, die<br />
gemäß den Richtlinien der Bundesärztekammer<br />
den Hirntod feststellen, zu unterstellen,<br />
sie hätten anstelle des komatösen<br />
Patienten nur jene Patienten im<br />
Blick, die ein fremdes Organ zum Weiterleben<br />
benötigen, bedeutet jedoch wiederum<br />
nicht, dass auch die Hirntod-Diagnostik<br />
selbst schon über jeden Zweifel<br />
erhaben wäre. Im Gegenteil: Denn anders<br />
als die den Hirntod diagnostizierenden<br />
Ärzte in Deutschland, die zudem keinerlei<br />
Bezug zur Transplantationsmedizin<br />
haben dürfen, wirft die Hirntod-Diagnostik<br />
durchaus Fragen auf.<br />
Dabei dürfte die wichtigste zweifellos<br />
lauten: Welcher Grad an Gewissheit<br />
kann mit den praktizierten klinischen<br />
Tests überhaupt erreicht werden,<br />
wenn sich, wie etwa auch Oduncu einräumt,<br />
»der Nachweis der Irreversibilität<br />
des Hirnfunktionsausfalls« gar nicht<br />
»unmittelbar durchführen« lässt? So berechtigt<br />
diese Frage ist und so sehr sie<br />
sich aufdrängt, eine wirklich zufrieden<br />
stellende Antwort auf diese Frage kann<br />
es leider gar nicht geben. Sie wäre nämlich<br />
erst dann möglich, wenn das Gehirn<br />
jedes <strong>für</strong> hirntot erklärten Menschen im<br />
Anschluss an diese Diagnose einer zeitnahen<br />
Untersuchung durch einen Pathologen<br />
unterzogen würde. Da dies jedoch<br />
weder durchführbar und noch viel<br />
weniger wünschenswert wäre – nicht zuletzt,<br />
da das Feststellen einer Fehldiagnose<br />
mittels eines entsprechenden pathologischen<br />
Befundes <strong>für</strong> den Patienten völlig<br />
bedeutungslos wäre –, kann man sich<br />
der Beantwortung dieser Frage auch lediglich<br />
annähern.<br />
Schon Walker ging davon aus, dass die<br />
klinischen Tests allein allenfalls eine »Genauigkeit<br />
von annähernd 90 Prozent« gewährleisten<br />
können. In der bislang einzigen<br />
großangelegten Studie, die an über<br />
500 komatösen Patienten durchgeführt<br />
wurde, wies er nach, dass praktisch alle<br />
klinischen Tests, mit denen der Hirntod<br />
nachgewiesen werden soll, »Schwierigkeiten<br />
haben«. Damit nicht genug: Sofern<br />
keine apparative Diagnostik zum Einsatz<br />
kommt, werden auch die Funktionen des<br />
Cortex (Hirnrinde) sowie des Klein- und<br />
Mittelhirns überhaupt nicht untersucht.<br />
Ist dies der Fall, und werden mit den<br />
klinischen Tests jedoch nur Funktionen<br />
des Hirnstamms untersucht, dann stellt<br />
sich allerdings die Frage, ob nicht der als<br />
Hirntod definierte »Zustand des irreversiblen<br />
Erloschenseins der Gesamtfunktion<br />
des Großhirns, des Kleinhirns und des<br />
Hirnstamms bei einer durch kontrollierte<br />
Beatmung noch aufrechterhaltenen Herz-<br />
Kreislauffunktion« – so lautet ja die Definition<br />
der Bundesärztekammer – nicht<br />
zumindest in vielen Fällen eher als eine<br />
»Prognose« denn als echte »Diagnose«<br />
betrachtet werden muss.<br />
<strong>Die</strong>s gilt um so mehr, als auch der<br />
Neurologe Steven Laureys, Leiter einer<br />
angesehenen Arbeitsgruppe von Medizinern,<br />
die sich an der Universität Lüttich<br />
der wissenschaftlichen Untersuchung<br />
aller Formen des Komas widmen, einräumt:<br />
»Theoretisch« könne eine mehrere<br />
Stellen betreffende Verletzung des<br />
Stammhirns »alle klinisch nachweisbaren<br />
Funktionen der Region auslöschen, während<br />
irgendeine klinisch nicht detektierbare<br />
Restfunktion des sogenannten aufsteigenden<br />
retikulären Aktivierungssystems<br />
noch eine marginale, fluktuierende<br />
Form des Bewusstseins gewährleistet«.<br />
»Fehldiagnosen wären dann«, so<br />
der überzeugte Anhänger der Hirntod-<br />
Theorie, »denkbar«. Um einen solchen<br />
Zustand überhaupt erkennen zu können,<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
wären laut Laureys jedoch »Zusatzuntersuchungen<br />
wie funktionelle Bildgebung<br />
oder elektrophysiologische Messungen<br />
erforderlich«. Fehldiagnosen, die nicht<br />
auf menschliches Versagen, sondern auf<br />
ein unzureichendes Diagnostik-Besteck<br />
zurückzuführen <strong>sind</strong>, <strong>sind</strong> jedoch nicht<br />
nur »theoretisch denkbar«, sie kommen<br />
auch tatsächlich vor.<br />
Unter der ironisch anmutenden Überschrift<br />
»Chronischer Hirntod« dokumentierte<br />
der hochangesehene US-amerikanische<br />
Neurologe Daniel Alan Shewmon,<br />
der an der Universität von Kalifornien<br />
in Los Angeles lehrt und sich von<br />
einem überzeugten Anhänger der Hirntod-Theorie<br />
zu einem ihrer entschiedensten<br />
Gegner wandelte, 1998 in der<br />
Fachzeitschrift »Neurology« 175 Fälle<br />
von Patienten, die einen zuvor diagnostizierten<br />
Hirntod überlebt hatten. Dabei<br />
betrug die »Überlebenszeit im Hirntod«<br />
in nicht wenigen Fällen Wochen oder gar<br />
Monate. In einem außergewöhnlichen<br />
Fall lebte ein Patient sogar noch ganze<br />
14 Jahre, nachdem er <strong>für</strong> hirntot erklärt<br />
worden war.<br />
»Keine Struktur hat die Funktion<br />
des unverzichtbaren Integrators.«<br />
2008 berichteten die beiden Radiologen<br />
Lionel Zuckier und Johanna Kolano<br />
von der Newark Medical School im US-<br />
Bundesstaat New Jersey in einer Studie<br />
<strong>für</strong> die Fachzeitschrift »Seminars in nuclear<br />
medicine«, dass bei 21 von 188 Patienten,<br />
die nach klinischen Test <strong>für</strong> »hirntot«<br />
erklärt worden waren, eine permanente<br />
Durchblutung des Gehirns nachgewiesen<br />
werden konnte. Für ihre Studie<br />
hatten die Mediziner sämtliche Hirntod-<br />
Diagnosen überprüft, die an ihrer Universitätsklinik<br />
in den vorausgegangenen<br />
vier Jahren gestellt worden waren. Das<br />
vernichtende Ergebnis: elf Prozent der<br />
Diagnosen waren offenkundig falsch.<br />
Im Dezember 2008 veröffentlichte das<br />
»President’s Council on Bioethics«, das<br />
den US-amerikanischen Präsidenten in<br />
bioethischen Fragen berät, ein sogenanntes<br />
»White Paper«, das den Titel »Controversies<br />
in the Determination of Death«<br />
trägt. Darin räumen die Experten ein,<br />
dass angesichts der Daten, wie sie unter<br />
anderem von Shewmon anhand zahlreicher<br />
Fälle erbracht wurden, nicht mehr<br />
behauptet werden könne, dass der Organismus<br />
mit dem Hirntod jedes Mal in seine<br />
Einzelteile zerfalle. Wörtlich heißt es<br />
in der Stellungnahme: »In solchen Fällen<br />
wird eine allgemein koordinierte Tätigkeit<br />
des Körpers von mehreren Systemen<br />
aufrechterhalten, die alle auf das fortbestehende<br />
Funktionieren des Körpers als<br />
Ganzem gerichtet <strong>sind</strong>. Wenn das Lebendig-Sein<br />
als biologischer Organismus<br />
ein Ganzes zu sein erfordert, ist damit<br />
mehr gemeint als die bloße Summe<br />
seiner Teile. Wer hiervon ausgeht, dem<br />
würde es schwierig werden zu leugnen,<br />
dass der Körper eines Patienten mit dem<br />
totalen Verlust der Hirnfunktion immer<br />
noch am Leben ist – zumindest in bestimmten<br />
Fällen.«<br />
Und an anderer Stelle der gleichen<br />
Stellungnahme heißt es: Es gebe einen<br />
gewissen Grad an somatisch integrierter<br />
Aktivität, »die in den Körpern der Patienten<br />
erhalten bleibt, die entsprechend<br />
den neurologischen Standards <strong>für</strong> tot<br />
erklärt wurden«. <strong>Die</strong>s erläuternd, hält<br />
das White Paper fest: »Der Grund, dass<br />
diese somatischen Aktivitäten bestehen<br />
bleiben, besteht – wie Shewmon richtig<br />
bemerkt – darin, dass das Gehirn nicht<br />
der Integrator der vielen verschiedenen<br />
Funktionen des Körpers ist. Unter normalen<br />
Umständen spielt der Hirnstamm<br />
eine wichtige und komplexe Rolle bei<br />
der Unterstützung der körperlichen Integration.<br />
Aber keine einzelne Struktur<br />
im Körper hat die Funktion eines unverzichtbaren<br />
Integrators, vielmehr ist sie<br />
[die körperliche Integration] eine emergente<br />
Eigenschaft des gesamten Organismus<br />
– eine Eigenschaft, die nicht von<br />
irgendeinem Teil abhängt, sondern das<br />
Produkt der Orchestrierung seiner verschiedenen<br />
Teile ist.«<br />
Fassen wir das im White Paper Formulierte<br />
noch einmal zusammen: Unter<br />
normalen Umständen spielt das Gehirn<br />
eine wichtige und komplexe Rolle<br />
bei der Aufrechterhaltung des Organismus<br />
als Ganzem. Fällt es jedoch aus und<br />
können einige seiner Funktionen durch<br />
eine Prothese namens Respirator erfolgreich<br />
ersetzt werden, dann erweist sich das<br />
Gehirn nicht mehr als der unverzichtbare<br />
Integrator, <strong>für</strong> den es von vielen gehalten<br />
wird, zerfällt der Organismus trotz eines<br />
nach den Regeln der Kunst festgestellten<br />
Hirntods nicht in seine Einzelteile.<br />
Wenn aber der Organismus auch nach<br />
dem Hirntod als Ganzer fortbesteht,<br />
dann kann nicht nur keine Rede davon<br />
sein, dieser sei lediglich ein »Restkörper«<br />
oder »Organkonglomerat«. Dann ist es<br />
auch Zeit, sich von der These, der Tod<br />
des Organs Gehirn sei auch der Tod des<br />
Menschen, zu verabschieden. Ein solcher<br />
Organismus müsste vielmehr als schwer<br />
geschädigter Körper eines Menschen betrachtet<br />
werden, der entweder die Fähigkeit,<br />
bewusst erleben zu können, bereits<br />
tatsächlich eingebüßt hat, oder diese<br />
derzeit nicht unter Beweis stellen kann.<br />
»Integration ist eine emergente<br />
Eigenschaft des Organismus.«<br />
Es ist keine Schande, sondern der Normalfall<br />
der Wissenschaften, dass ein Zuwachs<br />
an Erkenntnissen auch dazu führt,<br />
zuvor <strong>für</strong> zutreffend Erachtetes im Licht<br />
neuer Erkenntnisse korrigieren zu müssen.<br />
Was daraus <strong>für</strong> die Praxis der Transplantationsmedizin<br />
folgt, liegt meines Erachtens<br />
auf der Hand. Hier nur so viel: Menschen<br />
dürfen – unabhängig vom Grad der<br />
Schädigung ihres Körpers – nicht dadurch<br />
getötet werden, dass ihnen lebenswichtige<br />
Organe entnommen werden. Denn<br />
das Recht des hirntoten Patienten, nicht<br />
getötet zu werden, wiegt schwerer als der<br />
verständliche Wunsch eines anderen Patienten<br />
nach einem längeren Leben, das<br />
ihm durch eine Transplantation ermöglicht<br />
werden könnte. Wenn die Leben<br />
verlängernde Transplantation nur möglich<br />
ist durch einen Eingriff in den Sterbeprozess,<br />
ist sie zu unterlassen. Da kein<br />
Mensch ein Anrecht auf ein fremdes Organ<br />
hat, aber jedem Menschen das Recht<br />
zukommt, von einem anderen – außer in<br />
Notwehr – nicht getötet zu werden, hat<br />
die Würde des Sterbenden Vorrang gegenüber<br />
dem Interesse eines Kranken an<br />
einem neuen Organ.<br />
I M P O R T R A I T<br />
Stefan Rehder, M.A.<br />
Geb. 1967, ist Journalist, Buchautor und<br />
Leiter der Rehder Medienagentur in<br />
Aachen. Er studierte Geschichte, Germanistik<br />
und Philosophie<br />
in Köln und<br />
München, schreibt<br />
<strong>für</strong> Tageszeitungen<br />
und Magazine<br />
(u. a. als Korrespondent<br />
<strong>für</strong> die<br />
überregionale katholische Tageszeitung<br />
»<strong>Die</strong> Tagespost«), ist Redaktionsleiter<br />
von »LebensForum« und hat mehrere<br />
Bücher verfasst (u.a.: »<strong>Die</strong> Todesengel.<br />
Euthanasie auf dem Vormarsch«, Sankt<br />
Ulrich Verlag, Augsburg 2009). Stefan<br />
Rehder ist verheiratet und Vater von drei<br />
Kindern.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 29
B Ü C H E R F O R U M<br />
Was die Autoren Peter Wissmann<br />
und Reimer Gronemeyer<br />
bearbeiten, erweist sich<br />
als realistischer Auftrag an eine Gesellschaft,<br />
die sich einer<br />
immer höheren Lebenserwartung<br />
erfreut.<br />
Er richtet sich<br />
nicht vornehmlich<br />
an die »ewig Junggebliebenen«,<br />
Dauertrainierten<br />
oder geistig präsenten Alters-Weisen;<br />
vielmehr muss sich die Zivilgesellschaft<br />
auf den Bürger mit Demenz<br />
(wörtlich: den »des Geistes Beraubten«)<br />
einstellen und ihm trotz<br />
seiner kognitiven Verluste<br />
einen sicheren Platz in<br />
der Gesellschaft einräumen.<br />
Demenz darf nicht<br />
als Tabu gelten, das aus<br />
der schnelllebigen Wissensgesellschaft<br />
schamhaft<br />
wegzusperren bleibt.<br />
Trotz »Vieles« versprechender<br />
und kostspieliger<br />
medizinischer Forschung<br />
gibt es bislang<br />
keine Therapie; so lässt<br />
sich fragen, ob »Alzheimer«<br />
oder »Demenz«<br />
ihrem Wesen nach überhaupt<br />
Pathologien und<br />
ausschließlich im »Alzheimer<br />
Imperium« der Pharmaindustrie<br />
zu versorgen <strong>sind</strong>.<br />
Wesentlicher noch <strong>sind</strong> die Fragen: ob<br />
sich der Mensch im »cogito« raumzeitlicher<br />
Orientierung und Planung umfassend<br />
aufgehoben weiß; sich die Beurteilung<br />
von Wirklichkeit in »der Definition«,<br />
der »Grenzziehung«, erschöpft, obwohl<br />
die Grenze des Wissbaren doch nicht erreicht<br />
werden kann? Und entdeckt nicht<br />
die »Weisheit der Gefühle«, unsere Intuition,<br />
oft mehr als unser Verstand? Sich<br />
an der streichelnden Hand des Anderen<br />
zu orientieren, vermittelt schon dem Kind<br />
mehr Selbst-Sicherheit als ein technokratisches<br />
Pädagogikkonzept – und dem verunsicherten<br />
Alten weit mehr als ein raffiniertes<br />
»brain aging«. »Gegen den Strich<br />
gebürstet« entpuppt sich der derzeitige<br />
gesellschaftliche Umgang mit Demenz<br />
als beängstigender Kampf gegen einen<br />
bislang unbesiegten »Feind der Menschheit«<br />
und verwehrt so den Blick auf den<br />
Menschen in seiner Ganzheit als leibgeistiges<br />
und soziales Wesen.<br />
Neue Programme zur Inklusion von<br />
Mitbürgern mit Demenz zielen die Erschließung<br />
sinnesorientierter Wahrnehmungs-<br />
und Interaktionsräume an, welche<br />
30<br />
Keine<br />
Sozialromantik<br />
die Kommunikation von Erleben und damit<br />
gesellschaftliche Teilhabe (u. a. über<br />
Musik/Malen) eröffnen. So verbleiben<br />
nicht hoffnungslos Kranke, Dahinvegetierende,<br />
»Verblödete«<br />
und schließlich<br />
aus Kostengründen<br />
»Abzuschaffende«.<br />
Für derartige »Endlösungen«<br />
scheinen<br />
sich trotz noch immer<br />
vorhandenen »Wohlstands« ja bedenkliche<br />
Symptome vorzubereiten.<br />
Ohne eine romantische Verherrlichung<br />
oder Verharmlosung von Behinderung<br />
aller Art zu propagieren,<br />
soll »Demenz« als<br />
mitbürgerliche Aufgabe<br />
in Nachbarschaft, im<br />
Vereinswesen, in Kirche<br />
und Öffentlichkeit<br />
wahrgenommen werden<br />
und in der Kommune<br />
zum lohnenden<br />
Austausch führen. Bietet<br />
sich hier nicht die<br />
Chance zur Erkenntnis,<br />
dass wir alle vom Beginn<br />
unseres Daseins an von<br />
der Zuwendung anderer<br />
Menschen abhängig<br />
<strong>sind</strong>, von Anderen<br />
als soziale Wesen in gelebter<br />
Humanität wahrgenommen<br />
werden und von ihnen in unserer<br />
Würde wertgeschätzt bleiben?<br />
Insofern bedarf es »neuer Kommunen«,<br />
wie der 2. Teil des Buches anregt.<br />
Nicht die »Industrialisierung des Sozialen«,<br />
wobei der alte Mensch zum »Pillenschlucker«<br />
und zum »Verpflegten« verkommt,<br />
führt zum Ziel. Generell bedarf<br />
es der »neuen Architektur des Sozialen«,<br />
da der »sensus communis« bereits innerhalb<br />
der aktiven Leistungsgesellschaft<br />
verloren geht: im »carpe diem« der Singles,<br />
der Selbstisolierung des PC-Freaks,<br />
in einer »Selbstbestimmung«, welche die<br />
Entmündigung des Alten fordert und zur<br />
»Stilllegungsprämie« des Hochbetagten<br />
durch seine Erben tendiert. Für die von<br />
den Autoren aufgezeigten verschiedenen<br />
Wege in eine neue Praxis des Alltags sei<br />
gedankt. Wir stehen – wieder einmal – am<br />
Anfang. Als nicht nur denkende Naturen,<br />
sondern fühlende, einfühlende, lernende<br />
in Gegenseitigkeit!<br />
Dr. med. Maria Overdick-Gulden<br />
Peter Wissmann/Reimer Gronemeyer: Demenz und<br />
Zivilgesellschaft – eine Streitschrift. Mabuse-<br />
Verlag, Frankfurt a.M. 2008. 200 Seiten. 21,80 EUR.<br />
Im Schaufenster<br />
Der machbare<br />
Mensch?<br />
Der vorliegende<br />
Sammelband ist im<br />
vergangenen Jahr in<br />
der Schriftenreihe<br />
des Evangelischen<br />
Studienwerks Villigst<br />
erschienen und<br />
geht auf einen Kongress<br />
zurück, der sich mit den medizinischen<br />
und technischen Möglichkeiten der »Verbesserung«<br />
natürlicher Eigenschaften des Menschen<br />
beschäftigte. Er gibt, trotz einiger<br />
Schwächen und unvermeidbaren Auslassungen,<br />
einen recht soliden Überblick über das<br />
bereits technisch Mögliche (Neurochirurgische<br />
Eingriffe, Neuroprothesen, Gendiagnostik,<br />
Stammzellforschung, psychopharmakologische<br />
Interventionen), diskutiert viele realistische<br />
und einige eher utopische Zukunftsszenarien<br />
und hinterfragt kritisch deren Auswirkungen<br />
auf unsere Sicht des Menschen.<br />
Fazit: Lesenswert.<br />
reh<br />
Peter Böhlemann/Almuth Hattenbach/Lars Klinnert/<br />
Peter Markus (Hrsg.): Der machbare Mensch? Moderne<br />
Hirnforschung, biomedizinisches Enhancement<br />
und christliches Menschenbild.<br />
Lit-Verlag, Berlin 2010. 136 Seiten. 19,90 EUR.<br />
Life Talk<br />
In dem als Tagebuch<br />
verfassten Buch erzählt<br />
die Autorin die<br />
Geschichte zweier<br />
Konfliktschwangerschaften.<br />
<strong>Die</strong> der<br />
bereits 30-jährigen<br />
Catharina und die<br />
der erst 17-jährigen<br />
Maria. <strong>Die</strong> eine mündet in eine Geburt, die<br />
andere in eine Abtreibung. Inwieweit beide<br />
Geschichten authentisch oder fiktiv <strong>sind</strong>, wird<br />
nicht klar. So oder so handelt es sich jedoch<br />
um ein letztlich lesenswertes Werk, das realistisch<br />
die Konflikte zur Sprache bringt, in die<br />
Frauen – nicht zuletzt durch den Druck aus ihrem<br />
Umfeld – geraten können, wenn sie überraschend<br />
schwanger werden. <strong>Die</strong> von der Autorin<br />
gewählte Sprache dürfte <strong>für</strong> viele Leser<br />
freilich gewöhnungsbedürftig sein, nicht zuletzt,<br />
weil sie über weite Strecken auch die<br />
E-Mail-Korrespondenz in ihren Text mit ein-<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
fließen lässt, mittels der sie mit ihrem Umfeld<br />
und Maria, die sie in einem Chatroom kennengelernt<br />
hat, führt.<br />
Fazit: Für junge und robustere Leser. reh<br />
Catharina Paul: Life Talk. Ein Tagebuch. Verlag Dr.<br />
Klein Media, Augsburg 2009. 256 Seiten. 12,90 EUR.<br />
Leben als<br />
Maschine?<br />
Auf den ersten Blick<br />
mag dieses Buch<br />
<strong>für</strong> <strong>Lebensrecht</strong>ler<br />
wenn überhaupt,<br />
dann nur von nachrangigem<br />
Interesse<br />
sein. Das ändert<br />
sich jedoch auf den<br />
zweiten Blick dramatisch.<br />
Denn letztlich stellen Disziplinen wie<br />
die Systembiologie, die Robotik und die Künstliche<br />
Intelligenz unser Menschenbild und damit<br />
auch die Gültigkeit von Menschenrechten<br />
in Frage. <strong>Die</strong>ses Buch zeigt, wie weit die genannten<br />
Disziplinen fortgeschritten <strong>sind</strong>, welche<br />
Visionen die dort arbeitenden Forscher<br />
antreiben und welche Konsequenzen dies <strong>für</strong><br />
die Zukunft der Menschheit haben könnte.<br />
Fazit: Ein Buch <strong>für</strong> alle, die weiter denken. reh<br />
Klaus Mainzer: Leben als Maschine? Von der Systembiologie<br />
zur Robotik und Künstlichen Intelligenz.<br />
Mentis Verlag, Paderborn 2010. 274 Seiten.<br />
29,80 EUR.<br />
Entgrenzung der<br />
Medizin<br />
Schönheitschirurgie<br />
und »Anti-Aging« boomen,<br />
Neuropharmaka<br />
zur Verbesserung der<br />
Stimmung oder der<br />
Gedächtnisleistung<br />
finden reißenden Absatz.<br />
Anzeichen da<strong>für</strong>,<br />
dass sich die Medizin längst nicht mehr nur<br />
der Heilung kranker, sondern auch der »Optimierung«<br />
gesunder Menschen widmet.<br />
<strong>Die</strong> Autoren des Bandes beschreiben anhand<br />
zahlreicher Fallbeispiele diese »Entgrenzung<br />
der Medizin«, fragen nach historischen Vorbildern<br />
und erörtern ihre sozialen Folgen.<br />
Fazit: Lesenswert.<br />
reh<br />
Willy Viehöver/Peter Wehling (Hrsg.): Entgrenzung<br />
der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung<br />
des Menschen? Verlag Transcript , Bielefeld<br />
2011. 308 Seiten. 29,80 EUR.<br />
Forschungspraxis<br />
Bioethik<br />
Jede Wissenschaft ist gut beraten,<br />
sich regelmäßig ihrer Grundlagen<br />
zu vergewissern. Das gilt auch <strong>für</strong><br />
die Bioethik, die danach fragt, wie<br />
der Umgang mit<br />
dem technologischen<br />
Fortschritt<br />
in den Biowissenschaften<br />
aus ethischer<br />
Perspektive<br />
bewertet und<br />
gestaltet werden muss. Das bisweilen –<br />
keineswegs nur im übertragenen Sinne –<br />
mörderische Tempo, mit dem die Biotechnologien<br />
derzeit voranschreiten,<br />
macht es<br />
jedoch der ethischen<br />
Reflexion zunehmend<br />
schwerer, Schritt zu<br />
halten. Bei der gegenwärtigen<br />
Geschwindigkeit<br />
droht vor allem<br />
die Reflexion der<br />
Reflexion schnell zu<br />
kurz zu kommen.<br />
Dabei ist es, wie<br />
etwa der Begriff der<br />
»Ethik des Heilens«<br />
zeigt, alles andere<br />
als unerheblich,<br />
vor welchem Hintergrund<br />
einzelne Technologien<br />
ethisch bewertet<br />
werden. Insofern<br />
ist also durchaus<br />
zu begrüßen, dass<br />
der vorliegende Band<br />
beabsichtigt, »Vorschläge zur Verortung,<br />
Strukturierung und Implementierung der<br />
Bioethik« zu machen.<br />
Gegliedert ist er in fünf Teile. Ein erster<br />
Teil widmet sich theoretischen Grundfragen,<br />
befasst sich mit der Terminologie<br />
bioethischer Diskurse, fragt nach der<br />
Bedeutung häufig benutzter Metaphern<br />
und untersucht verschiedene Kategorien<br />
der Bioethik. Ein zweiter Teil beleuchtet<br />
anthropologische Aspekte und sucht<br />
Licht in das Dunkel von Begriffen wie<br />
»Bewusstsein« und »Selbstbewusstsein«<br />
oder auch »Persönlichkeit« zu bringen.<br />
Erhellt wird ferner, was die monotheistischen<br />
Buchreligionen, Judentum, Christentum<br />
und Islam, über die Entstehung<br />
und Beseelung des Menschen lehren und<br />
auf welche Quellen sie sich dabei stützen.<br />
Ein dritter, erstaunlich umfangreicher<br />
Teil beschäftigt sich mit der Tierethik,<br />
sucht nach Kriterien <strong>für</strong> die ethische<br />
Vertretbarkeit von Tierexperimenten,<br />
fragt nach Sinn und Grenzen des Anthropozentrismus<br />
in der Ethik und stellt<br />
sogar Spekulationen darüber an, inwieweit<br />
»nichtmenschliche Tiere« in einen<br />
»vertragstheoretischen Argumentationsrahmen«<br />
einbezogen werden können und<br />
sollten. Der vierte Teil des Bandes ist der<br />
Ethik in der Medizin<br />
gewidmet.<br />
Dabei untersucht<br />
er beispielsweise,<br />
welche Rolle<br />
Werturteile in der<br />
Evidenz-basierten<br />
Medizin spielen oder wie die Steigerung<br />
kognitiver Fähigkeiten durch Psychopharmaka<br />
ethisch bewertet werden könnte. Ein<br />
fünfter und letzter<br />
Teil beschäftigt sich<br />
schließlich mit gesellschaftlichen<br />
Auswirkungen,<br />
die die Implementierung<br />
biotechnologischer<br />
Erfindungen<br />
und Techniken<br />
mit sich bringt.<br />
Dabei werden etwa<br />
Gendatenbanken und<br />
Patente besonders in<br />
den Blick genommen.<br />
<strong>Die</strong>se nicht einmal<br />
vollständige Übersicht<br />
zeigt freilich<br />
auch, wie uferlos die<br />
Bioethik längst geworden<br />
ist. Wer sich<br />
in die einzelnen Beiträge<br />
vertieft, trifft<br />
dort zwar fast überall<br />
auf interessante<br />
Einsichten und bedenkenswerte Argumente,<br />
doch dürfte außer den Experten<br />
selbst kaum noch jemand in der Lage<br />
sei, diese zu einem halbwegs stimmigen<br />
Gesamtbild zusammenzufügen. Das<br />
wirft freilich die Frage nach dem Nutzen<br />
derartiger Publikationen auf.<br />
Der Gefahr, dass die Bioethik zu einem<br />
intellektuell hochstehenden Selbstgespräch<br />
wird, in dem am Ende nur noch<br />
Spezialisten mit Spezialisten über sehr<br />
spezielle Fragen diskutieren, anstatt Politik<br />
und Gesellschaft die dringend benötigten<br />
Optionen <strong>für</strong> einen ethischen Umgang<br />
mit den nicht selten bedrohlichen<br />
Biotechnologien zu liefern, lässt sich so<br />
jedenfalls kaum erfolgreich begegnen.<br />
Sebastian Sander<br />
László Kovács/Cordula Brand (Hrsg.): Forschungspraxis<br />
Bioethik. Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau<br />
2011. 382 Seiten. 39,00 EUR.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 31
K U R Z V O R S C H L U S S<br />
Expressis verbis<br />
Ȇber die Abtreibung zu diskutieren, bedeutet<br />
das Gesetz anzutasten versuchen.«<br />
Frankreichs Bildungsministerin Luc Chatel in einem<br />
Brief an den Gymnasiallehrer Philippe Isnard,<br />
der seinen Schülern im Unterricht ein Video<br />
gezeigt hatte, in dem abgetriebene Kinder zu sehen<br />
<strong>sind</strong>. Laut dem Schweizer »mamma-info« Nr.<br />
19, Mai/Juni 2010 wurde Isnard daraufhin die<br />
Lehrbefugnis entzogen.<br />
Gewiss ist die Seele noch im Leib anwesend.<br />
<strong>Die</strong> Situation ist vielleicht wie jene einer<br />
Gitarre, deren Saiten gerissen <strong>sind</strong>, so<br />
dass man nicht mehr auf ihr spielen kann.<br />
So ist auch das Instrument des Leibes gebrechlich,<br />
es ist verletzlich, und die Seele<br />
kann es sozusagen nicht mehr spielen, doch<br />
sie bleibt anwesend. Ich bin auch sicher,<br />
dass diese verborgene Seele in der Tiefe eure<br />
Liebe verspürt, auch wenn sie nicht die<br />
Einzelheiten begreift, die Worte und so weiter.<br />
Doch die Gegenwart einer Liebe spürt<br />
sie.«<br />
Antwort Papst Benedikts XVI. in einem von der<br />
italienischen RAI am 22. April (Karfreitag) ausgestrahlten<br />
Interview auf die Frage einer Mutter,<br />
deren Sohn seit Ostern 2009 im Wachkoma liegt.<br />
»<br />
Ich denke, wir müssen auch als Politik erst<br />
einmal anerkennen, dass der säkulare Staat<br />
kein Schicksal mehr kennt und dass die Leute<br />
machen, was sie machen können. Im Moment<br />
fahren die Deutschen in großer Zahl<br />
nach Belgien und lassen sich dort entsprechend<br />
behandeln.«<br />
<strong>Die</strong> ehemalige Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries (SPD) in der N24-Talk-Show »Deutschland<br />
akut« (22.6.) auf die Frage, was die Politik<br />
tun müsse, um zu verhindern, dass die Zulassung<br />
der Präimplantationsdiagnostik (PID) zu einem<br />
Dammbruch führe.<br />
»<br />
In-vitro-Fertilisation <strong>für</strong> alleinstehende<br />
Frauen und lesbische Paare, Eizellspenden,<br />
Präimplantationsdiagnostik.«<br />
<strong>Die</strong> Vorsitzende der österreichischen Bioethikkommission<br />
Christiane Druml im Interview mit<br />
der Tageszeitung »<strong>Die</strong> Presse« auf die Frage, was<br />
ihr in der österreichischen Gesetzgebung zur Fortpflanzungsmedizin<br />
fehle.<br />
Öffentliche Kritik an der<br />
Abtreibung aus dem Mund<br />
eines Politikers hat Seltenheitswert.<br />
Den CDU-Bundestagsabgeordneten<br />
Günter Krings hat<br />
dies nicht gehindert, sie trotzdem zu äußern.<br />
In einem Interview mit der Beilage<br />
»Christ und Welt« der Wochenzeitung<br />
»<strong>Die</strong> Zeit« sagte der Protestant: »Man<br />
kann angesichts der Zahlen nicht beruhigt<br />
sein, man kann auch angesichts des<br />
täglichen Gesetzesbruchs aufgrund von<br />
embryopathischer Indikation,<br />
also der Abtreibung<br />
möglicherwei-<br />
ARCHIV»<br />
se behinderter Kinder,<br />
nicht zufrieden sein.«<br />
Durch die geltende Regelung<br />
zum Schwangerschaftsabbruch<br />
habe<br />
sich der Gesetzgeber<br />
»moralisch angreifbar<br />
gemacht«,<br />
Günter Krings<br />
bekannte<br />
Krings, nicht ohne daran zu erinnern,<br />
dass die Spätabtreibungen inzwischen<br />
»immerhin an eine Beratungspflicht« gebunden<br />
seien. Kritik übte Krings auch an<br />
der »Rechtsdurchsetzung«. »Wenn bei<br />
der Spätabtreibung gegen die Diskriminierung<br />
behinderten Lebens verstoßen<br />
wird, so ist hier nicht der Gesetzgeber,<br />
sondern die Rechtsprechung gefordert«,<br />
sagte der CDU-Politiker.<br />
reh<br />
Tops & Flops<br />
WWW:BUNDESTAG.DE<br />
... so schaffen<br />
wir .. auch hier<br />
kunftig die<br />
KRANKEN ab,<br />
nicht etwa die<br />
KRANKHEITEN!<br />
GAS<br />
Der Transplantationsmediziner<br />
Eckhard Nagel zieht<br />
gegen ein absolutes PID-<br />
Verbot zu Feld. In der Zeitung<br />
»<strong>Die</strong> Welt« forderte er, die PID zuzulassen,<br />
um Embryonen mit Fehlbildungen<br />
zu selektieren, die mit dem Leben unvereinbar<br />
seien. Auf die Frage, wie viele<br />
das seien, antwortete er: »Ungefähr zehn<br />
Indikationen, mit maximal 200 Fällen<br />
pro Jahr in Deutschland.« Wenig später<br />
räumt er allerdings ein, in »biologischen<br />
Kontexten« gebe es immer<br />
nur »Unschärferelationen«.<br />
Weil das so<br />
ist, ist Nagels Forderung<br />
auch eine Kopfgeburt.<br />
Es ist unmöglich,<br />
mittels PID festzustellen,<br />
ob ein Embryo eine<br />
mit dem Leben unvereinbare<br />
Krankheit besitzt.<br />
Frühe Embryonen<br />
Eckhard Nagel<br />
weisen oftmals nur in einigen Zellen eine<br />
unnormale Verteilung der Chromosomen<br />
auf (Mosaikbildung). Wird eine gesunde<br />
Zelle untersucht, können Chromosomenanomalien<br />
unentdeckt bleiben. Wird eine<br />
anormale Zelle untersucht, bedeutet dies<br />
nicht, dass der Embryo mit einer genetischen<br />
Beeinträchtigung geboren würde.<br />
Frühe Embryonen können nämlich<br />
abnormale Zellen absondern. reh<br />
32<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
Aus dem Netz gefischt<br />
Es ist kein Lebensschutz-Portal. Und<br />
doch ist die Plattform www.netmoms.de,<br />
auf der Frauen so ziemlich alles rund um<br />
Themen wie Schwangerschaft, Geburt<br />
und Babypflege<br />
finden und sich<br />
miteinander vernetzten,<br />
Fragen<br />
loswerden und<br />
Erfahrungen austauschen<br />
können,<br />
sicherlich<br />
auch geeignet,<br />
so mancher Frau<br />
Mut zu machen,<br />
auch eine »völlig<br />
überraschende«<br />
Schwangerschaft<br />
bewältigen<br />
zu können. Denn<br />
das farbenfrohe,<br />
ansprechend gestaltete<br />
Portal<br />
vermittelt – gewollt<br />
oder ungewollt<br />
– neben vielem<br />
Wissenswerten auch die Botschaft,<br />
dass Kinder keineswegs nur Arbeit erfordern,<br />
sondern das Leben von Eltern, Geschwistern<br />
und Gesellschaft bereichern.<br />
www.netmoms.de<br />
Rund 1,5 Millionen Besucher im Monat<br />
und 32 Millionen Seitenaufrufe sprechen<br />
eine eindeutige Sprache, was den Nutzwert<br />
des übersichtlich angelegten Portals<br />
angeht. Ins Leben gerufen wurde es übrigens<br />
von der promovierten Betriebswirtin<br />
und dreifachen Mutter, Prinzessin Tanja<br />
Cassandra zu Waldeck und Pyrmont. reh<br />
K U R Z & B Ü N D I G<br />
WWW.MARAHVISTENDAHL.COM<br />
Asien und die Folgen der Abtreibung<br />
Jüngsten Berechnungen zufolge gibt es in<br />
Asien 163 Millionen weniger Frauen als<br />
Männer. Das berichtet das Online-Magazin<br />
des Spiegels unter Berufung auf das in englischer<br />
Sprache erschienene Buch »Unnatürliche<br />
Selektion« der US-Journalistin Mara<br />
Hvistendahl. Hvistendahl zufolge ließen vor<br />
allem reiche Städter in China und Indien, die<br />
sich Ultraschalluntersuchungen leisten könnten,<br />
das Geschlecht ihrer Kinder bestimmen<br />
und Mädchen systematisch abtreiben. Während<br />
in Indien auf diese Weise die Mitgift gespart<br />
werden solle, die die Eltern mit der<br />
Hochzeit der Tochter der Familie des Mannes<br />
zu entrichten pflegen, würden in China wegen<br />
der Ein-Kind-Politik Söhne als Stammhalter<br />
bevorzugt. <strong>Die</strong> Folgen: In den Regionen, in<br />
denen ein Überschuss an Männer herrscht,<br />
nähmen Prostitution und andere Formen des<br />
»<strong>Die</strong> Welt. <strong>Die</strong> von morgen« (10)<br />
»Sein Gewissen war rein. Er benutzte<br />
es nie«, notiert der Schriftsteller Jerzy<br />
Lec in seinen »Unfrisierten Gedanken«.<br />
Dass er dabei gar nicht an Arbeitsministerin<br />
Ursula von der Leyen gedacht haben<br />
kann, macht nicht nur das von Lec<br />
gewählte Geschlecht klar, sondern auch<br />
die Fönfrisur, mit der die Ministerin bei<br />
der Abstimmung über die Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) die Abgeordneten<br />
beschwor, der »Gewissensentscheidung«<br />
der Betroffenen Raum zu geben.<br />
Dass dem Gewissen in Fragen von Leben<br />
und Tod besondere Bedeutung zukommt,<br />
bestreitet niemand. Dass es aber<br />
den Staat, dessen vornehmste Aufgabe<br />
in seiner Sorge <strong>für</strong> Leib und Leben seiner<br />
Bürger besteht, zur Zurückhaltung<br />
verpflichten soll, ist ein völlig neuer Politikansatz.<br />
Einer, der zu begrüßen wäre, wenn<br />
er nur niederschwelliger ansetzte. Warum<br />
soll der Staat es in der Welt von<br />
morgen nicht der Gewissensentscheidung<br />
seiner Bürger überlassen, ob sie<br />
sich bereitfinden, Steuern zu zahlen oder<br />
nicht? Oder ob sie die Straßenverkehrsregeln<br />
be- oder missachten wollen? Warum<br />
kann der Staat es nicht den Gewissen<br />
der Einzelnen überlassen, ob sie einander<br />
betrügen und bestehlen oder sich<br />
fair und ehrlich verhalten wollen? Vielleicht<br />
weil Politiker ohne Steuern kein<br />
Gehalt mehr bekämen und Gefahr liefen,<br />
wie jeder andere, Opfer von Betrügereien<br />
oder Verkehrsrowdys zu werden.<br />
Natürlich wissen wir nicht, ob das der<br />
Grund ist, warum die Ministerin nicht<br />
auch auf diesen Gebieten »Gewissensentscheidungen«<br />
Raum geben will. Was<br />
wir wissen, ist viel bescheidener: <strong>Die</strong><br />
Fönfrisur steht Ursula von der Leyen<br />
viel besser zu Gesicht als ihr frisiertes<br />
Gewissen.<br />
Stefan Rehder<br />
Mara Hvistendahl<br />
Menschenhandels besonders besorgniserregende<br />
Dimensionen an. Auch die Mordrate<br />
sei dort am höchsten.<br />
reh<br />
Stammzellkongress im Vatikan<br />
Im Herbst wird der Vatikan erstmals eine internationale<br />
Konferenz zur Forschung mit<br />
adulten Stammzellen veranstalten. Der Kongress<br />
sei <strong>für</strong> den 9. bis 11. November geplant.<br />
Das erklärte das vatikanische Presseamt.<br />
Organisiert wird die Tagung demnach<br />
von der Abteilung »Wissenschaft und Glaube«<br />
des Päpstlichen Kulturrates, der von dem<br />
italienischen Kurienkardinal Gianfranco Ravasi<br />
geleitet wird. Im Gegensatz zu der<br />
menschliche Embryonen verbrauchenden Forschung<br />
an embryonalen Stammzellen be<strong>für</strong>wortet<br />
der Vatikan ausdrücklich die Forschung<br />
mit adulten Stammzellen, die ohne<br />
die Tötung von Embryonen auskommt. Adulte<br />
Stammzellen lassen sich an verschiedenen<br />
Orten aus dem Organismus eines geborenen<br />
Menschen relativ problemlos gewinnen und<br />
im Labor vermehren.<br />
reh<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 33
L E S E R F O R U M<br />
Aus der Seele gesprochen<br />
Der Beitrag von Professor Dr. Christoph<br />
von Ritter »<strong>Die</strong> Last der Selektion<br />
trägt die Frau« (LF, Nr. 97 S. 7ff) spricht<br />
mir in vielem aus der Seele. So etwa die<br />
Einschätzung des Autors, dass die Fortpflanzungsmedizin<br />
zu einem Industriezweig<br />
geworden ist, der mit »Kinderlosigkeit<br />
und dem Leid von Eltern, die sich<br />
Gratulation zu dieser sehr<br />
informativen Ausgabe von<br />
»LebensForum«, die so gar<br />
nicht zu dem in anderen<br />
Medien vermittelten Bild von<br />
Lebensschützern passt.<br />
Nehmen Sie bitte daher zur<br />
Kenntnis: Ich fühle mich nicht<br />
nur umfassend, sondern auch<br />
überaus seriös informiert.<br />
Hildegard Püllen, Stolberg<br />
zu »LebensForum« Nr. 98<br />
(LF 98, S. 19): Sobald es Kritik an der<br />
Abtreibung gibt, ist die Toleranz der Toleranten<br />
schnell am Ende. Wenn Wertkonservative<br />
mit den Verfechtern des<br />
Gender-Mainstreamings so umgingen,<br />
wie die angeblich so tolerante Linke mit<br />
den Gegnerinnen und Gegnern der Abtreibung,<br />
wäre das Geschrei in der Republik<br />
groß.<br />
Michaela Meyer, Frankfurt a. Main<br />
Missverständlich<br />
Wer den Beitrag »Zeichen setzen«<br />
(LF 98, S. 36) genau liest, der wird zwar<br />
feststellen, dass Matthias Lochner keinesfalls<br />
behauptet, mit einem Wechsel<br />
zur BKK IHV könne der Versicherte<br />
da<strong>für</strong> sorgen, dass seine Beiträge nicht<br />
auch zur Finanzierung von Abtreibungen<br />
verwandt werden. Dennoch erweckt<br />
der Beitrag unglücklicherweise genau den<br />
Eindruck, als könne der zur BKK IHV<br />
Wechselnde damit rechnen, dass seine<br />
Versichertenkarte der BKK IHV<br />
Beiträge nicht auch zur Finanzierung von<br />
Abtreibungen verwandt würden. Das ist<br />
jedoch nicht der Fall und rechtlich auch<br />
gar nicht möglich. Wer zur BKK IHV<br />
wechselt, erhält im Grunde lediglich eine<br />
Versicherungskarte mit der Aufschrift<br />
»Ich verzichte auf Abtreibung« und damit<br />
die Möglichkeit, jede Sprechstundenhilfe<br />
und jeden Arzt von seiner löblichen<br />
Gesinnung in Kenntnis zu setzen.<br />
Das wäre allerdings auch auf anderem<br />
Wege möglich. Erst die Überschrift<br />
und der Vorspann lassen erahnen, dass<br />
es hier zwar um lobenswerte Symbolpolitik<br />
geht, nicht aber um einen handfesten<br />
Beitrag zum Lebensschutz. Ich meine,<br />
dass hätte trotz des begrenzten Umfangs<br />
des Beitrags auch in diesem selbst<br />
unmissverständlich zum Ausdruck gebracht<br />
werden müssen.<br />
Hannelore Baumann, Hannover<br />
Frühkindliche Qualitätsprüfung<br />
A N Z E I G E<br />
Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder<br />
machen, riesige Summen Geld verdient«.<br />
Schade, dass eine derart kritische Sicht<br />
der Fortpflanzungsmedizin nicht auch<br />
das Interesse der großen überregionalen<br />
Tageszeitungen weckt. Aber vielleicht ist<br />
dort die Angst, wichtige Anzeigenkunden<br />
wie Pharmaunternehmen zu verärgern,<br />
einfach zu groß. Was ein Glück, dass es<br />
das »LebensForum« gibt.<br />
Roman Schneider, Düsseldorf<br />
Toleranz der Toleranten<br />
Zum Beitrag von Alexandra Linder<br />
»Mit Nazis und Taliban gleichgesetzt«<br />
34<br />
L e b e n s F o r u m 9 8
I M P R E S S U M<br />
IMPRESSUM<br />
LEBENSFORUM<br />
Ausgabe Nr. 98, 2. Quartal 2011<br />
ISSN 0945-4586<br />
Verlag<br />
<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> (ALfA) e.V.<br />
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Herausgeber<br />
<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e.V.<br />
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Tannwald (Ärzte <strong>für</strong> das Leben e.V.)<br />
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Name<br />
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Straße, Nr.<br />
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PLZ, Ort<br />
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Institut<br />
Konto.-Nr.<br />
BLZ<br />
Datum, Unterschrift<br />
L e b e n s F o r u m 9 8 35
L E T Z T E S E I T E<br />
Gott spielen<br />
<strong>Die</strong> Politik hat die PID erlaubt. Um Eltern<br />
vor Totgeburten und kranken Kindern zu<br />
bewahren. <strong>Die</strong> USA <strong>sind</strong> da schon weiter.<br />
Von Stefan Rehder<br />
Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />
Deutsche Post AG (DPAG)<br />
<strong>Aktion</strong> <strong>Lebensrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Alle</strong> e.V. (ALfA)<br />
Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />
Ich finde es toll, dass heute getestet<br />
werden kann, ob es ein gesundes Baby<br />
wird, und dass wir sogar das Geschlecht<br />
wählen können. Das ist fantastisch«,<br />
sagt Mary Johnson. <strong>Die</strong> 39-jährige<br />
US-Amerikanerin besucht das Fertility<br />
Institute in Los Angeles. Begleitet<br />
wird sie von einem deutschen Fernsehteam.<br />
Dessen fertiger, <strong>für</strong> das ZDF produzierte<br />
Film kann auch im Internet angeschaut<br />
werden. Nicht in der ZDF-<br />
Mediathek, sondern auf der Website des<br />
Fertility Institutes, wo der Film, trotz<br />
kritischer Passagen, offenbar zu Werbezwecken<br />
eingepflegt wurde.<br />
Mary Johnson, erfahren wir, müsste<br />
sich gar keiner künstlichen Befruchtung<br />
unterziehen, um schwanger zu werden.<br />
Sie und ihr Mann wären durchaus in der<br />
Lage, Kinder zu zeugen. Nur willens <strong>sind</strong><br />
36<br />
Internetauftritt der »Fertility Institutes«<br />
sie dazu nicht. Denn die Johnsons wollen<br />
das Geschlecht ihres Kindes nicht dem<br />
Zufall überlassen und unbedingt ein Mädchen.<br />
Ihr Mann sei schon älter. Da wäre<br />
ein Junge einfach zu anstrengend, begründet<br />
Mary Johnson ihre Wahl.<br />
Im Fertility Institute ist sie da an der<br />
richtigen Adresse. <strong>Die</strong> 1986 gegründete<br />
Fortpflanzungsklinik wird von Jeffrey<br />
Steinberg geleitet. Der 56-jährige Reproduktionsmediziner<br />
hat sein Handwerk an<br />
der Wiege der künstlichen Befruchtung<br />
erlernt und an der Bourne Hall Clinic der<br />
Universität Cambridge mit den Pionieren<br />
der In-vitro-Fertilisation Patrick Steptoe<br />
und Robert Edwards gearbeitet. 1999 begann<br />
Steinberg dann in Los Angeles damit,<br />
die von ihm hergestellten Embryonen<br />
vor der Übertragung in den Uterus<br />
mittels Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) auf genetische Anomalien zu untersuchen.<br />
2003 spezialisierte er sich darauf,<br />
Kinder per Geschlecht zu selektieren.<br />
Möglich ist dies, weil sich bei Neonlicht<br />
das Y-Chromosom, das nur Jungen<br />
besitzen, unter dem Mikroskop zweifelsfrei<br />
ausfindig machen lässt.<br />
Pro Geschlechtsselektion verlangt<br />
Steinberg, der mittlerweile auch Filialen<br />
in New York und Guadalajara (Mexiko)<br />
betreibt, umgerechnet rund 14.000<br />
Euro. 7.000 Paaren will er so schon zum<br />
Wunschkind verholfen haben. Fast Dreiviertel<br />
seiner Kunden kämen nur zu ihm,<br />
weil sie sich bei ihm das Geschlecht des<br />
Kindes aussuchen könnten, verrät Steinberg.<br />
Darunter auch viele Deutsche. Für<br />
sie hat Steinberg eigens weite Teile der<br />
Website des Fertility Institutes, wenn auch<br />
mehr schlecht als recht, übersetzen lassen.<br />
Weitere Fassungen <strong>sind</strong> in chinesischer,<br />
französischer und spanischer Sprache<br />
gehalten.<br />
Ethische Bedenken quälen Steinberg,<br />
der pro Tag rund drei Geschlechtsselektionen<br />
mittels PID durchführt, keine.<br />
Ganz im Gegenteil: »Wir arbeiten Hand<br />
in Hand mit Gott«, behauptet der Multimillionär.<br />
»Wenn jemand eine Blinddarmentzündung<br />
bekommt, würde Gott ihn<br />
sterben lassen. Der Arzt kommt, operiert<br />
und rettet Leben. Spielt er Gott oder arbeitet<br />
er Hand in Hand mit ihm?«, fragt<br />
Steinberg, um gleich darauf seine schlichte<br />
Sicht der Dinge zu präsentieren: »Wir<br />
studieren Gottes Arbeit. Das Paar macht<br />
den Jungen oder das Mädchen, welches<br />
Geschlecht es zurückbekommen will, ist<br />
die Entscheidung des Paars.«<br />
Steinberg würde noch weiter gehen,<br />
wenn man ihn ließe. Unlängst versprach<br />
er, mit einer neuen Methode da<strong>für</strong> zu sorgen,<br />
dass Eltern auch Haar- und Augenfarbe<br />
des Kindes auswählen könnten. Als<br />
es Kritik hagelte, machte er einen Rückzieher.<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft sei da<strong>für</strong> wohl<br />
noch nicht bereit. Vielleicht aber in 30<br />
Jahren. Dann stehe er bereit, droht er.<br />
L e b e n s F o r u m 9 8