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Morgen ist es zu spät

„Julia, deine Wünsch sind immer Befehle, mir liegt es mehr, sie dir von den Augen abzulesen.“ rea­gierte Dominique „Du schummelst, mein Liebster. Meine Augen suchen nämlich schon eine ganze Zeit nach Weingläsern. Ist dir offensichtlich völlig verborgen geblieben.“ bemerkte ich dazu. Wir tranken und redeten dummes Zeug, spot­teten und ironisierten, zwischendurch mussten wir uns immer wieder küssen. „Sag mal Dominique, woran merkst du, ich meine jetzt dich persönlich, nicht all­gemein, eigentlich, dass ich eine Frau bin?“ stellte ich eine Frage, zu deren Be­antwortung sich Do­minique zunächst wegen Lachens nicht in der Lage fühlte. Dann beabsichtigte er sich auch weiter am Lachen zu halten. Nannte alle skur­rilen, unbedeutenden Merkmale, von meinen braunen Schuhen bis zu den blon­den Haaren und er Aura über mir. „Das ist schade, sehr schade, ich dachte, Männer würden auch etwas empfinden und es daran merken. Aber du scheinst tot zu sein, tot und kalt. Ich dachte heterosexuelle Männer würden so etwas wie Bedürfnisse, Wün­sche, Begierden, Verlangen oder Gelüste empfinden und daran merken, das sie es mit einem femininen Wesen ihrer Art zu tun haben. Bei dir ist das nicht so, nein?“ erkundigte ich mich. „In der Regel ist das nicht so, nein, nur bei den Wesen, die solche Fragen stellen, da tritt es in äußerst ex­tremen Formen auf.“ lautete seine Reaktion. Meistens verstanden wir uns auf Anhieb, es schien nur Weniges, das dezidiert geklärt werden musste. Wir verstanden uns auch, als um drei Uhr in der Nacht Dominique nackt am Flügel sitzend sang: „Ich liebe dich, so wie du mich, Am Abend und am Morgen.“, ich mich an seinem Rücken rieb, ihn ständig küssend unterbrach, und Domini­que so oft neu beginnen musste, dass ich Beethovens „Zärtliche Liebe” auch schon fast singen konnte.

„Julia, deine Wünsch sind immer Befehle, mir liegt es mehr, sie dir von den Augen abzulesen.“ rea­gierte Dominique „Du schummelst, mein Liebster. Meine Augen suchen nämlich schon eine ganze Zeit nach Weingläsern. Ist dir offensichtlich völlig verborgen geblieben.“ bemerkte ich dazu. Wir tranken und redeten dummes Zeug, spot­teten und ironisierten, zwischendurch mussten wir uns immer wieder küssen. „Sag mal Dominique, woran merkst du, ich meine jetzt dich persönlich, nicht all­gemein, eigentlich, dass ich eine Frau bin?“ stellte ich eine Frage, zu deren Be­antwortung sich Do­minique zunächst wegen Lachens nicht in der Lage fühlte. Dann beabsichtigte er sich auch weiter am Lachen zu halten. Nannte alle skur­rilen, unbedeutenden Merkmale, von meinen braunen Schuhen bis zu den blon­den Haaren und er Aura über mir. „Das ist schade, sehr schade, ich dachte, Männer würden auch etwas empfinden und es daran merken. Aber du scheinst tot zu sein, tot und kalt. Ich dachte heterosexuelle Männer würden so etwas wie Bedürfnisse, Wün­sche, Begierden, Verlangen oder Gelüste empfinden und daran merken, das sie es mit einem femininen Wesen ihrer Art zu tun haben. Bei dir ist das nicht so, nein?“ erkundigte ich mich. „In der Regel ist das nicht so, nein, nur bei den Wesen, die solche Fragen stellen, da tritt es in äußerst ex­tremen Formen auf.“ lautete seine Reaktion. Meistens verstanden wir uns auf Anhieb, es schien nur Weniges, das dezidiert geklärt werden musste. Wir verstanden uns auch, als um drei Uhr in der Nacht Dominique nackt am Flügel sitzend sang: „Ich liebe dich, so wie du mich, Am Abend und am Morgen.“, ich mich an seinem Rücken rieb, ihn ständig küssend unterbrach, und Domini­que so oft neu beginnen musste, dass ich Beethovens „Zärtliche Liebe” auch schon fast singen konnte.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät<br />

Julia, emotionale Kräfte gegen revolutionäre Kräfte<br />

Erzählung<br />

Comment un homme dépourvu d<strong>es</strong> vertus<br />

qui sont propr<strong>es</strong> à l'homme peut-il cultiver la musique ?<br />

Confucius<br />

„Julia, deine Wünsch sind immer Befehle, mir liegt <strong>es</strong> mehr, sie dir von den<br />

Augen ab<strong>zu</strong>l<strong>es</strong>en.“ reagierte Dominique „Du schummelst, mein Liebster. Meine<br />

Augen suchen nämlich schon eine ganze Zeit nach Weingläsern. Ist dir<br />

offensichtlich völlig verborgen geblieben.“ bemerkte ich da<strong>zu</strong>. Wir tranken und<br />

redeten dumm<strong>es</strong> Zeug, spotteten und ironisierten, zwischendurch mussten wir<br />

uns immer wieder küssen. „Sag mal Dominique, woran merkst du, ich meine<br />

jetzt dich persönlich, nicht allgemein, eigentlich, dass ich eine Frau bin?“ stellte<br />

ich eine Frage, <strong>zu</strong> deren Beantwortung sich Dominique <strong>zu</strong>nächst wegen<br />

Lachens nicht in der Lage fühlte. Dann beabsichtigte er sich auch weiter am<br />

Lachen <strong>zu</strong> halten. Nannte alle skurrilen, unbedeutenden Merkmale, von meinen<br />

braunen Schuhen bis <strong>zu</strong> den blonden Haaren und er Aura über mir. „Das <strong>ist</strong><br />

schade, sehr schade, ich dachte, Männer würden auch etwas empfinden und <strong>es</strong><br />

daran merken. Aber du scheinst tot <strong>zu</strong> sein, tot und kalt. Ich dachte<br />

heterosexuelle Männer würden so etwas wie Bedürfnisse, Wünsche, Begierden,<br />

Verlangen oder Gelüste empfinden und daran merken, das sie <strong>es</strong> mit einem<br />

femininen W<strong>es</strong>en ihrer Art <strong>zu</strong> tun haben. Bei dir <strong>ist</strong> das nicht so, nein?“<br />

erkundigte ich mich. „In der Regel <strong>ist</strong> das nicht so, nein, nur bei den W<strong>es</strong>en,<br />

die solche Fragen stellen, da tritt <strong>es</strong> in äußerst extremen Formen auf.“ lautete<br />

seine Reaktion. Me<strong>ist</strong>ens verstanden wir uns auf Anhieb, <strong>es</strong> schien nur Wenig<strong>es</strong>,<br />

das dezidiert geklärt werden musste. Wir verstanden uns auch, als um<br />

drei Uhr in der Nacht Dominique nackt am Flügel sitzend sang: „Ich liebe dich,<br />

so wie du mich, Am Abend und am <strong>Morgen</strong>.“, ich mich an seinem Rücken rieb,<br />

ihn ständig küssend unterbrach, und Dominique so oft neu beginnen musste,<br />

dass ich Beethovens „Zärtliche Liebe” auch schon fast singen konnte.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 1 von 36


<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät - Inhalt<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät............................................................. 4<br />

Tomorrow will be too late...................................................... 4<br />

Mit den Serben aufräumen..................................................... 4<br />

Schnepfe und Auerhahn......................................................... 5<br />

Der Junge mit dem beigen Pullover.......................................6<br />

Stell dir vor <strong>es</strong> wären all<strong>es</strong> Schwaben.................................... 7<br />

Marietta kennt die Völker nennt die Namen...........................8<br />

Dominique, <strong>es</strong> <strong>ist</strong> hoffnungslos..............................................9<br />

Meine bourgeoise Sozialisation............................................ 11<br />

Ein bisschen Klavierspielen kann ich auch...........................12<br />

Dominiqu<strong>es</strong> Freundin........................................................... 15<br />

Schwiegertochter in Karlsruhe.............................................17<br />

Evas Ende............................................................................20<br />

Der Flügel in Angelmodde.................................................... 21<br />

Str<strong>es</strong>s im Herbst..................................................................22<br />

Wichtige B<strong>es</strong>prechung.........................................................23<br />

Woran erkennst du, dass ich eine Frau bin?.........................25<br />

Lilo hat's verboten............................................................... 27<br />

Was soll ich denn machen?..................................................28<br />

Mamis Frauenkenntnisse.....................................................28<br />

Weihnachtspläne.................................................................30<br />

Noël..................................................................................... 31<br />

Weihnachtsüberraschung....................................................34<br />

Elvis lügt.............................................................................. 35<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 2 von 36


<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät<br />

Tomorrow will be too late<br />

Heute fahren sie mit dem Auto, öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Taxi<br />

<strong>zu</strong>m Bahnhof. Dabei könnten sie jetzt gut <strong>zu</strong> Fuß gehen. Nicht nur weil <strong>es</strong> ihrer<br />

G<strong>es</strong>undheit dienlich <strong>ist</strong>, sie brauchen auch nichts mehr <strong>zu</strong> befürchten. Sie werden<br />

nicht mehr belästigt. Das war vor fünfzig Jahren. In Neapel hört man <strong>es</strong><br />

vielleicht noch heute, aber das Wehklagen, dass man damals auf dem Weg<br />

<strong>zu</strong>m Bahnhof wenigstens dreimal aus Radios, von Schalplatten oder selbst g<strong>es</strong>ungen<br />

<strong>zu</strong> vernehmen hatte, dass sein Liebling ihn doch bitte jetzt küssen<br />

möge, und <strong>es</strong> morgen dafür <strong>zu</strong> spät sei, weil seine Liebe nicht warten könne,<br />

beliebte Elvis Pr<strong>es</strong>ley nicht nur seiner Priscilla oder welcher Frau gegenüber<br />

auch immer <strong>zu</strong> äußern, die ganze Welt ließ er <strong>es</strong> hören und mit flehen. Dabei<br />

kannte die Melodie von 'O sole mio eigentlich längst jeder. Welcher berühmte<br />

Tenor hatte <strong>es</strong> sich nehmen lassen, di<strong>es</strong>e neapolitanische Arie auch schon mal<br />

an<strong>zu</strong>stimmen. Wie La Paloma oder Ähnlich<strong>es</strong> <strong>ist</strong> sie ein Welthit, aber Elvis<br />

schaffte <strong>es</strong>, allen nochmal eindringlich <strong>zu</strong> vermitteln, dass er einen Ozean voll<br />

Tränen weinen würde, wenn er seine true love und sweet devotion verlieren<br />

würde, bedingt dadurch, dass sein Darling ihn nicht jetzt unverzüglich küsse.<br />

Wem stünde <strong>es</strong> an, Elvis di<strong>es</strong> bei der Inbrunst sein<strong>es</strong> Vortag<strong>es</strong> nicht ab<strong>zu</strong>nehmen.<br />

Wieder und wieder ließ er <strong>es</strong> uns aus allen Quellen, die in der Lage sind,<br />

melodisch akustische Signale aus<strong>zu</strong>senden, vernehmen, und bei Kindern, deren<br />

Gehirne noch wuchsen, haben sich b<strong>es</strong>timmt spezielle Kanäle dafür angelegt.<br />

Mit den Serben aufräumen<br />

Wenn ihnen in ihrem späteren Leben der Spruch 'It's now or never', 'Jetzt oder<br />

nie' begegnet, werden sie <strong>es</strong> voraussichtlich immer mit unaufschiebbaren Lieb<strong>es</strong>äußerungen<br />

assoziieren, während das Wort bislang immer eine ganz andere<br />

Konnotation hatte und in eher gegensätzlichen Bereichen Verwendung fand.<br />

„Jetzt oder nie“ sei mit den Serben auf<strong>zu</strong>räumen, hatte Kaiser Wilhelm seine<br />

Position vor dem ersten Weltkrieg markiert, was letztendlich mit <strong>zu</strong> d<strong>es</strong>sen<br />

Ausbruch führte. Mit 'Jetzt oder nie' überwindet man mutig, tapfer, waghalsig<br />

oder übermütig möglicherweise berechtigte Bedenken. Zaudern, Zögern und<br />

Zurückhaltung werden durch di<strong>es</strong>en radikalen Entscheid in einem heroischen<br />

Akt d<strong>es</strong>avouiert. Doch nicht nur der große Kämpfer liebt Entscheidungen di<strong>es</strong>er<br />

Art, auch der Leise, sich schlau und raffiniert Wähnende weiß, wann genau der<br />

einzig richtige Zeitpunkt <strong>ist</strong>, eine finanzielle Entscheidung <strong>zu</strong> treffen, eine Intrige<br />

<strong>zu</strong> starten oder sich um eine begehrte Position <strong>zu</strong> bemühen. 'Jetzt oder nie'<br />

so verwendete man <strong>es</strong> bislang. Werden ihm die Kinder von damals andere Wirkungszonen<br />

eröffnen. Wird <strong>es</strong> sich primär im Bereich von Sehnsucht, Liebe und<br />

Verlangen ansiedeln? Wird <strong>es</strong> <strong>zu</strong>m Synonym für das unaufschiebbare Bedürfnis<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 3 von 36


nach Zuwendung werden? Das 'oder nie' markiert zwar immer noch einen harschen<br />

Bruch und eine gewisse Unerbittlichkeit der Forderung, da derartig<strong>es</strong><br />

Vorgehen aber den Bereichen von Liebe und Sehnsucht w<strong>es</strong>ensfremd <strong>ist</strong>, könnte<br />

<strong>es</strong> ausschließlich als <strong>zu</strong>sätzliche Unterstreichung der Dringlichkeit verstanden<br />

werden. Dass sie <strong>es</strong> zwar heute auch schon lieber sähe, aber dass <strong>es</strong> morgen<br />

dafür <strong>zu</strong> spät sei, wird eine Mutter in Be<strong>zu</strong>g auf die Zuneigung ihrer Kinder<br />

wohl nie so erfahren wollen.<br />

Schnepfe und Auerhahn<br />

Dass <strong>es</strong> morgen für etwas <strong>zu</strong> spät sein wird, und heute eine Entscheidung <strong>zu</strong><br />

treffen <strong>ist</strong>, dem begegnet jeder mehr oder wenig häufig in seinem Leben. Unabhängig<br />

von den großmäuligen Erklärungen Kaiser Wilhelms und all seiner in<br />

di<strong>es</strong>em Dunstkreis folgenden Heroen oder der sehnsüchtig schnelle Zuneigung<br />

Erflehenden, wirst du ständig mit Entscheidungen konfrontiert, die dir nicht<br />

leicht fallen, weil dir beide Wege gleich gangbar oder unangenehm erscheinen.<br />

Etwas Klärend<strong>es</strong> fällt dir nicht ein, aber die Idee, die Entscheidung auf<strong>zu</strong>schieben,<br />

immer. Immer kommt aber auch der Zeitpunkt, an dem weiter<strong>es</strong> Aufschieben<br />

nicht mehr möglich <strong>ist</strong>. Du musst dich jetzt entscheiden, ein Später<br />

wird <strong>es</strong> nicht mehr geben. Ob <strong>es</strong> sich dabei um den Kauf ein<strong>es</strong> Haus<strong>es</strong>, Kontaktaufnahme<br />

<strong>zu</strong> einem Mann oder einer Frau, oder um die Mitgliedschaft in<br />

einer Krankenkasse handelt. Immer <strong>ist</strong> deine Entscheidung jetzt und nicht später<br />

gefordert.<br />

Natürlich auch bei Beziehungen <strong>zu</strong>m anderen G<strong>es</strong>chlecht. Langandauernde<br />

Vertagungen einer Entscheidungsfindung, die sich in einem „Ich weiß noch<br />

nicht.“ artikuliert sind hier nicht selten. Nicht jede oder jeder <strong>ist</strong> sich so sicher<br />

wie Elvis und weiß, dass er oder sie einen Ozean voll Tränen weinen wird, wenn<br />

<strong>es</strong> heute Nacht nicht klappt, aber ohne sich irgendwann <strong>zu</strong> entscheiden, kann's<br />

nichts werden. Ich weinte nicht, weil ich keinen Freund hatte. Außer meinem<br />

Bruder schienen sich alle Männer als Chauvis <strong>zu</strong> entpuppen. Ich vermutete<br />

schon mal, dass <strong>es</strong> eventuell auch an mir liegen könne, dass ich ihr Bedürfnis<br />

nach Selbstbehauptung in ihrer Männerrolle provoziere, dass mir an etwas anderem<br />

gelegen war, als sie <strong>zu</strong> bewundern und sie veranlasste, di<strong>es</strong> ein<strong>zu</strong>fordern.<br />

Mein Bruder und ich mochten uns sehr. Er erhielt von mir Aufmerksamkeit,<br />

R<strong>es</strong>pekt und Zuneigung, ein wundervoll<strong>es</strong> Verhältnis hatten wir. Jungs die<br />

ich näher kennengelernt hatte, wollten anscheinen noch etwas ander<strong>es</strong>. Sie<br />

schienen ohne ein gewiss<strong>es</strong> Maß an B<strong>es</strong>tätigung für ihr Überlegenheitsbedürfnis<br />

nicht auskommen <strong>zu</strong> können. Auch der sanft<strong>es</strong>te Typ entpuppte sich schnell<br />

so. Das zerstört für mich die Basis, das will ich sofort nicht mehr. Ich weinte<br />

nicht, ich suchte noch nicht einmal. Entweder <strong>es</strong> würde sich eine Beziehung ergeben,<br />

aber ein Verhältnis, in dem die Schnepfe den prächtigen Auerhahn <strong>zu</strong><br />

bewundern hätte, würde <strong>es</strong> für mich niemals geben. Allein <strong>zu</strong> leben, ohne eine<br />

f<strong>es</strong>te Beziehung, war nicht meine gewünschte Perspektive. Obwohl ich all die<br />

Probleme sah, die sich aus einer f<strong>es</strong>ten Paarbindung ergeben könnten, waren<br />

doch die Intimität und persönliche Nähe <strong>zu</strong> einem geliebten Menschen für mich<br />

die überwiegenden Aspekte, und Sex wollte ich auch nicht anders. Jetzt in der<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 4 von 36


WG fühlte ich mich wohl, ich konnte warten, <strong>zu</strong> einer raschen Entscheidung<br />

drängte nichts. 'Now or never' konnte <strong>es</strong> für mich nicht geben.<br />

Nichts war so unterschiedlich und wurde so brennend in der WG diskutiert, wie<br />

die Ansichten <strong>zu</strong> Beziehungen, Lebensformen und Sexualität. Revolutionäre<br />

Veränderungen waren von Nöten, und auch die allgemeine Bevölkerung ließ<br />

sich mit voyeur<strong>ist</strong>ische Stilaugen aufklären. Obwohl ich sonst überhaupt nicht<br />

den Ruf genoss, wurden meine Ansichten hier als recht konservativ und teilweise<br />

reaktionär eing<strong>es</strong>chätzt. Dabei meinte ich nur ehrlich <strong>zu</strong> sagen, was ich<br />

empfand. Das g<strong>es</strong>chah im Allgemeinen nicht. Die me<strong>ist</strong>en sprachen davon, was<br />

sie nach ihren Erkenntnissen <strong>zu</strong> empfinden gehabt hätten, das Erbe ihrer Sozialisation<br />

konnten sie dadurch aber nicht einfach <strong>zu</strong>rückgeben. Oft überforderte<br />

man sich und geriet in schwerste persönliche Konflikte, wenn man <strong>zu</strong>m Beispiel<br />

nicht eifersüchtig sein durfte, weil der Freund oder die Freundin ja kein<br />

persönlich<strong>es</strong> Eigentum waren und ähnliche Widersprüchlichkeiten mehr. Im Detail<br />

durchschaut habe ich <strong>es</strong> oft gar nicht, für mich stand nur f<strong>es</strong>t, dass ich<br />

meinen Gefühlen nicht rational vorschreiben würde, wie sie <strong>zu</strong> empfinden hätten.<br />

Die große Revolution in den zwischenmenschlichen Beziehungen war für<br />

viele Beteiligte eben auch mit schmerzlichen Erfahrungen in verlustreichen<br />

Straßenkämpfen verbunden.<br />

Der Junge mit dem beigen Pullover<br />

Der Kommilitone, der mir <strong>zu</strong>fällig in einer Vorl<strong>es</strong>ung und einem Seminar aufgefallen<br />

war, erweckte nicht den Eindruck ein<strong>es</strong> revolutionären Straßenkämpfers.<br />

Er wirkte ganz simpel nett, und wie ich sehen konnte, hielt er wohl weniger<br />

aufrührerische Reden, sondern lachte und lächelte mehr. Ich war schon der Ansicht,<br />

dass mein Bauch auch recht unvernünftige Wege einschlagen konnte. Ein<br />

süßer Junge weckte meine Aufmerksamkeit. Woher hatte ich denn so etwas?<br />

Vom G<strong>es</strong>chmuse mit meinem Teddy oder so ähnlich? Ich wusste doch, dass <strong>es</strong><br />

darauf ankäme, wie ich mit ihm kommunizieren könnte, aber ich hatte mit di<strong>es</strong>em<br />

jungen Mann noch kein einzig<strong>es</strong> Wort gewechselt. Auf keinen Fall sollte<br />

mein Traumprinz auch Chemiker sein, irgendwelche musischen Ambitionen<br />

müsste er haben, Gedichte sollte er für mich verfassen, ich würde Modellsitzen<br />

während er mich malte, auf den Flügel würde ich mich stützen, während er für<br />

mich die Mondscheinsonate intonierte. Schmelzen würde ich, aber einfach nur<br />

süß finden, welche Himmelreiche sollte das denn wohl versprechen? Auch ohne<br />

Himmelreichperspektive konnte ich <strong>es</strong> nicht lassen, irgendetwas über di<strong>es</strong>en<br />

Menschen in Erfahrung bringen <strong>zu</strong> wollen. Ich hielt mich in seiner Nähe auf,<br />

quatschte ihn auch mal belanglos an, aber etwas <strong>zu</strong> initiieren? Ich kannte ihn<br />

doch überhaupt nicht und wollte ja auch nichts von ihm. Er machte auf mich<br />

eben nur einen sympathischen Eindruck. Einen ehemaligen Mitschüler von mir<br />

sah ich mal in einem Kreis mit ihm <strong>zu</strong>sammen stehen. „Gerd, sag mal, der mit<br />

dem beigen Pullover, der gerade bei euch stand, kennst du den?“ fragte ich<br />

meinen früheren Klassenkameraden. „Nöh, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur,<br />

dass er nicht von hier kommt. Er hat mal g<strong>es</strong>agt, dass er auch <strong>zu</strong> Hause hätte<br />

studieren können, aber raus gewollt hätte. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ah<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 5 von 36


ja , Dominique heißt er, manchmal sagen sie auch Nikki <strong>zu</strong> ihm, scheint 'en<br />

ganz Netter <strong>zu</strong> sein.“ meinte Gerd. Gerd bitten, mehr in Erfahrung <strong>zu</strong> bringen,<br />

wollte ich auch nicht. Erstens mochte ich Gerd nicht und zweitens wäre <strong>es</strong> mir<br />

unangenehm gew<strong>es</strong>en. Was machte ich denn überhaupt für ein dämlich<strong>es</strong> Gezicke.<br />

Jeden hätte ich ang<strong>es</strong>prochen, gefragt, was er macht, wo er herkommt,<br />

wie er heißt. Was sollte das bedeuten, di<strong>es</strong>e hauchzarten feinziselierten Versuche<br />

einem Kontakt mit di<strong>es</strong>em Mann näher <strong>zu</strong> kommen. „Es wird einfach so<br />

sein, dass du mal wieder irgendetwas <strong>zu</strong>m Spinnen brauchst, Gertrud.“ sagte<br />

ich mir, „Vergiss <strong>es</strong> und schau da nicht mehr hin.“ Gertrud durfte nur ich selbst<br />

mich nennen. Das tat ich, wenn <strong>es</strong> mir geboten schien, mich für b<strong>es</strong>onders<br />

blöd <strong>zu</strong> halten, ansonsten war ich auch für mich selbst die Julia.<br />

Stell dir vor <strong>es</strong> wären all<strong>es</strong> Schwaben<br />

Daran hielt ich mich auch brav, bis mir kurz vor Sem<strong>es</strong>terende einfiel, dass er<br />

ja im nächsten Sem<strong>es</strong>ter eventuell überhaupt nicht mehr hier sein könne. Aber<br />

er war mir doch gleichgültig. Na ja, man wüsste ja nie. Now or never. Ich fragte<br />

ihn einfach, ob er mit mir 'nen Kaffee trinken ginge. Das hätte ich vor einigen<br />

Monaten auch schon machen können, nur jetzt war vielleicht die letzte<br />

Chance. Aus Karlsruhe kam er. „Oh je, ein Schwabe.“ stellte ich f<strong>es</strong>t. Dominique<br />

wollte sich nicht wieder einbekommen vor Lachen. „Du hast Glück, dass in<br />

Karlsruhe die Scharia noch nicht eingeführt <strong>ist</strong>, aber ich glaube man würde<br />

dich auch ohne steinigen, wenn du so etwas dort sagt<strong>es</strong>t. Die Badener wohnen<br />

dort, all<strong>es</strong> voll mit Badenern.“ „Was ein Glück für dich, stell dir vor <strong>es</strong> wären all<strong>es</strong><br />

Schwaben. Nicht <strong>zu</strong> ertragen. Aber in di<strong>es</strong>en Gefilden kenne ich mich so gut<br />

wie gar nicht aus. Ich weiß nur, dass das Bund<strong>es</strong>verfassungsgericht und der<br />

Bund<strong>es</strong>gerichtshof in Karlsruhe sitzen, ah ja und dass die roten Teufel auf dem<br />

Betzenberg Fußball spielen.“ antwortete ich. Wieder lachte Dominique sich tot.<br />

Rote Teufel und Betzenberg das war natürlich der 1. FC Kaiserslautern. Aber<br />

auch ohne Schwaben, Betzenberg und rote Teufel blieben wir permanent am<br />

Lachen. Oft weil's wirklich lustig war, was erzählt wurde, aber manchmal auch<br />

einfach so, weil's schon in lachendem Tonfall g<strong>es</strong>agt wurde, als ob unsere<br />

Zwerchfelle sich für heute Nachmittag auf Lachen eing<strong>es</strong>tellt hätten. „Dominique,<br />

bleibst du länger hier, oder wirst du im nächsten Sem<strong>es</strong>ter woanders studieren?“<br />

wurde ich plötzlich ernst. Er müsse mal für wenigstens ein Sem<strong>es</strong>ter<br />

ins Ausland, wann wisse er aber noch nicht, ansonsten gefiele <strong>es</strong> ihm hier sehr<br />

gut. Er habe sich ja auch nach reiflicher Prüfung für Münster entschieden. Wir<br />

sprachen über die Sem<strong>es</strong>terferien. Er wollte seine Eltern auf ihrer Finca in Mallorca<br />

b<strong>es</strong>uchen, fände <strong>es</strong> aber sehr öde dort, andere Freunde wollte er noch<br />

treffen und ansonsten sei er hier, habe noch einig<strong>es</strong> <strong>zu</strong> tun, und die vermehrt<br />

regenfreien Tage im Sommer in Münster <strong>zu</strong> verpassen, sei ja fast sträflich. Wir<br />

tauschten Adr<strong>es</strong>sen und Telefonnummern aus. Er wolle sich melden, wenn er<br />

wieder <strong>zu</strong>rück sei.<br />

Was war das denn? Nichts war <strong>es</strong>, ein lustiger Nachmittag, sonst nichts. Na ja,<br />

sympathisch hatten wir uns gegenseitig auf Anhieb wohl schon gefunden. Das<br />

wir uns wiedertreffen wollten, brauchte gar nicht erwähnt <strong>zu</strong> werden. Unsere<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 6 von 36


Adr<strong>es</strong>sen hatten wir selbstverständlich ausgetauscht, direkt nach drei Espr<strong>es</strong>sos<br />

und einem Stückchen Kuchen, aber b<strong>es</strong>prochen hatten wir eigentlich<br />

nichts, nur G<strong>es</strong>chichten <strong>zu</strong>m Lachen hatten wir uns erzählt. Wer er persönlich<br />

war, davon wusste ich nichts. Möglicherweise war er erzkonservativ. Da im Süden<br />

wusste man ja nie. All<strong>es</strong> brave chr<strong>ist</strong>liche CDU-Wähler. Aber konnten die<br />

denn auch so lachen? Ich wusste nicht, wie CDU-Wähler lachten. Meine Mutter<br />

hatte früher auch CDU gewählt, und <strong>es</strong> war ein hart<strong>es</strong>, mühsam<strong>es</strong>, und langwierig<strong>es</strong><br />

Stück Arbeit, sie davon <strong>zu</strong> überzeugen, das di<strong>es</strong> unverantwortlich sei.<br />

Aber gelacht hat sie als SPD-Wählerin nicht anders als vorher auch, kein Stück<br />

befreiter, gelöster oder glücklicher, all<strong>es</strong> genauso wie vorher bei der CDU. Ich<br />

hatte aber auch gar kein Bedürfnis verspürt, mich <strong>zu</strong> erkundigen. Auf die Idee<br />

über etwas Fachlich<strong>es</strong> oder Politisch<strong>es</strong> reden <strong>zu</strong> wollen, bin ich nicht gekommen.<br />

Sonst fiel mir als erst<strong>es</strong> immer pflichtgemäß die Frage nach den g<strong>es</strong>ellschaftspolitischen<br />

Zusammenhängen ein, nicht so bei den roten Teufeln vom<br />

Betzenberg. Ich wusste jetzt, dass Dominique noch hier blieb. Wir würden uns<br />

wiedertreffen. Mehr war's nicht, und mehr hatte ich auch gar nicht gewollt.<br />

Marietta kennt die Völker nennt die Namen<br />

Zu Beginn der Sem<strong>es</strong>terferien fuhr ich für drei Wochen nach Finnland. Absolute<br />

Terra inkognita für mich, aber meine Freundin Marietta, die studierte das. Finno-ugrische<br />

Sprachen, wie konnte man nur, aber spannend war <strong>es</strong> schon. Welche<br />

Völker und Namen sie kannte und nannte, die man noch nie gehört hatte.<br />

Davon lebten auch noch ganze Völker, und Marietta wusste auch wo und konnte<br />

etwas da<strong>zu</strong> erzählen. Einige waren zwar bereits ausg<strong>es</strong>torben, aber auch <strong>zu</strong><br />

denen konnte sie etwas sagen. B<strong>es</strong>chämend kam mir mein Wissen über chemische<br />

Formeln und Reaktionen dagegen vor. Marietta kannte sich aus in der<br />

Welt, <strong>zu</strong>mind<strong>es</strong>t in der, die sonst keiner kannte. Über ihr Inter<strong>es</strong>se als Schülerin<br />

für die früher noch Lappen genannten Samen, war sie da<strong>zu</strong> gekommen. Sie<br />

war auch damals schon mit ihren Eltern in den Sommerferien hier gew<strong>es</strong>en,<br />

aber die hatten auch mehr vom anderen Finnland sehen wollen. Wir jetzt nicht.<br />

Kein B<strong>es</strong>uch in Helsinki, straightaway Rovaniemi, der Hauptstadt Samlands. Ich<br />

sah ja nichts, aber mein erster Eindruck auf dem Flughafen war betrüblich. Es<br />

war doch Hochsommer, aber hier schien <strong>es</strong> Februar/März <strong>zu</strong> sein. Was ich jedoch<br />

dann erlebte, ließ mich die Temperaturen völlig verg<strong>es</strong>sen. Auch wenn<br />

Marietta nicht so viel davon hielt, weil <strong>es</strong> <strong>zu</strong> tour<strong>ist</strong>isch ausgerichtet sei, war<br />

der B<strong>es</strong>uch d<strong>es</strong> samischen Jutajaiset Folklore F<strong>es</strong>tivals, natürlich Pflicht. Für<br />

mich war die Vielfalt der Eindrücke aus einer mir unbekannten Welt äußerst beeindruckend.<br />

Ich b<strong>es</strong>chloss, ab sofort nicht mehr <strong>zu</strong> singen, sondern <strong>zu</strong>m Leidw<strong>es</strong>en<br />

meiner Zuhörer vielleicht, nur noch <strong>zu</strong> joiken. Ich könnte jetzt zwanzig<br />

Seiten enthusiastisch über Rovaniemi berichten, nur die B<strong>es</strong>uche bei zwei samischen<br />

Familien, die Marietta über die Uni organisiert hatte, haben bei mir<br />

den stärksten Eindruck hinterlassen. Familien die noch relativ traditionell von<br />

der Rentier<strong>zu</strong>cht lebten, im Grunde genommen Bauernfamilien. Aber <strong>es</strong> gibt<br />

keine Kategorie bei mir, in die ich di<strong>es</strong>e Menschen einordnen konnte. Gebildete<br />

Leute in der Wildnis d<strong>es</strong> Nordens Finnlands von einer so ausg<strong>es</strong>prochen herzlichen<br />

Natürlichkeit nicht nur im Verhalten uns gegenüber, sondern auch unter-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 7 von 36


einander. So möchte ich gerne leben, so selbstsicher, liebevoll und authentisch,<br />

nur in der Tundra? Ich hatte mich g<strong>es</strong>pannt auf Mariettas Wünsche eingelassen,<br />

aber einen Urlaub mit einer derartigen Vielfalt an außergewöhnlichen starken<br />

Eidrücken wie in der 'Ödnis' Nordfinnlands hatte ich meiner Ansicht nach<br />

bisher noch nie erlebt. Marietta war auch bege<strong>ist</strong>ert und hatte einige für sie<br />

bedeutsame Kontakte an der Uni herstellen können. Nur im nördlichen Inari,<br />

wo einige hundert Menschen das Inarisamisch, eine ostsamische Sprache sprechen<br />

können, waren wir gar nicht gew<strong>es</strong>en. Das würden wir sicher im nächsten<br />

Jahr nachholen. Vielleicht konnte man dort ja auch im Sommer noch Skifahren,<br />

und ob wir dann nicht eventuell doch lieber das Weihnachtsmanndorf bei Rovaniemi<br />

b<strong>es</strong>uchen sollten? Wie würden wir unseren möglichen Kindern gegenüber<br />

später mal dastehen, ganz nah dran aber nicht drin.<br />

Dominique, <strong>es</strong> <strong>ist</strong> hoffnungslos<br />

Finno-ugrisch gut gelaunt fühlte ich mich immer noch, als Dominique anrief.<br />

Ich hatte wirklich nicht mehr an ihn gedacht. „Komm doch einfach <strong>zu</strong> uns in die<br />

WG. Allerdings <strong>ist</strong> <strong>es</strong> mittlerweile ein wenig gefährlicher geworden, seitdem ich<br />

mit meinem Sami Knife hier agiere. Damit kann man sogar Rentiere kastrieren.“<br />

scherzte ich. Container voller Souvenirs hätte ich mit nach Haus schleppen<br />

können, nur was wollte ich damit. Mehr als mir eigentlich <strong>zu</strong>r Verfügung<br />

stand, hatte ich auch schon für eine Rentierjacke ausgegeben, der ich nicht widerstehen<br />

konnte, aber das M<strong>es</strong>ser, das sicher sehr wertvoll war, hatte man<br />

mir in einer Familie unbedingt schenken wollen, da man ohne ein ordentlich<strong>es</strong><br />

Samenm<strong>es</strong>ser nur ein halber Mensch sei. Es gefiel mir auch, nur <strong>zu</strong>m Brotschneiden<br />

oder <strong>zu</strong>r Verrichtung ähnlich banaler Aktivitäten war <strong>es</strong> doch <strong>zu</strong><br />

schade. „Wenn wir etwas ander<strong>es</strong> machen wollen, können wir uns dann ja hier<br />

entscheiden.“ erklärte ich Dominique noch. Wir entschieden aber nichts ander<strong>es</strong>.<br />

Mein Enthusiasmus konnte natürlich nicht davon abgehalten werden, Dominique<br />

<strong>zu</strong>nächst einmal die Grundlagen und viel<strong>es</strong> mehr der Samischen Kultur<br />

<strong>zu</strong> vermitteln. Aber auch wenn ich ja tatsächlich bege<strong>ist</strong>ert war, erzählte ich<br />

immer mit einem leicht kitzligen ironischen Unterton, und meine Fragen an ihn<br />

brachten uns oft <strong>zu</strong>m Lachen. Als ob man mit di<strong>es</strong>em Menschen grundsätzlich<br />

Spaß haben und lachen wollte. „Dominique, <strong>es</strong> <strong>ist</strong> hoffnungslos. Du wirst nie<br />

ein ordentlicher Same werden können. Das Samentum <strong>ist</strong> eine ernste Angelegenheit,<br />

und du lachst immer nur. Hast du mal g<strong>es</strong>ehen, wie ernst der Weihnachtsmann<br />

hinter seinen Rentieren im Schlitten sitzt? Wenn der immer nur kichern<br />

würde, blieben alle Kinder Weihnachen unb<strong>es</strong>chenkt.“ ermahnte ich ihn.<br />

Er versprach, sich ein wenig mehr <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>reißen. Aber selbst darüber<br />

mussten wir schon wieder lachen. Mir fiel ein, dass ich mit ihm doch über ihn<br />

reden wollte, ihn nach seinen politischen Ansichten fragen wollte. „Du, Dominique,<br />

sag mal … .“ begann ich. Was ich eigentlich hatte fragen wollen war verschwunden.<br />

Mir fiel nur die dämliche Fortset<strong>zu</strong>ng ein: „Wo stehst du eigentlich<br />

politisch?“ und ließ mich, anstatt die Frage <strong>zu</strong> Ende <strong>zu</strong> führen, wieder losprusten.<br />

„Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du wüsst<strong>es</strong>t, wie <strong>es</strong> kommt, dass<br />

man ständig lachen muss, wenn man b<strong>es</strong>offen <strong>ist</strong>.“ wieder pustete ich los und<br />

Dominique konnte sich dem nicht entziehen, obwohl er ja den Hintergrund gar<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 8 von 36


nicht kannte. „Ich bin absolut verrückt und albern, Dominique. Ich mach mich<br />

mal ein wenig frisch, vielleicht hilft das ja.“ erklärte ich als ich <strong>zu</strong>m Bad ging.<br />

Ja tatsächlich, wenn ich nur ein wenig <strong>zu</strong> viel getrunken hatte, ging <strong>es</strong> mir so<br />

ähnlich. All<strong>es</strong> und jed<strong>es</strong> drehte mein Kopf so, dass <strong>es</strong> schrecklich lustig und<br />

<strong>zu</strong>m Lachen war, <strong>zu</strong>mind<strong>es</strong>t für mich selber. Das war in der Regel aber auch<br />

mit einem aufkommenden Gefühl verbunden, dass im Grunde eigentlich all<strong>es</strong><br />

beliebig sei, und die ganze Welt sowi<strong>es</strong>o mir gehöre. Direkt so empfand ich im<br />

Moment nicht, aber ein wenig wohl fühlte ich mich in Dominiqu<strong>es</strong> Anw<strong>es</strong>enheit<br />

schon, und Angelegenheiten die sonst für mich von äußerster Wichtigkeit<br />

waren, konnten jetzt auch schon mal <strong>zu</strong>rückg<strong>es</strong>tellt werden.<br />

Was soll das denn, ich kenne di<strong>es</strong>en Typen doch überhaupt nicht. Muss ich das<br />

einfach so akzeptieren, wenn das Weibchen einen potentiellen Fortpflan<strong>zu</strong>ngspartner<br />

sieht, dreht <strong>es</strong> durch. Alle zivilisatorischen Errungenschaften, die die<br />

Menschen über Jahrtausende in immer höher entwickelnden Kulturen sich und<br />

ihren Hirnen einverleibt haben, all<strong>es</strong> Müll bei der Wahrnehmung d<strong>es</strong> Geruchs<br />

ein<strong>es</strong> Männchens? Auch wenn <strong>es</strong> mir Spaß machte, mit Dominique <strong>zu</strong> lachen,<br />

verrückt gemacht hatte er mich aber mit Sicherheit nicht. Ein bisschen <strong>zu</strong> mögen<br />

schien ich ihn allerdings schon. „Dominique, ich wollte heute eigentlich<br />

ganz ernst mit dir reden.“ als ich <strong>es</strong> sagte, fiel mir sofort wieder auf, dass man<br />

<strong>es</strong> auch anders interpretieren könne. „Ich weiß überhaupt nicht, woran <strong>es</strong> liegt,<br />

aber wenn wir miteinander reden, kommt <strong>es</strong> da<strong>zu</strong>, dass ich nicht mehr ernst<br />

bleiben und aufhören kann <strong>zu</strong> lachen. Passiert dir das sonst auch? Bei mir <strong>ist</strong><br />

<strong>es</strong> eine absolute Ausnahme.“ erkundigte ich mich. „Nein, Julia, <strong>es</strong> kann schon<br />

mal sein, das jemand abends etwas sehr Lustig<strong>es</strong> erzählt, dass man intensiv<br />

lachen muss, ein anderer setzt noch eins drauf und ein Dritter nochmal. Dann<br />

kann man schon das Gefühl bekommen, dass einem der Bauch weh tut vor Lachen,<br />

aber bei dir <strong>ist</strong> <strong>es</strong> sehr viel anders. Was du sagst und vor allem, wie du<br />

<strong>es</strong> sagst, erweckt oft den Eindruck, als ob du damit kitzeln möcht<strong>es</strong>t, <strong>es</strong> hat<br />

me<strong>ist</strong> so ironische oder skurrile Untertöne, und man vermutet abstruse Hintergedanken.<br />

Es kommt mir vor, als ob du spielst, Lust hast <strong>zu</strong> provozieren und<br />

Blödsinn <strong>zu</strong> machen. Wie du <strong>es</strong> machst, gefällt mir aber total gut, du scheinst<br />

absolut meine Ebene <strong>zu</strong> treffen. Das <strong>ist</strong> nicht nur lustig, ich finde <strong>es</strong> auch sehr<br />

erstaunlich.“ erläuterte Dominique seine Sicht. Ich stritt <strong>es</strong> nicht ab. Dass ich<br />

Lust <strong>zu</strong> leicht provozierenden Spielereien habe, wenn wir <strong>zu</strong>sammen seien. Das<br />

sah ich auch so, aber warum und wodurch kam <strong>es</strong> da<strong>zu</strong>? „Ich weiß nicht, Dominique,<br />

so blöde wie <strong>es</strong> vielleicht klingt, aber meine Wahrnehmungsorgane<br />

müssen bei ihren geheimen Verarbeitungs- und Interpretationsproz<strong>es</strong>sen wohl<br />

b<strong>es</strong>chlossen haben, das ich dich mag, aus welchen Gründen auch immer, und<br />

auf di<strong>es</strong>er Basis entwickelt sich dann so etwas. Rational würde ich klar sagen:<br />

„Ich kenne den doch überhaupt nicht.“, aber <strong>es</strong> scheint auch etwas ander<strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />

geben, als was Auge und Ohr meinem Bewusstsein vermitteln.“ reagierte ich<br />

auf Dominique. Der meinte: „Natürlich mag ich dich, du gefielst mir, sonst hätte<br />

ich doch keine Lust darauf gehabt, mich mit dir wieder<strong>zu</strong>treffen. Aber erstaunt<br />

hat mich schon etwas. Hinterher wurde <strong>es</strong> mir erst bewusst. Wenn man<br />

sich mit jemandem Unbekannten trifft, kommt man sich normalerweise langsam<br />

vortastend näher und lernt sich gegenseitig allmählich ein wenig kennen.<br />

Bei uns gab <strong>es</strong> das all<strong>es</strong> überhaupt nicht. Wir wissen nichts voneinander, ken-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 9 von 36


nen den anderen kein bisschen, aber gehen vom ersten Augenblick an miteinander<br />

um, als ob <strong>es</strong> nie Zeiten in unserem Leben gegeben hätte, in denen wir<br />

nicht gute alte Bekannte gew<strong>es</strong>en wären. Was hast du mit mir gemacht, Julia?<br />

Ich muss <strong>es</strong> ja erlebt haben, schließlich hab' ich doch darauf reagiert, aber ich<br />

weiß nichts, habe nichts g<strong>es</strong>ehen. Du wirst wie viele wissenden Frauen über<br />

mediale Kräfte verfügen, die Veleda damals vor 2000 Jahren kam doch auch<br />

schon hier aus der Gegend.“ sagte Dominique und lachte. „In Schwaben, nein<br />

sorry, in Baden mag <strong>es</strong> vielleicht nur Frauen vorbehalten sein, aber im Münsterland<br />

können auch Männer di<strong>es</strong>er Gaben teilhaftig werden. Wenn du nicht in<br />

Karlsruhe sondern in Kattenvenne gelebt hätt<strong>es</strong>t, könnt<strong>es</strong>t du vielleicht mit<br />

deinem zweiten G<strong>es</strong>icht <strong>zu</strong>künftig drohend<strong>es</strong> Unheil erkennen. Wenn deine<br />

Vorfahren nicht aus dem Badischen sondern aus Harsewinkel kämen, wär<strong>es</strong>t du<br />

jetzt vielleicht der Spökenkiekerei mächtig. Ich denke schon, dass wir Münsterländerinnen<br />

und Münsterländer über eine hochgradig entwickelte, feinfühlig differenzierende<br />

Sensibilität verfügen, an der <strong>es</strong> dem Badenser möglicherweise<br />

mangelt.“ klärte ich Dominique auf, der schon wieder halb lachend antwortete:<br />

„Julia, ich glaube <strong>es</strong> geht nicht anders, vielleicht gibt <strong>es</strong> sich ja im Laufe der<br />

Zeit. Du wirst mir all<strong>es</strong> erklären müssen, nicht nur Samland sondern vor allem<br />

das Münsterland. Sollen wir nicht am Wochenende einen Trip <strong>zu</strong> meinen<br />

Wunschvorfahren nach Harsewinkel machen oder lieber nach … Wie hieß der<br />

andere Ort nochmal?“ „Oh Nikki, wie wäre <strong>es</strong> wohl, wenn wir <strong>zu</strong>sätzlich ein wenig<br />

b<strong>es</strong>chwipst wären. Completely outrageous, vermute ich mal.“ war meine<br />

Reaktion. <strong>Morgen</strong> wollten wir uns am Aasee treffen. Wir wollten t<strong>es</strong>ten, ob<br />

beim Laufen das Lachen anstrengender und komplizierter sei, und man <strong>es</strong> daher<br />

sehr begrenze. Quatsch, wir hatten einfach Lust, spazieren <strong>zu</strong> gehen und<br />

dabei miteinander <strong>zu</strong> reden.<br />

Meine bourgeoise Sozialisation<br />

Außer Marietta, mit der ich mich leider viel <strong>zu</strong> selten traf, hatte ich auch andere<br />

Freundinnen, und die drei hier in der WG waren wohl auch so etwas für mich.<br />

Nur über persönliche Beziehungen reden? Das war eigentlich nicht so angezeigt.<br />

Wenn jemand sehr unter einer Enttäuschung litt, klar, aber dann stand<br />

die gequälte Psyche der betroffenen Freundin im Zentrum. Dass man sich freute,<br />

jemanden kennengelernt <strong>zu</strong> haben, den man nett fand? „Mädel, wie bedeutsam<br />

<strong>ist</strong> das denn, dass ich das wissen muss? Das kannste doch jeden<br />

Abend haben. Wird sich dadurch irgendetwas auf der Welt verändern?“ So<br />

dachte frau, wollte frau denken oder <strong>es</strong> wurde <strong>zu</strong>mind<strong>es</strong>t vermutet, dass frau<br />

so denken würde. Ziemlich dämlich kam ich mir bei meinem Kontakt <strong>zu</strong> Dominique<br />

vor, jetzt musste ich mir noch <strong>zu</strong>sätzlich b<strong>es</strong>chränkt vorkommen, weil <strong>es</strong><br />

mich <strong>zu</strong> b<strong>es</strong>chäftigen schien, ich öfter an ihn oder unsere Kontakte denken<br />

musste. Ich rief meinen Bruder an. Mit ihm konnte ich am b<strong>es</strong>ten von Frau <strong>zu</strong><br />

Frau reden. Wir ließen uns auf all<strong>es</strong> vom anderen ein, machten keine Vorgaben<br />

und nahmen keine Bewertungen der politischen Relevanz vor. Ich hatte ja keine<br />

Probleme, nur ein G<strong>es</strong>präch mit ihm war immer erhellend, aufheiternd und<br />

<strong>zu</strong>frieden stimmend. Es tat einfach gut, mit meinem Bruder <strong>zu</strong> reden. In der<br />

WG wurde auch nicht jed<strong>es</strong> g<strong>es</strong>prochene Wort auf politische Relevanz geprüft.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 10 von 36


Absoluter Quatsch. Völliger Unsinn konnte unter uns locker gequatscht werden.<br />

Aber wenn man von seinen persönlichen Beziehungen erfasst war, verdeutlichte<br />

<strong>es</strong>, dass man begann, die Welt aus bourgeoiser Perspektive <strong>zu</strong> betrachten,<br />

und für einen nicht mehr die g<strong>es</strong>ellschaftspolitischen Blickwinkel im Vordergrund<br />

<strong>zu</strong> stehen schienen. Na ja, wahrscheinlich basierte mein emotional<strong>es</strong><br />

Empfinden vornehmlich auf der bourgeoisen Sozialisation, die ich durchlaufen<br />

hatte, aber unsere heißen Diskussionen über politische Themen und g<strong>es</strong>ellschaftliche<br />

Entwicklungen bewegten mich doch auch <strong>zu</strong>tiefst emotional. Vielleicht<br />

gab <strong>es</strong> im Revolutionären ja auch Aspekte, die eine bürgerliche Seele<br />

sehr beglücken konnten. Dass nicht all<strong>es</strong> Revolutionäre meine bourgeoise Psyche<br />

hoch erfreute, konnte ich <strong>zu</strong>m Beispiel daran erkennen, wie schwer <strong>es</strong> mir<br />

fiel, das Kapital zügig <strong>zu</strong> l<strong>es</strong>en. Ob <strong>es</strong> sich bei meiner Kontaktaufnahme <strong>zu</strong> Dominique<br />

eher um eine Aktivität mit dem Ziel bourgeoiser Bedürfnisbefriedigung<br />

handelte, oder ob <strong>es</strong> doch mehr als ein revolutionärer Akt an<strong>zu</strong>sehen war,<br />

konnte ich nicht genau entscheiden, tendierte aber eher und lieber <strong>zu</strong>m Letzteren.<br />

Welche die Ausbeutung der darbenden arbeitenden Abhängigen bedingenden<br />

Strukturen der Herrschenden dadurch überwunden sein sollten, würde sich<br />

später erweisen, <strong>zu</strong> Zeit musste ich jedenfalls noch viel arbeiten. Ich mochte<br />

und liebte <strong>es</strong> ja, seit der Zeit als ich im Kind<strong>es</strong>alter aus unerfindlichen Gründen<br />

einen Chemiebaukasten <strong>zu</strong> Weihnachten g<strong>es</strong>chenkt bekommen hatte. Keiner in<br />

unserer Verwandtschaft oder Bekanntschaft hatte etwas mit Chemie <strong>zu</strong> tun.<br />

Für mich begann die Forschungsreise mein<strong>es</strong> Lebens. Immer wieder entdeckte<br />

ich Neu<strong>es</strong>, noch Spannender<strong>es</strong>, noch Fantastischer<strong>es</strong>. Für alle galt ich als die<br />

unumschränkte Fürstin chemischen Wissens und Erklärenkönnens. Nur jetzt<br />

sah <strong>es</strong> einfach so aus, dass <strong>es</strong> noch unendlich viel mehr gab, dass die Fürstin<br />

noch nicht gewusst hatte und das ich jetzt lernen musste. Einfach l<strong>es</strong>en, anschauen,<br />

vorstellen, behalten. Das war viel und leicht ermüdende Arbeit. Aber<br />

dass der Mensch in den befreiten Zeiten nach der Revolution nicht mehr arbeiten<br />

müsse, wurde ja auch nirgendwo verkündet, nur selbstb<strong>es</strong>timmt sollte <strong>es</strong><br />

eben sein. In den Sem<strong>es</strong>terferien ließ sich das bei mir schon weitgehend so interpretieren.<br />

Ein bisschen Klavierspielen kann ich auch<br />

Was machte ich, als ich mich mit Dominique nachmittags traf? Ich musste ihn<br />

natürlich fragen, wenn er arbeite, ob er das eher selbstb<strong>es</strong>timmt oder fremdb<strong>es</strong>timmt<br />

verrichte. Er blickte skeptisch lächelnd <strong>zu</strong> mir rüber: „Julia, du fängst<br />

ja schon wieder an. Ich denke, wenn ich mich mit dir treffen will, können mich<br />

dabei nur mir persönlich unbekannte Herrschende dirigieren, selbst b<strong>es</strong>timmen,<br />

dass ich so etwas wollte, würde ich doch wohl niemals.“ „Das Kapital, die<br />

unbekannten Herrschenden sind immer das Kapital. Schade, dass du dem noch<br />

gehorchen musst. ...“ Wir scherzten noch ein wenig, schienen dann aber<br />

selbstverständlich das Bedürfnis <strong>zu</strong> entwickeln, in üblicher weise miteinander<br />

<strong>zu</strong> reden. Ich erfuhr auch, warum Dominique Chemie studierte und sogar über<br />

Politisch<strong>es</strong> sprachen wir. Natürlich dachte er links, war aber nirgendwo aktiv. Er<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 11 von 36


erklärte mir auch warum. So gelassen und ruhig habe ich mich, glaube ich,<br />

noch nie über Politik unterhalten. Jeglicher revolutionäre Eifer schien mir für<br />

heute Nachmittag abhanden gekommen.<br />

Was g<strong>es</strong>chah da mit mir? Was tat ich da überhaupt? Ich hatte nicht das Bedürfnis<br />

nach einem Liebhaber gehabt, war nicht auf der Suche nach einem<br />

Partner gew<strong>es</strong>en, hatte Dominique g<strong>es</strong>ehen und gedacht: „Oh ja, der könnte<br />

<strong>es</strong> sein.“ Es war eher so, als ob ich in einem Katalog geblättert hätte, und:<br />

„Sieh mal, wie hübsch.“ wäre mir entfahren. Jetzt treffen wir uns gleich an<br />

zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Wahrscheinlich würden wir uns morgen<br />

wieder treffen wollen. Beim zweiten Treffen stellen wir gleich f<strong>es</strong>t, dass wir uns<br />

gegenseitig ungeheuer sympathisch sein müssen. Was sollte das denn werden?<br />

Wollte ich denn jetzt überhaupt eine enge Beziehung <strong>zu</strong> einem Mann. Fast kam<br />

<strong>es</strong> mir vor, als ob ich in meine eigene Eheanbahnung hineing<strong>es</strong>chlittert sei. Ja<br />

ich schlitterte in etwas hinein, bei dem mir jeder Plan fehlte. Das wollte ich<br />

nicht, aber Dominique einfach ziehen lassen und das Kapitel abschließen, nein<br />

das wollte ich auch auf keinen Fall. Was tun? Lenin konnte ich in di<strong>es</strong>em Fall<br />

nicht befragen. Warum sprach ich nicht direkt mit Dominique darüber, wenn<br />

wir uns doch so gut verstanden und so sympathisch waren? „Hätt<strong>es</strong>t du dich<br />

denn schon beinah beim Stand<strong>es</strong>amt nach freien Terminen erkundigt?“ wollte<br />

er wissen. „Du b<strong>ist</strong> blöd. Das <strong>ist</strong> überhaupt nicht <strong>zu</strong>m Lachen. Du hast mich<br />

völlig missverstanden, und das weißt du. Warum tust du so etwas.<br />

Wahrscheinlich, weil du in Wirklichkeit keinen Deut b<strong>es</strong>ser b<strong>ist</strong>, als all die<br />

anderen auch.“ erschrak ich über meine eigene Rage, nur Dominique lächelte.<br />

„Julia, ich glaube, wir brauchen uns gar nicht darüber <strong>zu</strong> unterhalten, ob und<br />

wie gut wir uns verstehen, und welche Bedeutung der andere für einen hat, wir<br />

brauchen nur unser Verhalten und unseren Umgang miteinander <strong>zu</strong> betrachten,<br />

dann weiß man eigentlich B<strong>es</strong>cheid. Natürlich kannst du sagen, meine Ratio<br />

teilt mir mit, dass ich jetzt keine Beziehung <strong>zu</strong> einem Mann will, also finito. Nur<br />

wenn du überlegst, ob du nicht in etwas Unausgegoren<strong>es</strong> hineinschlitterst, und<br />

eigentlich <strong>zu</strong>nächst mal einen Plan braucht<strong>es</strong>t, meine ich, dass das<br />

Unausgegorene sich einen feuchten Kehricht um deine Pläne scheren wird,<br />

sondern dich schneller schlittern lässt, als du mit all deinen Planvorgaben<br />

nachkommen kannst. Wenn du mich ausschimpfst, hört sich das nicht an, als<br />

ob wir fast Fremde wären, sondern eher als ob dem die Vertrauensbasis von<br />

dreißig Ehejahren <strong>zu</strong> Grunde läge. Und ich bin nicht indigniert, ich fühle mich<br />

wohl, mir gefällt <strong>es</strong>. Julia, das kommt einfach so von selbst herang<strong>es</strong>chlittert<br />

und <strong>ist</strong> da. Passt wunderbar, fasziniert mich und <strong>ist</strong> äußerst angenehm. Wenn<br />

du nicht grundsätzlich eine Beziehung ablehnst, denke ich, <strong>es</strong> wird am b<strong>es</strong>ten<br />

und schönsten für uns werden, wenn wir uns einfach schlittern lassen, wenn<br />

wir uns von der Entwicklung, wie sie sich ergibt, tragen lassen. Ich bin da sehr<br />

<strong>zu</strong>versichtlich und meine mich darauf freuen <strong>zu</strong> können.“ führte Dominique<br />

aus. „Nikki, mein Bauch möchte das doch auch, aber stell dir mal vor, wir<br />

würden länger <strong>zu</strong>sammen bleiben. Das ganze Leben mit einem Chemiker, nicht<br />

<strong>zu</strong> ertragen. Ich allein bin die Chemie-Prinz<strong>es</strong>sin. Nein Unsinn, aber<br />

zwangsläufig wird man nicht nur im Privatbereich auch unendlich viel<br />

Chemisch<strong>es</strong> b<strong>es</strong>prechen, <strong>es</strong> werden auch Impulse aus den anderen Bereichen<br />

d<strong>es</strong> Partners fehlen, das wird doch auf die Dauer gar nicht gut gehen können.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 12 von 36


Siehst du das nicht auch so?“ fragte ich <strong>zu</strong> meinem Problem. „Nein“ war<br />

Dominiqu<strong>es</strong> entschiedene Reaktion. Er erläuterte dann weiter, dass seine Eltern<br />

beide in der Pharmaindustrie in der gleichen Firma in Karlsruhe b<strong>es</strong>chäftigt<br />

seien. Sich seit dreißig Jahren innig liebten, zwar sehr viel über chemischpharmazeutische<br />

Angelegenheiten sprächen, aber kein<strong>es</strong>wegs lebensfremde<br />

Fachidioten seien. Als Horrorbild könne er so etwas auf Grund seiner<br />

Erfahrungen kein<strong>es</strong>falls sehen. Es liege an den Menschen, wie sie damit<br />

umgingen und wohl auch über welche Bildung sie verfügten. „Du malst ein<br />

ander<strong>es</strong> Bild, als <strong>es</strong> meine Vorstellung dominierte, aber trotzdem wäre <strong>es</strong> doch<br />

schön, wenn der Partner <strong>zu</strong>sätzliche Einblicke in eine andere Welt vermitteln<br />

könnte. Meine Mutter <strong>ist</strong> Lehrerin, die hätte niemals einen Lehrer geheiratet.<br />

Ich habe mich immer vorrangig um Naturwissenschaftlich<strong>es</strong> gekümmert, war<br />

ja auch nicht schlecht. Nur ich singe eigentlich auch sehr gern, höre gern<br />

klassische Musik, würde so gern Klavier spielen können, bei Gemälden denke<br />

ich, dass die Maler über göttliche Gaben verfügen müssen, ich muss immer nur<br />

auf's Neue f<strong>es</strong>tstellen: „Ich kann nichts davon.“. Einen Partner <strong>zu</strong> haben, der<br />

Affinitäten <strong>zu</strong> derartigen musischen Bereichen hätte, wäre nicht nur eine<br />

schöne Ergän<strong>zu</strong>ng, für mich hat <strong>es</strong> die Qualität ein<strong>es</strong> Wunschtraum<strong>es</strong>.“<br />

unterstrich ich nochmal meine Vorstellungen. „Na ja, so ein bisschen<br />

Klavierspielen kann ich auch schon noch.“ meinte Dominique. „Und was?“<br />

schaute ich ihn skeptisch an. „So einig<strong>es</strong> schon. Ich könnte dir ja mal etwas<br />

vorspielen, aber da müssen wir uns im Konservatorium treffen.“ antwortete er.<br />

„Don't hurt me. Bitte, enttäusche mich nicht.“ dachte ich befürchtend. „Wir<br />

haben ein Klavier hier in der WG.“ frohlockte ich. Wir gingen hin und<br />

Dominique griff ein paar Mal in die Tasten. „Das Piano <strong>ist</strong> krank. Das muss <strong>zu</strong>m<br />

Onkel Doktor. So kann man da nicht drauf spielen.“ meinte er. Aha, derartige<br />

Äußerungen <strong>zu</strong> unserem Klavier hatte ich noch nicht vernommen, aber wir<br />

benutzten <strong>es</strong> ja auch immer nur bei Fèten. Also Konservatorium.<br />

Wi<strong>es</strong>o Konservatorium? Was machte Dominique dort? Dominique spielte. Nachdem<br />

er seine Finger ein wenig aufgewärmt hatte, <strong>zu</strong>erst die Mondscheinsonate,<br />

danach Für Elise, „Magst du Chopin?“ fragte er. Ich nickte nur eifrig. Obwohl<br />

mir innerlich der Mund offen stand, meine Ohren auf andächtigst<strong>es</strong> Lauschen<br />

eing<strong>es</strong>tellt waren und meine großen Augen vor Bege<strong>ist</strong>erung, Freude und Stauen<br />

feucht wurden. „Bisschen Klavierspielen“ Dominique spielte virtuos. „Dominique<br />

Chopin. Was <strong>ist</strong> das? Sag etwas da<strong>zu</strong>.“ forderte ich in freudig lächelnd<br />

auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er spiele wohl nicht schlecht, aber<br />

außer in Karlsruhe und Umgebung habe er nichts gewonnen. „Da hast du keine<br />

Chance. Du kannst dir die Finger wund trainieren, aber gegen die, die vorm<br />

Sprechen Klavierspielen gelernt haben, wirst du nie im Leben ankommen. Denen<br />

haben sich beim Aufwachsen spezielle Hirnareale gebildet. Später sind die<br />

nicht mehr <strong>zu</strong> haben. Studieren hätte ich <strong>es</strong> wahrscheinlich schon können, aber<br />

das ganze Leben lang nur Klavier in seichter Mittellage, für die du dich noch<br />

ziemlich quälen musst, das war auch keine emotionale Perspektive. Aber jetzt<br />

habe ich nichts. Ich muss aufpassen, dass ich meinen Standard nicht verliere.<br />

Ein Assi, den ich kenne, hat mir hier für einmal in der Woche die Möglichkeit<br />

verschafft, und einmal kann ich bei den Eltern von einem Bekannten hier spielen.<br />

Die hören <strong>es</strong> gern, weil sonst keiner den Flügel benutzt, nur <strong>ist</strong> das auch<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 13 von 36


nicht so ein toll<strong>es</strong> Teil. Eigentlich dürfte kein Tag ohne vergehen. Ich sollte<br />

mich auch mal um 'ne WG bemühen, dann könnte ich meinen rüberkommen<br />

lassen. Nur da hätte ich wohl Angst drum, wenn er dann einfach so im Gemeinschaftsraum<br />

stünde. Euer Klavier, das muss sicher auch ziemlich leiden,<br />

das <strong>ist</strong> nämlich nicht nur einfach stark verstimmt, da <strong>ist</strong> auch noch etwas ander<strong>es</strong>.“<br />

erläuterte Dominique und dann spielte er noch für mich, bis die Zeit<br />

vorüber war. Wunderbar, toll, lustig, genial. Das könne er dann doch wohl jeden<br />

Tag für mich tun, dachte ich, und dass unsere Beziehung so b<strong>es</strong>chwingt,<br />

lustig und verspielt sein würde, wie Beethovens und Dominiqu<strong>es</strong> improvisierten<br />

Papagenovariationen, daran hatte ich keinen Zweifel.<br />

Konnte ich jetzt träumen? Ich heulte einfach. Was Dominique g<strong>es</strong>pielt hatte,<br />

ich hörte <strong>es</strong> im Bett genau nochmal, sah ihn sich konzentrieren, mir <strong>zu</strong>lächeln,<br />

sah die Schweißperlen auf seiner Stirn. Der nette Junge aus dem Hörsaal mein<br />

Traumprinz? Für heute Nacht war er auf jeden Fall der Prinz meiner Träume. O.<br />

k., g<strong>es</strong>tern war ein verzauberter Tag, aber meine Welt b<strong>es</strong>tand überwiegend<br />

nicht daraus, Zauberklängen <strong>zu</strong> lauschen, und ich sah darin auch keine alleinige<br />

Basis für eine Perspektive. Trotzdem mussten für Dominique b<strong>es</strong>sere, ausreichende<br />

Trainingsmöglichkeiten g<strong>es</strong>chaffen werden. Da würde sich etwas finden<br />

lassen, war meine f<strong>es</strong>te Überzeugung. Meine Eltern sollten als erst<strong>es</strong> konsultiert<br />

werden. Sie kannten ja jede und jeden in Münster. „Ich kenne da jemanden,<br />

nein,“ unterbrach ich mich, „Mein Freund spielt ganz hervorragend<br />

Klavier.“ Nach dem ich all<strong>es</strong> <strong>zu</strong> 'mein Freund' erläutert hatte, war selbstverständlich,<br />

dass seine Übungsmöglichkeiten <strong>zu</strong> verb<strong>es</strong>sern seien. Meine Mutter<br />

sprudelte mit Ideen. „Ja, aber wenn er selber einen Flügel hat,“ sinnierte mein<br />

Vater, „dann würde er doch darauf sicher am liebsten spielen. Er brauchte nur<br />

entsprechende Räumlichkeiten.“ Mein Vater war Architekt, und wenn er so<br />

sprach, hatte er b<strong>es</strong>timmt schon etwas Konkret<strong>es</strong> im Hinterkopf. Ich konnte<br />

warten. „Wie viel kann er denn im Monat bezahlen?“ wollte er wissen. Wusste<br />

ich natürlich nicht: „Wieviel müsste er denn?“ war meine Gegenfrage. „380,-€<br />

all inclusive, das sind Neubauten, absolut schalldicht, da kann er Tag und Nacht<br />

in die Tasten hauen. Hier in den Altbauten, wo willst du denn da jeden Tag eine<br />

Stunde lang auf dem Flügel spielen. Ohne eigen<strong>es</strong> Haus geht <strong>es</strong> doch nirgendwo.<br />

Das sind meiner Ansicht nach auch sehr passable Appartements an sich.<br />

Heirate ihn, dann bauen wir euch ein Haus.“ scherzte mein Vater. „Vielleicht <strong>ist</strong><br />

er ja schon verheiratet. So genau kenne ich ihn auch wieder nicht.“ war meine<br />

Replik. Mutter wollte sich noch überall umhören. Das wollte ich <strong>zu</strong>nächst mal<br />

abwarten und die Angelegenheit mit dem Appartement klären. In Angelmodde<br />

war's natürlich. Am Prinzipalmarkt gibt’s keine Neubauten, auch wenn Dominique<br />

das w<strong>es</strong>entlich lieber g<strong>es</strong>ehen hätte. Ich tröstete ihn, dass ich an schönen<br />

Wochenenden dann mal eine Kaffeefahrt <strong>zu</strong>r Werse machen und ihn in di<strong>es</strong>em<br />

Rahmen auch b<strong>es</strong>uchen könne. Nur Dominique konnte's gar nicht bezahlen.<br />

Da<strong>zu</strong> musste er erst mal nach Hause.<br />

Dominiqu<strong>es</strong> Freundin<br />

Verheiratet? Wi<strong>es</strong>o hatte Dominique eigentlich keine Freundin? Dass ich die<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 14 von 36


einzige Frau in Münster oder Karlsruhe sein sollte, die ihn gut leiden mochte,<br />

schien mir eher unwahrscheinlich. Warum hatten wir ausgerechnet davon nie<br />

etwas erwähnt? Wir hatten über meine Beziehungsperspektive und -g<strong>es</strong>chichte<br />

g<strong>es</strong>prochen, aber bei Dominique gab's da nichts. B<strong>es</strong>timmt hatte er da noch<br />

etwas, von dem er mir nichts erzählte. Etwas Ernst<strong>es</strong>, Seriös<strong>es</strong> und mit mir<br />

war's schön lustig. Vielleicht war er ja auch seiner großen Liebe aus der Schulzeit<br />

versprochen, und hatte jetzt die Freiheit der Wanderjahre. Di<strong>es</strong>e ganzen<br />

Beziehungsquerelen, dass man sich solche Fragen fragt, über solche Hypoth<strong>es</strong>en<br />

nachdenkt. Eigentlich stand für mich f<strong>es</strong>t, dass ich mit di<strong>es</strong>er dämlichen<br />

Psychokleinschmiere nie mehr etwas <strong>zu</strong> tun haben wollte. Soll's mir doch egal<br />

sein, solange ich meine schönen Tage mit ihm habe, was will ich denn sonst.<br />

Lag's an meiner bourgeoisen Sozialisation, oder handelte <strong>es</strong> sich dabei um ein<br />

amourösen Beziehungen generell immanent<strong>es</strong> Phänomen. Wenn's an meiner<br />

Sozialisation lag, war's sowie <strong>zu</strong> spät, da etwas ändern <strong>zu</strong> wollen. B<strong>es</strong>itzvorstellungen<br />

und Ausschließlichkeitsansprüche wurden gleich beim Zuwendungsausbau<br />

mit erworben und wenn's sowi<strong>es</strong>o da<strong>zu</strong>gehörte, war ja auch nix <strong>zu</strong> machen.<br />

„Dominique, wo steckt eigentlich deine Freundin? Du hast noch nie etwas davon<br />

erzählt,“ feixte ich ihn grinsend an. Er lachte wieder laut, meinte aber<br />

dann: „Das <strong>ist</strong> gar nicht <strong>zu</strong>m Lachen, dass <strong>ist</strong> bitter, ganz bitter. Ich kann mich<br />

gar nicht von ihr trennen.“ Ich schaute ihn nur fragend an, „Ja, so richtig meine<br />

Freundin <strong>ist</strong> sie eigentlich nie gew<strong>es</strong>en. Wir sind nach einer Fète im Bett gelandet<br />

und dann für ein paar Tage nicht mehr aufg<strong>es</strong>tanden. Du kannst ja nicht<br />

anschließend sagen: „Ja, war schön, vielen Dank. Wie hießt du nochmal?“.<br />

Aber so klar war <strong>es</strong> mir da auch noch gar nicht, nur als wir uns dann öfter trafen,<br />

stellte ich f<strong>es</strong>t, dass wir in völlig unterschiedlichen Welten lebten. Im<br />

Grunde gab <strong>es</strong> nicht's worüber wir beide inter<strong>es</strong>siert gemeinsam reden konnten.<br />

Ich konnte über ihre Scherze nicht lachen, sie berührten mich eher peinlich.<br />

Ich konnte aber nicht unfreundlich <strong>zu</strong> ihr sein. Sie war immer so lieb und<br />

herzlich <strong>zu</strong> mir, sie kam mir so verletzlich vor und mag mich eben wohl sehr<br />

gut leiden. Es war ja auch schön gew<strong>es</strong>en mit ihr im Bett, aber die Vorstellung,<br />

mit ihr <strong>zu</strong>sammenleben <strong>zu</strong> müssen, stellt ein Horrorbild für mich da.“ erläuterte<br />

Dominique. „Und warum machst du nicht Schluss, wenn all<strong>es</strong> so eindeutig<br />

für dich <strong>ist</strong>?“ erkundigte ich mich. „Da liegt ja das Problem. Ich denke nicht,<br />

dass ich ein Schlaffi bin, der sich vor Entscheidungen drückt, aber hier <strong>ist</strong> <strong>es</strong><br />

eben ganz anders. Es tut mir selber weh, ihr weh tun <strong>zu</strong> müssen, und dass<br />

werde ich dadurch mit Sicherheit sehr. Wie ein naiv<strong>es</strong> Kind kommt sie mir vor.<br />

Sie hätte <strong>es</strong> doch längst merken müssen, an meinem Verhalten, daran, wie oft<br />

ich sie vertröstet, wie oft ich mich <strong>zu</strong> drücken versucht habe. Dass ich sie liebe,<br />

hat sie von mir noch nie <strong>zu</strong> hören bekommen. Aber Evchen akzeptiert all<strong>es</strong>.<br />

Was soll ich denn da machen? Ja, ja, da bin ich ganz nett in etwas reing<strong>es</strong>chlittert,<br />

was ich nie gewollt hätte.“ erläuterte Dominique seine Ratlosigkeit. „Liebst<br />

du mich denn?“ fragte ich mit einem schelmischen Grinsen. Er lachte sich wieder<br />

tot. „Sag's am b<strong>es</strong>ten gleich, damit ich nicht nach zwei Jahren f<strong>es</strong>tstellen<br />

muss, so etwas hat Dominique noch nie <strong>zu</strong> mir g<strong>es</strong>agt, vielleicht liebt er mich<br />

ja gar nicht.“ Dominique lachte immer noch und meine: „Julia, das <strong>ist</strong> <strong>es</strong> was<br />

ich an dir liebe, dass du so etwas in solchen Situationen auf di<strong>es</strong>e weise fragst.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 15 von 36


Ich könnte dich küssen und umarmen. Das sind doch Lieb<strong>es</strong>äußerungen,<br />

oder?“ „Das würde für heute reichen, aber du tust <strong>es</strong> ja nicht.“ reagierte ich. Er<br />

schaute mich fragend an: „Darf ich denn?“ „Wir wollten doch unseren Emotionen<br />

schlitternd folgen. Wenn dir danach <strong>ist</strong>, was sollte dich aufhalten, kluge<br />

Gedanken doch wohl nicht.“ so ich. „Meine klugen Gedanken raten mir auch<br />

dringend da<strong>zu</strong>.“ bemerkte Dominique noch, bevor wir uns umschlangen und<br />

küssten. Wir lächelten uns an, fast ein wenig mokant aber in freundlich wohlwollender<br />

Form, vielleicht auf einer selbstironischen Basis: „Sind wir nicht doch<br />

ein wenig verrückt, aber schön war's schon.“ Ein Lächeln, das auch einen Unterton<br />

von tiefem wissenden gemeinsamen Verständnis beinhaltet. Selbstverständlich<br />

nochmal. Wir ließen uns nach hinten fallen, und aufhören hätte ich eigentlich<br />

gar nicht mehr gewollt. Nur der Herr begann, an meiner Gürtelschnalle<br />

<strong>zu</strong> n<strong>es</strong>teln. „Mhm, mhm, Dominique, du weißt ja wo<strong>zu</strong> das führt, oder legst du<br />

Wert auf eine weitere Freundin, die du nicht mehr los wirst?“ wehrte ich ihn ab.<br />

Er erklärte mir, welch Unsinn ein Vergleich sei, und warum und wie sich zwischen<br />

uns all<strong>es</strong> völlig anders darstelle, was für ein toller Mensch und Frau im<br />

B<strong>es</strong>onderen ich doch sei. Die Gürtelschnalle blieb trotzdem <strong>zu</strong>. Dominique hatte<br />

allerdings auch keine erneuten Ambitionen erkennen lassen.<br />

Schwiegertochter in Karlsruhe<br />

„Julia, wenn du mit <strong>zu</strong> meinen Eltern kämst, würden sie mir das Apartment b<strong>es</strong>timmt<br />

bezahlen.“ meinte er. „Als Schwiegertochter, potentielle Gebärerin der<br />

<strong>zu</strong>künftigen Enkelkinder oder was? Wie stellst du dir das vor?“ reagierte ich.<br />

„Red' nicht so einen Blödsinn. Als meine tolle, nette Freundin, die sie ganz sicher<br />

auch mögen werden. Und auch mein Vater wird <strong>es</strong> für unerträglich halten,<br />

dass sie keine Möglichkeit haben soll, dem Klavierspiel sein<strong>es</strong> Sohn<strong>es</strong> <strong>zu</strong> lauschen.“<br />

erläuterte Dominique. „Und ohne Freundin <strong>ist</strong> ihnen dein Klavierspiel<br />

nicht so wichtig?“ wollte ich wissen. „Schon, nur das <strong>ist</strong> ein wenig kompliziert.<br />

Es <strong>ist</strong> noch nichts endgültig entschieden. Ich habe <strong>zu</strong>m ersten Mal im Leben<br />

meine Eltern sich richtig streiten g<strong>es</strong>ehen, richtig. Sie haben sich vorgeworfen,<br />

sich gegenseitig nicht <strong>zu</strong><strong>zu</strong>hören, heftig. Sie waren sich zwar wieder einig, dass<br />

man auf di<strong>es</strong>e weise nichts klären könne, aber geändert hat auch keiner seine<br />

Position. Dass ich von <strong>zu</strong> Hause weg wollte, hat sie maßlos enttäuscht. Sie haben<br />

mir jeden Wunsch von den Augen abgel<strong>es</strong>en, aber d<strong>es</strong>halb wollte ich ja<br />

auch weg, nicht mehr die Möglichkeit haben, Mami und Papi mein Leid klagen<br />

<strong>zu</strong> können und sicher sein, dass sie <strong>es</strong> regeln würden. Meine Mutter hat unter<br />

Tränen versprochen, mir nie mehr bei nichts behilflich sein <strong>zu</strong> wollen, wenn ich<br />

bliebe. Sie würde ich allerdings schon gern öfter sehen. Weißt du, Julia, das <strong>ist</strong><br />

eine Amour fou zwischen uns beiden. Als ob wir <strong>zu</strong>sammen auf die Welt gekommen<br />

wären. Ja, stimmt, sie hatte auch immer Lust daran, mich <strong>zu</strong> ärgern,<br />

solange ich mich erinnern kann. Einmal meinte sie, warum die Bauern denn<br />

nicht gleich die Kühe an den Strom anschließen würden, dann brauche man die<br />

Milch doch nicht extra für den Kakao wieder heiß <strong>zu</strong> machen. Ich wusste damals<br />

zwar, das so etwas irgendwie nicht möglich war, warum aber nicht, das<br />

konnte ich nicht sagen. Ich musste mich immer kringeln, wenn sie mir auf meine<br />

Behauptung, dass <strong>es</strong> nicht ginge, neue Erläuterungen bot. Stromkühe wa-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 16 von 36


en ihre Fantasien, die mich kitzelten, <strong>zu</strong>m lachen brachten, aber von mir auch<br />

nicht so leicht <strong>zu</strong> widerlegen waren. Ja, so spielten wir, und du machst <strong>es</strong> heute<br />

nicht viel anders. Das wird <strong>es</strong> sein. Dass meine Mutter und ich uns lieben <strong>ist</strong><br />

so selbstverständlich, sicher und unveränderlich. Dass <strong>es</strong> irgendwann nicht<br />

mehr so sein könnte, unvorstellbar. Unsere Liebe <strong>ist</strong> wie losgelöst von der Außenwelt.<br />

Ich konnte den größten M<strong>ist</strong> machen, meine Mutter konnte mir etwas<br />

verbieten, ich konnte sauer auf sie sein, aber unsere Beziehung tangierte, das<br />

all<strong>es</strong> überhaupt nicht. In der Pubertät habe ich ihr mal g<strong>es</strong>agt, dass ich sie liebe<br />

und davon träumte, dass sie auch anders meine Freundin wäre. Da hat sie<br />

mir all<strong>es</strong> erklärt, warum das so und ganz natürlich sei und gemeint, dass sie,<br />

solange ich keine Absichten hege, sie <strong>zu</strong> vergewaltigen, all<strong>es</strong> ganz in Ordnung<br />

fände. Sie war natürlich schnell dafür, dass ich das entsprechende Geld bekäme,<br />

obwohl sie damals auch mit meinem Vater der Ansicht war, wenn ich<br />

selbständig die Realität draußen erleben wolle, da<strong>zu</strong> ebenso gehöre, mit begrenzten<br />

finanziellen Mitteln wie andere auch auskommen <strong>zu</strong> müssen. „Für<br />

welchen Studenten gehört <strong>es</strong> denn <strong>zu</strong>r normalen Alltagsrealität, sich ein schallisoliert<strong>es</strong><br />

Apartment le<strong>ist</strong>en <strong>zu</strong> können, in dem er seinen Flügel unterbringen<br />

kann? Würd<strong>es</strong>t du mir das mal, bitte, erklären.“ hatte mein Vater unter anderem<br />

argumentiert. „Seinem eigenen Sohn die Finger steif werden <strong>zu</strong> lassen,<br />

weil man das Geld nicht rausrücken will, rationale Argumente können das allein<br />

nicht sein. Da<strong>zu</strong> muss schon ein ziemlich<strong>es</strong> sad<strong>ist</strong>isch<strong>es</strong> Potential gehören. So<br />

habe ich dich bislang noch nie g<strong>es</strong>ehen.“ hatte seine Mutter vorgebracht. Sein<br />

Vater war kein Sad<strong>ist</strong> mehr, und seine Mutter brauchte auch nichts mehr <strong>zu</strong><br />

erklären, aber entschieden war nichts. Sein Ibach-Schatz stand weiter in<br />

Karlsruhe und das Appartement in Angelmodde leer.<br />

Dominique hatte ja auch kein Auto, fuhr mit dem Fahrrad wie alle anderen in<br />

Münster und hatte <strong>es</strong> auch vorher in Karlsruhe schon getan. Er lebte tatsächlich<br />

wie jeder andere schlichte, normale Student auch. Komisch kam <strong>es</strong> mir<br />

schon vor, mich von den Schwiegereltern begutachten <strong>zu</strong> lassen. Wussten seine<br />

Eltern denn von der anderen Freundin? Seiner heißgeliebten Mami würde er<br />

doch b<strong>es</strong>timmt etwas davon erzählt haben. Im Zug überlegten wir immer b<strong>es</strong>sere<br />

Sprüche, wie ich seinen Alten denn anranzen könne, nun mal flott die<br />

Kohle raus<strong>zu</strong>rücken. Wir kamen so lustig und entspannt in Karlsruhe an, dass<br />

ich, anstatt an Schwiegertochter-Casting <strong>zu</strong> denken, viel mehr darauf achten<br />

musste ernst <strong>zu</strong> bleiben. Als Dominique erzählte, wie wir uns kennengelernt<br />

hatten, und er sicher sei, ich hätte genau gewusst, das Karlsruhe nicht in<br />

Schwaben läge, bekam ich von seiner Mutter ein sehr vertraulich<strong>es</strong> sympathisch<strong>es</strong><br />

Schmunzeln. Jetzt wollte ich aber doch sehen, was man da eventuell<br />

nach Münster transportieren lassen wollte, und ob <strong>es</strong> sich denn überhaupt lohnen<br />

würde. Als ich sah was da in der Mischung aus Bibliothek und Musikzimmer<br />

stand, bekam ich Augen und Mund nicht mehr <strong>zu</strong>. „Und der gehört dir?“<br />

fragte ich entge<strong>ist</strong>ert. „Na ja, er <strong>ist</strong> für mich damals ang<strong>es</strong>chafft worden, da ich<br />

immer <strong>zu</strong>m Üben in die Schule ging, weil unser Klavier nicht mehr reichte.<br />

Mami war ganz bege<strong>ist</strong>ert von dem Klang und meinte, sie würden <strong>es</strong> ja schließlich<br />

immer hören müssen. Ein wenig kann sie selber auch spielen. Und schließlich<br />

könne man so etwas ja auch immer wieder verkaufen.“ So ein dick<strong>es</strong><br />

prächtig<strong>es</strong> Teil, ein richtiger großer Konzertflügel, Richard Wagner hieß er, ein-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 17 von 36


fach in einer Wohnung. „Der <strong>ist</strong> doch viel <strong>zu</strong> schade <strong>zu</strong>m transportieren. Hast<br />

du da keine Angst?“ fragte ich noch, aber jetzt wollte ich doch endlich etwas<br />

hören. Revolutions-Etüde spielte mein Dominique Chopin für mich. Wie kann<br />

man so etwas können? Liszt h-Moll Sonate folgte und nochmal Chopin Nocturne.<br />

Der Impr<strong>es</strong>ario ließ alle seine Talente auftreten. Bei dem, was er g<strong>es</strong>pielt<br />

habe käme der Klang b<strong>es</strong>onders gut <strong>zu</strong>r Geltung. Bis auf die Revolutions-Etüde,<br />

die hätte er speziell für die Barrikadenkämpfe in Münster g<strong>es</strong>pielt. Mein<br />

beliebt<strong>es</strong>t<strong>es</strong> und am me<strong>ist</strong>en gehört<strong>es</strong> Stück war die Ungarische Rhapsodie Nr<br />

2 von Franz Liszt, und ich hatte einen Freund, der so etwas selbst spielen<br />

konnte. <strong>Morgen</strong> sollte Hungarian Rhapsodie Tag sein. Seine Eltern waren auch<br />

gekommen, und ich musste Dominique erst mal küssen. „Ja, stellen sie sich<br />

vor, das bekamen wir sonst jeden Tag <strong>zu</strong> hören. Und was macht di<strong>es</strong>er Schlingel?<br />

Lässt einfach seinen b<strong>es</strong>ten Freund in Stich, und wir können wieder CDs<br />

auflegen. Können sie das verstehen?“ meinte sein Vater. „Eigentlich nicht,“<br />

meinte ich da<strong>zu</strong> <strong>zu</strong>, spürte schon wieder mein Zwerchfell und Dominiqu<strong>es</strong> Mutter<br />

schien auch schon ein erwartungsvoll<strong>es</strong> Grinsen aufgelegt <strong>zu</strong> haben, „aber<br />

wie hätte er sonst mich kennenlernen sollen. Ob Freundin Julia so wertvoll <strong>ist</strong><br />

wie Freund Ibach, weiß ich nicht, nur eins allein könnte für ihren Sohn auf die<br />

Dauer vielleicht ein bisschen <strong>zu</strong> wenig sein, oder?“ „Sie sind ein Schatz.“ wobei<br />

mich Vater Reber umarmte und mir einen Kuss auf die Stirn gab. Für Vater Reber<br />

war ich ein Schatz und für Mutter Reber goldig und jemand von dem sie<br />

nicht gern mit Frau Dr. Reber, sondern mit Lilo angeredet werden möchte. Bei<br />

der Abend<strong>es</strong>sens<strong>zu</strong>bereitung wollte ich Lilo ein paar Zusammenhänge verdeutlichen.<br />

Ich hätte ihn einfach nur g<strong>es</strong>ehen und sympathisch empfunden. „Das<br />

geht mir doch genauso, Julia.“ kommentierte Lilo, und wir prusteten los. Die<br />

ganze Zeit ging <strong>es</strong> so ähnlich weiter. Unbelievable, Dominique kam mir vor, wie<br />

eine Kopie seiner Mutter. Eine herrliche Frau. Ich würde später mal beide heiraten<br />

und ganz viele kleine Kinder bekommen, die auch alle so albern wären, wie<br />

Dominique und seine Mami. Über das Geld für's Apartment wurde kein Wort<br />

mehr verloren. Sein Vater fragte nur noch, ab welchem Monat Dominique denn<br />

dort einziehen wolle.<br />

Ja <strong>es</strong> war ein wunderschön<strong>es</strong> Wochenende. Seine Eltern mochten mich und behandelten<br />

mich, als ob ich selbstverständlich <strong>zu</strong>r Familie gehörte. Was sollte<br />

ich denn kritisieren, ich war ja happy, aber gefragt, ob ich so etwas wollte, hatte<br />

mich niemand. War ich denn eigentlich noch frei? Konnte ich überhaupt noch<br />

sagen: „Nein, ich will das all<strong>es</strong> nicht?“ Ich würde doch nicht all<strong>es</strong> verlieren wollen.<br />

Dominique, seine Eltern, sein Klavierspiel, das war doch all<strong>es</strong> bedeutend<br />

für mich. Was war denn sonst noch für mich bedeutend, was wollte ich sonst<br />

nicht verlieren? Zum Beispiel meine Freundin Marietta. Wenn sie einen Job in<br />

Finland bekäme, wäre das sehr schade für mich, aber ich würde <strong>es</strong> hinnehmen,<br />

wäre ja schließlich nicht <strong>zu</strong> ändern. So war das bei Dominique nicht, da würde<br />

ich nicht sagen können 'schade, war nicht <strong>zu</strong> ändern'. Der hatte sich bei mir<br />

selbst eingen<strong>ist</strong>et, als ob seine Anw<strong>es</strong>enheit, seine Leben schon mit mir verwoben<br />

wären. Es würde Lücken in mir hinterlassen und sehr weh tun. Grundsätzlich<br />

kam <strong>es</strong> eigentlich für mich nicht in Frage, dass ich so etwas mit mir g<strong>es</strong>chehen<br />

ließ, dass ich mich durch b<strong>es</strong>timmte Ereignisse in etwas treiben ließ,<br />

ich wollte schon selbst b<strong>es</strong>timmen was ich tat, und was mit mir g<strong>es</strong>chah. So<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 18 von 36


Ähnlich<strong>es</strong> wie Dominique, der in seine Liebschaft mit di<strong>es</strong>er Eva gerutscht war,<br />

sollte mir nicht passieren können. War ich jetzt auf dem b<strong>es</strong>ten Wege dorthin?<br />

B<strong>es</strong>timmten die Verhältnisse mich, statt ich die Verhältnisse. Das Verhältnis <strong>zu</strong><br />

meinem G<strong>es</strong>ellschafter sollte nicht mein Bewusstsein b<strong>es</strong>timmen, ich wollte mit<br />

meinem Bewusstsein B<strong>es</strong>timmerin d<strong>es</strong> Verhältniss<strong>es</strong> bleiben. Aber bei der Produktion<br />

von Lieb<strong>es</strong>beziehungen scheint <strong>es</strong> nicht viel anders als bei den übrigen<br />

Produktionsverhältnissen auch vor sich <strong>zu</strong> gehen. Zwar hatte Marx nicht speziell<br />

auf di<strong>es</strong>en Produktionszweig Be<strong>zu</strong>g genommen, aber auch hier schien <strong>es</strong><br />

unvermeidbar, dass das Sein das Bewusstsein b<strong>es</strong>timmte und nicht umgekehrt.<br />

Auch wenn mir in b<strong>es</strong>timmten Bereichen meiner Psyche immer ein R<strong>es</strong>t Unwohlsein<br />

blieb, <strong>zu</strong>mind<strong>es</strong>t legitimierend erklären konnte ich <strong>es</strong> jetzt wenigstens.<br />

Evas Ende<br />

20:30 Uhr. Dominique kam ohne Ankündigung hereing<strong>es</strong>türmt. „Buh“ mit ganz<br />

langem 'uh' brachte er nur heraus, als er sich auf's Bett fallen ließ. Er konnte<br />

die sieben Kilometer von Angelmodde schnell hierhergefahren und d<strong>es</strong>halb erschossen<br />

sein, aber wenn er einfach so um di<strong>es</strong>e Zeit kam, lag da etwas ander<strong>es</strong><br />

vor. „Du machst mir Angst, Nikki. Sag ganz einfach mit zwei Worten<br />

worum's geht.“ forderte ich ihn auf, doch er tat <strong>es</strong> nicht. „Ich halt' das nicht<br />

aus. Ich kann so etwas nicht. Das bringt mich um. Das wird mich nicht loslassen.<br />

Ich werde <strong>es</strong> immer vor Augen sehen. In meinem ganzen Leben bin ich<br />

mir noch nie wie so ein Schwein vorgekommen.“ stieß <strong>es</strong> hervor, legte seinen<br />

Kopf auf meine Schulter und begann <strong>zu</strong> weinen. Ich konnte mir zwar denken<br />

worum <strong>es</strong> ging, aber nach kurzer Zeit begann er <strong>zu</strong> erklären: „Ich habe gedacht,<br />

mein Um<strong>zu</strong>g nach Angelmodde sei die Gelegenheit mit Eva endgültig<br />

Schluss <strong>zu</strong> machen. Jetzt oder nie, dachte ich. Ich wollte einfach stark sein und<br />

<strong>es</strong> ihr klar machen. Ich hab <strong>es</strong> auch getan, bin auch nicht eingeknickt. Eigentlich<br />

könnte ich ja froh und stolz sein, aber das Gegenteil <strong>ist</strong> der Fall. Wenn du<br />

erlebst, wie Evchen die ganze Zeit weint, <strong>zu</strong> sterben scheint, sich entwürdigt,<br />

erklärt all<strong>es</strong> ganz anders machen <strong>zu</strong> wollen, dich fragt, was und wie du's denn<br />

gerne hätt<strong>es</strong>t, fragt, ob ich sie für b<strong>es</strong>chränkt hielte, Julia, das hältst du nicht<br />

aus. Wer bin ich denn, dass sie meint, sich so vor mir so erniedrigen <strong>zu</strong> müssen?<br />

Ich möchte aus der Situation fliehen, möchte das all<strong>es</strong> nicht erleben müssen.<br />

Meiner Ansicht nach hat <strong>es</strong> nie etwas gegeben, wodurch ich ihr di<strong>es</strong>e Vorstellungen<br />

vermittelt hätte. Das sind all<strong>es</strong> Wunschproduktionen ihr<strong>es</strong> eigenen<br />

Kopf<strong>es</strong>, die auf kein bisschen Gegenseitigkeit beruhen.“ Ich streichelte ihm<br />

über Stirn und Wangen und hielt <strong>es</strong> für angezeigt, dass wir uns <strong>zu</strong>r Beruhigung<br />

<strong>zu</strong>nächst mal küssten. Ich hatte gar keine Lust über Eva <strong>zu</strong> reden, was ich<br />

wusste zeichnete mir das Bild einer armen bedauernswerten Kindfrau. Ich war<br />

allerdings schon der Ansicht, dass sie nicht die einzige Frau mit derartig servilen<br />

Tendenzen sein würde, nur dass die me<strong>ist</strong>en nicht an Männer wie Dominique<br />

gerieten, die auf so etwas keinen Wert legten. „Dominique, ich habe, glaube<br />

ich, auch sehr starke devote Tendenzen, ich lasse mich von den Verhältnissen<br />

total dominieren.“ erklärte ich mit aufg<strong>es</strong>tütztem Arm neben ihm liegend<br />

völlig ernst und begann erst den Mund ein wenig <strong>zu</strong> verziehen, als er mich ver-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 19 von 36


stört leicht grinsend anstarrte. „Du sprichst in Rätseln, Liebste. Mir stellt <strong>es</strong><br />

sich immer so dar, dass du in unserer Beziehung die dominantere Position einnimmst.“<br />

kommentiert Dominique lachend. Mit einem Satz schien Eva verg<strong>es</strong>sen,<br />

Dominique war bei mir. Wir lagen noch lange redend und scherzend bei<br />

mir auf dem Bett. „Dominique, du willst doch nicht mitten in der Nacht noch<br />

nach Hause fahren, schlaf doch hier bei uns.“ forderte ich ihn auf. „Bei dir?“<br />

fragte Dominique lächelnd mit großen Augen. Seit der Gürtelschnallenaktivität<br />

hatte er nie wieder etwas in der Richtung geäußert oder versucht. Natürlich<br />

enthielten unsere Umarmungen, gegenseitigen Berührungen und Küsse auch<br />

sexuelle Bezüge, aber dass wir miteinander schlafen könnten, war nie erwähnt<br />

worden. „Dominique ich würde sehr gern mit dir ins Bett gehen, aber ich habe<br />

Angst. Angst, dass <strong>es</strong> uns gut gefällt, und dass unsere wunderbare Beziehung<br />

dann schnell <strong>zu</strong> einer Fickbeziehung verkommt, eine Beziehung <strong>zu</strong>r Befriedigung<br />

sexueller Bedürfnisse. Das <strong>ist</strong> nicht meine Perspektive, das entspricht<br />

nicht meinen Vorstellungen.“ erklärte ich. „Du wünscht dir eine Beziehung ohne<br />

Sex? Wir sollen uns lieben, aber nicht miteinander schlafen, weil wir sonst nur<br />

noch daran denken?“ fragte Dominique nach. „Nein, Unsinn, nur noch nicht sofort,<br />

weißt du, wenn unsere Beziehung gef<strong>es</strong>tigter sein wird. Ich habe Angst,<br />

dass <strong>es</strong> uns dominieren und viel<strong>es</strong> zerstören oder sich nicht entwickeln lassen<br />

würde. Wenn wir jetzt immer miteinander pennten, und ich käme nach Angelmodde,<br />

weil du mir etwas vorspielen wollt<strong>es</strong>t, würden wir <strong>zu</strong>nächst mal ins<br />

Bett müssen. Das mag ich nicht. Ich möchte dir ganz ruhig <strong>zu</strong>hören und mich<br />

darauf konzentrieren können, was du spielst und mich vielleicht hinterher so<br />

gut fühlen, dass ich Lust darauf hätte, mit dir ins Bett <strong>zu</strong> gehen.“ erläuterte<br />

ich. „Also ich könnte mich heute auch schon ohne weiter<strong>es</strong> beherrschen.“<br />

meinte Dominique. „Es geht doch nicht um's beherrschen können. Wenn wir's<br />

machen, <strong>ist</strong> <strong>es</strong> einfach da und wird auch immer eine Rolle spielen. So sind wir<br />

frei davon, und die Entwicklung unserer Beziehung wird nicht dadurch geprägt<br />

oder beeinträchtigt.“ verdeutlichte ich nochmal.<br />

Der Flügel in Angelmodde<br />

Der Flügel kam. Dominique machte sich große Sorgen, dass man in dem relativ<br />

engen Treppenhaus irgendwo anstoßen könne, aber die Transporteure waren<br />

keine Möbelpacker sondern absolute Profis. Aufgebaut, ausprobiert, all<strong>es</strong> hervorragend,<br />

nur der kleine Raum war von den Klängen noch viel voller als <strong>zu</strong><br />

Hause. Was ein ganzer Konzertsaal schlucken konnte, mussten unsere vier Ohren<br />

jetzt verkraften. Wir strahlten uns an. „Nikki, das <strong>ist</strong> Wahnsinn, ich werd'<br />

verrückt.“ Nachdem er ein wenig g<strong>es</strong>pielt hatte, mussten <strong>zu</strong>nächst mal Fotos<br />

für <strong>zu</strong> Hause in allen übermütigen Konstellationen gemacht werden. Mami wurde<br />

angerufen und bekam die Bilder. „Nikki, das <strong>ist</strong> doch <strong>zu</strong> schade, wenn nur<br />

wir zwei das <strong>zu</strong> hören bekommen.“ war meine Ansicht. „Soll ich hier in der<br />

Bude Konzertabende geben?“ fragte Dominique launig. „Nein, aber einzelne<br />

Leute, <strong>zu</strong>m Beispiel meine Mutter würde sich wahnsinnig freuen. Mein Vater<br />

auch, der hat ja schließlich für die Räumlichkeiten g<strong>es</strong>orgt.“ fiel mir ein. Also<br />

sollte ein B<strong>es</strong>uch mit Mama und Papa Weinrich vereinbart werden. Einmal in<br />

der Woche kam ich raus <strong>zu</strong>m Lauschen. Dann standen weniger Übungsge-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 20 von 36


sichtspunkte im Vordergrund, sondern mehr was uns gemeinsam Freude machen<br />

konnte. Ich dachte, ich hörte gern Klaviersonaten und würde auch wohl<br />

einig<strong>es</strong> wissen, aber jetzt sah ich <strong>es</strong> so, dass mir erst durch Dominique langsam<br />

die höheren Weihen <strong>zu</strong>teil würden. Ich solle <strong>es</strong> doch selber unbedingt lernen,<br />

drängte er und wischte meinen Einwand, dass ich <strong>zu</strong> alt sei <strong>zu</strong>r Seite. Er<br />

habe jemanden gekannt, der noch mit fünfundvierzig begonnen habe. Zur<br />

großen Tastenkünstlerschaft würde man <strong>es</strong> wohl nicht mehr bringen, aber seine<br />

Mutter <strong>zu</strong>m Beispiel habe auch nur für kurze Zeit in ihrer Jugend Unterricht<br />

gehabt, aber <strong>es</strong> mache ihr immer Freude <strong>zu</strong> spielen. Oh je, wie sollte ich das<br />

denn all<strong>es</strong> organisiert bekommen.<br />

Meine Mutter war überwältigt und außer sich. Immer wieder drückte und küsste<br />

sie den verwirrt lächelnden Dominique. „Das <strong>ist</strong> ja unverantwortlich, dass sie<br />

hier versauern. Sie sind doch ein hervorragender Künstler. Die Leute wollen sie<br />

hören. Ich muss mal die Trude fragen, die weiß b<strong>es</strong>timmt, wo man etwas organisieren<br />

kann.“ erklärte sie. Natürlich mussten wir sie auch b<strong>es</strong>uchen kommen<br />

und Dominique sollte f<strong>es</strong>tstellen, ob unser alt<strong>es</strong> Klavier noch etwas tauge. Das<br />

Klavier war hervorragend, nur verstimmt und brauchte kleine Ausb<strong>es</strong>serungen.<br />

Ich bekam <strong>es</strong> für mein Zimmer in der WG. Jetzt konnte ich mich soeben noch<br />

umdrehen. Viel mehr Platz war nicht mehr. Drei Säle mit Flügel hatte meine<br />

Mutter aufgetan, Dominique sollte t<strong>es</strong>ten welche b<strong>es</strong>pielbar wären. Erstaunlicherweise<br />

schnitt der im Gemeind<strong>es</strong>aal der Kirche am b<strong>es</strong>ten ab und ein Konzertabend<br />

wurde organisiert. Alle populären Lieblinge sollten erklingen, um Zuhörer<br />

an<strong>zu</strong>locken. Es wurde tatsächlich proppenvoll und die Leute waren bege<strong>ist</strong>ert.<br />

Weil sie ihre Elise wieder gehört hatten, oder weil sie den Pian<strong>ist</strong>en so<br />

toll fanden? Als Außenstehende war man sich da nicht so sicher, aber für die<br />

Köpfe hinter den klatschenden Händen stand f<strong>es</strong>t, dass der Pian<strong>ist</strong> ein großer<br />

Künstler sei. Dominique Reber aus Karlsruhe, aus Angelmodde wäre nicht so<br />

gut gekommen, die Pr<strong>es</strong>se interviewete ihn, und er ließ verlauten, dass er sich<br />

öfter in Münster aufhalte, weil seine Freundin hier studiere. Die Damen hatten<br />

an all<strong>es</strong> gedacht und waren so <strong>zu</strong>frieden mit ihrem Erfolg, dass sie Fortset<strong>zu</strong>ngen<br />

planten.<br />

Str<strong>es</strong>s im Herbst<br />

Meine Tage waren so voll geworden. Klavierunterricht, Üben, Treffen mit Dominique,<br />

ihn in Angelmodde b<strong>es</strong>uchen. Ausgefüllt waren mir meine Tage immer<br />

erschienen, jetzt kamen mir manchmal Anwandlungen von Str<strong>es</strong>sempfinden.<br />

Das gefiel mir nicht. Im Sommer war ich mir noch paradi<strong>es</strong>isch frei vor gekommen.<br />

Ich wusste wohl, dass <strong>es</strong> auf Mallorca Regionen geben sollte, die vom<br />

Tourismus unberührt waren, aber ein wenig weiter von der Finca von Dominiqu<strong>es</strong><br />

Eltern entfernt, schien tiefst<strong>es</strong> Mittelalter oder noch früher <strong>zu</strong> herrschen.<br />

Ich traute mich nicht, weil ich mir vorkam, als ob ich die Eingeborenen bei ihren<br />

täglichen Verrichtungen beglotzen wollte. Dominiqu<strong>es</strong> Vater kannte solche<br />

Winkel, ich wollte das aber nicht mehr, nur noch kleine Dörfer. „Ja, ja, das <strong>ist</strong><br />

schon all<strong>es</strong> wunderschön,“ meinte Dominique, „aber das me<strong>ist</strong>e in der Natur<br />

erschließt sich mir nicht, weil viel <strong>zu</strong> wenig Ahnung davon habe. Ich unterhalte<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 21 von 36


mich ja auch ganz gern mit meinen Eltern, aber <strong>es</strong> wäre ja auch nicht schlecht,<br />

wenn abends mal B<strong>es</strong>uch vorbei käme, aber da b<strong>ist</strong> du absolut sicher, dass so<br />

etwas hier nie passieren wird. Es gibt mir nicht viel hier. Nach einer Woche<br />

möchte ich unbedingt wieder weg.“ Ich sah das jetzt <strong>zu</strong>mind<strong>es</strong>t überhaupt<br />

nicht so. Dominiqu<strong>es</strong> Eltern kümmerten sich bezaubernd um mich. Was sie<br />

über die ungewöhnlichen Pflanzen hier wussten, stieß bei mir nicht auf taube<br />

Ohren. Ich hatte mich in der Schule stark für Biologie inter<strong>es</strong>siert, und wollte<br />

eventuell auch meinen Schwerpunkt auf Biochemie legen, und die köstliche Lilo<br />

konnte einem jeden Tag verzaubern. Es war wunderschön ohne jeglich<strong>es</strong> aber.<br />

Zu Hause war <strong>es</strong> nicht wunderschön. Schon im September nichts mehr vom<br />

Sommer <strong>zu</strong> spüren, graue Tage und viel Regen. Der Oktober vergaß, dass er<br />

etwas golden<strong>es</strong> mit sich <strong>zu</strong> tragen hatte, er brachte nur mit Beginn d<strong>es</strong> Wintersem<strong>es</strong>ters<br />

viel <strong>zu</strong>sätzliche Arbeit. Wenn ich mich im Str<strong>es</strong>s fühlte klappte all<strong>es</strong><br />

nicht. Für die dämlichsten Sachen am Klavier musste ich bis <strong>zu</strong>r Weißglut trainieren,<br />

und wenn ich <strong>zu</strong> Dominique fuhr, war <strong>es</strong> mir gar nicht möglich, sein<br />

Spiel <strong>zu</strong> genießen. Was, wenn du gut drauf warst, ein orgiastisch<strong>es</strong> Erlebnis<br />

war, kam dir dann oft recht laut und langandauernd vor. Das machte ich nicht<br />

mehr. Das war ja wie Sex, wenn man keine Lust hatte. Es lief all<strong>es</strong> nicht sehr<br />

beglückend für mich, in di<strong>es</strong>en grauen gri<strong>es</strong>grämigen Novemberwochen. Auch<br />

die Treffen mit Dominique hatten nicht immer die früher übliche freudige Stimmung.<br />

Manchmal kam <strong>es</strong> mir vor, als ob <strong>es</strong> sich dabei um etwas wie regelmäßige<br />

Stammtischsit<strong>zu</strong>ngen handele, bei denen meine Gedanken oft ganz woanders<br />

waren. Bei dem waren, was ich noch <strong>zu</strong> erledigen hatte oder was morgen<br />

anstand oder bei der Klärung irgendwelcher WG Probleme. Worauf ich am<br />

me<strong>ist</strong>en Lust gehabt hätte? Ich sah mich in einer psychischen Situation, in der<br />

sich di<strong>es</strong>e Frage gar nicht stellt. Wie bekommst du di<strong>es</strong> und jen<strong>es</strong> geregelt und<br />

was hast du wie und wann <strong>zu</strong> erledigen. Eine Rangl<strong>ist</strong>e positive Emotionen auslösender<br />

Ereignisse schien <strong>es</strong> nicht <strong>zu</strong> geben. Das einzig Positive schien, mir<br />

den selbstg<strong>es</strong>etzten Anspruch <strong>es</strong> <strong>zu</strong> erledigen, erfüllt <strong>zu</strong> haben. Emotional schien<br />

ich dem me<strong>ist</strong>en gegenüber, bis auf einen fast unmotivierten, relativ belanglosen<br />

Wutanfall, gleichgültig <strong>zu</strong> sein. Ich war nicht <strong>zu</strong>frieden und sah mich<br />

öfter in einer herben, aber auch Blu<strong>es</strong> ähnlichen Stimmung. Das war nicht ich.<br />

Ich hätte die Zustände für unhaltbar erklärt, und sie <strong>zu</strong> ändern versucht.<br />

Wichtige B<strong>es</strong>prechung<br />

Dominique rief an, ob ich Zeit habe und wir heute etwas b<strong>es</strong>prechen könnten.<br />

Er käme <strong>zu</strong> mir, <strong>es</strong> sei etwas sehr Wichtig<strong>es</strong>, was er mit mir <strong>zu</strong> bereden habe.<br />

Was waren das denn für Zeremonien, mit denen er sein Erscheinen ankündigen<br />

wollte? Überlegte er für's nächste oder übernächste Sem<strong>es</strong>ter ins Ausland <strong>zu</strong><br />

gehen, oder hatte er vielleicht noch ein ander<strong>es</strong> Mädel kennen gelernt? Ich kicherte<br />

in mich hinein. Als er bei mir saß, atmete er mehrmals tief und begann:<br />

„Ich glaube, ich sage das mal ganz direkt. Ich mag dich sehr, sehr gern Julia,<br />

daran hat sich nichts geändert und wird <strong>es</strong> auch nicht, nur wenn wir beide <strong>zu</strong>sammen<br />

sein wollen, dann brauche ich eine Perspektive. Ich möchte sehen<br />

können, wohin <strong>es</strong> sich voraussichtlich entwickeln wird, möchte davon träumen<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 22 von 36


können. Nur ich sehe da nichts. Und <strong>es</strong> stellt sich für mich auch so dar, dass<br />

ich die Perspektive nie sehen werde. Natürlich mögen wir uns, aber unsere<br />

Verbindung b<strong>es</strong>teht darin, das ich mich nach dem richte, was du gerade vorgibst.<br />

Gleichgültig ob ich das mittragen kann oder nicht. Wenn sich für dich etwas<br />

in b<strong>es</strong>timmter weise darstellt, dann <strong>ist</strong> das so. Etwas ander<strong>es</strong> gibt <strong>es</strong> nicht.<br />

Es tut mir weh, dass du nur noch so selten das Bedürfnis hast, mir beim Spielen<br />

<strong>zu</strong><strong>zu</strong>schauen. Ich denke oft, wenn Julia jetzt hier wäre, und dann werden<br />

mir die Augen feucht. An so etwas denkst du gar nicht. Ist das denn Liebe?<br />

Kann <strong>es</strong> denn bei Liebe so etwas geben? Was soll denn dran wünschenswert<br />

sein und lässt sich Vorstellungen von Glück in dir entwickeln? Wir gehen nicht<br />

<strong>zu</strong>sammen ins Bett, weil du <strong>es</strong> so für richtiger hältst. Üblicherweise gehen Leute<br />

beim zweiten oder dritten Treffen <strong>zu</strong>sammen ins Bett. All<strong>es</strong> nur Fickverhältnisse<br />

ohne tiefere Beziehungsmöglichkeit? Es <strong>ist</strong> selbstverständlich, dass ich<br />

deinen Wünschen entspreche, auch wenn ich sie für sehr ungewöhnlich halte,<br />

nur du hältst <strong>es</strong> überhaupt nicht für nötig, dir mal Gedanken darüber <strong>zu</strong> machen,<br />

was <strong>es</strong> denn für mich, deinen Liebsten, bedeuten könnte. Ihn etwas darüber<br />

wissen <strong>zu</strong> lassen, wann und womit der erforderliche Grad der Liebe denn<br />

erreicht sein würde, dass man auch <strong>zu</strong>sammen ins Bett gehen könnte. Ob und<br />

welche Gedanken ich mir darüber mache, inter<strong>es</strong>siert dich nicht. Julia, bei deiner<br />

Liebe <strong>zu</strong> mir, siehst du mich gar nicht. Das <strong>ist</strong> keine Zukunftsvorstellung,<br />

wie ich sie möchte, ja eigentlich erwarte und für unverzichtbar halte, Julia.<br />

Kannst du dir vorstellen, dass ich das all<strong>es</strong> so nicht mehr will? Es betrübt mich<br />

und zerstört meine Freude. Es quält mich mehr, als dass <strong>es</strong> mich erfreut. Auch<br />

wenn ich <strong>es</strong> eigentlich als sehr, sehr schade empfinde, und ich meine dich sehr<br />

<strong>zu</strong> lieben, aber so kann ich <strong>es</strong> nicht ertragen und werde <strong>es</strong> auch nicht länger.<br />

Eine Perspektive gibt <strong>es</strong> nicht und das <strong>ist</strong> kein Leben. Ich halte <strong>es</strong> nicht mehr<br />

aus, Julia, und will <strong>es</strong> nicht mehr.“<br />

Was bekamen meine Ohren denn da <strong>zu</strong> hören? Was sollte das denn bedeuten?<br />

Er wollte sich von mir trennen, weil wir nicht <strong>zu</strong>sammen fickten. Oh, Dominique,<br />

wie gut dass ich so lange gewartet hatte. „Dominique was willst du? Sollen<br />

wir <strong>zu</strong>sammen ins Bett gehen und dann <strong>ist</strong> all<strong>es</strong> gut. Kein Problem, überhaupt<br />

kein Problem, Lust darauf hab ich schon so lange wir uns kennen. Nur<br />

ich hatte in dir etwas ander<strong>es</strong> g<strong>es</strong>ehen, ganz ander<strong>es</strong>, glaubte etwas in dir erkennen<br />

<strong>zu</strong> können, das davon gar nicht tangiert war. Du erschienst mir als ein<br />

wunderbarer Mensch und nicht als ein Mann, ein Ficker der 'ne Frau fürs Bett<br />

sucht. Aber da habe ich mich anscheinen doch grundlegend getäuscht. All<strong>es</strong><br />

nur in meinem eigenen Kopf produziert, verstehst du? Geträumt. Zusammengereimte<br />

Wunschbilder. Kein Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Realität. Hat <strong>es</strong> je einen realen Anlass<br />

da<strong>zu</strong> gegeben, <strong>zu</strong> vermuten dass <strong>es</strong> bei dir anders sein könnte? Hast du je g<strong>es</strong>agt,<br />

dass <strong>es</strong> für dich nicht das Primäre und Zentrale sei? Hast du je g<strong>es</strong>agt,<br />

dass <strong>es</strong> dir bei einer Frau nicht vorrangig darum ginge. Nichts der gleichen.<br />

Von dir habe ich kein Wort da<strong>zu</strong> gehört. All<strong>es</strong> nur Fantasiegemälde meiner<br />

Wünsche. Ich brauche das nicht, ich brauche dich nicht. Scher dich endlich<br />

<strong>zu</strong>m Teufel, Dominique, bevor ich mir noch weitere Gedanken über dich machen<br />

muss.“ schrie ich ihn an. Dominique stand auf, wollte mich noch umarmen,<br />

aber ich wehrte ab.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 23 von 36


Ich atmete hastig. In meinem Zimmer hielt ich <strong>es</strong> nicht aus. Einen Espr<strong>es</strong>so in<br />

der Küche trinken. Was war denn eigentlich passiert. Dominique kommt einfach<br />

so vorbei und sagt, dass <strong>es</strong> vorbei sei mit uns beiden. Ich raste aus,<br />

schrei ihn an, dass er ein dummer Ficker sei und schmeiß ihn raus. Wo gibt’s<br />

denn so etwas? War das witzig oder hatte ich das geträumt? Nein, ausrasten<br />

konnte ich prinzipiell schon, wenn auch ganz, ganz selten. Mit dreizehn wäre<br />

ich d<strong>es</strong>wegen schon fast von der Schule geflogen, weil ich einem der stärksten<br />

Schüler das Nasenbein gebrochen und noch einig<strong>es</strong> mehr <strong>zu</strong>gefügt hatte. Du<br />

b<strong>ist</strong> dann wie in Trance, hast unglaubliche Kräfte und machst automatisch all<strong>es</strong><br />

genau richtig. In völlig bewussten Wach<strong>zu</strong>stand hatte ich mich wohl gerade<br />

auch nicht befunden. Na wenigstens hatte ich Dominique nicht verprügelt. Was<br />

war denn jetzt? All<strong>es</strong> vorbei? Das konnte doch nicht sein. Dominique anrufen,<br />

mich entschuldigen, wäre all<strong>es</strong> nicht so gemeint gew<strong>es</strong>en? Dämlich. Oh je, was<br />

war da passiert? Einfach so an einem normalen Freitagabend innerhalb von<br />

zehn Minuten. Ich müsste doch traurig sein, <strong>es</strong> müsste mir doch das Herz zerreißen.<br />

Nichts davon. Orientierungslos, fassungslos, einfach dumm fühlte ich<br />

mich. Marcel kam rein. Ich glotzt ihn wohl blöd grinsend an. „Ist was?“ erkundigte<br />

er sich. „Ich hab' gerade meinen Lover rausg<strong>es</strong>chmissen.“ erklärte ich mit<br />

einem leicht verlegenen Grinsen und fügte hin<strong>zu</strong>, „Er wollte sich von mir trennen.“<br />

Marcel schaute mich auch grinsend an. „Du und Dominique?“ fragte er<br />

ungläubig, „Erzähl was G<strong>es</strong>cheit<strong>es</strong>.“ „Nein, das <strong>ist</strong> wirklich wahr, Marcel. Dominique<br />

hat erklärt, dass er <strong>es</strong> mit mir nicht länger aushalten könne, und ich hab<br />

ihm g<strong>es</strong>agt, dass er ein dummer Ficker sei und ihn rausg<strong>es</strong>chmissen.“ versicherte<br />

ich. „Dass ihr verrückte Hühner seid, weiß ich ja, aber so etwas kann<br />

man doch nicht machen, das <strong>ist</strong> doch kein Spaß.“ meinte Marcel. „War's ja<br />

auch nicht, voller Ernst, all<strong>es</strong> ganz richtig voller Ernst.“ bekräftige ich. „Seid ihr<br />

denn verrückt geworden? Was soll das denn?“ fragte Marcel, der eine Trennung<br />

zwischen uns beiden wohl schlicht für un<strong>zu</strong>lässig <strong>zu</strong> halten schien. „Fahr da<br />

hin, regele das sofort und bleib auf dem Teppich, das kannste doch.“ meinte er.<br />

„Da <strong>ist</strong> nichts <strong>zu</strong> regeln, Marcel, Dominique will nicht mehr, und ich werde den<br />

Teufel tun und ihm in den Arsch kriechen.“ war meine Ansicht. „Julia, willst du<br />

von mir hören, was Dominique dir bedeutet? Jeder hier weiß <strong>es</strong>,nur du selbst<br />

anscheinend nicht. Du meinst damit spielen <strong>zu</strong> können? Das glaubst du doch<br />

selber nicht. Du b<strong>ist</strong> im Moment gar nicht in der Lage <strong>zu</strong> sehen, wie <strong>es</strong> dir morgen<br />

gehen wird, wenn du erkennst, was da eigentlich passiert <strong>ist</strong>. Ich möchte<br />

das nicht erleben. Tu <strong>es</strong> für uns. Kriech mir in den Arsch, tu mir den Gefallen<br />

und sprich mit Dominique. Heute noch, ich kann dich auch hinbringen.“ ins<strong>ist</strong>ierte<br />

Marcel. Ich überlegte. „Ich weiß ja gar nicht, ob er schon <strong>zu</strong> Hause <strong>ist</strong>.<br />

Da muss ich erst anrufen.“ erklärte ich, und Dominique war <strong>zu</strong> Hause. „Wegen<br />

gerade wollte ich noch unbedingt mit dir reden. Erklär ich dir all<strong>es</strong> gleich“ ließ<br />

ich ihn wissen.<br />

Woran erkennst du, dass ich eine Frau bin?<br />

Ich hatte einen Schlüssel von Dominiqu<strong>es</strong> Apartment. Er kam mir entgegen.<br />

Wir standen uns gegenüber, umarmten uns nicht, starrten uns nur verlegen<br />

grinsend an. „Julia“ sagte Dominique ein wenig bedeutsam klingend. „Weißt<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 24 von 36


du, Dominique, ich habe ein Problem, <strong>es</strong> <strong>ist</strong> mir schon ein paar Mal passiert in<br />

meinem Leben. Zum ersten Mal mit dreizehn. Da hat mir ein Junge einfach an<br />

eine Brust gefasst und da<strong>zu</strong> eine dämliche Bemerkung gemacht, und da bin ich<br />

ausgerastet und habe ihn total verprügelt. Dich hab' ich zwar nicht verprügelt,<br />

aber ausgerastet bin ich glaube ich schon. Ich weiß gar nicht mehr, was ich genau<br />

g<strong>es</strong>agt habe. Ich habe einfach nur meinem Entsetzen und meiner Wut freien<br />

Lauf gelassen. Aber du kannst doch auch nicht einfach kommen und mir sagen:<br />

„Es <strong>ist</strong> vorbei“, Schatz. Hast du kein Bett? Hier kann man doch nicht reden.“<br />

erklärte ich. „Aber was soll ich denn sagen?“ fragte Dominique auf dem<br />

Bett liegend mit schelmischem Grinsen. „Na was man <strong>zu</strong> seiner Liebsten eben<br />

so sagt: 'Ich liebe dich und werde dich lieben, werde dich lieben bis ans Ende<br />

aller Tage. Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen, und wo du bleibst, da<br />

bleibe auch ich.' solche Sachen eben. Kennst du so etwas gar nicht?“ antwortete<br />

ich. „Julia, ich bin wirklich verrückt, wie will ich denn ohne so etwas in meinem<br />

Leben glücklich sein können?“ reagierte Dominique mit freundlichem G<strong>es</strong>icht.<br />

„Aber <strong>es</strong> stört und quält dich doch schon 'ne ganze Menge, du hast <strong>es</strong> ja<br />

g<strong>es</strong>agt, vorhin. Bis dahin hast du <strong>es</strong> einfach <strong>zu</strong>gedeckt, hast <strong>es</strong> verwischt. Das<br />

machen wir jetzt nicht und du musst das auch nie mehr machen. Du tust niemandem<br />

einen Gefallen, wenn du über etwas schweigst, was dich stört. Dir<br />

beim Spielen <strong>zu</strong>schauen, ein idiotischer<strong>es</strong>, größer<strong>es</strong> Missverständnis kann <strong>es</strong><br />

nicht geben. Nichts <strong>ist</strong> mir lieber als dich spielen <strong>zu</strong> sehen und <strong>zu</strong> hören. Nur<br />

<strong>es</strong> <strong>ist</strong> wie beim Sex, du musst in Stimmung dafür sein, dann wird <strong>es</strong> ein großartig<strong>es</strong><br />

Erlebnis. Mein normal<strong>es</strong> Empfinden <strong>ist</strong>, dass ich mich darauf freue und<br />

nicht genug davon bekommen kann. Nur in letzter Zeit fühlte ich mich häufig<br />

g<strong>es</strong>tr<strong>es</strong>st und wusste oft gar nicht, wo mir der Kopf stand, und dann <strong>ist</strong> <strong>es</strong> echt<br />

<strong>zu</strong> schade, für mich eine einzige Taste <strong>zu</strong> betätigen. Dein Klavierspiel, Dominique,<br />

<strong>ist</strong> und war immer ein Traumerlebnis für mich. Was spinnen wir uns für<br />

dumme Gedanken <strong>zu</strong>sammen, wenn wir nicht darüber reden? Dass ich so blind<br />

bin und manchmal nur meine Person sehe, ich glaube, das kann schon so sein.<br />

Nur ich will das im Grunde überhaupt nicht, Dominique. Sag's mir oder schimpf<br />

mich aus oder wie auch immer, nur lass <strong>es</strong> mich wissen, wenn du dich nicht<br />

berücksichtigt fühlst, wie soll ich's denn sonst merken.“ stellte ich meine Sicht<br />

dar. Wir küssten und streichelten uns, aber der Gedanke, dass Dominique sich<br />

von mir trennen wollte, hatte sich schon wohl früher verflüchtig. Ich denke<br />

schon, dass Dominique die Entscheidung ernst war. Aber vielleicht hatte er lange<br />

zwischen zwei Alternativen hin und her g<strong>es</strong>chwankt, sich g<strong>es</strong>agt, <strong>es</strong> kommen<br />

keine neuen G<strong>es</strong>ichtspunkte mehr, jetzt muss entschieden werden, jetzt<br />

oder nie. Sobald ihm jedoch Anlass geboten wurde, sich für die Alternativ <strong>zu</strong><br />

entscheiden, war er schnell bereit, seine heroische Entscheidung auf<strong>zu</strong>geben.<br />

„Du wirst mir das immer genau<strong>es</strong>tens sagen und erklären müssen. Nichts<br />

könnte ich weniger ertragen, als deine Wünsche nicht <strong>zu</strong> berücksichtigen. Das<br />

<strong>ist</strong> <strong>es</strong> doch, was mich glücklich sein lässt, wenn ich weiß, dass du glücklich<br />

b<strong>ist</strong>, weil ich dir deine Wünsche erfüllen konnte. Machst du das bei mir auch<br />

so?“ fragte ich. „Naturellement mon amour, haarscharf genauso.“ war Dominiqu<strong>es</strong><br />

Antwort. „Aha, und warum b<strong>es</strong>chwerst du dich dann darüber, wenn du<br />

meine Wünsche berücksichtigten sollst, das möchte ich bitte von dir erklärt haben.“<br />

forderte ich Dominique auf. „Julia, deine Wünsch sind immer Befehle, mir<br />

liegt <strong>es</strong> mehr, sie dir von den Augen ab<strong>zu</strong>l<strong>es</strong>en.“ reagierte Dominique „Du<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 25 von 36


schummelst, mein Liebster. Meine Augen suchen nämlich schon eine ganze Zeit<br />

nach Weingläsern. Ist dir offensichtlich völlig verborgen geblieben.“ bemerkte<br />

ich da<strong>zu</strong>. Wir tranken und redeten dumm<strong>es</strong> Zeug, spotteten und ironisierten,<br />

zwischendurch mussten wir uns immer wieder küssen. „Sag mal Dominique,<br />

woran merkst du, ich meine jetzt dich persönlich, nicht allgemein, eigentlich,<br />

dass ich eine Frau bin?“ stellte ich eine Frage <strong>zu</strong> deren Beantwortung sich Dominique<br />

<strong>zu</strong>nächst wegen Lachens nicht in der Lage fühlte. Dann beabsichtigte<br />

er sich auch weiter am Lachen <strong>zu</strong> halten. Nannte alle skurrilen unbedeutenden<br />

Merkmale, von meinen braunen Schuhen bis <strong>zu</strong> den blonden Haaren und er<br />

Aura über mir. „Das <strong>ist</strong> schade, sehr schade, ich dachte, Männer würden auch<br />

etwas empfinden und <strong>es</strong> daran merken. Aber du scheinst tot <strong>zu</strong> sein, tot und<br />

kalt. Ich dachte heterosexuelle Männer würden so etwas wie Bedürfnisse, Wünsche,<br />

Begierden, Verlangen oder Gelüste empfinden und daran merken, das sie<br />

<strong>es</strong> mit einem femininen W<strong>es</strong>en ihrer Art <strong>zu</strong> tun haben. Bei dir <strong>ist</strong> das nicht so,<br />

nein?“ erkundigte ich mich. „In der Regel <strong>ist</strong> das nicht so, nein, nur bei den<br />

W<strong>es</strong>en, die solche Fragen stellen, da tritt <strong>es</strong> in äußerst extremen Formen auf.“<br />

war seine Reaktion. Me<strong>ist</strong>ens verstanden wir uns auf Anhieb, <strong>es</strong> schien nur Wenig<strong>es</strong>,<br />

das dezidiert geklärt werden musste. Wir verstanden uns auch, als um<br />

drei Uhr in der Nacht Dominique nackt am Flügel sitzend sang:<br />

Ich liebe dich, so wie du mich,<br />

Am Abend und am <strong>Morgen</strong>,<br />

ich mich an seinem Rücken rieb, ihn ständig küssend unterbrach, und Dominique<br />

so oft neu beginnen musste, dass ich Beethovens „Zärtliche Liebe” auch<br />

schon fast singen konnte.<br />

Lilo hat's verboten<br />

Während Dominique meinte, unbedingt für's Wochenende noch einkaufen <strong>zu</strong><br />

müssen, quälte ich mich damit, ihm meine Set<strong>zu</strong>ng, dass wir das kein<strong>es</strong>falls<br />

bräuchten, und wir bei seinen Vorräten schon nicht verhungern würden, bei<strong>zu</strong>bringen.<br />

Als Kompromiss bot sich an, bei Bedürfnislage ja Delikat<strong>es</strong>sen der Angelmodder<br />

Küche <strong>zu</strong> ordern und bringen lassen <strong>zu</strong> können. Aber trotz Brunch<br />

und Einkaufsstreit mussten wir noch telefonieren. Ich musste Marcel kurz informieren<br />

und mich bedanken. Wenn er nicht für mich entschieden hätte: 'Jetzt<br />

und nicht später', darüber wollte ich mir lieber keine Gedanken machen. Und<br />

Dominique musste unbedingt die Mami anrufen. „Ja, ja, ja, <strong>ist</strong> all<strong>es</strong> o. k.. Nein<br />

überhaupt nicht. Aber sprich doch selber mit ihr. Sie sitzt hier neben mir am<br />

Tisch.“ redete er heftig mit seiner Mutter und gab mir das Telefon. „Hey Julia,<br />

wie <strong>ist</strong> dir? B<strong>ist</strong> du o. k.. Ah, meine Liebe, ich muss dich sehen. Komm mich<br />

b<strong>es</strong>uchen. Julia, mein Junge, ich kann <strong>es</strong> immer noch nicht fassen.“ Lilo sprach<br />

hastig und konfus. „Lilo, sollen wir nicht mal miteinander sprechen, wenn wir<br />

unsere Ruhe haben und ganz unter uns sind? Ich würde mich bei dir melden.“<br />

schlug ich vor und so sollte <strong>es</strong> gemacht werden. „Ja, meine Mutter, die <strong>ist</strong> die<br />

Hauptschuldige an allem.“ verkündete Dominique, wobei ich ihn fragend anschaute.<br />

„Über all<strong>es</strong> in meinem Leben habe ich immer ganz vernünftig mit ihr<br />

reden können, aber seit ich <strong>zu</strong>m ersten Mal erwähnt habe, dass ich Probleme<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 26 von 36


für uns sähe, wurde sie <strong>zu</strong>r Furie. Sie beginnt immer damit, <strong>es</strong> sei ja unsere<br />

Angelegenheit und sie wolle sich da nicht einmischen, oder mit ähnlichen Floskeln<br />

und dann b<strong>es</strong>chimpft sie mich, droht mir, redet völligen Schwachsinn. Sie<br />

hätte nie gedacht, einen Sohn bekommen <strong>zu</strong> können, der so ein Idiot würde.<br />

Sie würde sich überlegen, ob sie das Verhältnis mit mir nicht auch lieber beenden<br />

solle, so enragiert dumm<strong>es</strong> Zeug, immer wieder. Wenn ich nicht davon<br />

sprach, fing sie von sich aus an. Wo<strong>zu</strong> sie sich all<strong>es</strong> verstiegen hat, unglaublich.<br />

Ausrasten, das kann Mami mit Sicherheit auch. Ich wusste gar nicht mehr<br />

wo ich war. Mit Julia <strong>zu</strong>sammenbleiben, weil Mami <strong>es</strong> unbedingt will? Nein. Das<br />

würde <strong>es</strong> kein<strong>es</strong>falls geben. So sah's für mich aus.“ erläuterte Dominique, „Was<br />

du und warum meiner Mutter bedeut<strong>es</strong>t <strong>ist</strong> unergründlich. Wahrscheinlich verfügst<br />

du über einen Schlüssel <strong>zu</strong> ihrer Seele. Wenn ich nochmal so etwas versuchen<br />

sollte, schlägt sie b<strong>es</strong>timmt mich tot und adoptiert dich.“ scherzte Dominique.<br />

„Da brauche ich jetzt immer nur Mami Reber an<strong>zu</strong>rufen, wenn der<br />

böse Dominique nicht ganz lieb und artig <strong>zu</strong> seiner Julia <strong>ist</strong>. Sehr praktisch.“<br />

teilte ich meine neu gewonnen Erkenntnisse mit. „Aber willst du denn nicht<br />

doch mal in Ruhe mit deiner Mutter darüber reden. Das scheint ja nicht ohne<br />

Bedeutung für euch beide gew<strong>es</strong>en <strong>zu</strong> sein, und <strong>ist</strong> doch jetzt nicht einfach aus<br />

der Welt wie nicht g<strong>es</strong>chehen.“ fügte ich hin<strong>zu</strong> und Dominique versprach <strong>es</strong>.<br />

Was soll ich denn machen?<br />

Es war nichts vergangen, g<strong>es</strong>torben, wir hatten nichts <strong>zu</strong> beerdigen oder <strong>zu</strong><br />

betrauern. Di<strong>es</strong>er Monat der Tr<strong>ist</strong><strong>es</strong>se hatte für uns beide <strong>zu</strong> guter Letzt doch<br />

Knospen neuen Glücks sprießen lassen. Jetzt war ich häufig in Angelmodde.<br />

Am Wochenende sowi<strong>es</strong>o und obwohl ich in der Nacht oft weniger Schlaf bekam<br />

und die allgemeinen Belastungen nicht geringer geworden waren, konnten<br />

mir meine Str<strong>es</strong>soren im Grunde nichts mehr anhaben. Vielleicht war <strong>es</strong> ja so,<br />

wie Beethoven in seiner 'Zärtlichen Liebe' erklärte: 'Auch waren sie für dich<br />

und mich, Geteilt leicht <strong>zu</strong> ertragen'. Jedenfalls fühlte ich mich blendend. Auch<br />

wenn <strong>es</strong> kein<strong>es</strong>wegs heller und der Regen überhaupt nicht weniger wurde, ertrug<br />

ich die Tage einfach b<strong>es</strong>ser, wenn <strong>es</strong> auf Weihnachten <strong>zu</strong>ging, als wenn ich<br />

sie in Erwartung d<strong>es</strong> Totensonntags verbrachte. Noël, que fair? Weihnachten<br />

stand vor Tür. Natürlich musste jeder <strong>zu</strong> seinen Eltern. Aber auch <strong>zu</strong> den<br />

Schwiegereltern? So sehr ich Lilo mochte, und so sehr sie mich liebte und allem<br />

Anschein nach verehrte, ich konnte di<strong>es</strong><strong>es</strong> Gefühl nicht ertragen, von den<br />

Verhältnissen einfach verheiratet worden <strong>zu</strong> sein. Unsere Beziehung war nicht<br />

nur wegen Lilos Sicht der Dinge, sondern auch für uns ein Verhältnis, dem die<br />

Vorstellung temporärer Begrenztheit w<strong>es</strong>ensfremd geworden war. Aber ich hatte<br />

gar keine Perspektive, außer dass für mich f<strong>es</strong>tstand, von di<strong>es</strong>em jungen<br />

Mann nicht lassen <strong>zu</strong> können und <strong>zu</strong> wollen und dass er mir fast all<strong>es</strong> <strong>zu</strong> bedeuteten<br />

schien. Bürgerliche Kleinfamilie war auch trotz bourgeoiser Sozialisation<br />

nie eine emotionale Wunschvorstellung, sondern eher ein Horrorszenario<br />

für mich gew<strong>es</strong>en. Ich persönlich hatte nichts Schlimm<strong>es</strong> erlebt, aber andere<br />

Lebensvorstellungen erschienen mir wünschenswerter und g<strong>es</strong>ellschaftlich fortschrittlicher<br />

allemal. Man könnte doch in WG-ähnlichen Zusammenhängen<br />

auch später leben, aber mit Dominique in einer WG? Theoretisch ginge das<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 27 von 36


schon, aber irgendwie passte das Bild nicht, <strong>es</strong> gefiel mir nicht und eigentlich<br />

wollte ich ihn auch viel lieber für mich ganz alleine haben. Nur ich sollte ihm<br />

wichtig sein. Nur für meine Ohren und mein Herz sollte er spielen und spielen<br />

wollen, nicht für ein multipl<strong>es</strong> Lauscherkonsortium, in dem ich eine unter vielen<br />

war. Ich wollte schon die Eigentümerin seiner Lieb<strong>es</strong>produktionsmittel bleiben<br />

und mich nicht durch revolutionäre Genossenschaften enteignen lassen. „Dir<br />

fehlt nicht nur jeder Plan, du b<strong>ist</strong> berausch und da<strong>zu</strong> nicht unerheblich b<strong>es</strong>cheuert“<br />

stellte ich mit Gertrud f<strong>es</strong>t. So war <strong>es</strong> wohl. Eigentlich eine unerträgliche<br />

Vorstellung für mich, selbst ohnmächtig durch andere G<strong>es</strong>chehnisse <strong>zu</strong> irgendetwas<br />

gedrängt oder genötigt <strong>zu</strong> werden, aber jetzt? Was sollte ich denn<br />

ander<strong>es</strong> machen, <strong>es</strong> gefiel mir doch auch nicht schlecht. Ich würde mich am<br />

b<strong>es</strong>ten einfach weiter überraschen lassen, von den Entwicklungen und von mir<br />

selbst. Eine andere Chance hatte ich ja auch gar nicht.<br />

Mamis Frauenkenntnisse<br />

Abends bekam ich immer etwas <strong>zu</strong>r Nacht g<strong>es</strong>pielt. Aber ob Schumanns Träumereien<br />

oder was auch immer, leider stimmte <strong>es</strong> mich nie schläfrig und müde,<br />

sondern weckte eher sinnliche Erwartungen nach der Ankunft d<strong>es</strong> Klavierspielers<br />

im gemeinsamen Bett. „Hast du eigentlich schon viele Freundinnen gehabt,<br />

Nikki?“ wollte ich wissen. „Nöh, das war auch immer so nebenbei. In der<br />

Schule war <strong>es</strong> eben selbstverständlich, dass man auch 'ne Freundin haben<br />

musste, mit Eva das kennst du ja und davor war ich noch kurz mit einem Mädchen<br />

<strong>zu</strong>sammen, die eigentlich so ganz vernünftig war, aber uns war beiden<br />

schnell klar, dass wir das nicht weiter wollten.“ antwortete Dominique. „Und<br />

von wem hast du das? Nicht nur Freund Ibach wird deine Finger lieben, bei<br />

Freundin Julia dürfte <strong>es</strong> nicht viel anders sein. Hat Evchen dir g<strong>es</strong>agt, was<br />

schön <strong>ist</strong>?“ fragte ich. „Nein Mami hat mir das erklärt.“ reagierte Dominique<br />

ganz trocken und nüchtern, während ich mich in einem Lachanfall kugelte. „Ich<br />

lag schräg über ihm und musste immer noch lachen: „Wahrscheinlich leben wir<br />

schon längst im Matriarchat. Was wären die Männer ohne das, was ihre Mamis<br />

ihnen verraten haben? Ob sie's auch alleine herausfinden würden, was <strong>zu</strong> tun<br />

wäre, damit ihre Spezi<strong>es</strong> nicht mit der nächsten Generation ausstirbt. So ganz<br />

sicher bin ich mir da nicht. Aber wie hat deine Mamis dir denn verraten?“ „Das<br />

<strong>ist</strong> überhaupt nicht lächerlich und albern. Du platte Kuh verstehst nur nix“ nur<br />

lustig war <strong>es</strong> nicht, wie Dominique reagiert hatte. „Hey, hey, benimm dich. Entschuldigung,<br />

aber ich weiß doch überhaupt nichts davon, nur wie du's g<strong>es</strong>agt<br />

hast, war's ungemein lustig.“ reagierte ich. Dann erzählte er, dass er bei ihrem<br />

Verhältnis seine Mutter natürlich all<strong>es</strong> habe fragen können, und <strong>es</strong> sei nichts<br />

B<strong>es</strong>onder<strong>es</strong> gew<strong>es</strong>en, dass irgendetwas die Sexualität Betreffend<strong>es</strong> selbstverständlich<br />

auch da<strong>zu</strong>gehört habe. Sich schämen? Bei seiner Mutter sei so etwas<br />

in ihm nicht aufgekommen. In der Pubertät habe man natürlich häufiger darüber<br />

g<strong>es</strong>prochen, und seine Mutter habe das für damalige Verhältnisse äußerst<br />

frei und offen getan. „Sie sagte, dass sei Biologie, die Kirche solle sich da raushalten,<br />

das ginge sie nichts an und da habe sie keine Ahnung von. Sie solle<br />

sich um ihre Außerirdischen kümmern. Religiöse Menschen, das waren für<br />

Mami all<strong>es</strong> Freunde der Außerirdischen, sie selbst sah sich mehr an den Irdi-<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 28 von 36


schen inter<strong>es</strong>siert. Wenn die Kirche <strong>es</strong> schaffe, den Schneeglöckchen <strong>zu</strong> vermitteln,<br />

dass <strong>es</strong> moralisch richtiger sei, im Herbst <strong>zu</strong> blühen, dann würde sie<br />

auch vielleicht nochmal darüber nachdenken, ob sie sich durch moralische Vorschriften<br />

in den Fortpflan<strong>zu</strong>ngstrieb d<strong>es</strong> Menschen und seine Ausg<strong>es</strong>taltung<br />

einmischen dürfe, bis dahin halte sie <strong>es</strong> für ein unerträglich anmaßend<strong>es</strong> Verhalten<br />

di<strong>es</strong>er Freunde d<strong>es</strong> Jenseits. „Das <strong>ist</strong> bei allem so, was wichtig <strong>ist</strong>,“ hat<br />

sie g<strong>es</strong>agt, „damit man <strong>es</strong> sich wünscht, Freude daran hat und <strong>es</strong> b<strong>es</strong>timmt<br />

nicht vergisst. Das <strong>ist</strong> beim Essen und Trinken so, und beim Sex <strong>ist</strong> das kein<br />

bisschen anders. Nur wie und warum das Spaß macht, das <strong>ist</strong> bei Männern und<br />

Frauen sehr verschieden. Und wenn die Männer nur das tun, was ihnen gefällt,<br />

sagen die Frauen me<strong>ist</strong> nicht: 'Hey, ich bin auch noch da!' sondern lassen den<br />

Mann einfach machen und haben bald keine Lust mehr dran.“ Selbstverständlich<br />

hat sie mir genau erklärt, wie das bei Frauen <strong>ist</strong>, wie <strong>es</strong> abläuft, wie und<br />

wodurch sie sich erregen und <strong>zu</strong>m Orgasmus kommen, was sie angenehm<br />

empfinden und was sie tun, wenn sie sich selbst befriedigen. Wie sie mir kleinem<br />

Jungen das all<strong>es</strong> sagen konnte. Ich hätte mich an ihrer Stelle total g<strong>es</strong>chämt<br />

damals. Im Nachhinein denke ich schon, dass sie auch bewirken wollte,<br />

dass ich mich später Frauen gegenüber g<strong>es</strong>cheiter verhielt. Aber wie sie <strong>es</strong> mir<br />

erklärte, kam mir kein bisschen obszön vor. Ich fand <strong>es</strong> wunderbar, wie sachlich<br />

sie mir all<strong>es</strong> erläutern konnte. Aber das war bei allem so. Nicht nur bei der<br />

unterschiedlichen Lust von Mann und Frau beim Sex. Sie <strong>ist</strong> eben einfach immer<br />

'ne tolle Frau, ein wunderbarer Mensch für mich gew<strong>es</strong>en, gleichgültig ob<br />

Mami oder nicht.“ erläuterte Dominique. „Mhm, ich finde auch, dass Lilo 'ne<br />

tolle Frau <strong>ist</strong>. Sie hat dir, so weit ich <strong>es</strong> beurteilen kann, all<strong>es</strong> richtig erklärt.“<br />

scherzte ich schmusend, „Es wird schon wichtig sein, dass du ihr auch weiterhin<br />

gut <strong>zu</strong>hörst, mein Liebster. B<strong>es</strong>timmt <strong>ist</strong> <strong>es</strong> so, dass eine Frau für dich <strong>zu</strong><br />

wenig <strong>ist</strong>, und du ein Beraterinnenteam brauchst, Lilo und Julia.“ Di<strong>es</strong>e Lust <strong>zu</strong><br />

säuseln, mich sinnlich zart an<strong>zu</strong>schmiegen und in meinem auf Dominiqu<strong>es</strong><br />

Schulter träumenden Kopf Juliasmorgenblütenträume reiften <strong>zu</strong> lassen, das<br />

hatte mit meinen als Kind geübten Schmusepraktiken mit meinem Teddy nicht<br />

mehr viel Gemeinsam<strong>es</strong>. Offensichtlich hatte ich bei meinen Vorstellungen und<br />

Ausführungen von Zärtlichkeiten und Sanftheiten Veränderungen vollzogen, die<br />

ich als Auswirkungen und Beweis mein<strong>es</strong> auch in di<strong>es</strong>er Beziehung Erwachsen<br />

geworden seins interpretierte. Wenn ich nicht weiterhin der Ansicht gew<strong>es</strong>en<br />

wäre, dass Zeus seinen Himmel doch lieber bedeckt halten sollte, hätte ich<br />

vermutet, dass ein Blick ins Paradis nicht viel andere Gefühle auslösen könne<br />

als die, die ich soeben empfand.<br />

Weihnachtspläne<br />

Lilo und Piet, Dominiqu<strong>es</strong> Vater, waren von Freunden in Hamburg <strong>zu</strong> Silv<strong>es</strong>ter<br />

eingeladen worden. Warum nicht Weihnachten in Münster verbringen? Nur wie?<br />

Rebers im Hotel übernachten oder in Nikkis Apartment und wir in der WG, oder<br />

auf Matratzen unterm Flügel? Als meine Eltern erfuhren, dass Dominiqu<strong>es</strong> Eltern<br />

<strong>zu</strong> Weihnachten nach Münster kommen wollten, hatte ich keine Chance<br />

mehr, ihnen aus<strong>zu</strong>reden, dass sie unbedingt für die Zeit bei ihnen wohnen<br />

müssten. Mein letzt<strong>es</strong> Argument, dass wir dann ja Heiligabend ohne Klavier<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 29 von 36


wären, und ich dann weinen müsste, veranlasste meine Mutter <strong>zu</strong> Überlegungen.<br />

„Wenn andere Männer <strong>zu</strong> Weihnachten von ihren Frauen Socken g<strong>es</strong>chenkt<br />

bekommen, wird Gerd sich über ein Klavier doch erst recht freuen<br />

müssen. Seine Finger fangen sowi<strong>es</strong>o schon an steif <strong>zu</strong> werden. Höchste Zeit<br />

etwas dagegen <strong>zu</strong> tun, und seine heiß geliebte Elke kann er ja dann auch öfter<br />

treffen. Ein Klavier haben wir sowi<strong>es</strong>o immer gehabt, da bekommen wir jetzt<br />

wieder eins, ein G<strong>es</strong>chenk für uns alle.“ argumentierte meine Mutter. Eigentlich<br />

keine schlechte Idee, nur die Vorstellung, dass Daddy <strong>zu</strong> Weinachten ein Klavier<br />

bekäme, nahm sich schon sehr skurril aus. Ästhetisch<strong>es</strong> war ihm ja nicht<br />

grundsätzlich w<strong>es</strong>ensfremd, aber Papa Gerd am Klavier, das ergab für mich<br />

schon ein Bild, das sich nicht einfach in den Katalog der anderen üblichen einreihen<br />

lassen wollte. Wir hatten aber unsere liebe Mühe damit. Es gab überhaupt<br />

nichts <strong>zu</strong> deuteln, eins klang wunderbar. „Das wird aber nicht ganz billig<br />

sein.“ meinte Dominique und der Maître d<strong>es</strong> Pianohaus<strong>es</strong> hielt sich dezent bedeckt.<br />

Als Nikki ihn anschaute, meinte er: „Das könnte man wohl so sehen.“<br />

nannte den Preis aber nicht, sondern schwärmte von den vorzüglichen Eigenschaften.<br />

„Sie brauchen <strong>es</strong> mir nicht <strong>zu</strong> erklären. Ich kenne das Klavier und<br />

spiele nicht <strong>zu</strong>m ersten Mal darauf. Sagen sie <strong>es</strong> konkret, wie viel <strong>es</strong> kosten<br />

soll.“ unterbrach ihn Dominique. „Ihr seit wohl verrückt!“ fuhr meine Mutter<br />

entsetzt auf, „Da bekommt man doch einen Flügel für. Wie soll ich so etwas<br />

denn bezahlen?“ „Wenn man nicht so viel Geld ausgeben will, kann man natürlich<br />

nichts machen, aber ich glaube di<strong>es</strong> Klavier klingt b<strong>es</strong>ser als jeder Flügel in<br />

der gleich Preislage.“ meinte Nikki und spielte noch mal. „Aber das <strong>ist</strong> doch viel<br />

<strong>zu</strong> schade für Gerd, der wird dem doch mit seinen krummen Fingern weh tun.“<br />

sagte Mama halb lachend halb weinend. Es einfach nicht haben wollen, weil's<br />

<strong>zu</strong> teuer war, schien ihre f<strong>es</strong>te Position wohl nicht <strong>zu</strong> sein, dafür war sie <strong>zu</strong><br />

klangverliebt. „Würden sie denn auch manchmal kommen und <strong>es</strong> ein wenig<br />

streicheln, Herr Reber? Wenn ich <strong>es</strong> gar nicht <strong>zu</strong> hören bekäme, lohnte <strong>es</strong> sich<br />

ja überhaut nicht!“ fragte sie. „Aber selbstverständlich, Frau Weinrich, wir würden<br />

dann die Verwandten und Bekannten <strong>zu</strong> kleinen In-house Klavierabenden<br />

einladen. Julia wird bald so weit sein, dass wir auch vierhändig spielen können.<br />

Das Klavier wird nicht nur ein G<strong>es</strong>chenk für ihren Mann sein, sondern ihren g<strong>es</strong>amten<br />

Wohnsitz <strong>zu</strong> einem House of Music verwandeln.“ antwortete Nikki lächelnd<br />

und Mama strahlte. Ich hatte nur Dominique gern spielen gehört, jetzt,<br />

kurze Zeit später war all<strong>es</strong> voll mit dicken Flügeln und Klavieren: Dominiqu<strong>es</strong><br />

Konzertflügel, mein Schimmel C16 war ja auch nicht ganz schwachbrüstig und<br />

jetzt auch noch das kapitale K 132 von Steinway für uns <strong>zu</strong> Hause, mon amour<br />

konnte überall seine Künste zeigen.<br />

Meine Mutter hatte einen Kredit aufgenommen, und das Wundergerät war einige<br />

Tage vor Weihnachten gebracht worden. Wir hatten <strong>es</strong> mit Staffagen und<br />

Verpackungen umhüllt, dass die Idee, ein Klavier könne sich darunter befinden,<br />

völlig abwegig erschien. Den Scherz, Daddy Weihnachten bei der Enthüllung <strong>zu</strong><br />

erleben, wollten wir uns alle nicht entgehen lassen. Beiläufig konnte ich meiner<br />

Mutter noch klar machen, dass die Bezeichnung Herr Reber für sie nicht mehr<br />

die angezeigte Ansprache für Dominique sei, sie solle das schleunigst ändern.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 30 von 36


Noël<br />

„Ich hab ja immer gewusst, dass Dominique kein Stadtmensch <strong>ist</strong>.“ wusste Lilo<br />

im Taxi vom Bahnhof nach Angelmodde <strong>zu</strong> berichten, „Wenn man hört mit<br />

welch elegischer Hingabe er musikalisch die weiten Landschaften der Puszta<br />

malt, spürt man die Sehnsucht, die ihn mit di<strong>es</strong>en Bildern verbindet.“ Nach<br />

kurzen Erläuterungen <strong>zu</strong>r elegisch weiten Puszta von Angelmodde waren wir<br />

auch schon angekommen. Lilo wollte natürlich sofort den Flügel hören. Sie<br />

lachte sich tot. „Wie haltet ihr das denn aus? Da weiß man ja nicht, ob der Flügel<br />

hier wohnt, oder man selbst im Flügel wohnt.“ stellte sie f<strong>es</strong>t. „Schön <strong>ist</strong><br />

das, Lilo, berauschend, wunderschön. Da kannst du nix machen, da gehörst du<br />

einfach mit <strong>zu</strong> den Klängen, gehörst der Musik. Entziehen geht nicht. Du mit<br />

deinem ganzen Körper b<strong>ist</strong> Teil der Musik und die Musik <strong>ist</strong> all<strong>es</strong> von dir. Das <strong>ist</strong><br />

Musikerleben pur.“ erklärte ich <strong>es</strong> strahlend. Lilo brachte di<strong>es</strong>e launige Grundstimmung<br />

wieder mit, die kitzelt, Albernheiten erwartet, schelmisch provoziert.<br />

Am me<strong>ist</strong>en hatte Dominique darunter <strong>zu</strong> leiden, der <strong>es</strong> aber gar nicht so empfand,<br />

sondern sich kringelte vor Lachen. „Immer wieder unternimmt di<strong>es</strong><strong>es</strong><br />

Büblein Versuche, sich von der Mutterbrust <strong>zu</strong> lösen, und immer geht’s in die<br />

Hose. Das kann man doch auch in dem Alter nicht mehr machen, das <strong>ist</strong> doch<br />

viel <strong>zu</strong> spät. Lass <strong>es</strong> Dominique, <strong>es</strong> wird nix mehr. Sei froh, <strong>zu</strong>frieden und genieße<br />

<strong>es</strong>, dass du <strong>zu</strong> Hause die Mami hast und für außerhalb deine Amme Julia.“<br />

so Lilo. „Ja aber meine Amme Julia ...“ weiter kam er vor Lachen gar nicht<br />

mehr. Wir alberten noch ein wenig weiter und wollten dann doch anders als geplant<br />

Essen gehen. Vom R<strong>es</strong>taurant aus wollten wir <strong>zu</strong> meinen Eltern fahren.<br />

„Julia, ich habe dir nur ein Buch mitgebracht, das ich ganz gut fand,“ sagte Lilo<br />

<strong>zu</strong> mir, „Das Wichtige, was ich dir schenken möchte und was ganz wertvoll <strong>ist</strong>,<br />

kann man gar nicht einpacken, ein Bändchen drum binden und einen Glückwunsch<br />

da<strong>zu</strong> schreiben, verstehst du?“ wir standen ganz dicht voreinander und<br />

schauten uns in die Augen, „ich habe <strong>es</strong> schon abg<strong>es</strong>chickt. B<strong>es</strong>timmt <strong>ist</strong> <strong>es</strong><br />

schon angekommen. Ich glaube, eigentlich <strong>es</strong> <strong>ist</strong> sowi<strong>es</strong>o immer bei dir, meine<br />

Liebe.“ Lilo wurden die Augen feucht. Wir umarmten uns und mir kamen auch<br />

die Tränen. Es macht ein extrem wundervoll<strong>es</strong> Gefühl, einem anderen Menschen<br />

so viel <strong>zu</strong> bedeuten, sich so g<strong>es</strong>chätzt und geliebt <strong>zu</strong> fühlen. Ich hatte<br />

schon mehrfach gerätselt, warum Lilo mich denn wohl so gut leiden könne, <strong>es</strong><br />

war doch nichts B<strong>es</strong>onder<strong>es</strong> dran an mir. Na ja, wir verstanden uns gut, einfach<br />

so auf Anhieb, wie bei Dominique auch. Ob sie etwas von dem sehen und erkennen<br />

konnte, was Dominique und ich immer nur erstaunt konstatierten, ob<br />

ihr mehr von dem bewusst würde, was sich in unserer Psyche abspielte und sie<br />

abschätzen konnte, wie bedeutsam <strong>es</strong> für uns, aber auch für Menschen allgemein<br />

war? Mit meiner Mutter verstand ich mich sehr gut. Probleme kannten wir<br />

nicht. Es war so eine übliche positive Mutter-Tochter-Beziehung, aber Lilo hatte<br />

etwas ganz ander<strong>es</strong>. Als ob sie einerseits einen tieferen Durchblick habe, eine<br />

Art Übermutter, aber auf der anderen Seite auch ganz nahe bei mir war, mit<br />

mir war, wie eine liebste Freundin. Wundervoll empfand ich <strong>es</strong>, Lilo <strong>zu</strong> kennen<br />

und ihre Freundin sein <strong>zu</strong> dürfen.<br />

Lilo smilte, als sie das große verpackte Klavier sah. „Da bekommt er also in<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 31 von 36


di<strong>es</strong>em Jahr keine Socken, sondern einen Schrank für die Socken. Da wird er<br />

sich aber freuen.“ feixte sie. „Pschscht! Die ganze Spannung <strong>ist</strong> ja futsch, wenn<br />

er's vorher schon weiß“ meinte Mama da<strong>zu</strong>. Sie schienen sich gut <strong>zu</strong> verstehen.<br />

Als wir am nächsten <strong>Morgen</strong> <strong>zu</strong>m Frühstück kamen, duzten sie sich schon.<br />

Was sie wohl wie b<strong>es</strong>prochen hatten? B<strong>es</strong>timmt hatten sie schon die Hochzeitsfeierlichkeiten<br />

geplant. Nein heiraten, das würde ich aber nun wirklich nicht.<br />

Ein Brautkleid hatte im Schrank meiner emotionalen Modekollektion keinen<br />

Platz. Aufgeregte Präparationen für den Heiligabend, ja aus meiner Kinderzeit<br />

kannte ich di<strong>es</strong>e Hektik noch. Mein Bruder kam mit seiner fast neuen Freundin<br />

Kathi. Ein frech<strong>es</strong> Luder, schien mir. Sollte die etwas mit mir <strong>zu</strong> tun haben?<br />

Hatte die etwas gemein mit dem Bild, das mein Bruder von mir hatte? „Micha,<br />

ich war doch immer so llieb <strong>zu</strong> dir.“ Irgendwie mochte ich sie schon, auch wenn<br />

<strong>es</strong> hinter ihrer großen Klappe manchmal ein wenig hohl <strong>zu</strong> sein schien, aber lachen<br />

konnte sie wenigstens ganz natürlich und schien <strong>es</strong> auch gern <strong>zu</strong> tun. Das<br />

Warten auf's Chr<strong>ist</strong>kind begann. Jetzt müsste eigentlich g<strong>es</strong>ungen werden,<br />

aber ohne Klavier, ne, das ging nicht. Also wurde nicht gewartet. Keine gefüllten<br />

Teller, kein gedeckter Tisch, nur für Papa stand ein dicker Schrank an der<br />

Wand. Da müsse er <strong>es</strong> eben auspacken, vielleicht kämen die anderen G<strong>es</strong>chenke<br />

ja später. Mama stand wachend daneben und begleitete den Vorgang durch<br />

ein öfter wiederholt<strong>es</strong>: „Vorsichtig! Pass auf! Gerd, sei doch etwas<br />

vorsichtiger!“. Es dauerte nämlich, bis mein Vater unzweifelhaft <strong>zu</strong>geben musste,<br />

dass das, was er erkannte, ein Klavier sei. „Ein Klavier, was soll ich denn<br />

mit einem Klavier machen, Doris? Ich und ein Klavier. Das wird mich beißen.“<br />

äußerte er sich erstaunt und bekam sich vor Lachen nicht mehr ein. Später<br />

tauschten alle ihre Kleinigkeiten untereinander aus, bewunderten sie brav und<br />

bedankten sich, aber ein ander<strong>es</strong> Thema als das Klavier gab <strong>es</strong> nicht. „Gerd,<br />

das <strong>ist</strong> nicht einfach nur ein Klavier, das <strong>ist</strong> Liebe in Klängen. Aber man muss<br />

sie ihm entlocken, und nichts wäre ein größerer Lieb<strong>es</strong>beweis, als wenn du <strong>es</strong><br />

für mich tun würd<strong>es</strong>t. Dominique zeig ihm doch mal, wie das geht.“ meinte<br />

Mutter. Dominique trällerte ein paar schnelle Läufe. „Siehst du, so einfach geht<br />

das. Jetzt du.“ erläuterte Mama auch ständig mit untergründigem Lachen,<br />

„Aber nein, du hast die Hände nicht gewaschen. Mit schmutzigen Fingern gehst<br />

du mir nicht an das Klavier.“ Mama erklärte ernsthaft, was sie sich gedacht<br />

hatte, und wie <strong>es</strong> davon ausgegangen sei, dass man einen Heiligabend mit Dominique<br />

aber in CD-Untermalung für un<strong>zu</strong>mutbar gehalten habe. Also musste<br />

er jetzt spielen. Er klimperte all<strong>es</strong> durcheinander, von 'Freuet euch ihr Chr<strong>ist</strong>en'<br />

über 'Süßer die Glocken', englischen Carols und auch etwas, das sich bedeutsamer<br />

anhörte, ich aber nicht kannte. B<strong>es</strong>timmt hatte er schon oft <strong>zu</strong>m Weihnachtsliedersingen<br />

unter dem Tannenbaum spielen müssen. „Das <strong>ist</strong> wunderbar,<br />

ganz toll und passt hervorragend <strong>zu</strong> dem Raum. Nicht so eine Bedröhnungsanlage<br />

wie bei euch. Ich möchte auch mal.“ äußerte sich Lilo, begann<br />

ganz toll mit Feliz Navidad, konnte dann aber ihren Schalk nicht <strong>zu</strong>rückhalten.<br />

Als im Auditorium bei 'Kling Glöckchen, klingelingeling' Unmutsbekundungen<br />

auftraten, wechselte sie <strong>zu</strong> '<strong>Morgen</strong> Kinder wird’s was geben'. 'Still, still, still'<br />

intonierte sie noch um lachend mit 'Stille Nacht, heilige Nacht' ihren Vortag <strong>zu</strong><br />

b<strong>es</strong>chließen. Di<strong>es</strong>e Frau war fast dreißig Jahre älter als ich, aber genau so hätte<br />

ich's gemacht, wenn ich's gekonnt hätte. Das musste <strong>es</strong> sein, wir beide<br />

dachten und empfanden sehr, sehr ähnlich, obwohl sich unsere Leben bis vor<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 32 von 36


kurzem nicht berührt hatten und sich unter völlig anderen Bedingungen vollzogen.<br />

Ich musste und wollte natürlich auch noch spielen. In Weinachtsliedergeklimper<br />

konnte ich zwar nicht suhlen, sondern nur Papa demonstrieren, was er<br />

in den ersten Monaten bei Elke lernen werde. „Julia das <strong>ist</strong> toll, bleib bei der<br />

Stange. Lass dich durch nichts frustrieren.“ meinte Lilo und Dominique unterstützte<br />

sie. Er hatte mir natürlich auch geholfen und einig<strong>es</strong> gezeigt, völlig allein<br />

Elke war <strong>es</strong> nicht ganz. Dominique sollte vorm Essen noch mal spielen.<br />

Englische Carols und ein französisch<strong>es</strong> Lied spielte und und sang er, und machte<br />

sich einen Spaß daraus, sich in improvisierten Variationen aus<strong>zu</strong>toben. „Lilo<br />

was the mother mild, Dominique her little child.“ sang er <strong>zu</strong> den Schlussakkorden<br />

von 'Once in royal Davids city' und kam lächelnd <strong>zu</strong>m Tisch. Kathi hatte die<br />

ganze Zeit mit Micha, meinem Bruder getuschelt, wahrscheinlich wähnte sie<br />

sich in einer fremden Welt und wollte all<strong>es</strong> erklärt haben. Ich meinte, sie hätte<br />

sich später nicht mehr so vorlaut und patzig aufgeführt. Mit Sicherheit würde<br />

mein Vater Klavierstunden nehmen. Er hatte sich zwar formal noch nicht entschieden,<br />

aber seine Einwände waren nur Verzögerungsargumente, um vor<br />

sich selbst erklären <strong>zu</strong> können, er habe <strong>es</strong> sich reiflich überlegt, mit seinem<br />

Herzen war er schon längst bei Elke.<br />

Wir wurden relativ früh müde und wollten nach Angelmodde. Dominique hatte<br />

für mich ein klein<strong>es</strong> Collier gekauft. Er gab <strong>es</strong> mir erst jetzt. Was war das<br />

denn? Ja, <strong>es</strong> wahr sehr schön und gefiel mir ausg<strong>es</strong>prochen gut. Aber von meinem<br />

Liebsten mit Schmuck behängt <strong>zu</strong> werden, das irritierte mich doch <strong>zu</strong>tiefst.<br />

Wie sollte ich Dominique das klar machen? Gar nicht. Ich konnte <strong>es</strong><br />

nicht. Ich fiel ihm um den Hals und fing einfach an <strong>zu</strong> heulen. Warum genau<br />

weiß gar nicht, wahrscheinlich steckte auch die Anspannung d<strong>es</strong> ganzen Tag<strong>es</strong><br />

und Abends dahinter. Später im Bett konnte ich <strong>es</strong> erklären, so erklären, dass<br />

er nicht auf die Idee kommen konnte, sein G<strong>es</strong>chenk bedeute mir nichts. Wir<br />

sprachen über Schmuck und Mode und äußer<strong>es</strong> Erscheinungsbild und ob ich<br />

denn <strong>zu</strong> Weihnachten ein Kleid anziehen müsse, ich hatte nämlich außer ein<br />

paar Sommerkleidchen kaum etwas. Doch, das kleine Schwarze, sollte ich das<br />

morgen <strong>zu</strong> Hause anziehen? Ich lachte mich halb tot. Ja, ich wollte <strong>es</strong> auf jeden<br />

Fall machen, aber meine Pumps, meine High-Heels, die waren in der WG.<br />

Mit flachen Tretern oder Boots ging das einfach nicht, keine Wahl.<br />

Weihnachtsüberraschung<br />

Alle staunten, fragten ob etwas anstünde, nur Lilo fragte nicht, sondern grinste<br />

nur. Was wollte sie denn wissen? Gar nichts konnte sie wissen. Warum fragte<br />

sie denn nicht? Sollte ich sie mal fragen, warum sie nicht fragte? Ahnte sie<br />

etwa, in welcher Situation ich mich befand und hätte sich auch so entschieden?<br />

War sie mein zweit<strong>es</strong> Ich? B<strong>es</strong>timmt verband uns etwas Übersinnlich<strong>es</strong>. Anders<br />

konnte <strong>es</strong> ja nicht sein. Sie war b<strong>es</strong>timmt Dominiqu<strong>es</strong> leibliche Mutter und meine<br />

gute Fee. So musste <strong>es</strong> sein. „Hast dich chic gemacht, meine Süße, steht<br />

dir sehr gut, richtig weihnachtlich.“ bemerkte sie später. Beim Essen erklärte<br />

mein Vater so lapidar, dass die Leute die Qualität der Apartments in Angelmodde<br />

gar nicht <strong>zu</strong> würdigen wüssten. Mit Mitteln aus allen möglichen Töpfen seien<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 33 von 36


sie finanziert worden, bei freier Finanzierung würden die Mieten mehr als doppelt<br />

so hoch sein müssen. Da sei ja nicht nur die hervorragende akustische<br />

Qualität. „Wenn du da drei Streichhölzer anzünd<strong>es</strong>t, hast du's warm und die<br />

Wärme hält sich den ganzen Tag. Das sind keine Biohäuser, die sind viel b<strong>es</strong>ser.<br />

Biobaustoffe, die so etwas bringen gibt’s nicht. Und die Leute ziehen wieder<br />

aus, weil sie meinen, 'ne andere Schabracke, die zwei Euro weniger Miete kostet,<br />

sei günstiger. Willst du nicht auch nach Angelmodde ziehen, da wird permanent<br />

etwas frei?“ fragte er. Wie, was, ich nach Angelmodde <strong>zu</strong> Dominique,<br />

und er würde das bezahlen? Was war das denn all<strong>es</strong> auf einmal? Ich konnte<br />

gar nicht so schnell denken. Ich wohnte doch in der WG, in meiner WG, da<br />

konnte ich doch nicht einfach ausziehen und auf Kleinfamilie im Dorf machen.<br />

Bitte, lass mich das nicht entscheiden müssen. Alle redeten darüber, wägten<br />

meine potentiellen Argumente ab, nur ich hielt die Klappe. Ich sah <strong>es</strong>, sah wie<br />

<strong>es</strong> einfach so mit mir gemacht werden würde. Auch wenn ich brennend gern in<br />

der WG wohnen bliebe, meinem Wunsch, ständig in Dominiqu<strong>es</strong> Nähe <strong>zu</strong> sein,<br />

könnte ich mich nicht widersetzen. Mein Verlobungskleid trug ich heute. Ich<br />

hatte <strong>es</strong> nicht gewusst, aber Lilo hatte <strong>es</strong> b<strong>es</strong>timmt g<strong>es</strong>ehen. Ich sagte zwar,<br />

<strong>es</strong> sei jetzt <strong>zu</strong> überraschend, und ich müsse noch überlegen, bevor ich mich<br />

entscheiden könne, aber worauf <strong>es</strong> hinaus laufen würde, war mir doch längst<br />

klar. Ihrem Grinsen nach <strong>zu</strong> urteilen, Lilo anscheinend auch.<br />

Mein Vater meinte, wenn ich ein wenig warten könne, ergebe sich eventuell etwas<br />

in sehr geringer D<strong>ist</strong>anz <strong>zu</strong> Dominique. Dominique selber erzählte, dass<br />

die Frau im Parterre unter ihm <strong>zu</strong>m März ausziehen wolle. Sie kannte zwar jemanden,<br />

der dort eingezogen wäre, aber in di<strong>es</strong>em Falle sah sich die Wohnungsbaug<strong>es</strong>ellschaft<br />

dringend genötigt, vorrangig mir die Nut<strong>zu</strong>ngsrechte <strong>zu</strong><br />

überlassen. 'O sole mio, ein Apartment mit Terrasse und kleiner Wi<strong>es</strong>e und<br />

über mir di<strong>es</strong>er Mann mit dem dicken Flügel und dem warmen Bett. Ob die ers -<br />

ten warmen Tage nicht nur den beginnenden Frühling mit dem folgenden Sommer<br />

ankündigten, sondern auch vermitteln wollten, das das Tor <strong>zu</strong>m Paradi<strong>es</strong><br />

langsam geöffnet werde? Mein Empfinden tendierte stark <strong>zu</strong> Letzterem. Natürlich<br />

konnte ich Beethovens 'Zärtliche Liebe' längst spielen und mit umformulierter<br />

letzter Strophe singen, aber ob meine Laute den Sphärenklängen der<br />

Engelschöre gleich kamen, würde ich eher bezweifeln wollen. Schade, dass <strong>es</strong><br />

so grässlich klang. Ein wenig G<strong>es</strong>angsunterricht könnte doch nicht schaden, ich<br />

würde <strong>es</strong> doch so gerne können. Sich auf musikalischen Genüssen und Lieb<strong>es</strong>wonnen<br />

in Angelmodde schwebend tragen <strong>zu</strong> lassen, das war <strong>es</strong> wohl, was unzweifelhaft<br />

als Glück bezeichnet werden musste.<br />

Elvis lügt<br />

Psychologisch hielt ich mich nicht für b<strong>es</strong>onders bewandert. Ich hatte mich nur<br />

immer mal informiert, wenn ich mir Widersprüchlich<strong>es</strong> nicht erklären konnte.<br />

Es reichte aber aus, um den Kommilitonen, die mich b<strong>es</strong>uchen kamen und<br />

meinten, mein Verhalten aus g<strong>es</strong>ellschaftspolitischer Sicht kritisieren <strong>zu</strong> müssen,<br />

klar <strong>zu</strong> machen, was für Heuchler und großmäulige Revolutionsphrasendr<strong>es</strong>cher<br />

sie seien. Neben den revolutionären Kräften hatten sich für mich die<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 34 von 36


emotionalen Kräfte sehr stark in den Vordergrund gedrängt und mir verdeutlicht,<br />

dass <strong>es</strong> gar nicht möglich war, sie <strong>zu</strong> missachten. Anstatt für mich rational<br />

wegweisende Entscheidungen <strong>zu</strong> treffen, kam ich mir oft vor, als ob ich ihren<br />

B<strong>es</strong>chlüssen hinterher hechelte. „It's now or never“ hatte <strong>es</strong> für mich nur<br />

zweimal gegeben. Den kühnen B<strong>es</strong>chluss, Dominique <strong>zu</strong>m Kaffee ein<strong>zu</strong>laden,<br />

und beim zweit Mal war ich <strong>es</strong> gar nicht selber, sondern Marcel, der so für mich<br />

entschieden hatte. Aber Situationen wie 'Kiss me now or never' so etwas hatte<br />

<strong>es</strong> bei uns doch nie gegeben. 'Kiss me now or a little bit later or tomorrow in<br />

the morning' das könnte man sich vorstellen aber 'or never'? Ob's denn in anderen<br />

Beziehungen so etwas gab, und man mit Ausschlussfr<strong>ist</strong> auf die Liebe<br />

keinen Moment warten konnte? Ohne <strong>es</strong> durch stat<strong>ist</strong>ische Erhebungen exakt<br />

belegen <strong>zu</strong> können, neige ich mehr da<strong>zu</strong>, <strong>es</strong> für einen höchst ungewöhnlichen,<br />

seltenen Vorfall <strong>zu</strong> halten. Liebe kann doch sehr wohl warten und muss <strong>es</strong><br />

nicht selten zwangsläufig. Liebe kann auch sehr hartnäckig, ausdauernd und<br />

geduldig sein. Die unerfüllte b<strong>es</strong>teht nur im Warten und und für die wahre soll<br />

<strong>es</strong> nie <strong>zu</strong> spät sein, sagt man. Elvis wollte uns erklären, dass seine Liebe <strong>es</strong><br />

nicht mal bis morgen schaffen könne. Um was für eine Liebe soll <strong>es</strong> sich den da<br />

handeln? Wer soll so etwas denn glauben können?. Elvis hat uns einen Bären<br />

aufgebunden. Mit seinem Ozean, das mag dahin g<strong>es</strong>tellt bleiben. Obwohl ein<br />

wenig traurig war Elvis ja schon immer. Aber in der Liebe gibt’s so etwas gar<br />

nicht, und die damaligen Kinder, die heute Fünfundfünfzigjährigen verfahren<br />

auch in der Liebe nicht nach dem von Elvis vorgegebenen Paradigma der unerbittlichen<br />

augenblicklichen Lieb<strong>es</strong>forderung. Wahrscheinlich weil <strong>es</strong> sich in der<br />

Alltagspraxis als völlig untauglich erwi<strong>es</strong>en hat und amouröse Intentionen eher<br />

stört, als ihnen dienlich sein <strong>zu</strong> können. Elvis muss sich sagen lassen, dass<br />

sein 'Its now or never' für die Liebe nichts taugt. Ob man <strong>es</strong> da nicht doch lieber<br />

in seinen alten Bereichen bei den sich heldenhaft Gebärenden und<br />

Schnäppchenjägern belassen sollte?<br />

Wenn uns auch der theoretische Hintergrund von Elvis Vortrag als irrational<br />

und unbrauchbar erscheinen mag, sollten wir nicht verg<strong>es</strong>sen, dass <strong>es</strong> sicher<br />

nicht in seiner Absicht lag, einen wissenschaftlichen Diskussionsbeitrag <strong>zu</strong>m<br />

Thema Liebe <strong>zu</strong> liefern. Elvis wollte uns mehr etwas <strong>zu</strong>r Sehnsucht empfinden<br />

lassen. Und was hat die wehmütig gefehlte Sehnsucht denn mit Argumenten<br />

und rationalem Denken <strong>zu</strong> tun? Wo sollten denn da die Berührungspunkte liegen?<br />

FIN<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 35 von 36


Comment un homme dépourvu d<strong>es</strong> vertus qui sont propr<strong>es</strong> à<br />

l'homme peut-il cultiver la musique ?<br />

Confucius<br />

„Julia, deine Wünsch sind immer Befehle, mir liegt <strong>es</strong> mehr, sie dir von den<br />

Augen ab<strong>zu</strong>l<strong>es</strong>en.“ reagierte Dominique „Du schummelst, mein Liebster. Meine<br />

Augen suchen nämlich schon eine ganze Zeit nach Weingläsern. Ist dir<br />

offensichtlich völlig verborgen geblieben.“ bemerkte ich da<strong>zu</strong>. Wir tranken und<br />

redeten dumm<strong>es</strong> Zeug, spotteten und ironisierten, zwischendurch mussten wir<br />

uns immer wieder küssen. „Sag mal Dominique, woran merkst du, ich meine<br />

jetzt dich persönlich, nicht allgemein, eigentlich, dass ich eine Frau bin?“ stellte<br />

ich eine Frage, <strong>zu</strong> deren Beantwortung sich Dominique <strong>zu</strong>nächst wegen<br />

Lachens nicht in der Lage fühlte. Dann beabsichtigte er sich auch weiter am<br />

Lachen <strong>zu</strong> halten. Nannte alle skurrilen, unbedeutenden Merkmale, von meinen<br />

braunen Schuhen bis <strong>zu</strong> den blonden Haaren und er Aura über mir. „Das <strong>ist</strong><br />

schade, sehr schade, ich dachte, Männer würden auch etwas empfinden und <strong>es</strong><br />

daran merken. Aber du scheinst tot <strong>zu</strong> sein, tot und kalt. Ich dachte<br />

heterosexuelle Männer würden so etwas wie Bedürfnisse, Wünsche, Begierden,<br />

Verlangen oder Gelüste empfinden und daran merken, das sie <strong>es</strong> mit einem<br />

femininen W<strong>es</strong>en ihrer Art <strong>zu</strong> tun haben. Bei dir <strong>ist</strong> das nicht so, nein?“<br />

erkundigte ich mich. „In der Regel <strong>ist</strong> das nicht so, nein, nur bei den W<strong>es</strong>en,<br />

die solche Fragen stellen, da tritt <strong>es</strong> in äußerst extremen Formen auf.“ lautete<br />

seine Reaktion. Me<strong>ist</strong>ens verstanden wir uns auf Anhieb, <strong>es</strong> schien nur Wenig<strong>es</strong>,<br />

das dezidiert geklärt werden musste. Wir verstanden uns auch, als um<br />

drei Uhr in der Nacht Dominique nackt am Flügel sitzend sang: „Ich liebe dich,<br />

so wie du mich, Am Abend und am <strong>Morgen</strong>.“, ich mich an seinem Rücken rieb,<br />

ihn ständig küssend unterbrach, und Dominique so oft neu beginnen musste,<br />

dass ich Beethovens „Zärtliche Liebe” auch schon fast singen konnte.<br />

<strong>Morgen</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät – Seite 36 von 36

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