Die Muster- knaben - Rondo
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Le sacre du<br />
printemps:<br />
Rekonstruktion<br />
im Mariinsky<br />
Theater 2008<br />
Le sacre du printemps<br />
Prähistorischer Jazz<br />
Vor 100 Jahren wurde in Paris Igor Strawinskis „Le sacre<br />
du printemps“ uraufgeführt – mit einem der größten<br />
Skandale der Musikgeschichte. Von Guido Fischer<br />
Am 31. März 1913<br />
wurde auf der Pariser<br />
Nobel-Avenue Montaigne<br />
Nr. 15 das<br />
Théâtre des Champs-Elysées mit<br />
einem Festkonzert eingeweiht.<br />
Auf dem Programm stand Hector<br />
Berlioz´ „Benvenuto Cellini“. Und<br />
auch der anwesende europäische<br />
Hochadel zeigte sich hellauf begeistert.<br />
Der Eröffnungstusch für<br />
die „Grande Saison“ war also geglückt.<br />
Doch Intendant Gabriel<br />
Astruc ahnte da noch nicht, dass<br />
sein schmucker Art Déco-Tempel<br />
bereits knapp zwei Monate später<br />
in seinen Grundfesten erschüttert<br />
werden sollte.<br />
Dabei hatte Astruc bei seiner<br />
Saisonplanung zumindest formal<br />
10<br />
alles richtig gemacht, als er Igor<br />
Strawinski und die „Balletts<br />
russes“ für den Mai einlud. Denn<br />
dank der erfolgreichen Uraufführungen<br />
von Strawinskis<br />
Balletten „Der Feuervogel“ (1910)<br />
und „Pétrouchka“ (1911) galten<br />
der Komponist und die Kompanie<br />
in Paris als neue Sensation. „Aller<br />
guten Dinge sind drei“, dachte<br />
sich Astruc und engagierte nun<br />
das Erfolgsteam, um Strawinskis<br />
„Le sacre du printemps“ in der<br />
Choreografie von Waslaw Nijinski<br />
auf den Brettern des Théâtre des<br />
Champs-Elysées aus der Taufe zu<br />
heben. Bei der Generalprobe verlief<br />
noch alles ruhig. Am 29. Mai<br />
1913 aber, am Premierenabend,<br />
erlebte das Haus eine einzige<br />
Publikumsexplosion. „Schon bald<br />
nach dem Aufgehen des Vorhangs<br />
begann man zu miauen und laut<br />
Vorschläge für den Fortgang der<br />
Vorstellung zu machen“, so der<br />
Musikkritiker Carl van Vechten.<br />
„Ein junger Mann, der hinter mir<br />
in der Loge saß, stand während<br />
des Balletts auf, um besser zu<br />
sehen. <strong>Die</strong> starke Erregung, unter<br />
der er litt, verriet sich darin, dass<br />
er regelmäßig mit seinen Fäusten<br />
auf meinen Kopf trommelte.<br />
Meine Aufregung war so groß,<br />
dass ich die Schläge eine Zeit lang<br />
gar nicht spürte.“ Je länger die<br />
Vorstellung dauerte, desto mehr<br />
ging man auf die Barrikaden. Hier<br />
duellierte man sich mit Schirmen.<br />
Dort ohrfeigte eine feine Dame<br />
einen jungen Herrn. Der Skandal<br />
war perfekt.<br />
Von dem Tumult von einst hat<br />
sich das edle Haus in der Avenue<br />
Montaigne natürlich längst erholt.<br />
Und Strawinskis Werk zählt<br />
zu den meisteingespielten Evergreens<br />
der klassischen Moderne<br />
(aktuell führen die CD-Kataloge<br />
rund 130 Einspielungen). Angesichts<br />
seiner tiefen Verwurzelung<br />
in der russischen Volksmusik<br />
sowie der fehlenden Komplexität<br />
in der Harmonik hinkte „Le<br />
sacre du printemps“ zu seiner<br />
Entstehungszeit eigentlich<br />
schon hinter den Revolutionen<br />
her, die Claude Debussy und die<br />
Wiener Zwölftonkollegen ausgelöst<br />
hatten. Doch mit seiner<br />
„Emanzipation des rhythmisch<br />
Percussiven“ schuf er Musik<br />
von einer geradezu primitiven<br />
Urgewalt, die das Archaische<br />
im Menschen anzusprechen<br />
scheint. Bei aller komplexen Polyrhythmik,<br />
auf die später ebenfalls<br />
Bartók, Varèse und Xenakis<br />
setzten, wird man instinktiv<br />
vom scheinbar Vertrauten angezogen.<br />
Wohl auch deshalb gilt<br />
Strawinskis „Frühlingsopfer“ als<br />
zeitloser Meilenstein der Musikgeschichte,<br />
der dementsprechend<br />
anlässlich des 100. Jahrestages<br />
seiner Uraufführung umfassend<br />
vom CD-Markt gewürdigt wird.<br />
Foto: Bel Air