BJV Report 4 / 2013 - Bayerischer Journalisten Verband
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Medienszene<br />
Wir im <strong>BJV</strong><br />
Ironie im Rettungsboot<br />
Der Postillon aus Fürth parodiert Nachrichten –<br />
und ist jetzt mit dem Grimme Online Award<br />
ausgezeichnet worden<br />
Von Senta Krasser<br />
Ganz England, ach was, die ganze Welt rastete<br />
am 22. Juli aus, als im Londoner Stadtteil Paddington<br />
mit der Geburt von Kates und Williams<br />
Sohn die britische Monarchie gesichert<br />
wurde. Die Zeitungen und News-Sendungen<br />
überschlugen sich mit Jubel über den fast vier<br />
Kilo Wonneproppen. Eine Zeitung, Der Postillon<br />
aus Fürth, jubelte aber nicht mit.<br />
„England entsetzt: Royal Baby leidet unter<br />
seltener Erbkrankheit ,Windsor‘“, titelte<br />
exklusiv das fränkische Online-Blatt, das im<br />
mit Posthorn und Steckenpferd dekorierten<br />
Zeitungskopf verspricht, „ehrliche Nachrichten“<br />
zu liefern, „unabhängig, schnell“, und<br />
das immerhin „seit 1845“. Im Text war dann<br />
zu erfahren, und niemand dürfte daran zweifeln<br />
können, dass der Sohn von Prinz William<br />
und Herzogin Katherine „schon jetzt unter<br />
schwülstigen Titeln“ leide und „Zeit seines Lebens<br />
nie einen normalen Beruf ausüben können“<br />
werde.<br />
Es ist vielleicht die einzig richtige Art, um<br />
mit der Medienhysterie um das Royal-Baby<br />
umzugehen. Es ist die Art von Stefan Sichermann.<br />
Und sie heißt: Satire. Täglich frisch<br />
parodiert der Mit-Dreißiger, was die vermeintlich<br />
seriösen Nachrichten hergeben. Er<br />
imitiert dabei den trockenen, sachlichen Stil<br />
einer Agenturmeldung und stößt dabei, mal<br />
mehr mal weniger gelungen, zum Kern der<br />
Wahrheit vor.<br />
Bereits 2010, zwei Jahre nach der Gründung,<br />
gewann der Postillon bei den von der<br />
Deutschen Welle veranstalteten The BOBs<br />
Auszeichnungen als das beste deutsche Weblog.<br />
Seit Juni schmückt sich die Satireseite nun<br />
mit gleich zwei Grimme-Online-Awards. Sowohl<br />
die Jury in der Kategorie Information als<br />
auch das Publikum fand seine Humorarbeit<br />
ausgezeichnet. In der Jury-Begründung heißt<br />
es anerkennend: „Die Ironie ist in Gefahr, in<br />
der Informationsflut zu ertrinken. Aber Der<br />
Postillon hat ihr ein Rettungsboot geschickt.“<br />
Einziger Mann an Bord ist Stefan Sichermann.<br />
Seit 2008 macht er den Chefredakteur,<br />
Herausgeber, Webmaster, Marketingleiter<br />
in Personalunion. Und er ist, zumindest was<br />
Facebook-Fans betrifft, der satirischen Konkurrenz<br />
davon gerudert. Die altehrwürdige<br />
Titanic müsste schon mehr Dampf machen,<br />
um die 150.000 „Gefällt mir“-Angaben des<br />
Postillon zu übertrumpfen.<br />
Auch wenn Sichermann noch zweifelt, ob<br />
das mit der Zählerei im Internet mit rechten<br />
und vergleichbaren Dingen zugeht – sein Postillon<br />
avanciert zur erfolgreichsten Satire-Zeitung.<br />
Längst gibt es „Line-Extensions“, also<br />
Weiterentwicklungen der Marke Postillon.<br />
So sendet Bayern 3 montags bis freitags die<br />
Postillon24 Nachrichten. Ihr unschlagbares<br />
Motto: „Wir berichten, bevor wir recherchieren!“<br />
Präsentiert werden die einminütigen<br />
Satire-Happen von Bayern3-Comedian Thieß<br />
Neubert. Ausgedacht haben sie sich Sichermann<br />
und seine rege Lesercommunity, die im<br />
Web erstaunlich gesittet nach dem nächstbesten<br />
Wortwitz der Sorte „Das Ende vom Lid:<br />
Wimpern“ mit sucht. Ein Best-of erscheint als<br />
Newsticker auf der Postillon-Seite.<br />
Thieß Neubert ist auch der Anchor der<br />
Postillon24-Nachrichten, die auf Youtube laufen<br />
Dort muss man schon zweimal hingucken,<br />
um die Fake-News nicht mit den echten<br />
News von zum Beispiel N24 zu verwechseln,<br />
so professionell und täuschend echt werden<br />
sie von einem Kölner Team im Green Room<br />
produziert. Derzeit steht Sichermann in Verhandlungen<br />
mit einem Web-TV-Anbieter, sodass<br />
es womöglich noch in diesem Jahr neue<br />
Postillon24-Clips geben könnte.<br />
Eigene Online-Zeitung, renommierte Preise,<br />
ausreichend Werbekunden – bei so viel Erfolg<br />
muss die Frage erlaubt sein: Macht Lachen<br />
reich? Reich nicht, winkt Sichermann ab. Aber<br />
er könne ganz gut, wenn auch bescheiden von<br />
den Spenden und Werbeeinnahmen leben, die<br />
er über Werbenetzwerke wie Google AdSense<br />
generiert. Auf ein eigenes Auto verzichtet er.<br />
Dass er es in fünf Jahren überhaupt so weit<br />
gebracht hat, führt der Postillon-Chef auf seine<br />
Hartnäckigkeit zurück. „Ich habe klein<br />
angefangen und Artikel schreiben erst beim<br />
Postillon gelernt. Irgendwann wusste ich, wie<br />
es funktioniert. Dass ich mich dann in die<br />
Kontinuität gezwungen habe, hat zum Erfolg<br />
beigetragen.“<br />
Stefan Sichermann studierte Alte und<br />
Mittlere Geschichte und englische Linguistik.<br />
Er wollte Journalist werden. Außer einem<br />
Praktikum bei den Lübecker Nachrichten kam<br />
nichts herum. Notgedrungen ging er in die<br />
Werbebranche, nach Hamburg, und wurde<br />
Werbetexter. Hauptsache schreiben, egal was.<br />
Nebenbei zog er sein eigenes Zeitungs-Projekt,<br />
den Postillon, hoch.<br />
Irgendwann wurde die Internet-Sache zu<br />
arbeitsintensiv. Acht Stunden in der Agentur<br />
texten, fünf Stunden zuhause texten – Sichermann<br />
quittierte den sicheren Job und zog mit<br />
Frau und Kind zurück in die fränkische Heimat,<br />
wo er nun tagtäglich im Kinderzimmer<br />
(das Kind ist noch klein) überm Laptop grübelt,<br />
wie er am besten unterhalten könnte.<br />
Denn der Unterhaltungsgedanke, sagt Sichermann,<br />
stehe bei ihm ganz weit vorn. „Ich<br />
habe großen Spaß daran, lustige Sachen zu<br />
machen. Ich freue mich über jeden, der sich<br />
28 <strong>BJV</strong>report 4/<strong>2013</strong>