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Ehrenpflicht - DIR

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Wien, 2 6 . April 1911.<br />

Einzelexemplar 1 0 Heller<br />

4. Jahrgang. Nr. 8.<br />

Der „W. f A."<br />

erscheint jeden<br />

2. u. 4. Mittwoch<br />

im Monat. Redaktion<br />

und Expedition<br />

Wien,<br />

XIV. Bez., Märzstraße<br />

3, II/16<br />

Gelder sind zu<br />

senden an<br />

Rud. Großmann,<br />

Klosterneuburg,<br />

Kierlingerstr. 183<br />

Abonnementspreis<br />

mit freier<br />

Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig<br />

K 3 — ;<br />

halbjährig K 1.50.<br />

Für die Länder<br />

des Weltpostvereines<br />

ganzjährig<br />

Fr. 3-50,<br />

halbjähr.Fr.1-75,<br />

vierteljähr. 90 Ct.<br />

Mit monatlichem literarischem Beiblatt „ O h n e H e r r s c h a f t "<br />

De Prorfundis: Mai 1911. — Paul Barthol: Maientraum. — Der 1. Mai und die politischen Wahlen. — E. Pataud und E Pouget- Wie<br />

Inhalt: wir Revolution machten". Aimee Köster: Was verstehen wir unter Anarchismus? — Ohne Herr.<br />

schaft: Reginald Wright Kauffman: Der Zug der Hungernden. — William Morris: Wie wir die öffentlichen Angelegenheiten regeln. — Richard Freund: Der<br />

Mensch. — Aus der Internationale: Francisco Ferrer und seine Mission vor den österreichischen Gerichtsschranken (Prozeß Großmann). — Aufruf an die<br />

Freunde und Mitkämpfer. — Diversa.<br />

Mai 1911.<br />

Um die K a m m e r n d e r L a r v e n<br />

B r a u s t d e r M a i e n s t u r m ,<br />

Es s i n g e n d e r B ä u m e Harfen :<br />

„Auf, e r w a c h e du W u r m ! "<br />

Und ein m ä c h t i g D r ä n g e n<br />

Geht d u r c h ' s b l ü h e n d e Land,<br />

Mensch, nun mußt du s p r e n g e n<br />

Dein e i s e r n F e s s e l b a n d ,<br />

W i l l s t d u i m m e r und i m m e r<br />

W i n s e l n d e r S k l a v e s e i n ?<br />

Aus d e i n e m m ü d e n G e w i m m e r<br />

S c h a l l e ein s t o l z e s „ N e i n ! "<br />

Du bist s t a r k e s L e b e n ,<br />

Auf, e r k e n n e d i e Kraft!<br />

Nicht a n d e m Alten k l e b e n ,<br />

Heißt es für d e n , der schafft.<br />

Der Kettenreif v o n g e s t e r n<br />

Sei h e u t e z e r s c h e l l t ,<br />

Mit f r e i e n Brüdern u n d S c h w e s t e r n<br />

Forme d i e n e u e W e l t ,<br />

Von d e m Lichte g e t r o f f e n<br />

Die N a c h t um d i c h entflieht,<br />

S i n g e mit g l ü h e m Hoffen<br />

Dein n e u e s M a i e n l i e d .<br />

„Will t r a g e n nur s t o l z e G e d a n k e n<br />

Hinter d i e s e r Stirn,<br />

Nicht an der K n e c h t s c h a f t kranken<br />

Soll mir Herz und Gehirn.<br />

Ich will n i c h t s t a u b v e r l o r e n<br />

W i e d a s G e w ä n n e s e i n ;<br />

Ich will, a l s M e n s c h g e b o r e n ,<br />

Kämpfer und S i e g e r s e i n ! " .<br />

De Profundis.<br />

Maientraum.<br />

Wunderbaren Traum in schöner Maiennacht<br />

habe ich erlebt; eine süße, eine<br />

schmeichelnde, duftige Luft zieht mich in<br />

ihren Zauberbann. Der Mond breitet sein<br />

bleiches Licht über Wald und Flur. — Die<br />

Natur ist im Liebesrausch — überall flüsterts<br />

leise, es raunt aller Orten. Die Jugendschöne<br />

in der Natur — das Knospen,<br />

Blühen, Duften — das Schwirren und<br />

Zirpen der Insekten — das Liebeslied der<br />

Nachtigal im blühenden Busch — alle Kreaturen<br />

in Liebe und Schönheit gebadet —<br />

ein Zauberreich der Liebe und Schönheit<br />

prangt in seliger Jugend. Es klingt und<br />

singt in meinen Ohren — noch nie gehörte<br />

Melodien — ein Sphärengesang in melodischer<br />

Fülle — ein trunkenes Reich voll<br />

duftender, blühender, tönender Schönheitsfülle<br />

wird meinen Sinnen geoffenbart.<br />

Wie die Quellen rinnen und rieseln,<br />

so rieselt es auch durch meinen Körper —<br />

ein Erschauern der Seele empfinde ich —<br />

eine nie gekannte Seligkeit steigt empor<br />

aus Herzenstiefen — ich bin verwebt im<br />

holden Maientraum. Eine Sehnsucht überkommt<br />

mich, die nach Erlösung schmachtet<br />

- eine Liebe, die glühend heiß in meinen<br />

Adern pocht — eine Liebe, die nimmer<br />

aufhört, durchflutet meine Seele. —<br />

So vergeistert mit dem All, sehe ich<br />

plötzlich auftauchen eine hehre Frauengestalt<br />

in nackter, keuscher Schönheit; eine<br />

Reinheit, eine gottvolle Weihe durchströmt<br />

die edlen Glieder ihres Körpers; — einen<br />

helleuchtenden Stern auf ihrem Haupte,<br />

schreitet sie mit beschwingten Sohlen geräuschlos<br />

schnell durch die Gefilde, und<br />

wo sie hinschreitet, erblühen duftende Rosen,<br />

erstehen neue Gebilde der Schönheit in<br />

wunderbarerer Harmonie. —<br />

Selig trunken eile ich ihr nach — aber<br />

wenn ich wähnte, ganz nahe zu sein, war<br />

sie meinen Blicken bald wieder entschwunden;<br />

hoffnungslos saß ich auf grünender<br />

Flur — da auf einmal ganz schwach leuchtend,<br />

sehe ich den Stern wiederum auf<br />

ihrem Haupte glänzen — mit neuem Mute<br />

durcheile ich die Auen, bis sie auf einmal<br />

plötzlich vor mir steht.<br />

Hochaufgerichtet in gottvoller Hoheit<br />

blickt die Göttin zu mir nieder. Venus<br />

Urania, tönt es aus meinem Munde, du<br />

himmlische hochgeistige Liebe, bleibe doch<br />

bei mir!<br />

„Was willst du von mir, warum verfolgst<br />

du mich, gehe zu deinen Menschen,<br />

denn du begreifst mich nicht."<br />

Venus Urania,*) nur in dir kann ich<br />

noch leben, nur in deiner Luft kann ich<br />

noch atmen, nur in dir Freude und Beseligung<br />

finden, nur in dir liegt mein Glück<br />

— alles verlasse ich und folge dir auf<br />

allen Stegen; ich reiße mich los von allen<br />

Fesseln — dir nur bin ich ergeben, dir<br />

will ich mich weihen; dein Prophet will<br />

ich sein! Der Schönheit, die in deinen<br />

Werken ewig jung und neu gebärend deinem<br />

Leib entsprießt, will ich ein Dichter werden<br />

und will verkünden und laut preisen die<br />

Wunderwerke deiner in ewiger Jugend<br />

prangenden Naturgebilde, in denen du ja<br />

lebst und webst, denen du Seele eingehaucht,<br />

mit denen du verwachsen zu einem<br />

Leib, — dich will ich umarmen, und Seligkeit<br />

trinken von deinem Lieben! Millionen<br />

Sterne lugen auf uns nieder, auf unser<br />

Brautbett nieder, wo der Genius des Menschen<br />

dir vermählt. — Natur und Menschengeist<br />

innig verwebt, so wird d e r f r e i e<br />

M e n s c h in deiner Umarmung erstehen;<br />

*) Venus Aphrodite war den Griechen die<br />

Vorstellung der Göttin der Schönheit und Liebe,<br />

wie der Zeugungskraft in der Natur. Später wurde<br />

sie durch Piaton unter dem Beinamen Urania (sonst<br />

die Muse der Astronomie) ein rein geistig-idealistisches<br />

Prinzip der edelsten Weiblichkeit.<br />

Anm. d. Red.<br />

der freie Mensch, losgelöst von allen<br />

Schranken, wird auf den Fittigen seiner<br />

Seele emporsteigen zu deiner Göttlichkeit:<br />

Venus Urania; — wird mit Inbrunst und<br />

Liebe eindringen in deinen göttlichen Leib<br />

und die Rätseln deines göttlichen Daseins<br />

entziffern, und wird dann leben in dir; wir<br />

werden eins sein, und ich werde frei sein<br />

von allen Erdenketten; der freie Geist des<br />

Menschen zieht als Triumphator durch die<br />

heiligen Hallen der Natur.<br />

Als Gottmensch wandle ich durch Wald<br />

und Au; die Liebe selbst, die nun alles<br />

durchgeistigt, alles durchdringt, alles belebt<br />

auf diesem Erdenrund, wird die Welt erlösen;<br />

wird schaffen das Land der Sehnsucht<br />

aller Freien uud Gleichen.<br />

i<br />

— — Ein tiefer Blick aus ihren Augensternen<br />

voll glücksverheißender Wonne beseligt<br />

mich. —<br />

Wie in einem Nebel gehüllt, verliere<br />

ich sie allmählig aus den Augen; Ich irre<br />

ratlos hin und her — klagende Laute klingen<br />

aus meiner Seele, trostlos starre ich in<br />

die Ferne. Da auf einmal fliegt in wunderbaren<br />

Traumgestalten: die Schönheit, die<br />

Wahrheit, die Freiheit kaleidoskopartig an<br />

mir vorüber. Meine Seele wird berauscht<br />

vom Glücksgefühl — ich trage nun auch<br />

die Göttlichkeit an meiner Stirne: Meine<br />

Phantasie trägt mich empor zu den Sternen,<br />

meine Seele wird beschwingt und erklingt<br />

in symphonischer Dichtung — ganz neue<br />

Gedankengänge zucken durch mein Hirn<br />

— die in plastischen Phantasmagorien sich<br />

offenbaren.<br />

Jahrtausende ziehen vorüber, immer<br />

neue Geschlechter wandeln den Pfad des<br />

Lebens und des Todes, immer dasselbe<br />

grandiose Schauspiel und doch unendlich<br />

verschieden in den Einzelschicksalen; aber<br />

alle müssen folgen dem Gesetz des Todes;<br />

ein kalter Schauer durchrieselt meinen Körper,<br />

immer schwächer werden die Gestalten,<br />

bis ein dichter Nebel alles verhüllt.<br />

— — — Plötzlich erwache ich. Mein<br />

liebes Weib liegt an meiner Seite; der<br />

Maienmorgen ist emporgetaucht in goldigem<br />

Lichte. Die rauhe Wirklichkeit mit ihren<br />

Kämpfen und Ringen ums tägliche Brot<br />

beginnt vom neuem. Der göttliche Traum<br />

ist verflogen, aber ein inneres Glücksgefühl<br />

ist geblieben.<br />

Paul Barthol.<br />

<strong>Ehrenpflicht</strong><br />

e i n e s j e d e n G e n o s s e n i s t d i e P r o p a ­<br />

g a n d a u n d d i e W e i t e r v e r b r e i t u n g u n s e r e s<br />

B l a t t e s ! L e s e r , K a m e r a d , M i t k ä m p f e r —<br />

w i e v i e l e n e u e L e s e r h a s t D u d e m „Wohls<br />

t a n d f ü r Alle" s c h o n z u g e f ü h r t ?


Der 1. Mai<br />

und die politischen Wahlen.<br />

Stiller als je zuvor rückt diesmal der<br />

1. Mai heran. Unsere soziale und politische<br />

Atmosphäre ist erfüllt von einem schweren<br />

Druck, und wie ein lästiges Erinnern so<br />

steigt für die Masse der Arbeiterbewegung<br />

deutscher Zunge der 1. Mai aus dem Schoße<br />

des Jahres, denn er vermag leider so gar<br />

nichts Nerviges, Kraftvolles zu bieten. Nur<br />

die, welche mit glühender Liebe an diesem<br />

Tage hängen, die, wie wir, in ihm einen<br />

Erschütterungstag der kapitalistischen Weltordnung<br />

erblicken, können den Schmerz<br />

fühlen, der Herz und Sinn eines jeden<br />

Kämpfers erfassen muß, wenn man sieht,<br />

wie unendlich nichtig der 1. Mai in seinem<br />

Wesen, in seiner Aktionsform und seinem<br />

Auftreten geworden. Und nicht seine Feinde,<br />

die Herrschenden und die Unternehmerklasse,<br />

nein, seine falschen, heuchlerischen<br />

Freunde, die halben Menschen und verschlagenen<br />

Politikanten in der Arbeiterbewegung,<br />

sie sind es, die ihm ein Sterbegeleite bereitet<br />

haben und mit jedem ersten Mai mehr<br />

bereiten.<br />

Um das revolutionäre Empfinden im<br />

Proletariat wach zu halten, dazu wurde der<br />

1. Mai geschaffen. Schweißgeboren aus<br />

machtvollen wirtschaftlichen Kämpfen der<br />

amerikanischen Arbeiterklasse, die in den 80er<br />

Jahren eben fast immer im 1. Mai einen<br />

Kulminationspunkt erreichten, wollten die<br />

Arbeiter der Vereinigten Staaten und Frankreichs<br />

aus diesem Tage einen großen<br />

Aktionstag gestalten, der das erste und<br />

vielverkündende Glockengeläute eines Grabgesanges<br />

für die sterbende Welt der alten<br />

Lohnsklaverei sein sollte. Das Volk braucht<br />

solche Tage, an denen es ruck- und stoßweise<br />

die noch nachhaltige Macht des Kapitalismus<br />

erprobt, an denen es sein ganzes<br />

Ich aufpflanzt, gegenüber dem System, an<br />

denen die Arbeiterklasse entscheidende<br />

Vorwärtsbewegungen macht, die über die<br />

Grenzen der gegebenen Unfreiheit und<br />

Lohnhörigkeit hinausführen. Und kein Tag<br />

eignete sich besser dazu, als der l . M a i ,<br />

der Tag des Frühlingserwachens und der<br />

herrlichen fruchttragenden Natur, der die<br />

Wahrheit einer ewigen unendlichen Auferstehung<br />

in Natur und Gesellschaft mit<br />

tausend Zungen verkündet. Die wirtschaftlichen<br />

Fesseln mußten und sollten an diesem<br />

Tage nach Maßgabe des geistigen Reifegrades<br />

des sozialen Intellektes im Volke<br />

erschüttert und behoben werden; ein Stück<br />

des alten wirtschaftlichen Druckes abgeschüttelt<br />

und der 1. Mai gewissermassen<br />

ein großer alljährlich wiederkehrender Tag<br />

wirtschaftlicher Erhebung der Massen des<br />

arbeitenden Volkes werden, an dem diese<br />

sich nicht damit begnügen zu feiern —<br />

was ihnen durch die für Tausende fast<br />

chronisch gewordene Arbeitslosigkeit schon<br />

ohnedies unfreiwillig aufgedrängt wird, —<br />

sondern an dem die Proletarier durch ihre<br />

wirtschaftliche Aktionskraft und -Macht, in<br />

gemeinsamer Solidarität einheitliche soziale<br />

Forderungen erkämpfend, proklamieren und<br />

auch durchsetzen sollten.<br />

Ein Manifestationstag der praktischen<br />

universellen Aktion gegen das gesamte<br />

System der staatlichen Monopolisierung des<br />

Eigentumes, der erpresserischen Ausbeutung,<br />

die an Millionen bewußter, wie unbewußter<br />

Arbeiter verübt wird, und ein praktisches<br />

Handeln für Augenblicksforderungen<br />

wirtschaftlicher Vorteile, die als Brücke<br />

dienen würden zur werdenden Kollektivmacht<br />

der ganzen wirtschaftlichen Umwälzung<br />

— dies sollte der 1. Mai sein!<br />

In der Tat, es ist anders geworden<br />

und gekommen, und nichts ist so demonstrativ<br />

für die Verflachung der Arbeiterbewegung,<br />

als gerade die Art der Begehung<br />

des 1. Mai durch die sozialdemokratischen<br />

Parteimenschen. Gleich im Anfang erkannten<br />

die Drahtzieher und Politiker dieser<br />

Bewegung mit vollem Recht, daß in der<br />

1. Mai-Idee die Keimzelle der praktischen<br />

Betätigungsformen des wirtschaftlichen Generalstreikes<br />

gelegen ist und daß die Entwicklung<br />

dieser Idee naturnotwendig zu<br />

einer revolutionären Gestaltung der Klassenkämpfe,<br />

zu einer völligen Umwälzung der<br />

heiliggesprochenen Taktik der Beteilung an<br />

den bürgerlich-parlamentarischen Wahlen<br />

führen müsse. Wenn sie auch nicht die Idee<br />

selbst ersticken konnten, so setzten sie, besonders<br />

die Machthaber der reichsdeutschen<br />

Sozialdemokratie, doch die ganze Wucht ihrer<br />

Parteimaschine dafür ein, daß dieser Idee<br />

die blut- und lebensvolle Kraft der Aktion<br />

genommen würde. Und dies gelang ihnen.<br />

Der 1. Mai ist immer mehr ein Tag des<br />

mehr oder minder, aber stets bloßen allgemeinen<br />

Feierns geworden; zuerst sehr gefürchtet<br />

von Seite der Ausbeuter, ist er<br />

heute auch ihr Ruhe- und Blumenkorsotag,<br />

und er stellt sich um so billiger, als die<br />

breitesten Arbeitermassen damit, daß sie<br />

feiern, auch ihren Taglohn verlieren, ohne<br />

das Geringste durch ihren 1. Mai zu gewinnen.<br />

Gewiß, ein Demonstrationstag des<br />

riesenhaften Spazierganges und Umzuges<br />

ist der 1. Mai international, aber wie die<br />

Verhältnisse liegen, ist er für die herrschende<br />

Klasse auch gleichzeitig ein sichtbarer<br />

Maßstab für die sie sehr erfreuende Erscheinung,<br />

wie stark die Massen noch im<br />

Banne des Disziplinwortes der politischen<br />

Führer stehen, wie weit sie noch von selbständiger<br />

direkter Aktion entfernt sind, und<br />

wie mächtig ihre Führer noch darin sind,<br />

sie vor jeder selbständigen direkten Aktion<br />

fernzuhalten.<br />

Kein Brimborium der Phrase und kein<br />

Trommelwirbel der Demagogie kann diese<br />

eine hervorstechende Tatsache verdecken,<br />

daß der 1. Mai aufgehört hat, ein furchterregender,<br />

achtunggebietender Tag für diese<br />

kapitalistische Monopolklasse zu sein; sie<br />

hat in über zwei Jahrzehnten es durchschauen<br />

gelernt, daß ihr der 1. Mai auch<br />

noch nicht das kleinste Privilegium ihrer<br />

Ausbeutung entrissen hat. Einmal, in Frankreich,<br />

im Jahre 1906, da erwies sich der<br />

1. Mai als das, w a s er sein wollte und im<br />

Wirbelsturme eines dreitägigen Generalstreikes<br />

wurde in elf Gewerben der Achtstundentag<br />

durchgesetzt, und eine Reihe<br />

anderer kleinere Vorteile erzwungen; aber<br />

für das Land einer entwickelten Arbeiterbewegung,<br />

wie Frankreich sie besitzt, verliert<br />

der Tag des 1. Mai eben dadurch<br />

seine überragende Bedeutung, daß die<br />

wirtschaftlichen Vorstöße der französischen<br />

Arbeiterklasse sich nicht auf e i n e n b e ­<br />

stimmten Tag konzentrieren lassen. Die<br />

großen sozial-revolutionierenden Streike und<br />

Kämpfe der französischen Arbeiterklasse<br />

erfüllen die verschiedensten Tage im Kalenderjahre<br />

und es ist nicht zu verwundern,<br />

daß der l. Mai — der allerdings in Frankreich<br />

rein demonstrativ international noch<br />

immer am besten begangen wird! — nicht<br />

jene Konzentration der Streitkräfte an diesem<br />

Tage vorfindet, wie sie der 1. Mai in Ländern<br />

wie Deutschland und Österreich, die<br />

absolut keine vorwärtsbewegenden sozialwirtschaftlichen<br />

Kämpfe das ganze Jahr<br />

führen, finden müßte.<br />

Überall, wo der 1. Mai nicht ein großer<br />

Entschließungstag zur Aktion ist, überall'<br />

dort ist er eine hohle Nuß, ein Tag eitler<br />

Selbsttäuschung, ein Tag der Phrase und<br />

hat nichts zu tun mit der werdenden Wirklichkeit<br />

der menschlichen Befreiungsidee.<br />

Bei uns in Österreich artet der kommende<br />

1. Mai diesmal in eine wahre und<br />

unverhüllte Prostituierung aller und jeder<br />

Ideentendenzen dieses in seiner Wiege so<br />

revolutionären, in seinen Jünglingsjahren<br />

schon so matten, entkräfteten Tages aus.<br />

Die Wahlen stehen vor der Tür und für<br />

sie wird der 1. Mai ausgenützt. Dieselben<br />

Parlamentarier, die im Parlament für den<br />

gesetzlichen Zehnstundentag 1889 bis<br />

1911! — eintreten und von allmählicher<br />

Verkürzung auf acht Stunden schwätzen,<br />

dieselben Herren werden den 1. Mai benützen<br />

als Wahltrommeln für ihre Kandidaturen.<br />

Niederträchtigeres kann es nicht<br />

mehr geben, als den Tag der Selbstaktion<br />

für den achtstündigen Arbeitstag, den<br />

Tag des selbständigen wirtschaftlichen<br />

Kampfes in einen Betteltag an die gesetzgebenden<br />

Körperschaften des Klassenstaates,<br />

umzuwandeln und ihn dazu zu benutzen,<br />

seine Aktion durch leere Schönschwätzerei<br />

im Parlamente zu ersetzen, seine soziale<br />

Bedeutung für die Massen durch die gemein-egoistische<br />

Streberei für das persönlichste<br />

Ichwohl von Politikern verdrängen<br />

zu wollen.<br />

Und was könnte nicht alles durch die<br />

Proklamierung der Generalstreikaktion des<br />

1. Mai gewonnen werden! Am 1. Mai werden<br />

in Wien neuerliche Zinssteigerungen vorgenommen<br />

werden, wenn unsere Propaganda<br />

für den Mieterstreik, der von den Sozialdemokraten<br />

aufs wütendste bekämpft wird,<br />

es nicht vermocht hat, diese Mietzinssteigerungen<br />

hintanzuhalten. Hier wäre die<br />

augenblicklich zweckmäßigste Kampfparole<br />

einer weihevollen Begehung des 1. Mai<br />

gegeben, wenn die österreichische Arbeiterschaft<br />

zu hunderttausenden erklären würde,<br />

daß sie den Mieterstreik für eine mindestens<br />

25%ige Ermäßigung der Mietzinse proklamiert,<br />

nachdem sie durch eine mindestens<br />

35%ige Steigerung aller Lebensmittel und<br />

Zinse während der letzten Jahre außerstande<br />

gesetzt wird, die alte Miete zu bezahlen.<br />

Männer und Frauen des Proletariats<br />

könnten hier im gemeinsamen Widerstande<br />

gegenüber dem Mietzinswucher eine Kampfaktion<br />

einleiten, die in ihrer weiteren Entwicklung<br />

führen würde zur Beseitigung des<br />

Ausbeutungsmonopols über den Grund und<br />

Boden durch eine handvoll Großgrundmonopolisten,<br />

die in ihrer Monopolmacht<br />

geschützt und gestützt werden durch das<br />

gewaltigste, entsetzlichste Herrschaftsmonopol,<br />

das es gibt und unter dem die<br />

Gesellschaft lastet und seufzt: den Staat!<br />

Wie zwecklos hat sich das ganze<br />

Parlament von 1907 bis 1911 für die<br />

Arbeiterklasse Österreichs erwiesen! Die<br />

armseligsten Forderungen bezüglich des<br />

gesetzlichen Maximalarbeitstages auf zehn<br />

Stunden, des Achtstundentages für die ununterbrochenen<br />

Betriebe, eines Schutzgesetzes<br />

für die Bäcker, der Erhöhung der<br />

Bezüge der Eisenbahner, Postbediensteten<br />

— Dinge, die im praktischen Leben schon<br />

wesentlich von den betreffenden Arbeiterkategorien<br />

s e l b s t durch den Streik durchgeführt<br />

worden sind, im Parlament konnten<br />

sie keine gesetzliche Annahme finden! Schon<br />

dieses beweist die öde Zwecklosigkeit des<br />

Parlamentarismus, ganz abgesehen von<br />

seiner Ohnmacht gegenüber dem Herrenhause,<br />

für das das Parlament eigentlich nur<br />

eine Art Apportierhündchen ist, denn im<br />

Herrenhause liegt das Veto oder die Annahme<br />

aller vom Abgeordnetenhaus „beschlossenen"<br />

Gesetze, nicht in dem letzteren<br />

selbst. Und doch wagt man es, trotz<br />

dieser offenkundigen, vollständig ersichtlichen<br />

Klassenaufgabe des bürgerlichen Parlamentarismus:<br />

die sozialwirtschaftliche<br />

Massenaktion des Proletariats brach- und<br />

lahmzulegen, trotzdem wagen es die Demagogen<br />

sämtlicher Parteien, die alten und<br />

die neuen, dem Proletariat Versprechungen<br />

auf parlamentarische Hilfe zu geben, damit<br />

wohl wissend, daß sie dadurch die wirtschaftliche<br />

Aktionskraft des Volkes unterbinden,<br />

denn das Volk in seiner Leichtgläubigkeit<br />

hofft immer auf Hilfe von oben:<br />

vom Himmel, vom Staat oder von Parlamentsgötzen;<br />

und solange man es in dieser<br />

Hoffnung erhält, wird es genarrt und betrogen,<br />

kann es getäuscht werden.<br />

Und dieses Jahr wird der erste Mai<br />

es sein, der zu diesem Gaukelspiel benützt<br />

wird. All die Unmengen von persönlicher<br />

Tatkraft der Hunderttausende werden eingelullt,<br />

all die Millionen von Hellern und<br />

Kronen, die von dem Volke aufgebracht


Was wir unter Anarchismus<br />

verstehen.<br />

Die Konfusion, die die sozialdemokratischen<br />

Arbeiterführer und die bürgerliche<br />

Presse im Vereine mit ganz gewöhnlichen<br />

Parteiinteressenten in die Reihen der proletarischen<br />

Kämpfer getragen haben, ist so<br />

groß, daß wir es, um der Wahrheit und des<br />

Rechtes willen, als eine Notwendigkeit<br />

betrachten, eine Darstellung unserer Weltanschauung<br />

zu geben, trotzdem diese schon<br />

oft und in weit besserer Form schon wiederholt<br />

gegeben und die anarchistische Idee<br />

erläutert wurde.<br />

Unter Anarchismus verstehen wir jene<br />

ganz bestimmten Bestrebungen, die sich<br />

sowohl im philosophischen als ökonomischen<br />

und politischen Leben dagegen widersetzen,<br />

daß der Einzelne durch die Gesamtheit<br />

unterdrückt werde. Der Anarchismus erblickt<br />

diese Unterdrückung in der Gewaltsorganisation<br />

des Staates und aller seiner Funktionen<br />

gegeben; sein wichtigstes Streben ist deshalb<br />

die Beseitigung des Staates von allen<br />

Gebieten des gesellschaftlichen Lebens.<br />

Jeder kann beobachten, wie heute ein<br />

Teil der Arbeiterschaft sich mehr und mehr<br />

zentralisiert, gerade in jüngster Zeit sich<br />

freiwillig die Hände fesseln läßt und durch<br />

diese täglich sich vermehrenden Zwangsmittel<br />

seine persönliche Freiheit immer mehr<br />

verliert. Auf anderer Seite strebt ein anderer<br />

Teil der Arbeiterschaft nach Autonomie,<br />

nach vollständiger Freiheit im Denken und<br />

Handeln sowohl für jeden Einzelnen, als<br />

für die Gesamtheit. Um diese letztere große<br />

Umwälzung ist es uns Anarchisten zu tun!<br />

Es ist eine merkwürdige Erscheinung,<br />

daß gerade dann, wenn die Rufe nach Unabhängigkeit<br />

und Freiheit am lautesten<br />

tönen und die revolutionären Gelüste nach<br />

Dezentralisation und Föderalismus (freie<br />

Budesgemeinschaft) am stärksten sind, die<br />

politischen Parteien und auch die sozialdemokratischen<br />

Vereinigungen am stellvertretenden<br />

Sprachrohr der Gesellschaft, dem<br />

Staat, die harmloseste Kritik ausüben. Da<br />

werden alle Rechte, alle Sitten und Gebräuche,<br />

alle Gesetze, die dem Staate ermöglichen,<br />

das Leben, die Individualität der besitzlosen<br />

und beherrschten Masse zu unterjochen,<br />

nicht in Erwägung gezogen; es wird nur<br />

ersucht, sie zu "verbessern".<br />

Ohne Zweifel leben wir in der letzten<br />

Etappe der Gewaltherrschaft. Und fast<br />

scheint es uns, daß wir dem letzten und<br />

verzweifelten Ringen, der Auflösung des<br />

politischen Hampelmannes — des Staates<br />

— beiwohnen.<br />

Es ist ganz gewiß, daß man nicht nur<br />

in jenen Reihen, wo der Radikalismus<br />

anfängt, sondern auch bei den politischen<br />

Parteien und den führenden Klassen von<br />

Föderalismus spricht. Oberall wird die Gerechtigkeit<br />

proklamiert, die Gerechtigkeit in<br />

der Autonomie, überall ertönt der Schrei<br />

nach Freiheit, der den Einzelnen von der<br />

Gewalt anderer loslöst, damit die nationale<br />

Kollektivität zur Möglichkeit werde.<br />

Wohlan denn! D i e s e r b e s t ä n d i g e<br />

u n d a l l g e m e i n e T r i e b i s t i m s o z i ­<br />

a l i s t i s c h e n L e b e n a m k l a r s t e n<br />

u n d d e u t l i c h s t e n i m A n a r c h i s m u s<br />

d a r g e s t e l l t !<br />

Wir fordern für jeden Einzelnen vollständige<br />

Freiheit des Denkens und Handelns.<br />

Wir fordern für alle Gruppen der Gesellschaft,<br />

gleichgültig welcher Art sie auch<br />

sein mögen, die gleiche Freiheit, die wir für<br />

jeden Einzelnen verlangen. Die menschliche<br />

Gesellschaft kann nur existieren, wenn sie<br />

in ihrer Selbstbeherrschung ganz freies Spiel<br />

hat. Durch freie Übereinkünfte und Abmachungen<br />

sollen sich die Interessen Aller<br />

harmonisch begegnen und miteinander<br />

arbeiten. Auf die natürlichste Weise, ganz<br />

spontan, wird eine allgemeine Organisation<br />

des sozialen Lebens herauswachsen.<br />

Der größte Unterschied, der zwischen<br />

uns und den Liberalen, wie überhaupt<br />

bürgerlichen Republikanern besteht, ist der<br />

verschiedene Grundgedanke, der uns lehrt,<br />

das sozialistische oder kommunistische Verhältnis<br />

aller natürlichen und geschaffenen<br />

Reichtümer, den Boden, die Bergwerke,<br />

Handwerkzeuge, Fabriken, Lebensmittel etc.<br />

als Gemeineigentum aller zu betrachten.<br />

Und dieser unser Grundgedanke trennt uns<br />

ebenfalls vom Grundgedanken des absoluten<br />

liberalisierenden Individualismus, der nicht<br />

stehen bleiben und nachgeben will, wenn<br />

die Existenz anderer es wünschenswert<br />

macht. Er trennt uns auch von der Sozialdemokratie,<br />

die alle Produktionswerkzeuge<br />

v e r s t a a t l i c h e n und nicht den Arbeitern<br />

selbst überlassen will.<br />

Unsere Weltanschauung ist so klar, daß<br />

es gar nicht notwendig sein sollte, jene zu<br />

widerlegen. Die Autonomie, das Recht, sich<br />

selbst zu verwalten, kann ohne wirtschaftliche<br />

Unabhängigkeit nicht existieren. Wer verlangt,<br />

daß der Besitzende und Besitzlose,<br />

der Bourgeois und der Taglöhner weiter<br />

existieren, will die Abhängigkeit des einen<br />

Teiles aufrecht erhalten und ist es also für<br />

diesen Teil unmöglich, die wahre und<br />

wirkliche Freiheit auszuüben. Das Recht,<br />

sich selbst regieren zu dürfen, kann ja in<br />

den Gesetzesbüchern geschrieben sein, das<br />

genügt aber nicht, denn für jene, die ihre<br />

Arbeit verkaufen müssen, ist dieses Gesetz<br />

keine Wirklichkeit.<br />

Die Ungleichheit in den ökonomischen<br />

und sozialen Verhältnissen wird sie immer<br />

in eine unabhängige Stellung zwingen. Man<br />

kann also mit Recht sagen, daß erst die<br />

Gleichheit der wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

für alle der sichere Weg zur Freiheit aller ist.<br />

Das ganze Leben, sowohl das soziale,<br />

als auch das allgemeine Leben, bedeuten<br />

zu gleicher Zeit Freiheit und Solidarität. Es<br />

gibt keinen logischen Grund, der eine<br />

andere Wahrheit außerhalb der Wirklichkeit<br />

des Lebens aufbauen könnte. Die volle<br />

Freiheit jedes Einzelnen, nicht blos eines<br />

bestimmten A oder B, sondern a l l e r<br />

Einzelnen, kann nur aus der Solidarität aller<br />

herauswachsen. Wäre es denn möglich, frei<br />

zu sein, wenn die Interessen anderer<br />

Individuen uns abhängig machen können?<br />

Die Harmonie der Menschen untereinander,<br />

die freie Übereinstimmung, die Gemeinsamkeit<br />

des Lebens und der Existenzmittel<br />

sind unerläßlich, damit die Freiheit in Fleisch<br />

und Blut der Menschheit dringe. Will man<br />

den Endzweck außeracht lassen, so kann<br />

man ja auch sagen, daß die Freiheit der<br />

sicherste Weg zur Solidarität ist.<br />

Man kann daraus ersehen, daß die<br />

anarchistische Idee mit wirklichen Wahrheiten<br />

arbeitet, die zu jederzeit in der menschlichen<br />

Gesellschaft schlummerten. Der Anarchismus<br />

ist kein Traum, keine Utopie, er ist die<br />

notwendige und sichere Folge einer Reihe<br />

von Taten und Ideen, die in allen philosophischen<br />

Doktrinen, in allen Lebensanschauungen,<br />

in der Geschichte aller<br />

Länder verstreut sind.<br />

S o l i d a r i t ä t u n d F r e i h e i t s i n d<br />

d i e z w e i E n d p u n k t e , auf d e n e n d e r<br />

s o z i a l i s t i s c h e A n a r c h i s m u s b e r u h t .<br />

Jene, welche für die Erreichung von<br />

Nebensächlichkeiten kämpfen, Reformen vorschlagen,<br />

freiheitliche Ideen fingieren und<br />

Gerechtigkeitsliebe heucheln, mögen nur so<br />

fortfahren. Der gesunde Verstand der Völker<br />

weist diese bruchstückweise gebotene Weisheit<br />

und soziale Hilfe sehr bald zurück.<br />

Die Menschheit bedarf der g a n z e n Freiheit<br />

und der g a n z e n wirtschaftlichen Gerechtigkeit,<br />

nicht des Stückwerkes, denn das haben<br />

wir ja eigentlich.<br />

Mögen die Parlamentarier und die<br />

sozialdemokratische Presse in ihrer abscheulichen<br />

Arbeit der Lüge und Verstellung fortfahren.<br />

Schließlich wird und muß sich das<br />

Licht Bahn brechen, das die Machtgelüste,<br />

die sich hinter glänzenden Reden und<br />

schmarotzenden Hampelmännern verbirgt,<br />

in ihrer ganzen Nacktheit bloßlegt.<br />

Wir — und darunter verstehen wir die<br />

revolutionären, unermüdlich kämpfenden<br />

Anarchisten — werden hartnäckig fortfahren,<br />

die Aufklärung und kritische Beleuchtung<br />

zu verbreiten.<br />

Es ist nicht eine Vision, die uns voranleuchtet,<br />

es ist unser aller Zukunft, die<br />

begleitet von Freiheit und Gleichheit ist, und<br />

zu immer größere! Spannkraft lockt.<br />

Vorwärts, immer vorwärts! lautet die<br />

Devise des Anarchismus.<br />

Aus dem Spanischen des Ricardo Mella<br />

von Aimee Köster.<br />

Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus und Anarchismus.<br />

Francisco Ferrer und seine<br />

Mission vor österreichischen<br />

Gerichtsschranken.<br />

Genosse Rudolf Großmann vor d e m Grazer<br />

Erkenntnisgericht.<br />

Wieder einmal hat Österreich seinen politischen<br />

Prozeß gehabt, der naturgemäß ein T e n d e n z ­<br />

prozeß, ein Stück überlieferter Inquisitionsjustiz<br />

sein muß. In dem P r o z e ß unseres G e n o s s e n G r o ß -<br />

mann, der sich anscheinend um eine den österreichischen<br />

Verhältnissen ganz entrückte Angelegenheit<br />

drehte, bekundete sich das internationale<br />

Bundesverhältnis von Staat und Kirche. Francisco<br />

Ferrer ist in Spanien gemordet worden, aber auch<br />

in Österreich fühlt sich der Klerikalismus verpflichtet,<br />

seinem spanischen Bundesgenossen beizuspringen<br />

und diejenigen juristisch zu gefährden,<br />

die sich nicht scheuen, der Wahrheit die Ehre zu<br />

geben und immer wieder zu v e r k ü n d e n : F e r r e r<br />

i s t a l s U n s c h u l d i g e r vom spanischen Staat,<br />

der Kirche und dem Militarismus g e m o r d e t worden I<br />

Wie ein Schreckgebilde der grauesten Vergangenheit<br />

steigt die Szenerie dieses stattgehabten Justizm<br />

o r d e s vor den Augen jener auf, die ihn verübt<br />

haben und sich geistig berufen fühlen, ihn zu verteidigen,<br />

weil er eben vom Gericht und nicht von<br />

einigen privaten Lynchern begangen wurde. So<br />

strecken sie die Hände nach denen aus, die Ferrers<br />

Andenken ehren und seine Mission idealer Erziehung<br />

der Jugend zu den erhabendsten Zielen<br />

der Menschheitskultur übernehmen, diese Gedanken<br />

des teuren Toten verkünden. Doch es geschieht<br />

d a s Gegenteil von dem, was sie b e z w e c k t e n : trotz<br />

ihrer dichten Türen und dicken Wälle, hinter denen<br />

sie über die Verkünder der Grundsätze Ferrer's<br />

richten — er und sein Ideal erheben sich freier,<br />

lebendiger und erweisen nur desto unbezwinglicher<br />

ihre Unsterblichkeit!<br />

So war es auch im P r o z e ß unseres Genossen<br />

Großmann. Verurteilt zu einem Monat Gefängnis,<br />

sagen wir es doch mit inniger F r e u d e : dieser P r o ­<br />

zeß w a r ' s wert! Denn nicht nur ist Francisco<br />

Ferrer in all seinem idealen Bestreben nun auch<br />

vor einem österreichischen Gerichte vindiziert und<br />

sind im österreichischen Gerichtssaal seine Mörder<br />

Justizmörder genannt und als solche gebrandmarkt<br />

worden — nein, noch m e h r : die sittliche Erhabenheit<br />

unserer idealen Weltanschauung des Anarchismus,<br />

der erhabene Gegensatz zwischen dem Ideal<br />

der Herrschaftslosigkeitskultur und jener Unkultur<br />

der staatlichen Gewaltsbarbarei, unter der die<br />

Menschheit gegenwärtig schmachtet, fand durch<br />

die verschiedenen längeren Ausführungen unseres<br />

Genossen Großmann einen beredten Sachwalter.<br />

Selbst das Gericht mußte anerkennen, daß es sich<br />

dem Angeklagten um ein — allerdings nannte es<br />

d a s s e l b e : utopisches — Ideal handelte, das aber<br />

in der Intelligenz und dem Wissen des Angeklagten<br />

wurzle. In beredten Ausführungen und Belegen bewies<br />

der angeklagte Kamerad, daß das, w a s Ferrer<br />

gewollt, das einzige Ziel der Menschheit ist und<br />

daß seine Auffassung des Anarchismus nicht allein<br />

das allumfassende Menschheitsideal ist, das den<br />

gesamten Zeitgeist eines höheren ethischen Lebens<br />

beinhaltet, sondern auch, daß er vom rein wissenschaftlichen<br />

Standpunkt a u s berechtigt ist, sich auf<br />

dieses Ideal des Anarchismus zu stützen, als auf<br />

die nächste Etappe jeder höheren Kulturentwicklung.<br />

Den Gesamtprozeß an dieser Stelle wiederzugeben,<br />

ist unmöglich. Der Prozeß währte über sieben<br />

Stunden und enthält eine solche Fülle dokumentarischen,<br />

wissenschaftlichen Materials, daß er keines-


w e g s den räumlichen Verhältnissen einer H a l b m o ­<br />

natsschrift entspricht, wie sie der „W. f. A." ist.<br />

Wollten wir all die gemachten wichtigen A u s ­<br />

führungen, die Akten u s w . auch nur in gedrängtem<br />

Auszuge bringen, es w ü r d e ein Buch daraus. Aber<br />

selbst die Reden der Staatsanwaltschaft, d a s a u s ­<br />

gezeichnete, geradezu w u n d e r b a r e Verteidigungsreferat<br />

d e s Herrn Dr. E m i l F r i s c h a u e r ,<br />

wie<br />

die langen, a b e r für Ferrers Andenken und B e ­<br />

deutung, wie für unsere Weltanschauung äußerst<br />

wichtigen Ausführungen des G e n o s s e n Großmann<br />

selbst, w ü r d e n schon eine umfangreiche Broschüre<br />

ergeben, die, im „W. f. A" abgedruckt, mit der<br />

letzten Nummer dieses Jahrganges nicht ihren A b ­<br />

schluß fände.<br />

Aus diesem Grunde ergreifen diverse G e ­<br />

n o s s e n die Initiative und fordern hiemit die Freunde<br />

und Leser u n s e r e s Blattes aufs angelegentlichste<br />

auf, dem weiter unten folgenden A u f r u f d e s<br />

G e n o s s e n G r o ß m a n n e i n g e h e n d e B e ­<br />

a c h t u n g z u s c h e n k e n u n d i h m e n t s p r e ­<br />

c h e n d r a s c h e s t z u h a n d e l n . E s ist b e ­<br />

schlossen worden, ein auszugliches Protokoll zu<br />

veröffentlichen, d a s in möglichster Übersicht ein<br />

Bild d e s P r o z e s s e s darbieten soll und wird. Diese<br />

Schrift wird sich vorzuglich zur P r o p a g a n d a eignen;<br />

sie wird dem Ahdenken Ferrers die ihm in Österreich<br />

noch geschuldete Ehre erweisen, sie wird<br />

sehr viele neue, bisher unbekannte Fakten über<br />

F e r r e r s Unschuld u n d den gegen ihn verübten<br />

Justizmord aufdecken — k u r z , diese Schrift<br />

wird eine für die Kultur des atheistischen Ideals<br />

der Erziehung und der Höherentwicklung der<br />

Menschheit auf den Bahnen d e s Anarchismus wirks<br />

a m e Streiterin sein.<br />

Mit der Herausgabe dieser Prozeßschrift<br />

wollen wir österreichischen revolutionären Sozialisten<br />

u n d kommunistischen Anarchisten in W a h r ­<br />

heit die Mission Ferrers übernehmen und fortführen 1<br />

nd.<br />

Nachstehend reproduzieren wir d e n Bericht<br />

d e r G r a z e r bürgerlichen L o k a l p r e s s e ü b e r den<br />

Verlauf d e s P r o z e s s e s , der natürlich<br />

nicht einmal<br />

annähernd einen Einblick in die Einzelheiten d e s ­<br />

selben gewährt, jedoch immerhin die nackten T a t ­<br />

sachen registiert.<br />

D a s G r a z e r „Tagblatt" s c h r i e b :<br />

Eine R e d e ü b e r F e r r e r .<br />

G r a z , 8 . April.<br />

Vor d e m Erkenntnisgerichte (Vorsitzender<br />

Oberlandesgerichtsrat Dr. H o c h e n b u r g e r ) s t e h t<br />

d e r Schriftsteller Rudolf G r o ß m a n n<br />

a u s Klosterneuburg.<br />

Es wird ihm z u r Last gelegt, d a ß er am<br />

13. März 1910 in einer G e n e r a l v e r s a m m l u n g d e s<br />

atheistischen Vereines „Freie D e n k e r " im G a s t ­<br />

h a u s e Annenhof i n G r a z eine R e d e ü b e r F r a n c i s c o<br />

F e r r e r gehalten habe, in der er gegen die b e s t e h e n ­<br />

den staatlichen Verhältnisse, g e g e n die Begriffe<br />

d e s E i g e n t u m s u s w . aufgereizt h ä t t e . A u ß e r d e m<br />

wird ihm zur L a s t gelegt, daß er mit anarchistis<br />

c h e n Flugschriften in B ö h m e n unbefugte K o l p o r ­<br />

t a g e getrieben hätte. G r o ß m a n n wird v o n D r . Emil<br />

F r i s c h a u e r a u s W i e n verteidigt.<br />

Die Anklage<br />

vertritt der e r s t e Staatsanwalt Dr. von H ö p 1 e r.<br />

Auf Antrag d e s S t a a t s a n w a l t e s erkannte d a s<br />

Gericht gleich v o r Eintritt in die Verhandlung u n d<br />

g e g e n d e n Einspruch d e s Verteidigers auf A u s ­<br />

schluß d e r Öffentlichkeit. In s e i n e r B e g r ü n d u n g<br />

führte der P r ä s i d e n t aus, der Angeklagte sei als<br />

eifriger Verfechter s e i n e r Ideen b e k a n n t und es<br />

s t ä n d e zu befürchten, d a ß er s o w o h l i n n e r ö s t e r r e i ­<br />

chische, wie auch s p a n i s c h e Verhältnisse z u r S p r a ­<br />

che bringen w ü r d e .<br />

D e r Angeklagte b e k e n n t sich nicht schuldig.<br />

Er v e r w a h r t sich d a g e g e n , daß er v o n der Polizei<br />

als ein M e n s c h bezeichnet w e r d e , d e r g e w i s s e r ­<br />

m a ß e n die Aufreizung der B e v ö l k e r u n g g e w o h n ­<br />

heitsmäßig betreibe. Er m ü s s e d e m g e g e n ü b e r feststellen,<br />

d a ß die ü b e r ihn in Amerika v e r h ä n g t e<br />

Zuchthausstrafe von fünf J a h r e n w e g e n seiner B e ­<br />

tätigung in der amerikanischen A r b e i t e r b e w e g u n g<br />

und angeblichen T e i l n a h m e<br />

an einem Streikerautr<br />

u h r in P a t e r s o h durch d e n o b e r s t e n a m e r i k a n i ­<br />

schen Gerichtshof aut G r u n d seines Alibibeweises,<br />

d a r g e b r a c h t von 27 Zeugen, aufgehoben w u r d e .<br />

Es wird s o d a n n die Anzeige d e r Staatspolizei<br />

verlesen. In d e r Anzeige wird erklärt, d a ß G r o ß -<br />

mann als Anarchist b e k a n n t ist, d e r unter d e m<br />

P s e u d o n y m Pierre R a m u s v e r s c h i e d e n e anarchistis<br />

c h e Schriften veröffentlicht h a b e .<br />

D e r Angeklagte erklärt, d a ß seine R e d e im<br />

Polizeiberichte gänzlich entstellt und völlig u n z u ­<br />

länglich w i e d e r g e g e b e n sei. Er legt in ausführlicher<br />

Rede die von ihm d a m a l s vertretenen G r u n d ­<br />

s ä t z e dar, w o b e i ihn d e r V o r s i t z e n d e wiederholt<br />

unterbricht und ihn auffordert, nur zu erklären, in<br />

welchen P u n k t e n der Bericht der Polizei mit<br />

seiner R e d e nicht übereinstimme. Er tut dies in<br />

längeren, s e h r eingehenden D a r l e g u n g e n , n a c h<br />

d e n e n ihm der P r ä s i d e n t in B e a n t w o r t u n g einer v o m<br />

Angeklagten g e b r a u c h t e n R e d e w e n d u n g d a s Z e u g ­<br />

nis ausstellt, d a ß er, der Angeklagte, g e w i ß kein<br />

d u m m e r M e n s c h sei.<br />

D e r S t a a t s a n w a l t stellt nun v e r s c h i e d e n e<br />

F r a g e n an den Angeklagten, die er damit einleitet,<br />

d a ß er versichert, w a s Ferrer war, interessiere hier<br />

g a r n i c h t ; es handle sich nur um die inkriminierten<br />

Stellen d e r Anklage.<br />

N a c h längeren Ausführungen schließt d e r Ang<br />

e k l a g t e damit, d a ß er sich als A n h ä n g e r d e s A n ­<br />

a r c h i s m u s b e k e n n e ,<br />

d e n er d e s n ä h e r e n in s e i n e r<br />

Auffassung<br />

präzisiert.! |Auf » e i n e i l d i e s b e z ü g l i c h e<br />

Frage des Staatsanwaltes erklärte er, er verwerfe,<br />

im Einklang mit dem Anarchismus, j e d e Gewalttat.<br />

Er sei auch nicht Sozialdemokrat, nicht Republikaner)<br />

Es wird hierauf zur Z e u g e n e i n v e r n a h m e g e ­<br />

schritten.<br />

Polizeioberkommissär Hermann S c h nvi d t,<br />

der in der Versammlung vom 13. M ä r z 1910 als<br />

Regierungsvertreter a n w e s e n d war, erklärt, d a ß in<br />

seinem Berichte der Inhalt der Rede d e s A n g e ­<br />

klagten sinngemäß w i e d e r g e g e b e n s e i ; die wichtigsten<br />

Stellen h a b e er stenographisch aufgenommen-<br />

D e r Polizeibericht m a c h e einen viel milderen E i n ­<br />

druck, als der Eindruck der Rede w a r .<br />

D e r Angeklagte bemerkt, d a ß in dem Berichte<br />

viele Sätze a u s d e m Z u s a m m e n h a n g e h e r a u s g e ­<br />

nommen seien und deshalb der Sinn ganz v e r ä n ­<br />

dert w u r d e .<br />

Bei d e m Kreuzverhör, d a s nun der Verteidiger<br />

Dr. Frischauer mit d e m Z e u g e n vornimmt, stellte<br />

sich heraus, daß die Formulierung g a n z e r Sätze<br />

der von ihm unterfertigten Anklagerelation nicht<br />

seine, s o n d e r n die Arbeit d e s Untersuchungsrichters<br />

war. Übrigens erklärt der P o l i z e i o b e r k ö m m m i s s ä r ,<br />

er erinnere sich an nichts mehr und v e r w e i s e<br />

nur auf seine Relation. Auf eine F r a g e eines<br />

d e r beisitzenden Richter m u ß Z e u g e gestehen,<br />

daß er in seinem S t e n o g r a m m d e r R e d e G r o ß ­<br />

manns, d e s s e n fließenden Ausführungen, nicht i m m e r<br />

zu folgen v e r m o c h t e .<br />

Es entspinnt sich eine ziemlich lange, stellenw<br />

e i s e t e m p e r a m e n t v o l l geführte A u s e i n a n d e r s e t z u n g<br />

zwischen d e m Zeugen, dem Verteidiger und dem<br />

Angeklagten.<br />

D e r S t a a t s a n w a l t erklärt schließlich,<br />

d a ß die<br />

Z e u g e n e i n v e r n a h m e ganz unnütz g e w o r d e n sei, da<br />

ja in den Angaben d e s Angeklagten ein G e s t ä n d n i s<br />

liege.<br />

Nach einer k u r z e n P a u s e gelangt d a s F a k t u m<br />

der Kolportage zur Sprache, die G r o ß m a n n in<br />

m e h r e r e n b ö h m i s c h e n Städten, so in S c h m i e d e b e r g<br />

und in Brüx betrieben h a b e n soll.<br />

Er erklärt, d a ß<br />

diese Anzeigen auf Mißverständnissen b e r u h e n , er<br />

selbst h a b e nie Kolportage b e t r i e b e n ; als Ü b e r ­<br />

s e t z e r und Mitarbeiter an diversen V e r l a g s u n t e r ­<br />

n e h m u n g e n , wie K o r r e s p o n d e n t eines G e s c h ä f t s ­<br />

h a u s e s v e r d i e n e e r g e n ü g e n d Geld, b r a u c h e also<br />

nicht zu kolportieren. W o h l h a b e er B ü c h e r auf<br />

seiner Vortragreise nach B ö h m e n m i t g e n o m m e n ,<br />

die a b e r a n eine v o r h e r b e s t i m m t e P e r s o n ü b e r ­<br />

g e b e n w u r d e n .<br />

Z e u g e Karl W e i ß , Bäckergehilfe i n E g g e n ­<br />

berg, w a r V o r s i t z e n d e r der V e r s a m m l u n g im<br />

Annenhof, in d e r G r o ß m a n n die inkriminierte R e d e<br />

gehalten h a t ;<br />

e r gibt an, d a ß G r o ß m a n n n u r ü b e r<br />

s p a n i s c h e Verhältnisse g e s p r o c h e n h a b e . D i e Z e u g e n<br />

L o i b l , N o z a r und S c h e r b e 1 w i s s e n nichts<br />

P o s i t i v e s a n z u g e b e n ; einer ist s c h w e r h ö r i g , d e r<br />

a n d e r e ist m ü d e g e w e s e n , u n d alle w i e s e n auf die<br />

L ä n g e d e r Zeit hin, die seit d e r R e d e verflossen.<br />

E t w a s Aufreizendes sei a b e r , w i e d i e s e u n d<br />

die w e i t e r e n Zeigen<br />

ü b e r e i n s t i m m e n d a n g a b e n , in<br />

d e r R e d e nicht v o r g e k o m m e n . I n d i e s e m S i n n e<br />

lauten auch die schrittlichen Z e u g e n a u s a g e n .<br />

D a n n w e r d e n auch die A u s s a g e n d e r in A n ­<br />

gelegenheit<br />

d e r K o l p o r t a g e v e r n o m m e n e n Z e u g e n<br />

verlesen, v o n d e n e n die A u s s a g e d e s P f a r r e r s J o s e f<br />

Käß in S c h m i e d e b e r g für d e n Angeklagten b e ­<br />

iästend ist und d e r e n einzelne A n g a b e n v o m A n ­<br />

geklagten als irrtümlich b e z e i c h n e t w e r d e n .<br />

Unter<br />

d e n w e i t e r e n i m Laufe d e s B e w e i s v e r f a h r e n s zur<br />

Verlesung g e l a n g e n d e n Akten befindet sich auch<br />

eine ausführliche Ä u ß e r u n g d e r W i e n e r P o l i z e i ­<br />

direktion, die nach Anführung d e s Lebenslaufes<br />

u n d d e r politischen Betätigung d e s Angeklagten<br />

zu d e m Schlüsse kommt, d a ß G r o ß m a n n ein gefährlicher<br />

a n a r c h i s t i s c h e r Agitator sei.<br />

G r o ß m a n n bestreitet die Richtigkeit einiger<br />

P u n k t e d e s Inhaltes d e r polizeilichen N o t e , w o r a u f<br />

schließlich d e r Verteidiger einen A n t r a g auf E i n ­<br />

v e r n a h m e .von weiteren s e c h z e h n Z e u g e n stellt,<br />

w o g e g e n sich d e r S t a a t s a n w a l t a u s s p r i c h t . D e r G e ­<br />

richtshof lehnt die Anträge d e s Verteidigers a b ,<br />

worauf der S t a a t s a n w a l t in einem k u r z e n s a c h ­<br />

lichen P l a i d o y e r die Anklage b e g r ü n d e t .<br />

Verteidiger<br />

Dr. F r i s c h a u e r bekämpft die<br />

einzelnen Anklagefakten u n d betont, d a ß die A u s ­<br />

führungen d e s Angeklagten im Annenhof nichts<br />

a n d e r e s enthalten hätten, als w a s s c h o n im Ovid<br />

zu lesen sei. Der V o r t r a g sei ein rein wissenschaftlicher<br />

g e w e s e n u n d a u s den Ausführungen d e s<br />

Angeklagten h a b e d e r Gertcntshof w o h l s e n o n hinlänglich<br />

G e l e g e n h e i t g e h a b t , zu beurteilen, ob u n d<br />

d a ß der Angeklagte w o h l k o m p e t e n t sei,<br />

ü b e r ein<br />

rein wissenschaftliches T h e m a z u s p r e c h e n . Z u m<br />

Schluß hält der Angeklagte<br />

eine längere Verteidig<br />

u n g s i e u e , mit der er den Gerichtshof auf eine<br />

ziemliche G e d u l d s p r o b e stellt. Schließlich u n t e r ­<br />

bricht ihn der V o r s i t z e n d e mit der B e m e r k u n g ,<br />

d a ß d a s , w a s d e r Angeklagte nun noch weiter<br />

d a r l e g e n wolle, o h n e h i n v o m Verteidiger v o r g e ­<br />

b r a c h t w o i d e n sei.<br />

D a s Urteil lautet w e g e n V e r g e h e n s nach § 305<br />

St.-G. (Aulreizung zu ungesetzlichen H a n d l u n g e n )<br />

und w e g e n 5 Delikten auf Übertretung nach §§ 23<br />

u n d 14 P . - G . auf 30 T a g e A r r e s t o d e r 300 K G e l d ­<br />

strafe.<br />

*<br />

Im Anschluß an obigen Bericht drängt es uns,<br />

a u c h redaktionell d e m g e e h r t e n Verteidiger, H e r r n<br />

Dr. E m i l F r i s c h a u e r , u n s e r e n aufrichtigsten<br />

u n d tiefgefühlten D a n k a u s z u s p r e c h e n für seinen<br />

Rechtsbeistand zu Gunsten unseres Kameraden<br />

G r o ß m a n n . Es m u ß ausdrücklich hervorgehoben<br />

w e r d e n , d a ß Herr Frischauer, ein Mann in vorgerückten<br />

Jahren, selbst<br />

die Unbequemlichkeit einer<br />

Reise n a c h G r a z u n d die damit für ihn verbundenen<br />

Kosten nicht scheute, um Genossen Großmann<br />

in s e l b s t l o s e s t e r W e i s e vor den Grazer Richtern<br />

zu verteidigen. W e n n G e n o s s e Großmann mit einer,<br />

trotz der zahlreichen Delikte verhältnismäßig milden<br />

Strafe d a v o n k a m , so m u ß dieser glückliche Umstand<br />

vornehmlich d e r unermüdlichen Umsicht und<br />

Verteidigungsgabe d e s Herrn Dr. Frischauer, wie<br />

auch dessen, in allen technischen Arbeiten an<br />

diesem P r o z e ß unermüdlich tätig gewesenen Konz<br />

i p i e r t e n Herrn D r . S c h ä f e r gutgeschrieben<br />

w e r d e n . Im Namen der Redaktion: unseren herzlichsten<br />

D a n k !<br />

*<br />

An meine Freunde und<br />

Mitkämpfer!<br />

Mein s o e b e n b e e n d e t e r Prozeß, der mit meiner<br />

Verurteilung zu einem Monat Arrest oder 300 K<br />

Geldstrafe e n d e t e ,<br />

hat viel dazu beigetragen, um<br />

den N a m e n F e r r e r a b e r m a l s in den Vordergrund<br />

d e s öffentlichen I n t e r e s s e s zu rücken.<br />

Eine ganze<br />

R e i h e bürgerlicher Blätter hat sich genötigt gefühlt,<br />

d e n P r o z e ß zu beachten und trotz der absoluten<br />

Totschweigetaktik d e r gesamten sozialdemokratischen<br />

P r e s s e — die, obgleich sie durch einen Vertreter<br />

den P r o z e ß v e r h a n d l u n g e n beiwohnte, keine<br />

Zeile d a r ü b e r b r a c h t e !<br />

— ist die öffentliche Mein<br />

u n g doch w e n i g s t e n s zum Teil darüber informiert,<br />

daß es auch in Österreich Anhänger der Ideen<br />

F r a n c i s c o F e r r e r s gibt, und daß ich mich auch vor<br />

Gericht in vollstem Umfange<br />

als Anhänger seiner<br />

Ideale b e k a n n t e .<br />

•<br />

Es w ä r e nun v o n höchster Bedeutung für<br />

u n s e r e Sache, w e n n die im Gerichtssaale von mir<br />

a n g e b o t e n e n B e w e i s e , Ausführungen<br />

über Ferrers<br />

B e s t r e b u n g e n , die fast g a n z neu und in meinem<br />

b i o g r a p h i s c h e n W e r k ü b e r F e r r e r n i c h t enthalten<br />

sind, w i e auch sämtliche Argumente und Reden<br />

d i e s e s P r o z e s s e s , d e r breitesten Öffentlichkeit zugänglich<br />

g e m a c h t w ü r d e n .<br />

D i e s könnte geschehen<br />

durch die Veröffentlichung eines und zwar des<br />

wichtigsten P r o z e ß a u s z u g e s , der als Stenogramm<br />

vorliegt.<br />

D i e Kosten für die H e r a u s g a b e einer solchen<br />

ziemlich umfangreichen B r o s c h ü r e sind hoch. Und<br />

da ich s e l b st die Mittel zu ihrer Herausgabe nicht<br />

besitze, folge ich dem Vorschlage einer Anzahl<br />

G e n o s s e n u n d G r u p p e n , die meinen Freunden und<br />

Mitkämpfern F o l g e n d e s unterbreiten wollen:<br />

E s ist ein s o g e n a n n t e r E i n k r o n e n - F o n d<br />

b e g r ü n d e t w o r d e n . J e d e r sich für das Unternehmen<br />

i n t e r e s s i e r e n d e G e n o s s e steuert m i n d e s t e n s<br />

1 K r o n e d i e s e m F o n d b e i ; dafür erhält er die<br />

Schrift zum S e l b s t k o s t e n p r e i s in mindestens drei<br />

E x e m p l a r e n portofrei zugesandt, wodurch jedem<br />

S p e n d e r G e l e g e n h e i t g e b o t e n ist, seine Geldausg<br />

a b e w i e d e r e i n z u b e k o m m e n und zweckents<br />

p r e c h e n d e G e s c h e n k p r o p a g a n d a zu entfalten.<br />

Ich w e n d e mich hiemit dringend an alle<br />

F r e u n d e und G e n o s s e n und bitte sie um ihre solid<br />

a r i s c h e Mitwirkung an diesem Pflichtwerk zu<br />

Ehrerl Francisco F e r r e r s . Mit Ende Juni schließt<br />

d i e s e s A n g e b o t und k o s t e t die im Juli zu erschein<br />

e n d e Schrift dann im Einzelpreise 40 Heller. Nur<br />

für die E i n s e n d e r von mindestens 1 Kröne, welche<br />

v o r E n d e Juni an mich g e s a n d t sein muß, gilt<br />

o b i g e s b e g ü n s t i g e n d e s Angebot.<br />

Alle G e l d s p e n d e n sind, unter genauer Angabe<br />

ihrer B e s t i m m u n g , an mich zu senden und werden<br />

in b e n a n n t e r B r o s c h ü r e durch Chiffren quittiert<br />

w e r d e n .<br />

N o c h m a l s :<br />

Ich hoffe, daß dieser Appell an<br />

u n s e r e F r e u n d e zur Mitwirkung an ein eminent<br />

p r o p a g a n d i s t i s c h e s Unternehmen zu Ehren des,<br />

freien G e d a n k e n s nicht vergebens und die nötige<br />

S u m m e zur H e r a u s g a b e d e r Schrift schon in einigen<br />

W o c h e n b e i s a m m e n sein wird.<br />

Ans W e r k , K a m e r a d e n !<br />

Im Auftrage d e s Herausgeberkomitees für das<br />

F e r r e r p r o t o k o l l<br />

R u d o l f G r o ß m a n n (Pierre Ramus)<br />

Klosterneuburg<br />

Kierlingerstraße 183<br />

Niederösterreich.<br />

A u f A g i t a t i o n i n G r a z , S a l z b u r g ,<br />

I n n s b r u c k , M e r a n und B o z e n war<br />

w ä h r e n d d e r letzten zwei Wochen unser Genosse<br />

G r o ß m a n n , d e r k n a p p vor Schluß der Redaktion<br />

w i e d e r in W i e n eingetroffen i s t Infolgedessen<br />

m ü s s e n wir den Bericht über seine erfolgreich bee<br />

n d e t e u n d i n t e r e s s a n t e T o u r für die nächste<br />

N u m m e r<br />

zurückstellen.<br />

H e r a u s g e b e r und verantwortl. R e d a k t e u r A n t o n Wuiz, XV. M ä r z s t r a ß e 3 II/16. D r u c k : Rudolf Unzeitig, X. Erlachgasse 98.<br />

E h e l e u t e . welche<br />

sorgenlos leben<br />

wollen, verlangen gratis<br />

die Z u s e n d u n g<br />

einer Broschüre über hygienische<br />

Schutzmittel, s o w i e Preisliste. Käufer, welche sich<br />

als Abonnenten d e s „Wohlstand für Alle" bezeichnen,<br />

erhalten auf sämtliche Artikel 10% Rabatt.<br />

Humanitas-Versandhaus, Wien, XIII/ 3 Schanzstr. 15 - 1 1


werden, wandern in den Moloch der Wahlmacherei,<br />

die die Regierung ausgeschrieben<br />

hat, nach ihrem Belieben anbefiehlt und<br />

reguliert! Die armen, gedruckten Massen<br />

werden gegen einander verhetzt, indem man<br />

sie lehrt, den a n d e r e n Politikanten als<br />

ihren eigentlichen Feind zu betrachten (der<br />

ungeheuerlichste Betrug 1) und in dieser Zeit<br />

des sozialen Elends wird die Not durch<br />

dieses betrügerische, verworfene Zwischenspiel<br />

erbärmlichster Possenreißerei zu Gunsten<br />

einiger Hunderte streberischer Mandatare<br />

und Diätenanwärter noch künstlich vermehrt<br />

und gesteigert. Verhetzt und vertiert<br />

durch die blinde Wut kämpfen die Arbeiter<br />

und verschiedensten Volkselemente, die<br />

alle gemeinsam unterdrückt sind vom<br />

System des Kapitalismus und der Staatsgewalt<br />

als solcher, nicht gegen diese, sondern<br />

gegeneinander; das Volk wird durch<br />

einzelne Parteiettiketen in zerklüftete Lager<br />

gespalten, und all dies geschieht zum Heile<br />

der hinter den Kulissen die Drahtpuppen<br />

der Parteiführer bewegenden Herrschaftsgewalt<br />

des Staates, des Klerikalismus und<br />

Militarismus, des Kapitalismus in seinem<br />

politischen, wie wirtschaftlichen Sinn, die<br />

n a c h dem Possenspiel, n a c h den Wahlen<br />

all die gewählten Demagogen der Parteipolitik<br />

aufnehmen im gemeinsamen Sitzungssaal<br />

der Haushaltspolitik des bestehenden<br />

Systems: im Parlament; allwo die Herren<br />

Parlamentarier vergnügt und seelig gestimmt<br />

über den für sie erfolgreich durchgeführten<br />

Volksbetrug die Streitaxt begraben haben,<br />

innerhalb des Sitzungssaales nach Parteiinteressen<br />

stimmen, außerhalb des Sitzungssaales<br />

Arm in Arm auf und niederwandeln<br />

und gemeinsam den Concordiaball besuchen.<br />

Und der Erste Mai ist es, der zu diesem<br />

Possenspiel des Volksbetruges benützt<br />

wird. Wo ist der Erste Mai geblieben als<br />

ein Verkünder des Sozialismus, als ein<br />

Bahnbrecher der Sozialrevolutionären Macht<br />

der Arbeiterklasse, als ein Tag des Kampfes<br />

und des. Sieges, als ein Tag des Antimilitarismus<br />

der millionenstimmig ertönenden<br />

Deklaration: Wir lassen uns nicht auf den<br />

Brudermord einschwören, denn wir töten<br />

und morden unsere Mitmenschen nie, einerlei<br />

welcher Nation oder Rasse sie angehören<br />

— wo ist d i e s e r Erste Mai, wo ist<br />

er geblieben?<br />

Aber wir wollen nicht in den entgegengesetzten<br />

Fehler verfallen und nun diesen<br />

herrlich-schönen Tag einer Idee des Kampfes<br />

verantwortlich machen für die Kampfunwilligkeit<br />

und -Unfähigkeit seiner Begehen<br />

Wir wissen es, daß dieser Tag selbst Edelmetall<br />

sein und aus ihm die reinste Münze<br />

des Sozialismus geschlagen werden könnte,<br />

wenn die Arbeiterbewegung sich nicht in<br />

Händen einer Klique von Politikanten befände,<br />

wenn sie frei wäre, s i c h s e l b s t<br />

angehörte! Die Macht dieses Tages liegt<br />

in der i n n e r e n Selbstbefreiung der Arbeiterbewegung<br />

von dem schmarotzenden<br />

Politikantengesindel, das sich in ihr eingefressen<br />

hat und nun diesen großen Körper<br />

so sehr mit zersetzenden Fremdstoffen erfüllt,<br />

daß er zur Selbstbewegung unfähig<br />

geworden, solange er nicht diese innere<br />

Krankheit heilsam überwunden hat. Und<br />

nichts wirkt zuversichtlicher auf diese unsere<br />

Erkenntnis als das fortschreitende Gefühl<br />

der zunehmenden Enttäuschung, das in der<br />

Arbeiterklasse um sich greift, sie die lügnerischen<br />

Versprechungen der Politikanten<br />

a l l e r Parteien durchschauen und damit<br />

auch die Wege suchen läßt, die zur wahren<br />

Befreiung führen.<br />

Diese Wege werden an einem der<br />

kommenden Ersten Maien beschritten werden!<br />

Es werden die Wege der direkten Aktion,<br />

die Wege des in jeder Hinsicht unerbitterlich,<br />

unerschütterlich und nie zur Gewalt<br />

zu bewegenden Antimilitarismus sein! Das<br />

ringende Volk wird den Ersten Mai zum<br />

Ausgangstag jenes Kampfes nehmen und<br />

gestalten, der praktisch über alle Ausbeutungsformen<br />

des Kapitalismus hinwegschreitet<br />

und den Bau der sozialen Freiheit<br />

und wirtschaftlichen Unabhängigkeit für alle<br />

Menschen aufführt. Es wird der Erste Mai<br />

kommen, der für Hunderttausende der Tag<br />

sein muß, der eine Periode der Kultur einführt,<br />

in der die Menschen in souveränster<br />

Selbstabkehr von dem bestehenden System<br />

den nächsten Tag vorbereiten, an dem sie<br />

in den Fabriken, in den Werkstätten, auf<br />

den weiten Äckern und Fluren, in den<br />

Bergminen n i c h t m e h r für die schmarotzenden<br />

Ausbeuter und Monopolisten<br />

schanzen und roboten, sondern für sich,<br />

fürs ganze Volk aller in Freiheit mitwirkenden<br />

Menschen arbeiten werden. Dieser<br />

Erste Mai wird kommen, wenn wir den<br />

1. Mai in seinem ursprünglichen Sinn begreifen<br />

und begehen — als immer vehementer<br />

auftretender Streiter für die wirschaftlichen<br />

Rechte der arbeitenden Menschheit.<br />

Diese wird dann ganz gewiß in ihm und<br />

durch den Ersten Mai und die Flut seiner<br />

erhabenen umwälzenden Gedankenwelt jene<br />

endliche Gesellschaftsgenossenschaft erreichen,<br />

deren 'Grundlagen sein müssen, um<br />

Freiheit und Solidaritätswirtschaft zu gewährleisten<br />

:<br />

K o m m u n i s m u s !<br />

A n a r c h i e !<br />

„Wie wir die Revolution<br />

machten".<br />

Ein Kapitel aus dem gleichnamigen französischen<br />

Buch, dessen Verfasser E. Pataud<br />

und E. Pouget sind; die Verfasser entwerfen<br />

in ihrem Werk eine Studie über den<br />

utopisch bereits als stattgehabt gedachten<br />

Ausbruch und Verlauf der sozialen Revolution<br />

in Frankreich. Wir übersetzten hier<br />

einzelne spannende Bruchstücke dieses Romanbandes,<br />

die sich mit dem Generalstreik<br />

in Paris und der Stellungnahme der französischen<br />

Regierung ihm gegenüber befassen.<br />

*<br />

D i e R e g i e r u n g u n d d e r G e n e r a l ­<br />

s t r e i k v o n P a r i s i m M a i 1931.<br />

. . . Die Regierung blieb angesichts<br />

dieser Ereignisse nicht untätig; sie war bestrebt,<br />

den Generalstreik zu erschöpfen und<br />

die besitzenden Klassen zu beruhigen; deshalb<br />

versuchte sie, den Anschein zu erwecken,<br />

als ob das wirtschaftliche Leben<br />

seinen gewöhnlichen Gang ginge, indem sie<br />

in den wichtigsten Industrien und Dienstzweigen<br />

die Streikenden durch Soldaten<br />

zu ersetzen trachtete.<br />

So wurden z. B., als in den meisten<br />

Bäckereien die Arbeit eingestellt worden war,<br />

Soldaten hinbeordert, um Brod zu backen.<br />

Aber in vielen Fällen hatten die Streikenden,<br />

bevor sie die Arbeit einstellten, die<br />

Öfen und das Material außer Stand gesetzt;<br />

nur mit Mühe und sehr ungenügend wurde<br />

dieser Übelstand durch den Gebrauch von<br />

Feldbäckereien behoben. In den Elektrizitätswerken<br />

gelang es den Genie-Truppen<br />

— obgleich sie seit langem mit der Arbeit,<br />

die man ihnen zugedacht, vertraut gemacht<br />

wurden — nicht, die Dynamomaschinen in<br />

Gang zu bringen; in die Radachsen war<br />

Schmirgelpulver gestreut worden, und überhaupt<br />

hatten die Streikenden überall so geschickt<br />

vorgesorgt, daß nichts getan werden<br />

konnte.<br />

Um dem Streik der Post-, Telegrafenund<br />

Eisenbahnangestellten zu begegnen,<br />

dachte die Regierung daran, alle Militärpflichtigen<br />

dieser Arbeitszweige einzuberufen<br />

und sie durch die Furcht vor der<br />

militärischen Disziplin und den Kriegsgegerichten<br />

zur Arbeit zu zwingen. Sie sah<br />

aber ein, daß bei der herrschenden Erregung<br />

dieser Schritt nutzlos, ja gefährlich für sie<br />

wäre. Die organisierten Angestellten hatten<br />

schon vor Jahren den Entschluß gefaßt,<br />

einem derartigen Einberufungsbefehl nicht<br />

Folge zu leisten, und es war vorauszusehen,<br />

daß ein großer Teil von ihnen diesem Entschluß<br />

treu bleiben würde; auch hatte die<br />

Regierung Angst, die Verkehrsmittel und<br />

das Material den derart zur Arbeit gezwungenen<br />

Streikenden in die Hände zu<br />

geben.<br />

So wurde beschlossen, die Züge durch<br />

Soldaten der stehenden Armee in Bewegung<br />

setzen zu lassen. Aber da, so wie anderswo<br />

hatten die Streikenden vor dem Verlassen<br />

der Arbeit ihre Vorkehrungen getroffen:<br />

die unentbehrlichsten Teile der<br />

Lokomotiven waren weggenommen und<br />

versteckt worden; um Maschinen und Wagen<br />

nicht aus den Remisen herausbringen<br />

zu können, hatte man Zement in die Weichen<br />

gegossen, so daß man sie nicht verstellen<br />

konnte. Bevor sie ihre Züge verließen,<br />

hatten die Lokomotivführer dieselben<br />

auf den Stationen stehen gelassen, wo sie<br />

durch dieselbe Prozedur festgehalten wurden<br />

und den Verkehr hemmten. Dieses Anhäufen<br />

von sonst in Bewegung befindlichen Zügen<br />

an den großen Verkehrsmittelpunkten verursachte<br />

ein unentwirrbares Durcheinander;<br />

Personen und Lastzüge verstellten die<br />

Schienen derart, daß es unmöglich war,<br />

den Verkehr abzuwickeln. Außerdem waren<br />

auf allen Linien die Signale auf „Halt!"<br />

gestellt, was den Vorteil hatte, alle Unfälle<br />

unmöglich zu machen, da die wenigen Züge,<br />

die abgingen, nur mit größter Vorsicht und<br />

im Schneckenschritt vorwärts kommen<br />

konnten.<br />

Das Einstellen des Eisenbahnverkehres<br />

zog natürlich das Aufhören des Postdienstes<br />

nach sich — sogar wenn die Postangestellten<br />

bei der Arbeit geblieben wären,<br />

was nicht der Fall war. — Man versuchte<br />

die Post durch Automobile befördern zu<br />

lassen, natürlich mit Soldaten als Lenkern.<br />

Aber dies bedeutete nur einen neuen Mißerfolg<br />

der Regierung. Auf allen Straßen<br />

fanden die neugebackenen Automobillenker<br />

Warnungstafeln, welche durch den Zustand<br />

des Terrains gar nicht gerechtfertigt waren,<br />

die sie aber — da sie die zu befahrende<br />

Strecke meistens gar nicht kannten — dennoch<br />

zu vorsichtig langsamem Fahren zwangen,<br />

wodurch der Verkehr sehr verzögert<br />

wurde. Es kam aber auch oft vor, daß sie<br />

beim Durchfahren eines Streikgebietes aufgehalten<br />

wurden, und daß die Streikenden<br />

ihre Fahrzeuge für ihre eigenen Zwecke aneigneten.<br />

Der Telegraphen- und Telephondienst<br />

wurde noch vollständiger lahmgelegt. Die<br />

Leitungsdrähte wurden allerorts von den<br />

Streikenden durchschnitten und verwirrt,<br />

wie dies schon in früheren Streiks der<br />

Telegraphisten der Fall gewesen war. Die<br />

Regierung hoffte anfangs, den Verkehr auf<br />

dem Wege der drahtlosen Verbindungen<br />

aufrechtzuerhalten, wurde aber auch da<br />

enttäuscht. Es gab unter den Streikenden<br />

manche wissenschaftlich und technisch gebildete<br />

Männer, die an einem hochgelegenen<br />

Punkt der Stadt unauffällig eine drahtlose<br />

Station einrichteten, welche durch ihre elektrischen<br />

Luftwellen die von den Regierungsstationen<br />

ausgesandten Signale verwirrte.<br />

So gesellte sich dem Streik der Hände<br />

und Köpfe auch noch der Streik der Maschinen<br />

hinzu. Überall hatten die Arbeiter<br />

die Maschinen und das Material so zugerichtet,<br />

daß diese bis zur Beendigung des<br />

Generalstreiks unbrauchbar bleiben sollten.<br />

Sie taten dies nicht aus bloßer unüberlegter<br />

Lust am Zerstören, — Nein! Sie hatten sich<br />

— vielleicht oft mit Bedauern — zu diesem<br />

Schritt entschlossen in der Überzeugung,<br />

daß sie dadurch den Verlust an Menschenleben<br />

ersparten. Sie sahen vor allem ihr<br />

Ziel vor Augen — den Triumph des Generalstreiks,<br />

die endgültige Befreiung des<br />

arbeitenden Volkes vom Kapitalismus —<br />

und hatten den Mut, kein Mittel zu verschmähen,<br />

welches sie diesem Ziel näher<br />

bringen konnte.<br />

Sie wußten, daß sie, die Revolutionäre,<br />

eine Minderheit im Volke waren — stark<br />

genug, um der besitzenden und herrschen-


den Minderheit die Stirn zu bieten unter<br />

der einen Bedingung: daß die große Maße<br />

des Volkes nicht diese herrschende Minderheit<br />

unterstützte. Dazu war es notwendig,<br />

daß diese Maße, welche sich in ihrer Unwissenheit<br />

immer dem Sieger zuneigt, in<br />

die Lage versetzt würde, den Herrschenden<br />

einfach nichts mehr helfen zu k ö n n e n .<br />

Gegen diese Kampfesart war die ganze<br />

französische Armee machtlos. Vor allem war<br />

sie nicht groß genug für die Aufgabe, die<br />

streikenden Arbeiter zu ersetzen. Man<br />

konnte nicht a l l e Soldaten zu Arbeitern<br />

und Angestellten machen; einen großen<br />

Teit benötigte die Regierung zur Autrechterhaltung<br />

der „Ordnung", zur Bewachung<br />

von Fabriken, Bahnhöfen und öffentlichen<br />

Gebäuden. Zu gewöhnlichen Zeiten zählte<br />

die gesamte Armee ungefähr 600.000 Mann,<br />

die in den verschiedenen Garnisonen ganz<br />

Frankreichs verteilt waren — und zur<br />

Stunde gab es in Paris allein mehr als<br />

600.000 Streikende! Überdies war der Generalstreik<br />

nicht auf die Hauptstadt beschränkt.<br />

Die Industriegebiete und großen<br />

Städte der Provinz konnten nicht ohne<br />

militärischen Schutz gelassen werden; es<br />

wäre auch unmöglich gewesen, die Truppen<br />

von dort nach Paris zu transportieren, da<br />

der Eisenbahnverkehr stockte, und die Arbeiterschaft<br />

besonders scharf darauf achtete,<br />

die etwa abgehenden militärischen Züge —<br />

wenn notwendig durch Zerstören der Bahnanlagen<br />

— aufzuhalten.<br />

Aber Sin noch viel gewichtigerer Grund<br />

für die Machtlosigkeit der französischen Armee<br />

lag darin, daß die Soldaten selber nicht aus<br />

Oberzeugung und ohne nachzudenken die<br />

Aufgaben erfüllten, zu welchen man sie beorderte.<br />

In den vorhergehenden Jahren hatten<br />

die antimilitaristischen Gruppen unter den<br />

heranwachsenden jungen Arbeitern und<br />

Bauernburschen Frankreichs eine immer<br />

reger werdende Tätigkeit entfaltet. Sie<br />

hatten sie zum Denken erweckt über das<br />

Wesen des Militärdienstes, über das, was<br />

man die „Verteidigung des Vaterlandes"<br />

nannte; und nun, wo der eigentliche Sinn<br />

dieser Phrase und die wahre Rolle dieser<br />

Armee allen offenkundig wurde, trug ihre<br />

Propaganda die erstrebten Früchte. Die Soldaten,<br />

in kleinen Posten und Abteilungen<br />

zwischen der Masse des streikenden P r o ­<br />

letariats eingesprengt, in steter Berührung<br />

mit den unbeschäftigten Arbeitern, begannen<br />

rasch einzusehen, daß sie eins mit dem<br />

Volke sind; sie verrichteten die ihnen aufgezwungene<br />

Streikbrecherarbeit nur widerwillig<br />

oder absichtlich schlecht und sympathisierten<br />

so offen mit den Streikenden,<br />

zeigten sich so aufsäßig gegen ihre Vorgesetzten,<br />

daß diese letzteren sich nicht getrauten,<br />

ihrer Autorität durch Strenge Geltung<br />

zu verschaffen. So geriet die letzte<br />

Stütze der kapitalistischen Herrschaft, auf<br />

welche sich die Besitzenden und Regierenden<br />

Frankreichs bisher so fest verlassen<br />

hatten, ins Wanken.<br />

Auf die Art geriet das gesamte Leben<br />

der Großstadt immer mehr ins Stocken.<br />

Das tägliche Leben — auf die einfachsten<br />

materiellen Bedürfnisse beschränkt — wurde<br />

vou Tag zu Tag mühsamer.<br />

In den ersten Tagen des Streiks hatten<br />

sich alle Leute, die die Mittel dazu hatten,<br />

auf die Lebensmittelhandlungen gestürzt,<br />

um sich auf möglichst lange Zeit im voraus<br />

mit Nahrung zu versorgen. Dies gelang<br />

aber nur den wohlhabenden Klassen. Die<br />

meisten Arbeiter, die blos von ihrem Lohn<br />

lebten, hatten nichts zum beiseite legen.<br />

Sie konnten zu gewöhnlichen Zeiten durch<br />

harte Arbeit nur notdürftig von Tag zu<br />

Tag ihr Leben fristen. Jetzt, wo sie nichts<br />

verdienten, und wo die Lebensmittel immer<br />

spärlicher und deshalb teurer wurden,<br />

starrte ihnen der Hunger ins Gesicht. Jene,<br />

die seit längerer Zeit ohne Arbeit waren<br />

und durch ihre Gewerkschaften unterstützt<br />

wurden, waren noch schlimmer daran, da<br />

die Letzteren außer Stande waren, ihre<br />

Mitglieder länger als auf ein paar Tage zu<br />

versorgen.<br />

War es da nicht zu befürchten,, daß<br />

die Streikenden durch den Hunger zur bedingungslosen<br />

Wiederaufnahme der Arbeit<br />

gezwungen sein würden? Bestand nicht<br />

die Gefahr, daß die Verelendesten der Verelendeten,<br />

die ewig Arbeitslosen, sich durch<br />

die Aussicht, sich einmal satt essen zu<br />

können, von den Kapitalisten als Reservearmee<br />

gebrauchen lassen würden, um den<br />

Streik zu Boden zu werfen?<br />

In dieser Entscheidungsstunde, wo die<br />

ganze Zukunft des Proletariats von der<br />

Ernährungsfrage abhing, fand der gesunde<br />

Verstand des arbeitenden Volkes, geleitet<br />

von den harten Erfahrungen des täglichen<br />

Lebens und den anarchistisch-kommunistischen<br />

Idealen, welche in den vorhergegangenen<br />

Jahren von opfermutigen Propagandisten<br />

verbreitet worden waren, den richtigen<br />

Weg. Die Taten der Großen französischen<br />

Revolution von 1789—1793 erneuerten<br />

sich. Man stellt diese Revolutionsperiode<br />

als eine bloße politische Erhebung dar,<br />

aber in Wahrheit birgt dieselben alle Keime<br />

der sozialen Revolution in sich. Auch damals<br />

kümmerte sich das Volk nicht so sehr<br />

um die Form der Regierung — es war vor<br />

allem darauf bedacht zu l e b e n ; es richtete<br />

seine Angriffe gegen die Reichen, die<br />

Ausbeuter. In den Dörfern und Städten<br />

bildeten sich Banden, welche die Getreidespeicher<br />

erstürmten und deren Inhalt verteilten,<br />

andere bemächtigten sich der Mehlvorräte,<br />

trugen diese in die Bäckerwerkstätten<br />

und verteilten das daraus gebackene<br />

Brot im Volk; anderswo wieder setzte das<br />

Volk die Forderung durch, daß die Lebensmittel<br />

am Markt zu einem festgesetzten<br />

niedrigen Preis verkauft werden sollten,<br />

damit jeder sich das Notwendige beschaffen<br />

könne. Überall war die Brotfrage der eigentliche<br />

Grund der Bewegung — dann ermutigt<br />

und begeistert durch ihre eigenen<br />

Taten, begannen die Aufständischen die<br />

Häuser der Steuereinnehmer zu plündern,<br />

die Adelsschlösser zu zerstören, die Papiere,<br />

in denen die Feudalrechte der Grundbesitzer<br />

und die Steuern des Staates festgesetzt<br />

waren, zu verbrennen.<br />

Derselbe Geist zeigte sich seit der Erklärung<br />

des Generalstreiks im französischen<br />

Proletariat. Auch die Arbeitslosen, die bisher<br />

in dumpfer Ergebung ihr Elend ertragen,<br />

fingen an, uuter der fortgesetzten Propaganda<br />

der Revolutionäre, sich zu empören.<br />

Sie machten keine Miene, die Stellen der<br />

Streikenden zu besetzen — sie trachteten<br />

danach zu l e b e n ! Sie sahen die Hoffnung<br />

vor sich, all ihrem Elend ein für allemal<br />

ein Ende zu machen und begannen damit,<br />

daß sie sich vor allem das tägliche Brot<br />

zu sichern trachteten, Wie in 1789 bildeten<br />

sich überall Gruppen, welche die in Bäckereien,<br />

Fleischhauerläden und Lebensmittelhandlungen<br />

aufgespeicherten Produkte umsonst<br />

an die Notleidenden verteilten. Die<br />

Regierung schickte natürlich Polizei und<br />

Truppen gegen sie a u s , doch umsonst.<br />

Denn diese Ereignisse spielten sich gleichzeitig<br />

in den verschiedensten, entferntesten<br />

Teilen der Stadt a b ; und da die telephonischen<br />

und telegraphischen Verbindungen<br />

beinahe ganz unterbrochen waren, erhielten<br />

die Behörden die Nachrichten von diesen<br />

Expropriationen nur auf Umwegen und mit<br />

großer Verzögerung und es war ihnen ebenso<br />

schwer, rasch ihre Verfügungen zu treffen.<br />

So kämen die ausgesandten Truppen gewöhnlich<br />

erst dann am Schauplatz an, als<br />

alles längt vorüber war und die Revolutionäre<br />

bereits in einem anderen Teil von<br />

Paris operierten. Aber in den seltenen<br />

Fällen, wo die Polizei rechtzeitig an der Stelle<br />

war, um diese Expropriateure auseinanderzutreiben,<br />

stieß sie auf keinen Wiederstand.<br />

Die Menge, in der die Frauen und Kinder<br />

einen großen Teil bildeten, verlief sich beim<br />

Herannahen der bewaffneten Macht; diejenigen,<br />

die verhaftet wurden, ließen sich<br />

ruhig abführen, wissend, daß man sie bald<br />

freilassen mußte, da die Gefängnisse nicht<br />

genügten, um alle, die in diesen Tagen in<br />

Haft genommen wurden, aufzunehmen.<br />

Diese Widerstandslosigkeit war kein Zeichen<br />

der Feigheit; das Volk zog es vor,<br />

diese Taktik zu befolgen, um unnötige<br />

Opfer zu ersparen, und wenn sich eine<br />

Gruppe beim Herannahen des Militärs zerstreute,<br />

versammelte sie sich nach vorheriger<br />

Übereinkunft anderswo wieder — und<br />

die Wächter der Ordnung mußten ihre Arbeit<br />

von neuem anfangen.<br />

Die Behörden merkten auch, daß der<br />

Respekt und die Furcht, die sie ehedem<br />

der Bevölkerung einflößten, im Entschwinden<br />

war. Die Polizisten konnten es nicht<br />

mehr wagen, sich einzeln in den Straßen<br />

zu zeigen; sie wurden bedroht, und bis in<br />

ihre Wohnungen verfolgt. Da die meisten<br />

in den Arbeitervierteln, Tür an Tür mit den<br />

Streikenden wohnten, wurde ihnen das<br />

Leben ganz unerträglich gemacht. Viele,<br />

die bloß, um einen Lebensunterhalt zu<br />

finden, diesen Beruf erwählt hatten, zogen<br />

es vor, ihren Dienst nicht länger zu versehen,<br />

und sich versteckt zu halten, oder<br />

sogar sich den Streikenden anzuschließen.<br />

Andere — die Diensteifrigen — forderten,<br />

daß man sie in den Polizeiposten einlogierte.<br />

Die Geheimpolizisten, Spitzel und dergleichen<br />

wurden noch energischer verfolgt.<br />

Alle verdächtigen Individuen wurden durch<br />

ihre Nachbarn ausgekundschaftet, und die<br />

Arbeiterviertel waren bald von diesem Gewürm<br />

gereinigt.<br />

Die antimilitaristischen Gruppen wurden<br />

auch immerfort kühner. Sie zogen die Soldaten<br />

in ihre Versammlungen, stellten ihnen<br />

die Garden von 1789, die Regimenter vom<br />

18. März 1871 als Beispiel vor Augen und<br />

forderten sie auf, ebenso zu handeln. Oft<br />

gelang es ihnen sogar, einzelne Wachtposten<br />

oder ganze Abteilungen von. Soldaten<br />

— mit deren stillschweigender oder<br />

ausgesprochener Einwilligung — zu entwaffnen<br />

oder zum Übergehen auf die Seite<br />

der Revolutionäre zu bewegen . . .<br />

Politischer Verein „Freie Tribüne"<br />

Es lebe der 1. Mai als<br />

Kampf- und Aktionstag des<br />

gewerkschaftl. Proletariats!<br />

Einladung<br />

zu der am Montag, den 1. Mai 1911, um<br />

9 Uhr vormittags, stattfindenden<br />

1. Mai-Demonstrations-<br />

Versammlung<br />

in Holubs Prachtsälen, XIV. Huglgasse 15.<br />

Tagesordnung:<br />

Der sozialwirtschaftliche,<br />

antiparlamentarische Sinn des<br />

Ersten Maigedankens.<br />

Referent:<br />

R u d o l f G R O S S M A N N und<br />

andere, wie auch tschechische<br />

Referenten.<br />

Arbeiter W i e n s ! Wir fordern Euch zur allgem<br />

e i n e n Arbeitsniederlegung für den 1, Mai aut.<br />

K o m m t u n d besucht unsere Versammlung in Massen.<br />

E r w a c h e t z u m Bewußtsein Eurer wirtschaftlichen<br />

Macht, w i e sie im Ersten Maigedanken zum Ausdruck<br />

k o m m t .<br />

An a l l e u n s e r e F r e u n d e ergeht hiermit die<br />

Mitteilung, d a ß um 2 Uhr nachmittags ein korporativer<br />

Ausflug nach O b e r St. Veit (Vitusgasse 12)<br />

stattfindet, zu dem alle herzlich eingeladen sind.<br />

G e m e i n s a m e r A b m a r s c h - O r t : Holubs Lokal (Adresse<br />

s i e h e o b e n ) .


Ohne Herrschaft<br />

Literarisches Beiblatt des „Wohlstand für Alle".<br />

4. Jahrg. April 1911. Nr. 4.<br />

Der Zug der Hungernden.<br />

Im Traum eurer weichen Pfühle, aus üppigem Schlaf erwacht,<br />

Horcht auf! Hört ihr sie kommen, die Flut, wie sie naht mit Macht?<br />

Horcht! Aus Wüste, Höhle und Kerker, der Klang wächst dräuend und klar,<br />

Der Schritt der nah' nden Millionen, der Zug der Hungernden Schar.<br />

Ein Heer naht, unbezwingbar — ihr faßt nicht seine Zahl,<br />

Die selbstgeschaff'nen Streiter, erstanden durch Not und Qual,<br />

Aus Schindwerkstatt und Mühle, Fabriken und Minen daher,<br />

Mit Hebel, Treibholz und Bohrer, mit Spaten und Schneiderscher'.<br />

Sie tragen nicht Schwert noch Flinte, doch zum Sturm sind alle bereit,<br />

Sie tragen keine Rüstung, sie kommen im Arbeitskleid.<br />

Von Werfte und Lokomotive, die Äcker und Straßen entlang,<br />

Bewaffnet mit Hacke und Hobel, mit Hammer und Eisenstang'.<br />

Durch Tiefen der dunkelsten Hölle, bei der fernen Sterne Licht,<br />

Mit der Macht des Rechts sie kommen — und ihr schlaft und hört sie nicht.<br />

Eines Morgens — vielleicht schon morgen — erwacht ihr und dann fürwahr<br />

Gebt ihr die Schlüssel der Städte zu Händen der Hungernden Schar.<br />

Reginald Wright Kauffman.<br />

(Aus dem Englischen übersetzt von Lilly N a d l e r N u e l l e n s . )<br />

Unser Ziel.<br />

Ein Kapitel aus dem idealistischen Roman<br />

von William Morris: „Nachrichten von<br />

Nirgends".<br />

W i e d i e ö f f e n t l i c h e n A n g e l e g e n ­<br />

h e i t e n e r l e d i g t w e r d e n .<br />

„Wie steht es mit euren Beziehungen<br />

zu fremden Nationen?" fragte ich.<br />

„Ich will nicht tun, als verstände ich<br />

nicht, was ihr meint," sagte Hammond;<br />

„sondern will euch gleich mitteilen, daß<br />

das ganze System von rivalisierenden und<br />

einander bekämpfenden Nationen, welches<br />

in der „Regierung" der zivilisierten Welt<br />

eine so große Rolle spielte, verschwunden<br />

ist, zusammen mit der Ungleichheit zwischen<br />

Mensch und Mensch in der Gesell»<br />

schaft."<br />

„Macht das die Welt nicht langweiliger?"<br />

sagte ich.<br />

„Warum?" sagte der Alte.<br />

nationalen Ver­<br />

"Das Verwischen der<br />

schiedenheiten" sagte ich.<br />

„Unsinn", sagte er etwas schnippisch.<br />

„Gehet übers Meer und seht selber. Ihr<br />

werdet genug Verschiedenheiten finden!<br />

Die Landschaft, die Bauart, das Essen, die<br />

Vergnügungen, alles verschieden. Die Menschen<br />

anders im Aussehen sowohl als in<br />

der Art des Denkens; die Kleidung bei<br />

weitem abwechslungsreicher als im kommerziellen<br />

Zeitalter. Wie könnte es zur Verschiedenheit<br />

beitragen oder die Eintönigkeit<br />

beheben, wenn man gewisse Familien und<br />

Volksstämme, die oft ganz verschieden geartet<br />

sind und sich nicht zusammen vertragen,<br />

in gewisse künstliche und mechanische<br />

Gruppen zwängt, und diese N a t i ­<br />

o n e n n e n n t , und wenn man ihren P a ­<br />

triotismus — d. i. ihre unsinnigen und mißgünstigen<br />

Vorurteile anfacht?"<br />

„Ja — ich weiß nicht wie", sagte ich.


„Recht so" sagte Hammond vergnügt,<br />

„Ihr könnt leicht verstehen, daß jetzt, wo<br />

wir von dieser Verrücktheit befreit sind, es<br />

uns ganz selbstverständlich vorkommt, daß<br />

gerade durch diese Verschiedenheit die einzelnen<br />

Rassen einander nützlich und angenehm<br />

sein können, ohne im Geringsten darnach<br />

zu trachten, einander zu berauben.<br />

Wir streben alle demselben Ziele zu: unser<br />

Leben so glücklich wie möglich zn gestalten.<br />

Und ich kann Euch versichern, daß, wenn<br />

auch zuweilen Streitigkeiten und Mißverständnisse<br />

entstehen, dies sehr selten zwischen<br />

Leuten verschiedener Rasse vorkommt;<br />

und in Folge dessen, da weniger Unvernunft<br />

in ihnen ist, werden sie leichter beigelegt."<br />

„Gut," sagte ich, „was aber nun die<br />

politischen Angelegenheiten betrifft, d. h. die<br />

allgemeinen Meinungsverschiedenheiten innerhalb<br />

derselben Gemeinde. Behauptet Ihr,<br />

daß so etwas nie vorkommt?"<br />

„Nein, keineswegs" sagte er ein wenig<br />

ungeduldig; „aber ich sage, daß Meinungsverschiedenheiten<br />

über wirkliche greifbare<br />

Tatsachen die Menschen nicht in verschiedene,<br />

einander andauernd bekämpfende<br />

Parteien scheiden können, die über den<br />

Bau des Weltalls und den Fortschritt der<br />

Zeit verschiedene Theorien haben. D a s<br />

kommt bei uns nicht vor. Und ist es nicht<br />

dies, was man seinerzeit unter „ P o l i t i k "<br />

verstand?"<br />

„Hm," sagte ich, „ich weiß das gar<br />

nicht so sicher".<br />

„Ich verstehe euch, Nachbar," sagte<br />

er. „Es waren nur angeblich ernste Meinungsverschiedenheiten<br />

; denn wenn sie<br />

w i r k l i c h solche gewesen wären, hätten<br />

die Mitglieder verschiedener Parteien im<br />

täglichen Leben nicht miteinander verkehren<br />

können ; sie hätten nicht zusammen speisen,<br />

zusammen kaufen und verkaufen, zusammen<br />

spekulieren und zusammen andere Leute<br />

beschwindeln können, sondern hätten miteinander<br />

kämpfen müssen, wo sie sich nur<br />

trafen — was ihnen gar nicht recht gewesen<br />

wäre. Das Bestreben der Herren Politiker<br />

war, die Masse des Volkes durch Schmeichelei<br />

oder Gewalt zu zwingen, die<br />

Kosten eines üppigen Lebens und aufregenden<br />

Vergnügens für ein. paar Kliquen<br />

und ehrgeizige Personen zu bezahlen; und<br />

der S c h e i n ernstlicher Meinungsverschiedenheiten,<br />

welcher durch jede Handlung<br />

ihres täglichen Lebens Lügen gestraft wurde,<br />

diente diesem Zweck ganz gut. Aber was<br />

haben wir mit all dem zu tun?"<br />

„Nun, ich hoffe, nichts", sagte ich.<br />

„Nur fürchte ich — kurz, ich habe gehört,<br />

daß der politische Kampf ein notwendiges<br />

Ergebnis der menschlichen Natur sei."<br />

„Der menschlichen Natur I" rief der<br />

Alte lebhaft; „Was für eine, welche menschliche<br />

Natur? der menschlichen Natur von<br />

Armen und Sklaven, und von Sklavenhaltern?<br />

Oder der menschlichen Natur wohlhabender<br />

freier Menschen? Wie?"<br />

„Ja," sagte ich, „ich denke, daß die<br />

Menschen in diesen Sachen je nach ihren<br />

Lebensumständen verschieden handeln würden".<br />

„Das denk' ich wahrhaftig auch", sagte<br />

er. „Jedenfalls zeigt uns die Erfahrung, daß<br />

dies der Fall ist. Bei uns betreffen Meinungsverschiedenheiten<br />

Angelegenheiten des<br />

täglichen wirtschaftlichen Lebens, und auch<br />

da nur vorübergehende Geschehnisse desselben;<br />

so können sie uns nicht auf lange<br />

Zeit entzweien. Gewöhnlich zeigt es die<br />

unmittelbare Folge, welche Meinung über<br />

eine gewisse Sache richtig ist; es ist eine<br />

Frage der Wirklichkeit, nicht der Spekulation.<br />

Es ist zum Beispiel nicht recht möglich,<br />

eine politische Partei aufzubauen über<br />

die Frage, ob die Heuernte in dieser oder<br />

jener Gegend diese oder nächste Woche<br />

anfangen soll, wenn alle darüber einig sind,<br />

daß sie auf keinen Fall später anfangen<br />

darf als in zwei Wochen, und wo ein jeder<br />

selber auf die Wiesen gehen kann, um zu<br />

sehen, ob das Gras reif genug ist, um gemäht<br />

zu werden."<br />

„Und" — sagte ich — „Ihr erledigt<br />

diese Meinungsverschiedenheiten, große und<br />

kleine, durch den Willen der Mehrheit,<br />

denke ich?"<br />

„Gewiß!" sprach er; „wie könnten wir<br />

sie sonst erledigen? Seht Ihr, in rein persönlichen<br />

Angelegenheiten, welche das Wohl<br />

der Gemeinde nicht berühren — wie einer<br />

sich kleidet, was er ißt und trinkt, was er<br />

schreibt und liest usw. — kann es keine<br />

Meinungsverschiedenheiten geben, und jeder<br />

tut, was er Lust hat. Wenn aber die Sache<br />

ein gemeinsames Interesse für die ganze<br />

Gemeinde hat, und das Tun oder Lassen<br />

von etwas jedermann berührt, dann muß<br />

die Mehrzahl ihren Willen haben; außer die<br />

Minderheit griffe zu den Waffen und zeigte<br />

durch Gewalt, daß sie die wirkliche, tatsächliche<br />

Mehrheit ist; was aber in einer<br />

Gesellschaft von freien und gleichen Menschen<br />

sehr unwahrscheinlich ist, denn in<br />

so einer Gemeinschaft ist die sichtbare<br />

Mehrheit t a t s ä c h l i c h die Mehrheit, und<br />

die Übrigen wissen dies zu gut, um den<br />

Gang der Dinge aus bloßer Starrköpfigkeit<br />

aufzuhalten — besonders da sie reichlich<br />

Gelegenheit hatten, ihren Standpunkt in der


Sache klarzulegen."<br />

„Und wie geschieht dies?" fragte ich.<br />

„Nun," sagte er, „nehmen wir eine<br />

unserer selbständigen Gruppen, eine Kommune<br />

oder Gemeinde, wie man sie nennen<br />

mag. In einem solchen Distrikt meinen z. B.<br />

einige Kameraden, daß etwas getan oder<br />

geändert werden sollte: eine neue Versammlungshalle<br />

gebaut; ein paar Häuser, die im<br />

Weg stehen, niedergerissen; oder, sagen<br />

wir, an Stelle einer häßlichen alten Eisenbrücke<br />

eine steinerne Brücke errichtet. —<br />

Nun, bei der nächsten regelmäßigen Zusammenkunft<br />

der Nachbarn, der Gemeindeversammlung,<br />

wie wir es nennen, schlägt<br />

ein Nachbar die Änderung vor, und wenn<br />

alle zustimmen, ist die Sache natürlich erledigt.<br />

Ebenso wenn keiner den Antragsteller<br />

unterstützt — dann wird die Sache<br />

für diesmal fallen gelassen; dies wird aber<br />

unter vernünftigen Menschen nicht leicht<br />

vorkommen, da der Antragsteller seinen<br />

Vorschlag vor der Versammlung gewiß mit<br />

anderen besprochen hat. Aber nehmen wir<br />

an, daß der Vorschlag gemacht und unterstützt<br />

wird, und einige Nachbarn sind dagegen,<br />

da sie denken, daß die häßliche alte<br />

Brücke noch eine Zeit lang stehen bleiben<br />

kann und keine Lust haben, gerade jetzt<br />

eine neue zu bauen — dann wird bei dieser<br />

Zusammenkunft noch nicht darüber abgestimmt,<br />

sondern die eingehende Besprechung<br />

wird bis zur nächsten Versammlung<br />

verschoben; und mittlerweile werden Argumente<br />

für und wider vorgebracht, und<br />

einige derselben werden gedruckt, so daß<br />

jedermann über die Sache erfährt; und<br />

wenn die nächste Versammlung stattfindet,<br />

gibt es eine regelrechte Diskussion und<br />

schließlich eine Abstimmung durch Handerheben.<br />

Wenn die Stimmen ziemlich gleich<br />

verteilt sind, wird die Frage nochmals für<br />

weitere Diskussion verschoben: wenn die<br />

Mehrheit groß ist, werden jene, die in der<br />

Minderheit sind, gefragt, ob sie sich der<br />

allgemeinen Meinung unterwerfen wollen,<br />

was sie oft, ja sogar meistens tun. Wenn<br />

sie es nicht tun, wird die Frage ein drittes<br />

Mal erörtert, und wenn bis dann die Minderheit<br />

nicht beträchtlich stärker geworden<br />

ist, gibt sie immer nach; ich glaube zwar,<br />

es gibt eine alte halbvergessene Regel,<br />

nach welcher sie die Sache noch weiter<br />

hinausschieben kann. Was aber tatsächlich<br />

immer geschieht, ist, daß sie überzeugt<br />

wird; vielleicht nicht immer davon, daß sie<br />

nicht Recht hat, aber jedenfalls davon, daß<br />

sie die Gemeinde nicht überreden oder<br />

zwingen kann, ihren Vorschlag anzunehmen."<br />

„Sehr wohl" sprach ich; aber was geschieht,<br />

wenn der Unterschied zwischen<br />

den Stimmen noch immer sehr gering<br />

ist?"<br />

„Dann", sagte er, „gilt der Grundsatz<br />

und die Regel, daß die Frage nicht weiter<br />

erörtert wird, und die Mehrheit muß, wenn<br />

sie so gering ist, sich damit zufrieden geben,<br />

alles beim Alten zu belassen. Ich muß<br />

euch aber sagen, daß tatsächlich die Minderheit<br />

sehr selten auf die Anwendung dieser<br />

Regel besteht, sondern gewöhnlich auf<br />

freundschaftliche Art nachgibt."<br />

„Aber liegt in all dem nicht eine gewisse<br />

Verletzung des Willens der Persönlichkeit?"<br />

warf ich ein.<br />

Der Alte zwinkerte ein bischen mit den<br />

Augen. „Ich gebe zu," sagte er, „daß unsere<br />

Methoden nicht vollkommen sind. Aber<br />

was sollen wir tun? Die einzigen Alternativen<br />

wären: erstens daß wir eine Klasse<br />

von höherstehenden Personen wählen oder<br />

heranzüchten, welche fähig sein soll, alle Angelegenheiten<br />

zu entscheiden, ohne die<br />

Nachbarn um ihre Meinung zu fragen; d. h.<br />

daß wir uns eine sogenannte Beamtenaristokratie<br />

anschaffen; zweitens, daß wir zur<br />

Sicherung des „freien Willens der Persönlichkeit"<br />

zum System des Monopoleigentums<br />

zurückkehren und wiederum Sklaven und<br />

Sklavinnen und Sklavenhalter unter uns haben<br />

sollen. Was denkt Ihr von diesen beiden<br />

Auswegen ?"<br />

„Nun," sagte ich, „es gibt noch eine<br />

dritte Möglichkeit; nämlich, daß jedermann<br />

ganz unabhängig von jedermann ganz anders<br />

sein soll, und daß so die Tyrannei<br />

der Gesellschaft aufhört."<br />

Er schaute mich einen Moment scharf<br />

an, und dann brach er in ein kräftiges Lachen<br />

aus — und ich stimmte in dasselbe<br />

ein. Als wir uns erholt hatten, nickte er mir<br />

zu und sagte: „Ja, ja, ich bin ganz Eurer<br />

Meinung — und tun wir ja alle!"<br />

„Ja", sagte ich, „und überdies ist das<br />

nicht sehr hart für die Minderheit: denn<br />

nehmen wir den Fall mit dieser Brücke:<br />

niemand ist gezwungen, an derselben zu<br />

arbeiten, wenn er gegen deren Erbauung<br />

war, nicht wahr?"<br />

Er lächelte und sprach: „Fein ausgedacht;<br />

und dennoch vom Gesichtspunkt<br />

des Bewohners eines anderen Planeten.<br />

Wenn der Mann aus der Minderheit sich<br />

verletzt fühlt, kann er natürlich seinem Gefühl<br />

dadurch Luft machen, daß er beim<br />

Bau der Brücke nicht mithilft. Aber, lieber<br />

Nachbar, dies ist kein gutes Heilmittel gegen<br />

die Wunde, welche die „Tyrannei der<br />

Mehrheit" in unserer Gesellschaft geschlagen


hat. Jede Arbeit, die getan wird, ist für<br />

jedes Mitglied der Gesellschaft nützlich<br />

oder schädlich. Der Betreffende zieht Nutzen<br />

aus dem Brückenbau, wenn es sich zeigt,<br />

daß diese Arbeit nützlich war; und sie<br />

schadet ihm, wenn sie schlecht ausfällt, ob<br />

er nun dabei mithilft oder nicht; und dieweil<br />

ist seine Arbeit für die Brückenbauer<br />

von Nutzen. Ich sehe nicht, was er weiter<br />

tun könnte als zu sagen: „Ich hab's euch<br />

gesagt!", wenn der Brückenbau sich alsein<br />

Irrtum erweist und ihm schadet; wenn derselbe<br />

im nützt, muß er schweigen. Eine<br />

schreckliche Tyrannei unseres anarchistischen<br />

Kommunismus, nicht wahr? In vergangenen<br />

Zeiten, als es für jeden wohlgenährten<br />

zufriedenen Menschen tausend elende<br />

Hungerleider gab, hörte man oft warnende<br />

Stimmen gegen das Unglück, das durch<br />

Kommunismus und Anarchie in die Welt<br />

kommen würde. Wir hingegen werden dick<br />

und wohlgemut unter dieser „Tyrannei" —<br />

welche man meiner Ansicht nach nicht<br />

einmal mit dem schärfsten Vergrößerungsglas<br />

entdecken kann. Keine Angst, Freund!<br />

Wir wollen unseren schönen Frieden und<br />

Reichtum und unser Glück nicht durch häßliche<br />

Namen, deren Bedeutung wir schon<br />

ganz vergessen haben, verunglimpfen."<br />

Ein Mensch.<br />

Du hast ihn auch schon gesehen, ihn,<br />

von dem ich spreche.<br />

Wie er dahin schritt, stolz und doch<br />

voll Liebe für die Leiden seiner Mitmenschen<br />

— da sahst du seine weiße Stirne,<br />

die leuchtete von dem Abglanz seiner Gedanken,<br />

die in seinem Gehirn stürmen; du<br />

blicktest in seine Augen, die so wunderbares<br />

Feuer sprühen können und doch<br />

wieder so gütig blicken, gleich jenen, die<br />

sich auf Golgatha schlössen. An allem vorüber<br />

schreitet er, hinweg über jedes Hemmnis,<br />

nnd bückt sich doch liebevoll zu dem<br />

armen Kinde, das an seinem Wege weint.<br />

Einsam schreitet er, mit der heiligen Glut<br />

im Herzen den Samen streuend, der Freiheit<br />

entgegen, die sein Leitstern ist. Einen<br />

Narren schelten ihn die einen, und die anderen<br />

verlachen ihn, und alle schweigen<br />

beklommen vor dem heiligen Blick seiner<br />

Augen . . .<br />

Freiheitskünder, du einsamer Mensch!<br />

Sahst du ihn dahinschreiten durch die<br />

johlende, schreiende Menge, die ihn mit<br />

Kot bewarf, mit der bleichen Stirn und dem<br />

Glutblick?<br />

Alte Wahrheiten predigte er tauben<br />

Ohren, die alte Wahrheit vom ew'gen Menschenrecht.<br />

Spott ist sein Lohn und Steine.<br />

Müde wurde er des Redens am vollen<br />

Markte, und nur dort, wo Armut und Unglück<br />

weint, tröstet er mit liebevollem<br />

Munde, ihnen das Reich der Freiheit verheißend,<br />

mk<br />

Sahst du ihn, wie er dem Sklaventreiber<br />

die Peitsche entriß, dem elenden<br />

Knechte? Wie da seine Augen flammten,<br />

seine Stirne sich rötete! — Wie sie sich<br />

scheu verkrochen, als er den Gepeinigten<br />

aufhob mit liebreicher Hand!<br />

Er geht durch die Welt,<br />

säend der Freiheit, der göttlichen.<br />

Richard Freund.<br />

den Samen<br />

Neue Bücher.<br />

(Die an dieser Stelle veröffentlichten Schriften stehen<br />

indirekter oder indirekter Beziehung zu unserer<br />

Weltanschauung. Bei wertlosen Werken wird vor<br />

dem Ankauf gewarnt. Eine weitere Besprechung ist<br />

stets vorbehalten.)<br />

N a c k t s p o r t . Eine Sammlung von wissenschaftlichen<br />

Aufsätzen und schöngeistigen G e d a n ­<br />

ken samt vorzüglich ausgeführten Kunstphotogravüren.<br />

Das kleine Heftchen, d a s gewissermaßen<br />

einen Ersatz bilden soll für den Mangel eines regelmäßigen<br />

Organes, ist von dem Geh. Sanitätsrat<br />

Dr. Konrad Küster (Berlin S. W. 47, Yorkstr. 89)<br />

redigiert und entspricht allen Ansprüchen einer<br />

künstlerischen Gedankenwelt über die m o d e r n e<br />

Schönheitskultur im Interesse von Natur und G e ­<br />

sundheit. Der Preis dieses Heftes ist 60 Heller und<br />

wende man sich direkt an den Verlag W. Kästner,<br />

Berlin W. 57, Steinmetzstr. 78.<br />

D i e Q u e l l e . E i n e M o n a t s s c h r i f t f ü r<br />

L i t e r a t u r , K u n s t u n d T h e a t e r . Jährlich<br />

12 Nummern für 4 Kronen. Herausgeber und R e ­<br />

dakteur Dr. Robert Reinhard. Wien, 111. Rechte<br />

Bahngasse 14.<br />

W e r Sinn und Gemüt für eine in edler Absicht der<br />

Volksbildung geleitete schöngeistige Zeitschrift hat,<br />

wird den Bezug' der „Quelle" (Einzelexemplar<br />

40 Heller) nicht bereuen.<br />

G e s p r ä c h e m i t T o l s t o i . Mitgeteilt von<br />

J. Teneromo. Verlag von Erich Reiss, Berlin. Dieses<br />

Buch entstammt Aufzeichnungen über G e ­<br />

spräche, die J. Teneromo, der intime Freund T o l ­<br />

stois, in Jasnaja Poljana in den Jahren 1885 bis<br />

1908 mit dem großen Denker geführt hat. Wenn<br />

wir sagen, daß es vielleicht d a s klarste Werk ist,<br />

das je über Tolstoi erschien, sagen wir zu wenig.<br />

Dieses Buch ist eine wahrhaft geniale Zusammenfassung<br />

aller Tolstoischen Gedankengänge. Es verdient<br />

ein Vademekum, ein unzertrennlicher Begleiter<br />

aller Tolstoifreunde zu werden. Mit aufrichtiger<br />

Begeisterung heißen wir dieses schöne<br />

Buch willkommen!<br />

Kotoku Ansichtskarten. Im Verlage unseres<br />

Berliner Genossen Leon Hirsch, Berlin-Schöneberg<br />

(Sachsendamm Nr. 53) ist eine Korrespondenzkarte<br />

mit einem Bildnis unseres gemordeten japanischen<br />

Kameraden Denjiro Kotoku und drei anderer<br />

Kameraden erschienen. Wir empfehlen die Anschaffung<br />

dieser propagandistischen Korrespondenzkarte,<br />

die per 100 Stück nur K 4.30 kosten.

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