25.12.2013 Aufrufe

Dem Zensor. Staatserhaltende Sozial- demokratie. - DIR

Dem Zensor. Staatserhaltende Sozial- demokratie. - DIR

Dem Zensor. Staatserhaltende Sozial- demokratie. - DIR

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Wien, 2 0 . Februar 1910. Einzelexemplar 10 Hellen 3. Jahrgang. Nr. 4.<br />

Der »W. f. A."<br />

erscheint jeden<br />

I. u. 3. Sonntag<br />

im Monat. Redaktion<br />

und Expedition<br />

Wien,<br />

V.B., Ob. Amtshausg.41<br />

II/12.<br />

Gelder sind zu<br />

senden an<br />

Rud. Großmann,<br />

Klosterneuburg,<br />

Kierlingerstr.l83<br />

Abonnementspreis<br />

mit freier<br />

Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig<br />

K 3 - —;<br />

halbjährig K l-50.<br />

Für die Lander<br />

des Weltpostvereines<br />

ganzjährig<br />

Fr. 350,<br />

halbjähr.Fr.1-75,<br />

Vierteljahr. 90Ct.<br />

Mit monatlichem literarischem Beiblatt „Ohne Herrschaft"<br />

<strong>Dem</strong> <strong>Zensor</strong>.<br />

Von<br />

A n a s t a s i u s Grün.<br />

(Anton A. Graf Auersperg.*)<br />

Manchen P r i e s t e r k e n n t die S a g e , d e r , ein<br />

Held g e n a n n t mit F u g ,<br />

Durch d i e W e l t d a s W o r t d e r W a h r h e i t kühn<br />

u n d u n a u f h a l t s a m t r u g ,<br />

Der im K ö n i g s s a a l g e r u f e n : Pfui, ich w i t t ' r e<br />

K e r k e r l u f t !<br />

Und e s m a n c h b e s t e r n t e m H e u c h l e r l a u t g e s a g t :<br />

Du b i s t ein S c h u f t !<br />

War' ich solch ein Held d e r W a h r h e i t , mit<br />

d e m M ö n c h s k l e i d a n g e t a n ,<br />

Alsbald a n d e s Z e n s o r s W o h n u n g t r i e b e s mich<br />

z u p o c h e n a n ;<br />

Und ich s p r ä c h e zu d e m M a n n e : „ E r z s c h e l m ,<br />

s i n k ' a u f ' s Knie z u r S t e l l ' !<br />

Denn Du b i s t ein g r o ß e r S ü n d e r , b e i c h t e u n d<br />

b e k e n n e s c h n e l l ! "<br />

Und ich h ö r ' es s c h o n im G e i s t e , w i e er d'rauf<br />

i n U n s c h u l d s p r i c h t :<br />

„Ihr' E h r w ü r d e n s i n d im I r r t u m I D e r G e s u c h t e<br />

bin ich n i c h t !<br />

Ich v e r s ä u m e k e i n e M e s s e , Amt u n d Pflicht<br />

v e r s e h ' ich g u t !<br />

Bin kein H u r e r , G o t t e s l ä s t ' r e r , M ö r d e r , D i e b ,<br />

u n g l ä u b ' g e r J u d ' ! "<br />

Doch a u s mir d a n n b r ä c h e f l a m m e n d d e r Beg<br />

e i s t ' r u n g Glut h e r v o r ,<br />

Wie d u r c h B e r g u n d Kluft d e r D o n n e r , d r ö h n t<br />

ihm m e i n e S t i m m ' a n ' s O h r ;<br />

Jeder Blick e n t f l ö g e t ö t e n d ihm a l s Pfeil in's<br />

Herz h i n e i n ,<br />

Jedes W o r t , e s m ü ß t ' ein H a m m e r , d a s ihn g a n z<br />

z e r m a l m e , sein.<br />

„Ja, Du bist ein b l i n d e r J u d e I D e n n Du h a s t<br />

noch n i c h t e r k a n n t ,<br />

Daß des G e i s t e s F r e i h e i t g l o r r e i c h a l s M e s s i a s<br />

u n s e r s t a n d .<br />

Ja, D u b i s t ein b l u t ' g e r M ö r d e r ! D o p p e l t a r g<br />

u n d d o p p e l t d r e i s t !<br />

Nur die L e i b e r t ö t e t j e n e r , doch Du m o r d e s t<br />

a u c h d e n G e i s t !<br />

Ja, Du b i s t ein D i e b , ein a r g e r , o d e r noch<br />

viel s c h l i m m e r , t r a u n !<br />

Obst vom B a u m bei N a c h t zu s t e h l e n , s c h w i n g t<br />

s i c h j e n e r ü b e r n Z a u n ;<br />

In des M e n s c h e n g e i s t e s G a r t e n , s c h a d e n f r o h<br />

mit e i n e m Streich<br />

Willst den g a n z e n B a u m du fällen, Blüte, L a u b<br />

u n d F r u c h t z u g l e i c h .<br />

*) So sprach und dachte einst ein junger<br />

Aristokrat österreichischen Geblütes. Und dies in<br />

einer Zeit der politischen Finsternis, aber im<br />

festen Vertrauen auf das leuchtende Fanal einer<br />

freien Zukunft, die sich unbestimmt am Horizont<br />

seines geistigen Auges erhob. Grün (1806—1876),<br />

in Laibach geboren, gehörte als einer der wenigen<br />

österreichischen Kampfpoeten zu jener Periode<br />

deutscher Literatur, die unter dem Namen der p o ­<br />

litischen Lyrik ihre Zusammenfassung findet. Zugleich<br />

mit Georg Herwegh, dem unverdient fast<br />

vergessenen Franz Dingelstedt, mit Prutz und Ferdinand<br />

Freiligrath kämpfte Anastasius Grün gegen<br />

Vieles des Vor- und Nachmärzlichen der deutschen<br />

und zumal österreichischen Reaktion. Inwieferne<br />

seine Dichtung überlebt und die Zeiten „besser<br />

geworden" sind, das läßt sich leicht an obigem<br />

Gedicht ermessen.<br />

Anm. d. Red.<br />

„Ja, Du b i s t ein E h e b r e c h e r ! doch an S c h a n d e<br />

d o p p e l t r e i c h !<br />

J e n e r g l ü h t u n d f l a m m t für's S c h ö n e , b l ü h t ' s<br />

i n f r e m d e m G a r t e n g l e i c h .<br />

F ü r d i e s c h ö n e , ftolze S ü n d e ist Dein H e r z z u<br />

klein, zu s c h m a l !<br />

Und d e r N a c h t u n d Nebel D i r n e — die n u r ist<br />

Dein I d e a l !<br />

„Ja, D u bist ein G o t t e s l ä s t ' r e r , o d e r ä r g e r<br />

n o c h , b e i G o t t !<br />

T o t e Holz- u n d M a r m o r b i l d e r s c h l ä g t i n T r ü m ­<br />

m e r frech sein S p o t t !<br />

D e i n e H a n d d o c h i s t ' s d i e r u c h l o s d a s l e b e n d ' g e<br />

Bild z e r s c h l ä g t ,<br />

D a s n a c h G o t t e s h e i l ' g e m S t e m p e l M e n s c h e n ­<br />

g e i s t h a t a u s g e p r ä g t !<br />

„Ja, Du b i s t ein g r o ß e r S ü n d e r ! — F r e i l ä ß t<br />

i r d i s c h R e c h t Dich g e h ' n ,<br />

Doch in D e i n e m Busen d r i n n e n , R a d u n d Oalg<br />

e n mußt Du s e h ' n ,<br />

A n die B r u s t d ' r u m s c h l a g e r e u i g , u n d Dein<br />

Knie, e s b e u g e s i c h !<br />

T u e B u s s ' ! Auf's H a u p t s t r e u ' A s c h e ! Z i e h '<br />

d a h i n u n d b e s s ' r e D i c h !<br />

<strong>Staatserhaltende</strong> <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong>.<br />

Wir haben schon oftmals über die<br />

Rettung des österreichischen Parlaments<br />

durch die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> geschrieben und<br />

machten dazu einige Bemerkungen, die b e ­<br />

weisen sollten, daß die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> auf<br />

dem besten W e g e ist, und zwar in allen<br />

Ländern, zur stärksten Stütze des heutigen<br />

Staatswesens zu werden. Von unserem<br />

Standpunkte aus betrachtet, bildet die heutige<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> mit ihrer Taktik die<br />

größte Gefahr für den Kampf um die endgültige<br />

Befreiung der proletarischen Klasse,<br />

weil sie angesichts dessen, daß sie a n g e b ­<br />

lich eine Klassenkampfpartei ist, der sich<br />

die größte Mehrzahl aller organisierten Pro -<br />

letarier angeschlossen haben, diese Massen<br />

zu dem W a h n e verführt, als sei durch den<br />

Parlamentarismus nicht nur das Los der<br />

Besitzlosen zu erleichtern, sondern sogar<br />

gänzlich aufzuheben und aus dem jeweiligen<br />

Klassenstaate einen Rechtsstaat zu schaffen.<br />

Wo wir aber für die Arbeiterschaft G e ­<br />

fahren sehen, da sieht freilich das a n g e b ­<br />

lich liberale Bürgertum „Fortschritt"; wo<br />

wir uns in heiligem Zorn über soz.-dem.<br />

Handlungen, die vom W e g e des <strong>Sozial</strong>ismus<br />

abführen, entrüsten, da bricht das linksliberale<br />

Bürgertum in Lobgesänge aus.<br />

Schon des öfteren haben wir Fälle<br />

zitiert, wo die deutsche <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong><br />

ihres „ v e r n ü n f t i g e n " Verhaltens wegen<br />

bald von diesen, bald von jenen bürgerlichen<br />

Schriftstellern über den grünen Klee<br />

gelobt wurde, und können wir es uns<br />

nicht versagen, unseren Lesern auch von<br />

der neuesten Lobeshymne, die diesmal Herr<br />

v o n Gerlach in der „Welt am M o n t a g " ob<br />

des Rettung des österreichischen Parlaments<br />

durch die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> in der Nummer 52<br />

des genannten Wochenblattes angestimmt<br />

hat, Kenntnis — natürlich nur a u s z u g s ­<br />

weise und d a s Charakteristische festhaltend<br />

— zu geben.<br />

Schon in der Einleitung des Artikels<br />

an leitender Stelle des Blattes, der obige<br />

Überschrift trägt, sagt Herr von G e r l a c h :<br />

„Alte Tafeln werden zertrümmert. Die<br />

Umwertung aller Werte schreitet fort. Selbst<br />

in Deutschland wagen es immer weniger<br />

Leute, die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> als Umstürzler,<br />

Reichsfeinde und vaterlandslose Gesellen zu<br />

bezeichnen . . ."<br />

„Und die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> b e q u e m t<br />

sich den veränderten Verhältnissen an.<br />

Immer häufiger wird d a s W o r t des alten<br />

Liebknecht zitiert: „Wenn es das Wohl<br />

der Partei gebietet, werde ich in 24 Stunden<br />

24 mal meine Taktik ändern. Immer<br />

seltener wird mit der revolutionären Phrase<br />

kokettiert. Immer mehr Vizepräsidentenposten<br />

werden akzeptiert, immer mehr Stichwahlbündnisse<br />

werden abgeschlossen.<br />

Wo anders ist man freilich schon weiter<br />

auf b e i d e n Seiten! I n Ö s t e r r e i c h ist<br />

die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> nicht bloß ei n e u n t e r<br />

den staatserhaltenden Parteien, sondern g e ­<br />

radezu d i e staatserhaltende Partei."<br />

U n d dann erzählt er die Vorgänge im<br />

österreichischen Parlament, wie wir sie<br />

schon kennen. Wo ein paar halbverrückte<br />

nationale Fanatiker die ungeheure Mehrheit<br />

der vernünftigen Leute dank einer w a h n ­<br />

witzigen Geschäftsordnung tyrannisierten,<br />

indem sie eine 8 6 s t ü n d i g e O b s t r u k ­<br />

t i o n trieben."<br />

„Da erhoben sich die <strong>Sozial</strong>demokraten<br />

unter Führung des genialen Taktikers Adler."<br />

Die <strong>Sozial</strong>demokraten halfen dem P r ä ­<br />

sidenten, der nicht ihr Mann ist, eine fast<br />

d i k t a t o r i s c h e Vollmacht — etwa nach<br />

Art des Speakers im englischen Unterhause<br />

— verleihen. Sie als Minderheit verzichteten<br />

auf Minderheitsrechte der bürgerlichen Mehrheit.<br />

Sie willigten sogar in die Bestimmung,<br />

wonach renitente Abgeordnete für eine Anzahl<br />

von Sitzungen ausgeschlossen werden<br />

können . . .<br />

Österreich hat allen Grund, seiner S o ­<br />

zial<strong>demokratie</strong> dankbar dafür zu sein, daß<br />

sie gerade das Gegenteil dessen getan hat,<br />

w a s in dem Satze enthalten ist: „Alles muß<br />

verruiniert sein." S i e h a t d e m ö s t e r ­<br />

r e i c h i s c h e n S t a a t s w e s e n e i n e n<br />

D i e n s t a l l e r e r s t e n R a n g e s g e ­<br />

l e i s t e t .<br />

D e r e r s t e i s t e s n i c h t .<br />

Herr v. Gerlach schildert dann weiter<br />

die Verdienste der österreichischen <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong>.<br />

Wir zitieren d a s Bezeichnendste:<br />

„Daß Österreich wieder ein Staatswesen<br />

geworden ist, das man mit Achtung nennt,<br />

verdankt es der Einführung d e s allgemeinen<br />

und gleichen Wahlrechtes. Vorher stolperte<br />

es von Niederlage zu Niederlage. Die innere


Zersetzung w a r soweit vorgeschritten, daß<br />

man eigentlich kaum noch darüber diskutierte,<br />

o b, sondern nur darüber, w a n n es<br />

endgültig zerfallen werde.<br />

Da kam die rettende Tat, die D e m o ­<br />

kratisierung und Parlamentarisierung des<br />

Reiches. Der alte Kaiser Franz Josef ließ<br />

sich erleuchten. Er sah ein, die alten Bahnen<br />

mußten resolut verlassen werden, wenn<br />

nicht Monarchie und Staatszusammenhang<br />

zum Teufel gehen sollten.<br />

S e i n e b e s t e n G e h i l f e n b e i d e r<br />

E r n e u e r u n g Ö s t e r r e i c h s w a r e n<br />

d i e S o z i a l d e m o k r a t e n . . . .<br />

Der <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> gebührt nach ihrer<br />

Stärke ein Vizepräsidentenposten! D a s war<br />

gemeinsame Überzeugung aller vernünftigen<br />

Politiker, U n d die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> hielt es<br />

für ihre Pflicht, von ihrem Rechte Gebrauch<br />

zu machen. Nebensächliche Etikettenfragen<br />

behandelte sie als Nebensache. Pernerstorfer<br />

w u r d e Vizepräsident und ging zum Kaiser.<br />

„Er ist sehr lieb zu mir gewesen," soll<br />

Franz Josef über Pernerstorfers Besuch g e ­<br />

sagt haben. Ein entzückendes Wort. Leise,<br />

nicht verletzende Ironie schimmert hindurch.<br />

So spricht ein Monarch, der nicht vergebens<br />

gelebt hat.<br />

Die österreichische <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong><br />

fühlt sich als Vertreterin der Massen in<br />

erster Linie, verpflichtet, den Staat zu erhalten,<br />

dem diese Massen angehören. Darum<br />

opferte sie Einzelheiten des soz.-dem. P r o ­<br />

gramms, um erst einmal diesem Staat das<br />

rettende Wahlrecht zu geben. Darum nahm<br />

sie die Bürde des Vizepräsidiums auf sich.<br />

Darum trieb sie alle diese Jahre hindurch<br />

Realpolitik. Darum krönte sie ihr O r d n u n g s ­<br />

werk durch die Vernichtung der parlamentarischen<br />

Unordnung.<br />

D R . V i k t o r A d l e r u n d K a i s e r<br />

F r a n z J o s e f , d a s s i n d h e u t e d i e<br />

b e i d e n H a u p t e l e m e n t e d e s Z u ­<br />

s a m m e n h a l t s d e s ö s t e r r e i c h i ­<br />

s c h e n S t a a t s o r g a n i s m u s .<br />

Und die N u t z a n w e n d u n g für Deutschland<br />

?"<br />

Diese Frage traut sich Herr v. Gerlach<br />

nicht offen zu beantworten. Er glaubt, daß<br />

wenn er zu deutlich wird, die Entwicklung<br />

der Dinge zu stören. Er sagt d a h e r : „Es<br />

gibt Dinge, deren Entwicklung man dann<br />

am meisten stört, wenn man zu deutlich<br />

darüber spricht. W e r Ohren hat, zu hören,<br />

und Augen hat zu sehen, dem scheint die<br />

Zukunft Deutschlands in einem anderen<br />

Lichte als einem alldeutschen Oberlehrer."<br />

Ganz r e c h t ! Herr v. G e r l a c h ; beim<br />

Loben muß auch etwas Vorsicht geübt<br />

werden. Kann doch bei allzu großer Deutlichkeit<br />

schließlich d o c h mancher auf den<br />

W e g aufmerksam werden, den die Führer der<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> im Sturmschritt laufen.<br />

Könnten doch sonst die Mittrottenden<br />

schließlich sich doch der W o r t e des Abgeordneten<br />

Bebel erinnern, die er 1890 in<br />

Halle a . S . also s p r a c h : „ W e n n u n s d i e<br />

G e g n e r l o b e n , h a b e n w i r e n t w e ­<br />

d e r e i n e g r o ß e D u m m h e i t b e g a n ­<br />

g e n , o d e r w i r s i n d a u f d e m b e s t e n<br />

W e g e , e i n e s o l c h e z u b e g e h e n ! "<br />

D a r u m ist es besser und fruchtbringender,<br />

als deutscher Liberaler die österreichische<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> und als österreichischer<br />

die deutsche <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong><br />

ihrer Taktik wegen zu loben. D a s fällt nicht so<br />

auf, und die D u m m e n freuen sich viel mehr.<br />

Selbsterkenntnis.<br />

„<strong>Sozial</strong>istische Minister sind u n t e r<br />

das Niveau fortgeschrittener bürgerlicher<br />

Regierungen gesunken. Kein „sozialistischer<br />

Minister" hat auch nur annähernd für die<br />

<strong>Dem</strong>okratie geleistet, w a s ein ehrlicher,<br />

w e n n auch beschränkter <strong>Dem</strong>okrat wie<br />

C o m b e s für sie tat. Die sozialistischen Minister<br />

haben mit a l l e n Mitteln sich im Amt<br />

zu sichern gesucht . . ."<br />

Ch. Rappaport (<strong>Sozial</strong>demokrat)<br />

in der theoretischen Revue der deutschen<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> „Die neue Zeit."<br />

Lohnkampf und Preissteigerung.<br />

„Die vorstehende theoretische Untersuchung<br />

führt somit zu dem Ergebnis, daß der Kampf der<br />

Arbeiterschaft um den Lohn ein völlig nutzloser<br />

ist . . . Immer und immer wieder beobachten wir<br />

das Schauspiel, daß die Preise durch Lohnforderungen<br />

empo: getrieben werden, was wieder zu<br />

neuen Lohnforderungen Anlaß gibt . . .<br />

Dr. Otto Conrad, Konsulent der nied.-öst.<br />

Handels- und Gewerbekammer in der . ö s t e r ­<br />

reichischen Rundschau" im Janner 1910.<br />

Die vorstehenden Äußerungen eines<br />

Schriftstellers des Kapitalismus wollen „Irrlehren<br />

der Nationalökonomie" widerlegen.<br />

In Wahrheit aber wiederholen sie alle Argumente,<br />

die bereits längst widerlegt wurden.<br />

Gewiß, Herr Otto Conrad und diejenigen,<br />

die sich seine Logik zu eigen<br />

machen, werden dies nicht einsehen. Sie<br />

verfallen eben, obgleich Bekämpfer von Irrlehren,<br />

in neue, noch weit gewaltigere Irrlehren,<br />

indem sie den Schein für Wahrheit<br />

ausgeben und die Ursachen ihrer Scheinwahrheiten<br />

ganz und gar nicht begreifen.<br />

Ihre Logik ist eine ungemein einfache,<br />

und das Merkwürdige daran ist. d a ß die<br />

Menschen sie bislang noch nicht erkannt<br />

und ihr entsprechend Folge geleistet haben.<br />

Also der Lohnkampf des Arbeiters führt<br />

zur Steigerung des Preises des von ihm<br />

erzeugten P r o d u k t e s ; noch mehr, da diese<br />

Steigerung des Preises eine künstliche Beschränkung<br />

der Nachfrage des Konsums<br />

mit sich bringt, so führt dieser Lohnkampf<br />

des Arbeiters zur Einschränkung der P r o ­<br />

duktion und damit zur Vermehrung der Arbeitslosigkeit.<br />

Diese Darlegungen haben wir<br />

erst unlängst auch aus dem M u n d e österreichischer<br />

reaktionärer Staatsmänner vern<br />

o m m e n ; sie sind gewiß einfach und spottwohlfeil.<br />

Und dennoch ist sie vollständig falsch<br />

gerade in dem, daß sie eine gewisse<br />

h a l b e Wahrheit enthält. Bekanntlich sind<br />

die halben Wahrheiten stets weit gefährlicher<br />

als die ganzen Lügen. Diese durchschaut<br />

man leicht, jene haben viel scheinbar<br />

Bestechliches, Gewinnendes an sich.<br />

Die Leere dieses ganzen kapitalistischen<br />

Gedankenganges, die darauf hinausläuft,<br />

dem Arbeiter eine angebliche Nutz- und<br />

Zwecklosigkeit des wirtschaftlichen Klassenkampfes<br />

— und wer kann im Gewerkschaftskampf<br />

den Klassenkampf nicht erblicken?<br />

— zu beweisen, ersieht man,<br />

wenn man sich Länder der kapitalistischen<br />

Ausbeutung vor Augen hält, in denen die<br />

Gewerkschaftsbewegung fast gar nicht existiert.<br />

Nehmen wir Indien, nehmen wir den<br />

Kongo. Nehmen wir meinetwegen „zivilisiertere"<br />

S t a a t e n ; vergleichen wir z. B. die<br />

Lage des englischen Arbeiters mit jener des<br />

reichsdeutschen. Wieso kommt es, daß in<br />

England, wo der gewerkschaftliche Kampf,<br />

wenn auch stets im Rahmen des Bestehenden,<br />

aber bis vor Kurzem rein wirtschaftlich<br />

und im ökonomischen Klassensinn<br />

des Arbeiters geführt ward, die Lage<br />

des Arbeiters eine wirtschaftlich höher stehende<br />

ist als z. B. in D e u t s c h l a n d ? Daß<br />

also der englische Arbeiter mit seinem Verdienst<br />

m e h r Lebensmittel kaufen und b e ­<br />

streiten kann als der deutsche Arbeiter.<br />

W ä h r e n d wir in jenen Ländern, in denen<br />

die Gewerkschaftsbewegung nicht oder<br />

schwach existiert, geradezu schwindelhaft<br />

hohe Preise für die Lebensmittel und erbärmliche<br />

Löhne vorfinden.<br />

Lohnkampf und Preissteigerung hängen<br />

n i c h t a b s o l u t mit einander zusammen.<br />

Ein klarer Beweis dafür ist mit Leichtigkeit<br />

zu g e b e n : Der englische Kohlengräber und<br />

Bergarbeiter stellt höhere Anforderungen<br />

sowohl ans Leben, wie auch an die g e ­<br />

werkschaftlichen Möglichkeiten; sein Lohn<br />

ist bedeutend höher als jener des österreichischen<br />

und reichsdeutschen Bergarbeiters.<br />

Mir liegen im Augenblick die<br />

Ziffern der deutschen Preise nicht vor,<br />

aber d a s weiß ich, daß die Kohle in Österreich<br />

um rund 40 Heller per Meterzentner<br />

teurer ist als in England. W o h e r kommt<br />

dies, wenn der Gewerkschaftskampf es ist,<br />

der die Preise in die Höhe schnellen läßt?<br />

Allerdings, in e i n e m Sinne mag man<br />

diese Behauptung, die aber auch in diesem<br />

Fall n i c h t das Problem trifft, sondern daneben<br />

schlägt, gern gelten l a s s e n ; und<br />

durch diesen einen Sinn gewinnt sie ja<br />

aber auch den Schein ihrer Richtigkeit.<br />

Es sei rund heraus g e s a g t : W e n n die<br />

Gewerkschaftsbewegung auf diesem Niveau<br />

verbleibt, auf dem sie sich gegenwärtig befindet,<br />

s o w i r d s i e s e l b s t v e r s t ä n d ­<br />

l i c h e i n m i t w i r k e n d e r F a k t o r i n<br />

d e r k a p i t a l i s t i s c h e n P r e i s s t e i ­<br />

g e r u n g . Ursprünglich werden die Preissteigerungen<br />

durch den Staat, durch seine<br />

wucherische Zollpolitik, durch seine wirtschaftlichen<br />

Monopole herbeigeführt. Sie<br />

sind die wahre, erste und ursprünglich einzige<br />

Quelle der Preissteigerung der Waren.<br />

Die Belastungen der Industrie drücken<br />

naturgemäß auf den Profit des Kapitalisten,<br />

und dieser wehrt sich dagegen, daß er die<br />

Preise höher fixiert. So beginnen die Preistreibereien<br />

in der kapitalistischen Ära, selbst<br />

schon zu einer Zeit, wo die Gewerkschaftsbewegung<br />

in ihrer heutigen Form noch<br />

nicht bestand. Heute dauert dieselbe Tendenz<br />

gleichmäßig fort. U n d da ist es allerdings<br />

eine Tatsache, daß die Gewerkschaften,<br />

die auf der alten soz.-dem. Basis<br />

stehen und mit ihren Kleinstreiks vorgehen,<br />

sich um die lebende Solidarität und Einheit<br />

im Proletariat als Produzent u n d Konsument<br />

nicht bekümmern, daß sie es sich<br />

g e f a l l e n l a s s e n , wenn ihnen die Preise,<br />

in Folge i s o l i e r t e r Lohnkämpfe einzelner<br />

Branchen etc., noch mehr in die Höhe getrieben<br />

werden, als es schon unter dem<br />

Einfluß des Staates ohnedies geschieht.<br />

In Wien haben wir vor Neujahr die<br />

Bewegung der Straßenbahner gehabt. Ihre<br />

Löhne sind ihnen vom Gemeinderate gesteigert<br />

w o r d e n ; doch gleichzeitig sind die<br />

Fahrtarife für d a s Publikum gestiegen.<br />

Aber es ist falsch, das Kind mit dem<br />

Bade auszuschütten, wollte man diese Tatsache<br />

nun auf Konto des Gewerkschaftsund<br />

Lohnkampfes schlechthin setzen. Wir<br />

haben es hier mit einem Unverständnis, mit<br />

einer reaktionären Verkümmerung des Lohnkampfes,<br />

mit einer vollständigen Verkennung<br />

jedes Solidaritätsmomentes im gewerkschaftlichen<br />

Kampf zu tun. Daran ist n i c h t<br />

d i e s e r , daran sind die ihn führenden<br />

Menschen schuld, und ihre Kampfesart kann<br />

ja jederzeit geändert werden, sobald sie<br />

selbst die nötige Geisteserkenntnis dazu<br />

haben, wobei dieser reaktionäre gelbe Gewerkschaftskampf,<br />

wie er gegenwärtig allerdings<br />

gesucht wird, zu dem wird, was wir<br />

Anarchisten aus ihm machen w o l l e n : z u m<br />

r e v o l u t i o n ä r e n W i r t s c h a f t s k a m p f<br />

d e r G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g , der<br />

dann — und das ist das Wichtige — n i c h t<br />

dieselben Wirkungen im Gefolge hat, wie<br />

der gegenwärtig auf Grundlage des Kleinstreiks<br />

und der Harmonie zwischen Kapital<br />

und Arbeit geführte.<br />

Es soll nicht geleugnet werden, daß<br />

die Konservativen, wie auch die soz.-dem.<br />

Führer der bestehenden Gewerkschaften,<br />

die auf Schein und S a n d aufgebaut und<br />

absolut ziellos sind in ihrem Streben, daß<br />

sie naturgemäß dahin wirken, daß der Kapitalist<br />

ihnen jeden sogenannten „Sieg"<br />

übel vergilt, indem er die Preise ihrer<br />

Waren steigert und zwar maßlos steigert,<br />

während ihr „Sieg" nur sehr mäßig war.<br />

Aber es wäre unsinnig, nun zu sagen, die<br />

Gewerkschaftsbewegung a l s s o l c h e sei<br />

Schuld daran. Nein, ihre Korrumpierung,<br />

ihre Hindrängung auf d a s kapitalistische<br />

Moralgebiet, das ist Schuld daran. Der<br />

Kapitalist steigert die Preise, sobald als er<br />

die Löhne gesteigert hat, nicht weil solches<br />

im W e s e n der Gewerkschaftsbewegung oder<br />

ihres Lohnkampfes liegt, s o n d e r n d e s ­<br />

h a l b , weil die Gewerkschaften nicht dazu


Zersetzung w a r soweit vorgeschritten, daß<br />

man eigentlich kaum noch darüber diskutierte,<br />

o b, sondern nur darüber, w a n n es<br />

endgültig zerfallen werde.<br />

Da kam die rettende Tat, die D e m o ­<br />

kratisierung und Parlamentarisierung des<br />

Reiches. Der alte Kaiser Franz Josef ließ<br />

sich erleuchten. Er sah ein, die alten Bahnen<br />

mußten resolut verlassen werden, wenn<br />

nicht Monarchie und Staatszusammenhang<br />

zum Teufel gehen sollten.<br />

S e i n e b e s t e n G e h i l f e n b e i d e r<br />

E r n e u e r u n g Ö s t e r r e i c h s w a r e n<br />

d i e S o z i a l d e m o k r a t e n . . . .<br />

Der <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> gebührt nach ihrer<br />

Stärke ein Vizepräsidentenposten! D a s war<br />

gemeinsame Überzeugung aller vernünftigen<br />

Politiker, U n d die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> hielt es<br />

für ihre Pflicht, von ihrem Rechte Gebrauch<br />

zu machen. Nebensächliche Etikettenfragen<br />

behandelte sie als Nebensache. Pernerstorfer<br />

w u r d e Vizepräsident und ging zum Kaiser.<br />

„Er ist sehr lieb zu mir gewesen," soll<br />

Franz Josef über Pernerstorfers Besuch g e ­<br />

sagt haben. Ein entzückendes Wort. Leise,<br />

nicht verletzende Ironie schimmert hindurch.<br />

So spricht ein Monarch, der nicht vergebens<br />

gelebt hat.<br />

Die österreichische <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong><br />

fühlt sich als Vertreterin der Massen in<br />

erster Linie, verpflichtet, den Staat zu erhalten,<br />

dem diese Massen angehören. Darum<br />

opferte sie Einzelheiten des soz.-dem. P r o ­<br />

gramms, um erst einmal diesem Staat das<br />

rettende Wahlrecht zu geben. Darum nahm<br />

sie die Bürde des Vizepräsidiums auf sich.<br />

Darum trieb sie alle diese Jahre hindurch<br />

Realpolitik. Darum krönte sie ihr O r d n u n g s ­<br />

werk durch die Vernichtung der parlamentarischen<br />

Unordnung.<br />

D R . V i k t o r A d l e r u n d K a i s e r<br />

F r a n z J o s e f , d a s s i n d h e u t e d i e<br />

b e i d e n H a u p t e l e m e n t e d e s Z u ­<br />

s a m m e n h a l t s d e s ö s t e r r e i c h i ­<br />

s c h e n S t a a t s o r g a n i s m u s .<br />

Und die N u t z a n w e n d u n g für Deutschland<br />

?"<br />

Diese Frage traut sich Herr v. Gerlach<br />

nicht offen zu beantworten. Er glaubt, daß<br />

wenn er zu deutlich wird, die Entwicklung<br />

der Dinge zu stören. Er sagt d a h e r : „Es<br />

gibt Dinge, deren Entwicklung man dann<br />

am meisten stört, wenn man zu deutlich<br />

darüber spricht. W e r Ohren hat, zu hören,<br />

und Augen hat zu sehen, dem scheint die<br />

Zukunft Deutschlands in einem anderen<br />

Lichte als einem alldeutschen Oberlehrer."<br />

Ganz r e c h t ! Herr v. G e r l a c h ; beim<br />

Loben muß auch etwas Vorsicht geübt<br />

werden. Kann doch bei allzu großer Deutlichkeit<br />

schließlich d o c h mancher auf den<br />

W e g aufmerksam werden, den die Führer der<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> im Sturmschritt laufen.<br />

Könnten doch sonst die Mittrottenden<br />

schließlich sich doch der W o r t e des Abgeordneten<br />

Bebel erinnern, die er 1890 in<br />

Halle a . S . also s p r a c h : „ W e n n u n s d i e<br />

G e g n e r l o b e n , h a b e n w i r e n t w e ­<br />

d e r e i n e g r o ß e D u m m h e i t b e g a n ­<br />

g e n , o d e r w i r s i n d a u f d e m b e s t e n<br />

W e g e , e i n e s o l c h e z u b e g e h e n ! "<br />

D a r u m ist es besser und fruchtbringender,<br />

als deutscher Liberaler die österreichische<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> und als österreichischer<br />

die deutsche <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong><br />

ihrer Taktik wegen zu loben. D a s fällt nicht so<br />

auf, und die D u m m e n freuen sich viel mehr.<br />

Selbsterkenntnis.<br />

„<strong>Sozial</strong>istische Minister sind u n t e r<br />

das Niveau fortgeschrittener bürgerlicher<br />

Regierungen gesunken. Kein „sozialistischer<br />

Minister" hat auch nur annähernd für die<br />

<strong>Dem</strong>okratie geleistet, w a s ein ehrlicher,<br />

w e n n auch beschränkter <strong>Dem</strong>okrat wie<br />

C o m b e s für sie tat. Die sozialistischen Minister<br />

haben mit a l l e n Mitteln sich im Amt<br />

zu sichern gesucht . . ."<br />

Ch. Rappaport (<strong>Sozial</strong>demokrat)<br />

in der theoretischen Revue der deutschen<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> „Die neue Zeit."<br />

Lohnkampf und Preissteigerung.<br />

„Die vorstehende theoretische Untersuchung<br />

führt somit zu dem Ergebnis, daß der Kampf der<br />

Arbeiterschaft um den Lohn ein völlig nutzloser<br />

ist . . . Immer und immer wieder beobachten wir<br />

das Schauspiel, daß die Preise durch Lohnforderungen<br />

empo: getrieben werden, was wieder zu<br />

neuen Lohnforderungen Anlaß gibt . . .<br />

Dr. Otto Conrad, Konsulent der nied.-öst.<br />

Handels- und Gewerbekammer in der . ö s t e r ­<br />

reichischen Rundschau" im Janner 1910.<br />

Die vorstehenden Äußerungen eines<br />

Schriftstellers des Kapitalismus wollen „Irrlehren<br />

der Nationalökonomie" widerlegen.<br />

In Wahrheit aber wiederholen sie alle Argumente,<br />

die bereits längst widerlegt wurden.<br />

Gewiß, Herr Otto Conrad und diejenigen,<br />

die sich seine Logik zu eigen<br />

machen, werden dies nicht einsehen. Sie<br />

verfallen eben, obgleich Bekämpfer von Irrlehren,<br />

in neue, noch weit gewaltigere Irrlehren,<br />

indem sie den Schein für Wahrheit<br />

ausgeben und die Ursachen ihrer Scheinwahrheiten<br />

ganz und gar nicht begreifen.<br />

Ihre Logik ist eine ungemein einfache,<br />

und das Merkwürdige daran ist. d a ß die<br />

Menschen sie bislang noch nicht erkannt<br />

und ihr entsprechend Folge geleistet haben.<br />

Also der Lohnkampf des Arbeiters führt<br />

zur Steigerung des Preises des von ihm<br />

erzeugten P r o d u k t e s ; noch mehr, da diese<br />

Steigerung des Preises eine künstliche Beschränkung<br />

der Nachfrage des Konsums<br />

mit sich bringt, so führt dieser Lohnkampf<br />

des Arbeiters zur Einschränkung der P r o ­<br />

duktion und damit zur Vermehrung der Arbeitslosigkeit.<br />

Diese Darlegungen haben wir<br />

erst unlängst auch aus dem M u n d e österreichischer<br />

reaktionärer Staatsmänner vern<br />

o m m e n ; sie sind gewiß einfach und spottwohlfeil.<br />

Und dennoch ist sie vollständig falsch<br />

gerade in dem, daß sie eine gewisse<br />

h a l b e Wahrheit enthält. Bekanntlich sind<br />

die halben Wahrheiten stets weit gefährlicher<br />

als die ganzen Lügen. Diese durchschaut<br />

man leicht, jene haben viel scheinbar<br />

Bestechliches, Gewinnendes an sich.<br />

Die Leere dieses ganzen kapitalistischen<br />

Gedankenganges, die darauf hinausläuft,<br />

dem Arbeiter eine angebliche Nutz- und<br />

Zwecklosigkeit des wirtschaftlichen Klassenkampfes<br />

— und wer kann im Gewerkschaftskampf<br />

den Klassenkampf nicht erblicken?<br />

— zu beweisen, ersieht man,<br />

wenn man sich Länder der kapitalistischen<br />

Ausbeutung vor Augen hält, in denen die<br />

Gewerkschaftsbewegung fast gar nicht existiert.<br />

Nehmen wir Indien, nehmen wir den<br />

Kongo. Nehmen wir meinetwegen „zivilisiertere"<br />

S t a a t e n ; vergleichen wir z. B. die<br />

Lage des englischen Arbeiters mit jener des<br />

reichsdeutschen. Wieso kommt es, daß in<br />

England, wo der gewerkschaftliche Kampf,<br />

wenn auch stets im Rahmen des Bestehenden,<br />

aber bis vor Kurzem rein wirtschaftlich<br />

und im ökonomischen Klassensinn<br />

des Arbeiters geführt ward, die Lage<br />

des Arbeiters eine wirtschaftlich höher stehende<br />

ist als z. B. in D e u t s c h l a n d ? Daß<br />

also der englische Arbeiter mit seinem Verdienst<br />

m e h r Lebensmittel kaufen und b e ­<br />

streiten kann als der deutsche Arbeiter.<br />

W ä h r e n d wir in jenen Ländern, in denen<br />

die Gewerkschaftsbewegung nicht oder<br />

schwach existiert, geradezu schwindelhaft<br />

hohe Preise für die Lebensmittel und erbärmliche<br />

Löhne vorfinden.<br />

Lohnkampf und Preissteigerung hängen<br />

n i c h t a b s o l u t mit einander zusammen.<br />

Ein klarer Beweis dafür ist mit Leichtigkeit<br />

zu g e b e n : Der englische Kohlengräber und<br />

Bergarbeiter stellt höhere Anforderungen<br />

sowohl ans Leben, wie auch an die g e ­<br />

werkschaftlichen Möglichkeiten; sein Lohn<br />

ist bedeutend höher als jener des österreichischen<br />

und reichsdeutschen Bergarbeiters.<br />

Mir liegen im Augenblick die<br />

Ziffern der deutschen Preise nicht vor,<br />

aber d a s weiß ich, daß die Kohle in Österreich<br />

um rund 40 Heller per Meterzentner<br />

teurer ist als in England. W o h e r kommt<br />

dies, wenn der Gewerkschaftskampf es ist,<br />

der die Preise in die Höhe schnellen läßt?<br />

Allerdings, in e i n e m Sinne mag man<br />

diese Behauptung, die aber auch in diesem<br />

Fall n i c h t das Problem trifft, sondern daneben<br />

schlägt, gern gelten l a s s e n ; und<br />

durch diesen einen Sinn gewinnt sie ja<br />

aber auch den Schein ihrer Richtigkeit.<br />

Es sei rund heraus g e s a g t : W e n n die<br />

Gewerkschaftsbewegung auf diesem Niveau<br />

verbleibt, auf dem sie sich gegenwärtig befindet,<br />

s o w i r d s i e s e l b s t v e r s t ä n d ­<br />

l i c h e i n m i t w i r k e n d e r F a k t o r i n<br />

d e r k a p i t a l i s t i s c h e n P r e i s s t e i ­<br />

g e r u n g . Ursprünglich werden die Preissteigerungen<br />

durch den Staat, durch seine<br />

wucherische Zollpolitik, durch seine wirtschaftlichen<br />

Monopole herbeigeführt. Sie<br />

sind die wahre, erste und ursprünglich einzige<br />

Quelle der Preissteigerung der Waren.<br />

Die Belastungen der Industrie drücken<br />

naturgemäß auf den Profit des Kapitalisten,<br />

und dieser wehrt sich dagegen, daß er die<br />

Preise höher fixiert. So beginnen die Preistreibereien<br />

in der kapitalistischen Ära, selbst<br />

schon zu einer Zeit, wo die Gewerkschaftsbewegung<br />

in ihrer heutigen Form noch<br />

nicht bestand. Heute dauert dieselbe Tendenz<br />

gleichmäßig fort. U n d da ist es allerdings<br />

eine Tatsache, daß die Gewerkschaften,<br />

die auf der alten soz.-dem. Basis<br />

stehen und mit ihren Kleinstreiks vorgehen,<br />

sich um die lebende Solidarität und Einheit<br />

im Proletariat als Produzent u n d Konsument<br />

nicht bekümmern, daß sie es sich<br />

g e f a l l e n l a s s e n , wenn ihnen die Preise,<br />

in Folge i s o l i e r t e r Lohnkämpfe einzelner<br />

Branchen etc., noch mehr in die Höhe getrieben<br />

werden, als es schon unter dem<br />

Einfluß des Staates ohnedies geschieht.<br />

In Wien haben wir vor Neujahr die<br />

Bewegung der Straßenbahner gehabt. Ihre<br />

Löhne sind ihnen vom Gemeinderate gesteigert<br />

w o r d e n ; doch gleichzeitig sind die<br />

Fahrtarife für d a s Publikum gestiegen.<br />

Aber es ist falsch, das Kind mit dem<br />

Bade auszuschütten, wollte man diese Tatsache<br />

nun auf Konto des Gewerkschaftsund<br />

Lohnkampfes schlechthin setzen. Wir<br />

haben es hier mit einem Unverständnis, mit<br />

einer reaktionären Verkümmerung des Lohnkampfes,<br />

mit einer vollständigen Verkennung<br />

jedes Solidaritätsmomentes im gewerkschaftlichen<br />

Kampf zu tun. Daran ist n i c h t<br />

d i e s e r , daran sind die ihn führenden<br />

Menschen schuld, und ihre Kampfesart kann<br />

ja jederzeit geändert werden, sobald sie<br />

selbst die nötige Geisteserkenntnis dazu<br />

haben, wobei dieser reaktionäre gelbe Gewerkschaftskampf,<br />

wie er gegenwärtig allerdings<br />

gesucht wird, zu dem wird, was wir<br />

Anarchisten aus ihm machen w o l l e n : z u m<br />

r e v o l u t i o n ä r e n W i r t s c h a f t s k a m p f<br />

d e r G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g , der<br />

dann — und das ist das Wichtige — n i c h t<br />

dieselben Wirkungen im Gefolge hat, wie<br />

der gegenwärtig auf Grundlage des Kleinstreiks<br />

und der Harmonie zwischen Kapital<br />

und Arbeit geführte.<br />

Es soll nicht geleugnet werden, daß<br />

die Konservativen, wie auch die soz.-dem.<br />

Führer der bestehenden Gewerkschaften,<br />

die auf Schein und S a n d aufgebaut und<br />

absolut ziellos sind in ihrem Streben, daß<br />

sie naturgemäß dahin wirken, daß der Kapitalist<br />

ihnen jeden sogenannten „Sieg"<br />

übel vergilt, indem er die Preise ihrer<br />

Waren steigert und zwar maßlos steigert,<br />

während ihr „Sieg" nur sehr mäßig war.<br />

Aber es wäre unsinnig, nun zu sagen, die<br />

Gewerkschaftsbewegung a l s s o l c h e sei<br />

Schuld daran. Nein, ihre Korrumpierung,<br />

ihre Hindrängung auf d a s kapitalistische<br />

Moralgebiet, das ist Schuld daran. Der<br />

Kapitalist steigert die Preise, sobald als er<br />

die Löhne gesteigert hat, nicht weil solches<br />

im W e s e n der Gewerkschaftsbewegung oder<br />

ihres Lohnkampfes liegt, s o n d e r n d e s ­<br />

h a l b , weil die Gewerkschaften nicht dazu


liefert würde, wenn er dem Befehle nicht gehorchte.<br />

D a erklarte der P o l i z e i o b e r k o m m i s s ä r<br />

Dr. R u d o l f : Der Mann wird den bayerischen<br />

Militärbehörden n i c h t ausgeliefert, da seit 1901<br />

oder 19.2 Fahnenflüchtige n i c h t m e h r a u s g e ­<br />

l i e f e r t w e r d e n . Das war Mitte Oktober. Kamerad<br />

Elyaß verließ sich auf die Auskunft dieser<br />

kompetenten Behörde, ließ das bayrische Kriegsgericht<br />

drohen und wettern und ging ruhig seinem<br />

B;otverdienste nach.<br />

Da erschien am 7. Dezember des Vorjahres<br />

plötzlich ein Geheimer in seiner Werkstätte und<br />

erklärte ihn für v e r h a f t e t . Auf der Polizei<br />

wurde ihm eröffnet, daß er am nächsten Tage, im<br />

grauenden Morgen, mit Begleitung an die Grenze<br />

gebracht und dort den bayrischen Behörden überstellt<br />

werden würde. Als Frau Elyaß sich aufs Magistrat<br />

begab und noch fragte was sie tun, von<br />

was sie leben solle, wenn man ihr den Mann<br />

nehme, wurde ihr die gefühlvolle Antwort: „Gehen<br />

Sie zu dem Meister, wo ihr Mann beschäftigt war<br />

und sehen Sie dazu, daß Sie einen Vorschuß<br />

kriegen, von dem Sie dann leben können (!!!)<br />

Und nun kommt das G e l u n g e n e :<br />

Am 12. Dezember wurde auf eine Anfrage,<br />

warum man den Elyaß auslieferte, nachdem man zuerst<br />

die Versicherung gab, das G e s e t z s c h ü t z e<br />

i h n vor Auslieferung, folgender Bescheid : Die<br />

Bozener Behörden hatten a l l e r d i n g s k e i n<br />

R e c h t , den Elyaß auszuliefern, als von der Statthalterei<br />

in lnnsbruck der Auftrag kam, ihn den<br />

bayrischen Militärbehörden zu übergeben; nach<br />

dem Grunde dieser Verfügung zu forschen, hätten<br />

die Bozener Behörden k e i n e U r s a c h e gehabt,<br />

sie lührten den Auftrag einfach aus.<br />

Nun möchten wir fragen: existiert ein Gesetz,<br />

das Fahnenflüch ige vor Auslieferung schützt?<br />

Wie kommt dann die Statthalterei dazu, das G e ­<br />

setz z u b r e c h e n ? Besteht kein solches Gesetz,<br />

welche Ursache hatte der Polizeioberkommissär<br />

Dr. Rudolf dann, f a l s c h e A u s k u n f t z u geben?<br />

Wann die Leiter dieser kompetenten Behörden<br />

nicht richtigen Bescheid geben können, da ihnen<br />

d s dazu gehörige Wissen fehlt, so sollen sie<br />

lernen, nicht aber durch unrichtigen Bescheid Arbeiter<br />

in Sorge und Not stürzen können I<br />

Die obige Geschichte hat ein schönes Nachspiel,<br />

das betitelt sein sollte: Die <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> in<br />

Filzpantoffeln! So wenigstens ist man versucht,<br />

auszurufen, wenn man liest, w i e tapfer sie Kirche<br />

und Staat als Unterdrücker des Volkes bekämpft.<br />

Wurden da der soz.-dem. „V o 1 k s z e i t u n g" in<br />

Innsbruck zwei Artikel zur Veröffentlichung übersandt.<br />

Ein Artikel betraf die Auslieferung des<br />

obigen Kameraden, der andere Artikel befaßte sich<br />

mit einem a l l z u kinderfreundlichen Pfaffen. Da<br />

beide Aufsätze nicht veröffentlicht wurden, fragte<br />

der Einsender an, was damit sei. Ihm gab die soz.-<br />

dem. Volkszeitung b r i e f l i c h Antwort: sie könne,<br />

da Staat und Kirche Hand in Hand gehen, die Artikel<br />

n i c h t bringen, d a sie Prozessen a u s d e m<br />

W e g e g e h e n w o l l e . —<br />

Und dies, obwohl der „Volkszeitung" mitgeteilt<br />

wurde, daß B e w e i s e für beide Artikel in<br />

Händen des Einsenders sind. So weit ist es also<br />

mit der sich einstmals revolutionär nennenden S o -<br />

zial<strong>demokratie</strong> gekommen. A n g s t hat die soz.-<br />

dem. „Volkszeitung", sie könne es sich mit den<br />

herrschenden Mächten verderben. Nun ja, über<br />

Altweibertratsch schreiben und ganze Seiten mit<br />

Wahlaufrufmist bringen, das ist nicht so gefährlich<br />

. . . Ob wohl die Leser mit so einer<br />

mutigen Verfechterin der Arbeitersache zufrieden<br />

sind.<br />

Luzifer.<br />

Ungarn.<br />

B u d a p e s t . Ein echtes Politikantenwort, würdig<br />

dem sonstigen Kolossalschwindel der Politik,<br />

ist von den Lippen des neugebackenen ungarischen<br />

Ministerpräsidenten Khuen-Hedervary gefallen. In<br />

seiner Programmentwicklung findet sich folgender<br />

schöne S a t z :<br />

„Um die richtige Lösung dieser Frage<br />

nicht zu erschweren . . . wünsche ich bei<br />

dieser Gelegenheit nur so viel zu bemerken,<br />

daß ich diese ganze Reform auf<br />

Grundlage der Prinzipien des a l l g e ­<br />

m e i n e n W a h l r e c h t e s . . . s o z u<br />

schaffen gedenke, daß sie den ungarischen<br />

Charakter unserer tausendjährigen G e ­<br />

schichte a u c h w e i t e r h i n a u f r e c h t<br />

e r h a l t e u n d w a h r e . "<br />

Niemals hat ein Politiker unverblümter zugegeben,<br />

was für Schwindel das allgemeine Wahlrecht<br />

im kapitalistischen Staat ist; daß mit dem<br />

allgemeine Wahlrecht es gerade am leichtesten<br />

ist, die Gesamtkonstruktion der Ausbeutung und<br />

Menschenunterjochung a u f r e c h t z u e r h a l t e n<br />

u n d z u w a h r e n ! Und für solch Schwindelmittel<br />

nur um sich Mandate zu verschaffen, rufen die<br />

<strong>Sozial</strong>demokraten das arme, getäuschte Volk in<br />

den Kampf ! — —<br />

Deutschland.<br />

Der 9. Kongreß der „Freien Vereinigung deutscher<br />

Gewerkschalten," unserer revolutionären<br />

Brudergemeinschaft findet am 26. März d. J. in<br />

Berlin statt. Als provisorische Tagesordnung sind<br />

folgende Punkte aufgestellt:<br />

I. Geschäfts- und Rechenschaftsbericht der<br />

Geschäftskommission.. Berichterstatter: Fritz Kater.<br />

2. Bericht der Kassiers und Expedienten A. Kleinlein.<br />

3 Bericht der Revisoren und der Beschwerdekommission.<br />

Berichterstatter: Karl Haffner. 4. Die<br />

Herausgeber und verantwortl. Redakteur W. Horacek (Wien).<br />

Presse. Berichterstatter: Karl Thieme. 5. Unsere<br />

Stellung zur Tarif Vertragspolitik. Berichterstatter:<br />

Karl Haffner. 6. <strong>Sozial</strong>reform und Klassenkampf.<br />

Berichterstatter E. Rieger. 7. Revision früher gefaßter<br />

Kongreßbeschlüsse. Berichterstatter: Alb.<br />

uppenlatz. 8. Erledigung eingegangener Anträge.<br />

. Wahl der Geschäftskommission.<br />

Wir werden Uber die Verhandlungen des<br />

Kongresses Bericht erstatten.<br />

Schweiz.<br />

Von befreundeter Seite teilt man uns mit:<br />

„Herr Alfred Knapp, einer der hochsinnigsten<br />

Kulturkämpfer und Schriftführer des Internationalen<br />

Orden für Ethik und Kultur, hat Ihren „Aufruf zur<br />

T a t ! " in Nr. 2 des „W. f. A.", gelesen und sich<br />

sehr begeistert darüber geäußert. Ganz in ihrem<br />

Sinne geht vorgenannter Orden daran, die Neue<br />

Schule in deutsches Sprachgebiet einzuführen.<br />

Noch im Februar gelangt das diesbezügliche<br />

Propagandamaterial zur Versendung. Darüber bald<br />

mehr!"<br />

Wir freuen uns sehr über diese Anerkennung<br />

seitens eines Mannes, der wohl nicht unseren engeren<br />

Kreisen angehört, aber durch seinen edlen<br />

Charakter jederzeit wohl würdig wäre, Anarchist<br />

genannt zu werden. Einerlei, von wo aus und von<br />

wem die praktische und sofort durchführbare Verwirklichung<br />

der Ferrer-Ideen ausgeht — so lange<br />

sie nur verwirklicht werden !<br />

*<br />

Z ü r i c h . Unser Kamerad Dr. Tobler, der<br />

bislang Mitarbeiter des soz.-dem. Tagblattes „Volksrecht"<br />

war, und gemeinsam mit Gen. Dr. Brupbacher<br />

das einzig Genießbare dieses Blattes lieferte,<br />

verläßt seine Stellung und gründet sich eine unabhäng<br />

ge Existenz als Mediziner. Dadurch aber wird<br />

wohl auch die Mitarbeit Dr. Brupbachers am<br />

„Volksrecht" ein Ende finden. Ab 1. April treten<br />

nämlich die <strong>Sozial</strong>demokraten Dr. Hühnerkopf und<br />

Dr. Fritz Adler — Sohn des österreichischen <strong>Sozial</strong>demokraten<br />

— in die Redaktion des „Volksrecht"<br />

ein, und das bedeutet, daß das Blatt ein<br />

kleingeistiges und engherziges Preßprodukt ödesten<br />

Parteifanatismus wird, ähnlich der Wiener „Arbeiterzeitung",<br />

da der Apfel niemals weit vom Baume<br />

fällt . . .<br />

Nun, uns kann es nur recht sein, wenn das<br />

„Volksrecht" auf den Hund gebracht und die hies.<br />

<strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> noch mehr diskreditiert wird, als<br />

sie es ohnedies schon ist. J. H.<br />

Notizen.<br />

G e n o s s e n ! D e r 18. M ä r z , der Tag des<br />

Andenkens an die Pariser Kommune rückt heran.<br />

Indem wir hoffen, daß ihr überall die nötigen Veranstaltungen<br />

trefft, um die Erinnerung an diesen<br />

heroischen T a g würdig zu begehen, machen wir<br />

Euch darauf aufmerksam, daß es vor allen Dingen<br />

notwendig ist, einerseits unseren.. Standpunkt der<br />

Pariser Kommune gegenüber festzustellen, anderseits<br />

die Kenntnis über sie in die weitesten Kreise<br />

zu tragen.<br />

In ausgezeichneter Weise besorgt dies die im<br />

Verlag von W. Schouteten, Brüssel, zum ersten<br />

Mal erschienene Agitationsbroschüre von<br />

M i c h a e l b a k u n i n , D i e P a r i s e r K o m m u n e<br />

u n d d i e I d e e d e s S t a a t e s , P r e i s 1 0 c e n t .<br />

Wie viele Exemplare dieser vorzüglichen, wichtigen<br />

Propagandaschritt habt ihr bereits bestellt? w i r<br />

erwarten dringend Euere Antwort, auf diese, einen<br />

jeden Kameraden angehende F r a g e !<br />

A n u n s e r e G r u p p e n u n d V e r e i n i g u n g e n !<br />

F ü r d e n M o n a t Mai p l a n e n w i r , d e r Anr<br />

e g u n g u n d d e m E r s u c h e n e i n i g e r O r u p p e n<br />

F o l g e l e i s t e n d , e i n e k u r z e A g i t a t i o n s t o u r , b e ­<br />

s o n d e r s d u r c h d i e A l p e n l ä n d e r . W i r e r s u c h e n<br />

s ä m t l i c h e G e n o s s e n , G r u p p e n , S t u d i e n z i r k e l<br />

u n d s o n s t i g e V e r e i n i g u n g e n u n s e r e r B e w e g u n g ,<br />

falls s i e sich d i e s e r G e l e g e n h e i t b e d i e n e n<br />

w o l l e n , u m e i n e V e r s a m m l u n g o d e r a g i t a ­<br />

t o r i s c h e Z u s a m m e n k u n f t i n i h r e r S t a d t o d e r<br />

L o k a l i t ä t e i n z u b e r u f e n , sich d i e s e r h a l b schriftlich<br />

a n u n s e r e R e d a k t i o n z u w e n d e n . Die Agit<br />

a t i o n s r e i s e k a n n a u c h auf a n d e r e G e g e n u e n<br />

a u s g e d e h n t w e r d e n .<br />

U n s e r e n K a m e r a d e n , d i e d e r s e r b i ­<br />

s c h e n S p r a c h e m ä c h t i g s i n d , diene dies<br />

zur Mitteilung,*daß unser Genosse D r a g o s l a w<br />

D j o r d j e w i c in Belgrad den großen und in<br />

Seinen Gedankengängen auch für unsere Bewegung<br />

wichtigen Roman des russischen Dichters Artzybaschew<br />

„Szonin" ins Serbische übersetzt hat. Zu<br />

dieser Ubersetzung hat Gen. P. Ramus auf Wunsch<br />

des Verlegers und Übersetzers eine eigene Einleitung<br />

geschrieben, die den Untergrund des Romans<br />

und seiner einzelnen Figuren bloslegt. Das<br />

Buch, wie auch die Einleitung ruft in der serbischen<br />

Presse nettige Kontroversen hervor, und<br />

können wir es all unseren der serbischen Sprache<br />

mächtigen Lesein bestens empfehlen. Sein Preis<br />

ist trotz schöner Ausstattung nur K 3.—.<br />

Ehrenpflicht<br />

e i n e s j e d e n G e n o s s e n i s t d i e P r o p a ­<br />

g a n d a u n d d i e W e i t e r v e r b r e i t u n g u n s e r e s<br />

B l a t t e s .<br />

L e s e r , K a m e r a d , M i t k ä m p f e r w i e<br />

v i e l e n e u e L e s e r h a s t D u d e m „ W o h l s t a n d<br />

f ü r A l l e " s c h o n z u g e f ü h r t ?<br />

Briefkasten.<br />

Manuskripten, deren Rücksendung gewünscht,<br />

muß das Postportö beigefügt sein; ebenso allen<br />

Anfragen, die briefliche Auskunft wünschen.<br />

K. Gal. Schon das zweite Mal müssen wir<br />

Strafporto bei Ihren Briefen zahlen. So viel wir<br />

wissen: Die eine Brosch. des Dr. Ziel, ist die Verteidigungsrede<br />

Henry's vor Gericht. Abwarten^ und<br />

dann ei folgt Verständigung unsererseits. „Fr. Gen.",<br />

(Monatsschrift) total vergriffen. — O d o . Herzlichsten<br />

Dank für gütige Zusage. — Ehinger und<br />

Lickier entbietet der Gen. Vöckler solidarische<br />

Grüße. — K r . S o h a f f . Wir erwarten Bericht,<br />

unterdessen G r u ß ! — L i s t i g . „Szonin" - Angelegenheit<br />

in nächster Nummer. Gruß! — H. Frank.<br />

Besten Dank für Ihren Beitrag; er erscheint in<br />

Nr. 5, obgleich wir schon in Nr. 2 einen Aufsatz<br />

über ganz dasselbe wichtige Thema brachten. Gruß!<br />

P o l a c e k . In „Ohne H.", Nr. 4. Ersuche den<br />

Gen. Blaha über das Buch zu schreiben ! — Z—p.<br />

Bahnb. Alles übrige kommt später, so wie aufgetrieben.<br />

Schuld insges. K 5.50. Gruß ! — K o w p r o z<br />

Für gesandte Literatur Schuld K 3.80. — bl. M.<br />

T r i e s t . Weshalb schickt Ihr uns keinen Bericht<br />

über die Bewegung Euerer Gegend ? — L e r c h e .<br />

Ich schreibe bald. — Gruß ! — S t i e b . Bald kommt<br />

Brief. -<br />

W e s e n t l i c h e r I n h a l t d e r v o r i g e n<br />

N u m m e r n d e « »W. f. A.*<br />

Nr 1. „ N a z d a r ! " — E d w a r d C a r p e n t e r : Die Gesellschaft ohne<br />

R e g i e r u n g . — A n t o n S o v a : Die Vision d e s B e r g a r b e i t e r s . —<br />

S o z i a l d e m o k r a t e n u n d C h r i s i l i c h s o z l a l e gegen die direkte Bekämpfung<br />

d e r L e b e n s m i t t e l t e u e r u n g . — E n t h ü l l u n g e n Uber<br />

die K o r r u p t i o n d e r u n g a r l a n d i s c h e n S o z i a l d e m o k r a t i e , — Fritz<br />

B t u p b a c h e r : Zweierlei W i n t e r . — A r a m i s : Wilhelm K o r b e r . -<br />

Nr. 2. Ein Aufruf z u r T a t . — P e t e r K r a p o t k i n : Die Zeit der<br />

Reaktion seit 1871. — A. J o b e r t : W i e icn Antiparlameniarier<br />

w u r d e . — Die Arbeiterschaft gegen d a s Altersversicherungsgesetz<br />

— Ein Appell an die i n t e r n a l . Solidarität. — Leo<br />

F r e i m a n n : Die p a r t e i p o l i t i s c h e n E i s e n b a h n e r o r g a n i s a t i o n e n<br />

schließen sich einer Aktion gegen die Lebensmittelteuerung<br />

nicht a n . — L i t e r a r i s c h e s B e i b l a t t .<br />

Nr. 3. D er s o z . - d e m . „ A n t i m i l i t a r i m u s " in Verzweiflung. -<br />

Josef S c h iller: D e r K o n f e s s ionslose. — Elisee R e c l u s : Die<br />

G r e n z e n z w i s c h e n den V ö l k e r n . — A r a m i s . Ihre T a k t i k . —<br />

Aus der I n t e r n a t i o n a l e d e s r e v o l u t i o n ä r e n <strong>Sozial</strong>tsmus und<br />

A n a r c h i s m u s .<br />

Gruppen u. Versammlungen.<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö r d e ,<br />

r a t i o n . V., Margarethenstraße 145. Versammelt<br />

sich jeden Samstag um 8 Uhr abends. Vortrag und<br />

Diskussion.<br />

M ä n n e r g e s a n g s v e r e i n „ M o r g e n r ö t e "<br />

XIV., Märzstraöe 33. Gesangsproben und Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch um 8 Uhr abends.<br />

L e s e h a l l e d e s XIV. Märzstraße 33. Versammelt<br />

sich jeden Dienstag um 8 Uhr abends<br />

Vortrag und Diskussion.<br />

X., E u g e n g a s s e 9. Genossen treffen sich<br />

jeden Sonntag um y Uhr. Freie Diskussion.<br />

F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X., Eugengasse<br />

9. Mitgliederautnahme und Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag vormittag.<br />

L e s e - u n d D i s k u t i e r k l u b „ P o k r o p "<br />

XIV., Hutteldorterstrabe 33. Jeden Samstag um<br />

8 Uhr abends Diskussion.<br />

U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k ­<br />

s c h a f t . XV., Lomgasse 9. Versammlung und Vortrag<br />

jeden Montag, um 8 Uhr abends.<br />

S t u d i e n z i r k e l „ F r a n c e s c o F e r r e r . "<br />

Versammelt sich jede Woche einmal nach Übereinkunft.<br />

I n n s b r u c k , V e r e i n f ü r f r e i e W e l t a n ­<br />

s c h a u u n g , versammelt sich jeden Sonntag Vormittags<br />

im LafeLenner. Freie Diskussion.<br />

M a r i a s c h e i n i F r e i e V e r e i n i g u n g . Versammelt<br />

sich jeden Sonntag im (Jastnause „Zur<br />

Fortuna."<br />

S c h ö n p r i e s e n i G r u p p e F r e i h e i t . Versammelt<br />

sien jeden 1. und 3. Mittwocn in Nr. 226<br />

(bei üiselastraoe.)<br />

M a r b u r g , A r b e i t e r - B i l d u n g s v e r e i n .<br />

Jeden 2. und 4. Mittwoch abends im (Jasthause<br />

„Zur goldenen Bim", Franz Joset-Straße 2.<br />

K l a g e n f u r t , G r u p p e d e r u n a b h ä n g .<br />

S o z i a l i s t e n . Jeden 2. und 4. Samstag abends im<br />

Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

W e y e r , S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , Jeden<br />

I. und 3. Sonntag abends in Bachbauers Gasthaus.<br />

B r u c h , G r u p p e „ B e r g a r b e i t e r k a m p f "<br />

Jeden l. und 3. Sonntag abends im Gasthaus „Zum<br />

blauen Stern."<br />

D u x , F r e i e V e r e i n i g u n g r e v o l u t i o ­<br />

n ä r e r G e w e r k s c h a f t e n . Jeden Sonntag im<br />

Gasthause „Austria."<br />

L a d u n g (bei Bruch). S o z i a l i s t i s c h e G e ­<br />

m e i n s c h a f t , (Bitte um Adresse!).<br />

G r a z , A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n t e r -<br />

s t ü t z u n g s v e r e i n . Gasthaus Hammer. Dominikanergasse<br />

7. Zusammenkunft jeden Samstag um<br />

halb 9 Uhr abends.<br />

A u s s i g : U n a b h ä n g i g e r F a c h v e r e i n<br />

d e r S c h i f t s v e r l a d e r u n d V e r l a d e r i n n e n ,<br />

Versammelt sich im Gasthause „Zum Marienbe.g"<br />

Töpferg. 7.<br />

P a r i s , F r e i h e i t l i c h e r D i s k u t i e r k l u b ,<br />

Jeden Dienstag abends in 89 Rue Saint-Honore.<br />

Druck: Rudolf Unzeitig, X. Erlachgasse 98.


Draußen auf der Pußta pflüg' ich,<br />

Müd die Hand vom Säen;<br />

Dich hingegen läßt die Herrschaft<br />

Schön gekleidet gehen.<br />

Deine Ehr' hast hingegeben,<br />

Doch ich fluch' nicht deinem Leben —<br />

Muß dir ja verzeihen/<br />

Denn für deine Mutter brauchtest<br />

Geld du für Arzneien.<br />

Noch als Knospe pflückt' die Herrschaft<br />

Dich du junge Blüte —<br />

Und sie wirft dich fort verwelket,<br />

Wenn sie deiner müde.<br />

Dirne nennen dich die Leute,<br />

Zeigen höhnisch auf dich heute,<br />

Heimlich weinst du Arme!<br />

Doch, wenn alle schmähen, schließ' ich<br />

Dich in meine Arme.<br />

Zs. Bodrogi.<br />

(Aus dem Ungarischen übersetzt von Lilly Nadler-<br />

Nuellens.) *<br />

Mein Herr.<br />

Aus dem T a g e b u c h einer Mücke.<br />

Geschrieben an einem Tage, als mein Herr zum<br />

erstenmal ausging.<br />

I.<br />

ihr Menschen werdet euch wundern,<br />

daß eine Mücke Bücher schreibt. Ich hätte<br />

schon viele Bücher geschrieben, wenn ich<br />

nur Tinte hätte. Und jetzt eben bin ich in<br />

der Lage, ein Buch zu schreiben, Mein<br />

Herr ist schon seit zwei Tagen nicht zu<br />

Hause und was d a s Wichtigste, er hat sein<br />

Tintenfaß nicht zugestopft, deswegen schicke<br />

ich mich an ein Buch zu schreiben.<br />

Ich meine, daß die Menschen am<br />

liebsten die Bücher lesen, die von ihnen<br />

sprechen. Darum werde ich über meinen<br />

Herrn ein Buch schreiben.<br />

Mein Herr ist ein guter Mensch. Er<br />

ist auch energisch. Hat große Haare, wie<br />

ein russischer Bauer, hat viel Tinte und<br />

Papier. Ich mein', er ist ein Schriftsteller<br />

oder ein Redakteur. Es kommt oft ein dickleibiger<br />

Mann zu ihm, und dann sprechen<br />

sie von der Druckerei.<br />

Mein Herr hat auch eine Gemahlin. Ich<br />

hab' sie noch nicht gesehen, aber es ist<br />

sehr wahrscheinlich. Wenigstens hat er eine<br />

Geliebte. Ich werde es b e w e i s e n : Es kam<br />

einmal ein Mann in unsere S t u b e ; aber<br />

nicht der dickleibige. Er hatte keine so<br />

schönen Kleider an, wie dieser; auch sein<br />

Hut war nicht so schön, wie der meines<br />

Herrn. Dieser Mann sprach mit meinem<br />

Herrn über Organisation und Partei, aber<br />

keine derselben ist die Gemahlin meines<br />

Herrn. Mein Herr fragte dann den M a n n :<br />

„Wie denken Sie über meine Revolution?"<br />

Mein Herr würde nicht sagen „meine Revolution",<br />

wenn sie wirklich nicht seine<br />

Gemahlin wäre. W a r u m sprach er nicht<br />

„meine Organisation" ? Ja, der weiß wohl,<br />

was er sagt.<br />

Es ist einleuchtend, daß Revolution<br />

seine Gattin ist. Später brachte der dickleibige<br />

Mann meinem Herrn ein Buch, und<br />

es stand dort geschrieben mit großen Buchstaben<br />

„Revolution". Ich weiß ganz gewiß,<br />

daß der dickleibige Herr keine Bücher<br />

schreibt. Und schriebe er welche, so würde<br />

er von seiner Gattin, die Druckerei heißt,<br />

schreiben. Dies Buch hat ganz gewiß mein<br />

Herr geschrieben, und er sprach dort von<br />

seiner Gattin, wie ich in meinem Buche von<br />

ihm spreche. Ich meine, er hat d a s Buch<br />

verloren, der dickleibige hat es gefunden<br />

und meinem Herrn gebracht.<br />

Mein Herr schreibt nicht nur Bücher,<br />

er schreibt auch große Zeitungen. Einmal<br />

hat er mit großen Buchstaben geschrieben:<br />

„ W ä h l e r , G e n o s s e n ! " und unten stand<br />

es mit kleinen Buchetaben geschrieben, man<br />

solle es gut mit meinem Herrn meinen,<br />

denn Revolution sei nahe, Ich meine, ei<br />

sprach von seiner Hochzeit. Hoffentlich<br />

haben viele Menschen diese Zeitung g e ­<br />

lesen, denn es kamen sehr viele Menschen<br />

mit kleinen Papierbogen. Später ist mein<br />

Herr mit diesen Leuten ausgegangen, und<br />

seit zwei Tagen ist er nicht zu Hause. Ich<br />

weiß nicht, was da geschehen sein mag.


werde es aber gewiß in meinem Buche n o ­<br />

tieren.<br />

II.<br />

Geschrieben am andern Tage, als mein Herr das<br />

zweite Mal ausgegangen Ist.<br />

Jetzt ist mein Herr wiederum nicht zu<br />

Hause.<br />

Ihr sollt wissen, daß an jenem Tage,<br />

als er zum erstenmal ausging, seine G e ­<br />

mahlin ihm ein Kind geschenkt hatte. Er<br />

kam spät in der Nacht mit vielen Menschen,<br />

war froh, flammenden Gesichtes, seine Augen<br />

waren hell und lustig und er sprach mit<br />

Menschen von seinem Kinde. Er sagte, daß<br />

wenn er zwei oder drei Stimmen weniger<br />

bekommen hätte, so wäre es um sein Kind<br />

geschehen gewesen . . . E r nennt das Kind<br />

gar w u n d e r b a r Mandat oder Parlament.<br />

Ich weiß nicht, wie Stimmen ein Kind<br />

umbringen können, vielleicht meint er die<br />

Geburtswehen. D a ß er seinem Kinde zwei<br />

Namen gab, das ist nicht gerade w u n d e r ­<br />

lich. Die Menschern machen es gern s o ;<br />

sogar Hunde haben zwei Namen. Sein Kind<br />

hat mein Herr nicht mitgebracht, denn die<br />

Männer lieben es nicht, ihre Säuglinge zu<br />

pflegen. Die Sau und die Hündin sagen<br />

dasselbe von ihren Männern.<br />

III.<br />

Geschrieben am andern Tage, als mein Herr zum<br />

dritten Mal ausging.<br />

Mein Herr freut sich seines Kindes ganz<br />

ausnehmend. Er liebt es sehr und sagt<br />

immer: „Mein Mandat ruft mich." Jetzt ist<br />

er zum drittenmal ausgegangen. Ich freue<br />

mich des Glückes meines Herrn und seiner<br />

Abwesenheit, weil ich mein Buch fortsetzen<br />

kann.<br />

Nur eines wundert mich! Seine Gattin<br />

oder Geliebte hat mein Herr ganz vergessen.<br />

Er spricht nimmermehr von ihr.<br />

Einmal erinnerte ihn ein Mensch an<br />

seine Geliebte. Mein Herr schüttelte den<br />

Kopf und sagte, er liebe sie schon nicht<br />

so sehr, wie sein Kind, sein Mandat.<br />

Liebte er seine frühere Liebe echt und stark,<br />

so müßte er das Kind verlieren. Freilich,<br />

Revolution, seine Schöne, bleibe für ihn<br />

immer ein Ideal, aber er müßte sich jetzt<br />

mit etlichen Reformen (ich meine, es seien<br />

dies unzüchtige W e i b e r ? ) einlassen, denn<br />

dieselben seien zur Zeit wichtiger.<br />

Ich gesteh' es, daß ich der Logik meines<br />

Herrn nicht n a c h k o m m e n k a n n : warum<br />

sagt er, er würde sein Kind verlieren, wenn<br />

er seiner Gattin treu bliebe? Ich meine im<br />

Gegenteil, daß er noch mehrere Kinder von<br />

ihr haben könnte. Und warum geht er mit<br />

Prostituierten um, wenn er ein W e i b hat,<br />

d a s sein I d e a l i s t ? Ich bin, aufrichtig gestanden,<br />

strikte Anhängerin der Monogamie.<br />

Hündin und Sau sagen dasselbe von ihren<br />

Männern, was die Gattin meines Herrn sagen<br />

würde. Ich meine aber ganz ernstlich, die<br />

Menschen seien größer als Hunde und<br />

Schweine, und sie sollten es verstehen,<br />

Gattin und Kinder zu lieben.<br />

Mein Herr verweilt jetzt immer sehr<br />

flüchtig zu Hause. Er hat einen schönen<br />

Hut, schöne Kleider und Schuhe. Er sagt,<br />

er müsse es tun, um die W ü r d e seines Kindes<br />

nicht zu erniedrigen.<br />

Einst kam mein Herr sehr schnell in<br />

die Stube, öffnete das Fenster, sah hinab<br />

und viele, sehr viele Menschen kamen und<br />

standen unter seinem Fenster. Sie sangen,<br />

klatschten in die Hände, sogar gab es ein<br />

Orchester.<br />

Die Menschen waren sehr froh, sprachen<br />

viel Gutes über meinen Herrn. Mein<br />

Herr sagte, er sei jetzt froh, er liebe sein<br />

Kind und hoffe viel von demselben. Ich<br />

weiß nicht, warum er von seinem Kinde<br />

viel hofft? Es ist ja noch so klein, und<br />

sollte er nicht lieber sein Kind lieben?<br />

Einige Menschen riefen ein Hoch auf<br />

seine Gemahlin aus, aber da machte er s o ­<br />

gleich ärgerlich das Fenster zu. Es sagte zu<br />

sich selbst, daß es ihm auch ohne Gattin<br />

ganz gut gehe.<br />

So bin ich mit meinem Buche zu Ende,<br />

ich vermutete nicht, daß ich meinen Herrn<br />

in einem so finsteren Lichte darstellen<br />

würde. Ich wollte von ihm nur gut reden.<br />

Aber ich, eine Mücke, spreche die W a h r ­<br />

heit. Man ist in einer schweren Lage, s o ­<br />

bald man ein Buch schreibt und einen<br />

Herrn hat, der seine Gemahlin verläßt.<br />

Krebs.<br />

Einige Anregungen über<br />

freiheitl. Literaturherausgabe.<br />

Nachfolgende Ausführungen entnehmen wir<br />

einem interessanten Brief eines unserer Leser. Er<br />

bietet in seinem Schreiben so zahlreiche wichtige<br />

Anregungen, daß wir es für notwendig erachten,<br />

die wichtigsten Bruchstücke des Briefes zu veröffentlichen.<br />

Anm. d. Red.<br />

„ . . . In Italien bestehen in einer Reihe<br />

von Städten Gruppen, die alljährlich einige<br />

Broschüren auf eigene Rechnung herausgeben.<br />

Andere haben eigene Verlagsbuchhandlungen<br />

auf kommunistischer Grundlage.<br />

Der Leiter ist gewöhnlich ein P r o p a -


gandist, dem dieses Unternehmen ein b e ­<br />

scheidenes Einkommen gibt und es ihm ermöglicht,<br />

seine Kraft ganz in den Dienst<br />

der Sache zu stellen. Auf diese Weise hat<br />

die italienische Bewegung eine reiche Literatur<br />

. . . W ä r e dieses Verfahren nicht auch<br />

für die deutschen Lande a n w e n d b a r ? Die<br />

Summen, die in größeren Städten die Kameraden<br />

für Bücher ausgeben, sind meist gar<br />

nicht so klein. Der Buchhändler verdient<br />

rund 3 5 % . oft noch mehr. Da man vorläufig<br />

keinen Laden o d e r doch nur einen<br />

kleinen brauchte, wären die Unkosten nicht<br />

allzu groß. Wird ein Laden eingerichtet, so<br />

lassen sich ja auch noch andere Sachen<br />

mitführen, die zur Kostendeckung beitragen.<br />

Das Gehalt eines Geschäftsführers dürfte<br />

natürlich den Lohn, den er in seinem b i s ­<br />

herigen Beruf gehabt hat, nicht übersteigen.<br />

Hätten wir Anarchisten vielleicht fünfzig<br />

derartige Bücher-Konsumenten-Vereinigungen,<br />

dann könnte man auch an eine P r o ­<br />

duzenten-Vereinigung schreiten. Vielleicht<br />

in Form einer Siedelung-Druckerei, Buchbinderei<br />

etc., als Mittelpunkt, rings herum<br />

einige Dutzend Häuschen mit Gärten, Feldern<br />

usw. Auch sie mußten ja auch schon einige<br />

ihrer Schriften in bürgerlichen Verlagsanstalten<br />

erscheinen lassen; Krapotkins Werke,<br />

die Mackay's, E. Heinrich Schmidt's und<br />

die vielen anderen sind auch in bürgerlichen<br />

Anstalten verlegt und von Revolutionären<br />

gekauft worden. Müssen wir denn<br />

immer diesen Umweg m a c h e n ?<br />

Ein bürgerlicher oder sozialdemokratischer<br />

Verlag hat vielleicht mehr Aussicht,<br />

die Werke anzubringen. Das könnte sich<br />

aber doch auch ausgleichen lassen. Denn<br />

erstens fragen die Verehrer eines Schriftstellers<br />

fast nie darnach, wo ein Buch erschienen<br />

ist. Und zweitens würden wir ja<br />

auf lange Jahre hinaus auch von bürgerlichen<br />

Verlegern W e r k e beziehen müssen.<br />

Hiebei kann man aber auch ganz gut<br />

einen Teil in unseren Schriften bezahlen.<br />

Nun bin ich allerdings zu wenig Fachmann,<br />

um genaue Berechnungen anstellen<br />

zu können, kenne auch nicht die genaue<br />

Zahl davon, auf die wir als Käufer rechnen<br />

dürfen. Aber nach dem glücklichen Bücherhange,<br />

der in den Kreisen unserer Kameraden,<br />

die ich bis jetzt kenne, herrscht,<br />

glaube ich, daß wir mindestens unsere<br />

20.000 bis 30.000 Franken im Jahr bürgerlichen<br />

Verlegern und Buchhändlern zu verdienen<br />

geben. Diese S u m m e würde schon<br />

genügen, um eine Siedlung zu garantieren<br />

. . ." S. Eck.<br />

„Gebt uns die Wahrheit!"<br />

Von<br />

Else Jerusalem Kotanyi.*)<br />

Meiner guten Mutter gewidmet<br />

zum innigen Dank dafür, daß<br />

sie keine Zeit zu meiner Erziehung<br />

fand.<br />

In der Arbeit, die ich nun dem Lesepublikum<br />

vorlege, habe ich jenes gefährliche<br />

Wagestück unternommen, vor welchem<br />

selbst einem alten Teufelskumpan wie<br />

Dr. Faust heimlich g r a u t e : Ich bin zu den<br />

Müttern hinabgestiegen.<br />

Die Mädchenerziehung ist von jeher<br />

eine heiß umstrittene Frage gewesen. Viel<br />

und oft wurde darüber gesprochen und g e ­<br />

schrieben, meist nur von ehrenwerten alten<br />

Herren, die niemals Mädchen waren, oder<br />

von sehr ehrenwerten alten Damen, die<br />

schon längst daran vergessen hatten. Uns<br />

selbst aber, den Hauptpersonen in dieser<br />

Farce, w u r d e jede selbständige Willensregung<br />

kurzweg abgeschnitten. Wir blieben<br />

nur stumme Trägerinnen unserer naiv-sentimentalen<br />

Rollen, die uns* im letzten Akt<br />

die beliebte Lustspiellösung bringen mußten.<br />

An unsichtbaren Drahtfäden führte man uns<br />

über die Bühne, wir knixten höflich ins<br />

Publikum hinein und das Stichwort des Regisseurs<br />

lenkte unser ganzes Schicksal.<br />

U n d das. ist im Grunde nur Logik der T a t ­<br />

sachen :<br />

*) Die Verfasserin ist keine Unbekannte mehr.<br />

Ihr berühmter Roman »Der heilige Scarabäus" bot<br />

längere Zeit Stoff zu anregenden Stadtgesprächen,<br />

sowohl im Kaffeehaus, wie im trauten Familienheim.<br />

Aber zur Ein- und Umkehr von unseren verstaubten<br />

Lebensformen zur Natur und Natürlichkeit<br />

konnte er wenig veranlassen, da man gerade<br />

dieses Moment im Roman nicht finden wollte.<br />

Durch das Lesen vorliegender Propagandaschrift<br />

prächtigster Art, die uns Frau Jerusalem-Kotänyi<br />

bescheert hat, wird man nun hoffentlich wissen und<br />

zu verstehen wissen, was die Kämpferin will: eine<br />

n e u e f r e i e E t h i k d e r L i e b e u n d G e ­<br />

s c h l e c h t s g e m e i n s c h a f t . Sie gehört z u<br />

jenen wenigen Franen des Befreiungskampfes des<br />

Weibes, die es endlich begriffen haben, daß es für<br />

die Frau nicht gilt, Bürgerin o d r r gleichberechtigte<br />

Brotverdienerin und damit Lohnsklavin, sondern<br />

vor allem gilt: Mutter in Freiheit und Sicherheit,<br />

in stolzer, erhabener Majestät ihres F r a u e n ­<br />

w e s e n s sein zu dürfen. Das ist die Axe, Um die<br />

sich das Streben der Frau drehen m u ß : um die es<br />

sich instinktiv, ausgesprochen dreht. Sobald die<br />

Frau gesellschaftlich das Recht hat, unter allem von<br />

ihr gewünschten Umständen ihre Mutterschaft willkommen<br />

geheißen zu fühlen, dann ist die Befreiung<br />

der Frau zur Wirklichkeit geworden. Dieses vorliegende<br />

Buch (Verlag, Hermann Seemann Nachfolger,<br />

Berlin NW 87, Wullenweberstr. 8, Preis<br />

K 2.40), empfehlen wir als einen der wertvollsten<br />

Beiträge zu dieser einschneidendsten Frage der<br />

modernen Kulturmenschheit. Anm. d. Red.


Ein nach allen Regeln der Gesellschaft<br />

aufgezogenes weibliches Wesen vergißt nur<br />

zu rasch, über sich und seinen Entwicklungsgang<br />

n a c h z u d e n k e n ; ihr ist die junge<br />

Dame eingedrillt, und sie hat als solche<br />

viel wichtigere Funktionen zu erfüllen, als<br />

ihr Innenleben einer Betrachtung oder gar<br />

einer Kritik zu unterziehen. —<br />

In diesem Sinne war ich ein ungezogenes<br />

Mädchen. Seit ich denken kann, hab<br />

ich immer nur die Erziehung — der anderen<br />

genossen.<br />

Auf Grund — wie ich kühn behaupten<br />

darf — ehrlicher psychologischer Forschung<br />

versuche ich hier im wesentlichen eine Darstellung<br />

jener gefährlichen Mischung der<br />

äußeren Welterziehung und der geheimen<br />

Selbstentfaltung zu geben, die später so<br />

schädigend auf die Entwicklung unserer<br />

physischen und psychischen Kräfte zurückwirkt.<br />

Keine frivole Absicht — nicht die<br />

Sucht, mit der Verneinung des Althergebrachten<br />

modern zu wirken, hat mich dazu<br />

bestimmt.<br />

Ich biete durchlebte, durchlittene Gedankentragödien:<br />

Schmerzen, die noch nicht<br />

geklagt w u r d e n , ein Glück, das noch keines<br />

Mädchens Mund laut zu begehren wagte . . .<br />

Das Aussprechen gewisser Tatsachen<br />

wirkt, in unserer an keuschen — Ohren so<br />

reichen Gesellschaft immer weit verletzender,<br />

als deren Ausübung . . .<br />

„Mein Gott, d a s ist ihr geschehen ! . .<br />

man raunt, man flüstert, endlich schweigt<br />

man darüber in erhabener Milde . . . Und<br />

warum ? —<br />

Weil doch das jeder von ihnen p a s ­<br />

sieren kann !<br />

Hingegen: — „Sie spricht darüber, sie<br />

hat es sogar drucken lassen, — welch<br />

Skandal . . . "<br />

Und die Steine fliegen . . .<br />

Weil das wirklich nicht jeder zukommen<br />

kann.<br />

Seit Sokrates darf jeder Wahrheitssucher<br />

mit vom Schierlingsbecher nippen.<br />

Vielleicht wird mein eigenes Geschlecht<br />

zuerst wider mich aufstehen, auch jene<br />

ganz Reinen, für welche diese Schrift in<br />

lichterfüllten Stunden niedergeschrieben<br />

wurde. . . .<br />

S e i ' s ! — So wollt' ich dennoch, man<br />

könnte den Menschen noch so viele Wahrheiten<br />

bringen, als es Kreuze gibt, ihre<br />

Propheten daran zu hängen.<br />

Neue Bücher.<br />

(Die an dieser Stelle veröffentlichten Schriften stehen<br />

in direkter oder indirekter Beziehung zu unserer<br />

Weltanschauung. Bei wertlosen Werken wird vor<br />

dem Ankauf gewarnt. Eine weitere Besprechung ist<br />

stets vorbehalten.)<br />

E r n s t Viktor Z e n k e r . K i r c h e u n d S t a a t<br />

u n t e r b e s o n d e r e r B e r ü c k s i c h t i g u n g<br />

d e r V e r h ä l t n i s s e i n Ö s t e r r e i c h . A . Hartleben's<br />

Verlag in Wien und Leipzig. 15 Bogen.<br />

Oktav, geh. K 4 . - , geb. K 5.50. Es wird noch<br />

einer langen und harten Aufklärungsarbeit b e ­<br />

dürfen, bis die Saat des freien Gedankens auch<br />

in Österreich aufgeht, blüht und Früchte treibt.<br />

Aber die Schwierigkeit dieser Arbeit kann und<br />

darf nicht abschrecken. Mit Pessimismus und<br />

Kleinmut bringt man kein Sandkorn von der Stelle,<br />

auf der es liegt. Allgemeine Pflicht ist es, solange<br />

wir nicht handeln können, doch wenigstens Aufklärung<br />

zu verbreiten. Und als einen Beitrag zu<br />

diesem schwierigen Unternehmen ist diese Arbeit<br />

über üas Verhältnis von Kirche und Staat aufzufassen.<br />

Der Autor hat sich bei Niederschrift des<br />

Buches beflissen, so viel als möglich unbestrittene<br />

und unbestreitbare Tatsachen sprechen zu lassen<br />

und sich so wenig als möglich auf das Gebiet der<br />

staatsphilosophischen Spekulation zu begeben.<br />

Wenn dieses Werk für Volksredner, und Publizisten<br />

eine Rüstkammer würde, aus der sie Waffen<br />

im Aufklärungskampfe holen könnten, dann wäre<br />

sein Zweck vollkommen erfüllt. Eine gründlichere<br />

Würdigung dieses von der <strong>Sozial</strong><strong>demokratie</strong> totgeschwiegenen<br />

Buches bringen wir in Kürze.<br />

L u d w i g F e u e r b a c h . D a s W e s e n d e s<br />

C h r i s t e n t u m s . Hrsgbn. von Dr. H e i n r i c h<br />

S c h m i d t (Jena.) Verlag von Alfred Körner in<br />

Leipzig. V o l k s a u s g a b e . P r e i s 1 M a r k .<br />

So tief wie Feuerbach hat noch niemand wieder<br />

das wahre Wesen des Christentums, der Religion<br />

überhaupt erfaßt; so warm hat dabei noch niemandes<br />

Herz wieder geschlagen für dieses wahre<br />

Wesen der Religion, als welches Feuerbach das<br />

Wesen der Menschheit und Menschlichkeit selbst<br />

erkannt hat. Der notwendige Wendepunkt in der<br />

Geschichte der Kulturmenschheit ist für Feuerbach<br />

die Erkenntnis und das Bekenntnis, daß der Mensch<br />

k e i n a n d e r e s W e s e n als göttliches Wesen<br />

denken, ahnen, vorstellen, fühlen, glauben, wollen,<br />

lieben und verehren kann, als das menschliche<br />

Wesen. Und dieser Wende im Bewußtsein folge<br />

nunmehr das T u n : der aufgeklärte Mensch suche<br />

und finde sein Heil nur bei sich selber, in der<br />

durch Vernunft geleiteten Entwicklung seines Geschlechtes,<br />

in der liebenden und werktätigen Hingabe<br />

an dieses Ziel, das nur durch gemeinsame<br />

Mühe und Arbeit zu erreichen ist. In unseren T a ­<br />

gen, wo der Klerikalismus wieder sein Unwesen<br />

treibt wie kaum in den finstersten Zeiten der<br />

Ketzerverbrennungen, ist die so spottbillige Neuausgabe<br />

von Feuerbachs freisinnigem Hauptwerk<br />

besonders zeitgemäß und ein Verdienst um die<br />

Kultur zu nennen.<br />

Gloria Victis!


erzogen werden, sich als Konsumenten zu<br />

fühlen, dagegen zu stimmen, kurzum d e s ­<br />

halb, weil der Kapitalist die Gewerkschaften<br />

auf dem Felde der Preissteigerung leider<br />

noch nicht zu fühlen braucht.<br />

Betrachten wir also das Problem klaren<br />

Blickes: Erst wenn die Gewerkschaften sich<br />

gegen eine Steigerung der Preise in ihren<br />

eigenen Warenbranchen kehren würden, sie<br />

aber nicht im Stande wären, die Kapitalisten<br />

daran zu verhindern — dann und<br />

nur dann hätte man Recht, wenn man behauptet,<br />

daß Lohnkampf und Gewerkschaftsbewegung<br />

an und für sich die Preise steigern.<br />

Heute ist es so, daß mit Ausnahme<br />

der französischen Arbeiter, die bereits zahlreiche<br />

Konsumentenstreiks siegreich durchgekämpft<br />

haben, die Gewerkschaften die<br />

Preissteigerungen z u l a s s e n , aber nicht<br />

etwa bewirken. Ich habe nichts dagegen,<br />

wenn man sie dieses V e r b r e c h e n s zeiht<br />

und ihnen in manchem flucht. Solch edler<br />

Groll ist gerechtfertigt. Aber dann muß<br />

man eben gegen die Finsternis in den<br />

Köpfen dieser Arbeiter ankämpfen, gegen<br />

ihre Führer, die diese Verfinsterung künstlich,<br />

durch Disziplin und Einschläferung,<br />

am Leben erhalten — aber man stelle doch<br />

nicht solche Behauptungen auf: daß der<br />

gewerkschaftliche Kampf an sich und unter<br />

allen Bedingungen die Preise in die Höhe<br />

treibe!<br />

So etwas zu behaupten, ist eine Verwechslung<br />

der Sache selbst mit der Art,<br />

wie heute sich die Sache betätigt. Will<br />

man so etwas tun, so kann man jede b e ­<br />

liebige Art der Betätigung des Arbeiters<br />

gegen ihn kehren. Man könnte z. B. gegen<br />

das G e n o s s e n s c h a f t s - und K o n s u m -<br />

wie P r o d u k t i v a s s o z i a t i o n s w e s e n<br />

der arbeitenden Klasse im Gegenwartsstaat<br />

das einwenden, daß sie bei einer gegebenen<br />

Stufe angelangt, die Erzeugung billiger<br />

Schundwaren direkt fördert, indem die von<br />

ihr ausgemerzten Mittelschichten zu diesem<br />

ihren letzten Mittel Zuflucht zu nehmen gezwungen<br />

sind. W ä r e es aber nicht unsinnig,<br />

einfach aus einen solchen Grund heraus die<br />

Idee des Genossenschaftswesens, die als<br />

Mittel unter den übrigen Kampfesmitteln des<br />

Proletariats ein vorzüglich zu nennendes ist,<br />

einfach r u n d w e g s zu verwerfen!<br />

Nicht der Lohnkampf ist es, der die<br />

Preissteigerungen des Unternehmertums herbeiführt.<br />

Es sind zwei Faktoren die dies t u n :<br />

e i n e r s e i t s d e r S t a a t u n d a n d e r ­<br />

s e i t s d i e U n t ä t i g k e i t , der z u w e n i g<br />

geführte Kampf der Gewerkschaften. Keine<br />

andere soziale Klasse in der Gesellschaft<br />

außer ihnen ist tatsächlich im Stande, den<br />

Zolltreibereien des Staates so stark die<br />

Faust zu weisen wie sie, die Gewerkschaften,<br />

wenn sie nur wollten. W e n n die<br />

Eisenbannergewerkschaften irgend eines<br />

Landes auf allen jenen Linien, auf denen<br />

der Staat seine gesteigerten Frachtsätze für<br />

eingeführte und dadurch verteuerte Waren<br />

führt, die passive Resistenz erklären, dann<br />

hört sich dieses Spiel der Preistreiberei<br />

sehr bald auf. W e n n die Arbeiter zu Hunderttausenden<br />

die verteuerten Waren nicht<br />

kaufen, dann wird der gesteigerte Preis zur<br />

Unmöglichkeit. W e n n die Gewerkschaften,<br />

sobald ihre diversen Unternehmer in den<br />

wichtigen Lebensmitteln und G e b r a u c h s ­<br />

gegenständen des Volkes die Preise steigern,<br />

in den Streik gegen alle diese Fabrikanten<br />

treten, dann verlieren diese in jeder Weise<br />

die Möglichkeit, ihre Steigerungen aufrecht<br />

zu erhalten. Kurz, es gibt für die Gewerkschaften<br />

unzählige Kampfmittel, mit denen<br />

sie jeder Preisverteuerung ihrer Unternehmer<br />

entgegentreten können.<br />

Nicht, weil sie ihre Löhne steigern oder<br />

gesteigert haben, schwillt der Preis an,<br />

sondern weil sie es gutwillig zulassen,<br />

nichts dagegen tun, ihre Kräfte mit einzelnen<br />

Kleinstreiks vergeuden, statt im G e-<br />

n e r a l s t t e i k zu vereinigen. Weil sie<br />

noch nicht gelernt haben, ihre Siege a u f<br />

K o s t e n d e s P r o f i t e s des Kapitalisten<br />

und der Herrschmacht des Staates zu erringen,<br />

sondern sich mit Scheinsiegen,<br />

Scheinreformen, Scheinverbesserungen b e ­<br />

gnügen, zu deren verderblichster es gehört,<br />

wenn eine Arbeiterkategorie e s z u l ä ß t ,<br />

daß, nachdem sie eine Lohnsteigerung sich<br />

erkämpft hat, der Preis ihres Produktes<br />

von den Unternehmern in die Höhe g e ­<br />

schraubt wird.<br />

Der Sinn unserer ganzen sozialistischanarchistischen<br />

Arbeit im Aufbauen einer<br />

revolutionären Gewerkschaftsbewegung b e ­<br />

steht darin, daß wir den Arbeitern zeigen<br />

müssen, wie sie alle ihre erkämpften wirtschaftlichen<br />

Positionen sich nicht wieder<br />

entreißen lassen dürfen; wie sie immer<br />

mehr und gewaltiger die Ausbeutungsmöglichkeit<br />

des Kapitalismus und des Staates<br />

b e s c h r ä n k e n müssen, bis sie jenen<br />

Punkt der endgültigen Verteidigungsgrenze<br />

der bestehenden „ O r d n u n g " erreicht haben,<br />

wo als unvermeidliches historisches Werden<br />

der Kampf zweier Weltanschauungen entbrennt,<br />

jene der Autoritätssklaverei und des<br />

Ausbeutungseigentums wider jene der Lichtkultur<br />

allmenschlicher Freiheit und wirtschaftlicher<br />

Gleichberechtigung für Alle —<br />

A n a r c h i e o d e r K o m m u n i s m u s .<br />

Dieser Kampf ist dann, wirtschaftlich a u s ­<br />

gedrückt eigentlich nichts anderes als der<br />

Kampf um den gerechten ökonomischen<br />

Anteil an den selbst produzierten Gütern,<br />

ein Kampf, der mit der A u f h e b u n g<br />

j e d e s L o h n s y s t e m s enden wird und<br />

dessen gewaltige kraftvolle Vorstöße b e ­<br />

sonders in den Anfangsetappen zu leisten<br />

nur die revolutionären Gewerkschaften fähig<br />

und wohl auch dazu berufen sein werden.<br />

Die Gesellschaft ohne<br />

Regierung.<br />

Von Edward Carpenter.<br />

(Schluß.)<br />

Drittens folgt: — (wie W i l l i a m M o r-<br />

r i s dies fortwährend betont) d a ß d i e<br />

A r b e i t i n d i e s e m n e u e n S i n n e e i n e<br />

F r e u d e s e i n w ü r d e — unzweifelhaft<br />

eine der größten Freuden d e s L e b e n s ; und<br />

diese eine Tatsache würde ihren ganzen<br />

Charakter umändern. Heute können wir<br />

dies nicht sagen. Wie viele Menschen gibt<br />

es, die an ihrer täglichen Arbeit wirklich<br />

Freude und Befriedigung finden? Kann man<br />

sie nicht in jeder Stadt an den Fingern a b ­<br />

zählen? Aber was ist das Leben wert, wenn<br />

sein Hauptbestandteil und das, was notwendigerweise<br />

immer sein Hauptbestandteil<br />

sein muß, verhaßt i s t ? Nein, die einzig<br />

wirkliche Ökonomie besteht darin, daß man<br />

seine tägliche Arbeit so einrichtet, daß dieselbe<br />

in sich selbst eine Freude ist. Dann<br />

und nur dann haben wir unser Leben<br />

sichergestellt. Und wenn unsere Arbeit so<br />

ist, dann wird deren Produkt unfehlbar<br />

schön s e i n ; der peinliche Unterschied<br />

zwischen dem Schönen und Nützlichen verschwindet,<br />

und alles w a s erzeugt wird, ist<br />

ein Kunstwerk. Die Kunst wird gleichbedeutend<br />

sein mit dem Leben.<br />

So sieht man, daß während die bestehende<br />

Gesellschaftsordnung auf einem System<br />

des Privateigentums aufgebaut ist,<br />

unter welchem jene, die hart und habgierig<br />

sind, beinahe unvermeidlich zu großen Besitzern<br />

werden, und (unterstützt durch G e ­<br />

setze und Regierung) befähigt werden, die<br />

Kleineren a u s z u b e u t e n ; und während die<br />

Folge von diesen Zuständen ein bitterer und<br />

unaufhörlicher Kampf um den Besitz ist,<br />

in welchem die Triebfeder zum Handeln<br />

hauptsächlich die Furcht ist.<br />

Wir im Gegenteil versuchen, die G r u n d ­<br />

lagen einer Gesellschaft klar zu legen, in<br />

welcher das Privateigentum n i c h t durch<br />

einen Apparat von bewaffneter Autorität<br />

aufrechterhalten, sondern soweit dasselbe<br />

besteht, ein vollkommen freies, freiwilliges,<br />

gegenseitiges Übereinkommen sein wird ;*)<br />

eine Gesellschaft, in welcher das Hauptmotiv<br />

des Lebens weder Furcht noch H a b ­<br />

sucht, sondern die G e m e i n s c h a f t d e s<br />

L e b e n s u n d d a s I n t e r e s s e a m L e ­<br />

be n ist — in welcher der Mensch eine<br />

Arbeit auf sich nimmt, weil er diese Arbeit<br />

gerne tut, weil er fühlt, daß er dieselbe<br />

leisten kann, weil er weiß, daß ihr Ergebnis<br />

entweder für ihn selbst oder für jemand<br />

anderen nützlich sein w i r d !<br />

W i e „ u t o p i s c h " d i e s a l l e s<br />

k l i n g t ! Wie lächerlich einfach und simpel<br />

— zu arbeiten, weil man die Arbeit gerne<br />

tut und deren Ergebnis b r a u c h t ! Wie schön,<br />

wenn man es verwirklichen k ö n n t e ; aber<br />

natürlich ganz „unpraktisch" und unmöglich!<br />

Und dennoch — ist es wirklich unmöglich?<br />

Von altersher hat man uns g e ­<br />

raten, von den Bienen und Ameisen zu<br />

lernen und s i e h e ! s i e s i n d a u c h u n ­<br />

p r a k t i s c h u n d u t o p i s c h . Kann e s<br />

etwas Unsinnigeres geben als das Betragen<br />

dieser kleinen Wesen, von denen ein jedes<br />

jeden Augenblick bereit ist, dem T o d entgegenzutreten,<br />

um seinen Stamm zu verteid<br />

i g e n ? W a r u m ist die Biene wirklich und<br />

wahrhaftig so unwissend und unvernünftig,<br />

daß, anstatt den Honig, den sie einheimst,<br />

in einer eigenen kleinen Privatzelle hübsch<br />

unter Schloß und Riegel aufzustapeln, sie<br />

denselben tatsächlich in die gemeinsamen<br />

Zellen einträgt und ihn nicht vom Produkt<br />

der anderen zu unterscheiden w e i ß ! Dumme<br />

kleine Biene, sicher wird der T a g kommen,<br />

wo du deinen „Leichtsinn" bitterlich bereuen<br />

wirst, und du Hungers sterben wirst, w ä h ­<br />

rend deine Stammesgenossen die Früchte<br />

deiner Arbeit verzehren!<br />

Und der menschliche Körper, dieser<br />

wunderbare Inbegriff und Spiegel des Weltalls,<br />

wie steht e s mit i h m ? I s t e r n i c h t<br />

a u c h u t o p i s c h ? E r besteht aus Myriaden<br />

Zellen, Organen, Körperteilen, zu einer<br />

lebenden Einheit verbunden. Ein gesunder<br />

Körper ist die vollkommenste Gesellschaftsbildung,<br />

die man sieh vorstellen kann. W a s<br />

sagt die Hand, wenn irgend eine Arbeit von<br />

ihr verlangt w i r d ? Handelt sie zuerst darüber,<br />

welchen Lohn sie dafür erhalten soll,<br />

und weigert sie sich zu rühren, solange sie<br />

sich nicht die ihr zusagenden Bedingungen<br />

gesichert h a t ? O d e r zögert der Fuß, uns<br />

irgendwo hinzutragen, ehe er weiß, welchen<br />

speziellen Nutzen e r f ü r s i c h s e l b s t von<br />

der Reise haben w i r d ? Nein, keineswegs!<br />

Sondern jedes Organ und jede Zelle tut<br />

die Arbeit, welche vor ihr liegt und (dies<br />

ist das utopische Prinzip) d a d u r c h , d a ß<br />

s i e e s t u t , bewirkt sie, daß die Lebenssäfte<br />

ihr zufließen, und sie, im (Verhältnis<br />

zum Dienste, den sie leistet, ernähren. Und<br />

wir müssen uns fragen, ob dies nicht auch<br />

das Lebensgesetz einer menschlichen G e ­<br />

sellschaft sein s o l l ? Ob die Tatsache, daß<br />

ein Mitglied derselben der Gemeinschaft<br />

einen (wenn auch noch so bescheidenen)<br />

Dienst tut, nicht vollkommen genügend<br />

dazu wäre, daß alle übrigen Mitglieder es<br />

mit allem, w a s es zum Leben notwendig<br />

hat, v e r s o r g e n ? W ü r d e die Gemeinschaft<br />

daran denken, einen solchen verhungern zu<br />

l a s s e n ? W ä r e dies nicht dasselbe, als wenn<br />

ein Mensch z. B. seinen kleinen Finger verkümmern<br />

und absterben ließe? Ist es nicht<br />

möglich, daß die Menschen aufhören, sich<br />

über den „Arbeitslohn" Sorgen z u m a c h e n ;<br />

daß sie vor allem an ihre Arbeit denken<br />

werden und an die Freude, die sie daran<br />

haben und keinen Zweifel darüber hätten,<br />

daß der Lohn folgen w ü r d e ?<br />

*) Selbstverständlich kann unter diesen Verhältnissen<br />

gar nicht von Privateigentum im heutigen<br />

Sinne die Rede sein. Ein jeder wird all das,<br />

was er zu seinem persönlichen Gebrauch und G e ­<br />

nuß nötig hat. ungehindert besitzen, da es eben<br />

niemand möglich sein wird, das, was er selber<br />

n i c h t braucht, anderen vorzuenthalten, und dadurch<br />

die gemeinsame vernunftgemäße Nutzbarmachung<br />

des Bodens und der Produktionsmittel<br />

alles Notwendige in genügender Menge vorhanden<br />

sein wird.<br />

Anm. d. Red.


Denn der Trieb, irgend etwas zu tun,<br />

was augenfällig vor einem liegt, um getan<br />

zu werden, was man braucht, und was man<br />

tun k a n n, ist sehr stark in der menschlichen<br />

Natur. Sogar Kinder, diese primitiven<br />

Wilden, sind oft äußerst stolz darauf,<br />

„nützlich" zu sein, und es ist ganz gut<br />

denkbar, daß wir, statt sie, wie heutzutage,<br />

anzuspornen „voranzukommen", Geld zu erwerben,<br />

ihre Mitmenschen im Wettrennen<br />

des Lebens zu überholen, und, indem sie<br />

auf die Köpfe anderer steigen, schließlich<br />

eine Stellung zu erreichen, wo sie nicht<br />

mehr zu arbeiten brauchen — daß wir statt<br />

dessen ihnen lehren werden, wie sie, wenn<br />

sie erwachsen sind, Mitglieder einer Gesellschaff<br />

sein werden, welche ihnen u m s o n s t<br />

alles zum Leben Notwendige zur Verfügung<br />

stellt, dafür aber selbstverständlich von ihnen<br />

erwartet, daß sie ihr in Ehren einen nützlichen<br />

Dienst dafür tun. Sogar kleine Kinder<br />

könnten das verstehen. I s t e s d e n n g a n z<br />

u n d e n k b a r , d a ß e i n e G e s e l l s c h a f t<br />

v o n e r w a c h s e n e n M ä n n e r n u n d<br />

F r a u e n d a n a c h h a n d e l n s o l l ?<br />

Es ist aber wirklich lächerlich, über<br />

die Möglichkeit solcher Zustände in der<br />

menschlichen Gesellschaft zu disputieren,<br />

wenn wir so viele tatsächliche Beispiele<br />

derselben vor uns sehen. H e r m a n n M e l -<br />

v i l l e , i n seinem reizenden Buch „ T y p e e , "<br />

beschreibt die Bewohner der M a r q u e s a s -<br />

lnseln im Stillen Ozean, unter denen er im<br />

Jahre 1846 eine Zeit lang gelebt hat. Er schreibt:<br />

„All die Zeit lang, während welcher ich<br />

unter den Typee's gelebt habe, wurde niemand<br />

wegen irgend eines Verbrechens gegen<br />

die Gemeinschaft vor Gericht gestellt. <strong>Dem</strong><br />

Augenschein nach gab e s ü b e r h a u p t<br />

k e i n e G e r i c h t s h ö f e oder Friedensrichter.<br />

Es gab k e i n e Gemeindepolizei, um<br />

Vagabunden oder Ruhestörer festzunehmen;<br />

kurz, e s gab g a r k e i n e g e s e t z l i c h e n<br />

V o r s c h r i f t e n , u m das Wohl und das Bestehen<br />

der Gesellschaft zu wahren, was d a s hochweise<br />

Ziel aller zivilisierten Gesetzgebung ist."<br />

Trotz alledem ist das ganze Buch ein<br />

Lobgesang auf die sozialen Einrichtungen,<br />

die Melville dort vorfand; doch ist seine<br />

Beschreibung der Bewohner der S ü d s e e ­<br />

inseln unzweifelhaft richtig und wird vollständig<br />

von den übrigen Reisenden derselben<br />

Zeit bekräftigt. Es herrschte ein<br />

freier, zwangloser Kommunismus unter ihnen.<br />

Wenn sie einen guten Fischzug taten, b e ­<br />

hielten jene, die daran teilgenommen, die<br />

Beute nicht für sich selbst, sondern verteilten<br />

sie und sandten allen Stammesgenossen<br />

ihren Teil, für sich selbst nur den<br />

auf sie fallenden Anteil behaltend. W e n n<br />

eine Familie eine neue Hütte brauchte,<br />

kamen alle übrigen und halfen, dieselbe<br />

aufzubauen. Er beschreibt eine solche G e ­<br />

legenheit, wo „wenigstens hundert Eingeborene<br />

Baumaterial zur Stelle trugen ; einige<br />

brachten ein oder zwei Bambusstämme, aus<br />

welchen die W ä n d e erbaut wurden, andere<br />

dünne Zweige des Hibiscusstrauches, mit<br />

Palmenblättern zusammengebunden, für das<br />

Dach. Ein jeder trug etwas zur Arbeit b e i ;<br />

und durch die vereinte, aber leichte Arbeit<br />

aller, wurde das ganze G e b ä u d e vor Sonnenuntergang<br />

fertiggestellt. Dieselben kommunistischen<br />

Sitten finden sich bei einer großen<br />

Anzahl primitiver Völkerschaften, und in Wirklichkeit<br />

ü b e r a 11, wo unsere besondere kommerzielle<br />

Zivilisation nicht ihre Spuren zurückgelassen<br />

hat. Wir finden sie z. B. auf der<br />

kleinen primitiven Insel St. Kilda in den<br />

Hebriden, wo heutzutage noch genau dieselben<br />

Sitten betreffs der allgemeinen Verteilung<br />

des Fischzuges und der vereinten<br />

Arbeit beim Hausbauen bestehen, wie sie<br />

Melville in „ T y p e e " beschreibt;*) und sie<br />

*) Wir haben besonders in der russischen<br />

Dorfgemeinschaft (Mir), sowie in den Bauerngemeinden<br />

ganz Europas mit ihren Gemeindeweiden<br />

und -Wäldern noch viel näher gelegene Beispiele.<br />

Auch das gemeinsame Erbauen des Hauses durch<br />

die freiwillige, unbezahlte Arbeit sämtlicher Nachbarn<br />

ist eine Sitte, welche noch in vielen Bauerngemeinden<br />

geübt wird.<br />

Anm. d. Red.<br />

finden sich überall an den Grenzlinien unserer<br />

Zivilisation in den Erntefesten und anderen<br />

Veranstaltungen der Landbevölkerung.<br />

Und wir können uns mit Recht fragen, nicht<br />

ob solche Gesellschaftsgebräuche möglich<br />

sind, sondern ob dieselben nicht am Ende<br />

d i e e i n z i g e m ö g l i c h e Form der G e ­<br />

sellschaft s i n d ; denn jedenfalls ist es unnütz<br />

und s i c h e r l i c h , diese modernen Völkerhorden,<br />

in denen jeder Einzelne mit allen<br />

übrigen einen bitteren Kampf unter einander<br />

um die Mittel des Daseins führt, und durch<br />

gewaltige und barbarische Strafgesetze zu<br />

solchen Verhältnissen herabgedrückt wird,<br />

unter welchen er zu diesem Kampfe g e ­<br />

zwungen ist — G e s e l l s c h a f t e n zu<br />

n e n n e n ! W e n n jeder Mensch sich nur für<br />

einen Augenblick auf seine eigene innere<br />

Natur besinnt, wird er sehen, daß die einzige<br />

Gesellschaft, welche ihn wirklich b e ­<br />

friedigen würde, jene wäre, in welcher er<br />

sich vollkommen frei fühlte und wo ihn<br />

dennoch das tiefste Vertrauen mit den ü b ­<br />

rigen Mitgliedern derselben verbinden w ü r d e ;<br />

und wenn er weiter nachdenkt, wird er<br />

sehen, daß die einzige Möglichkeit für ihn,<br />

vollständig frei zu sein (tun zu können, w a s<br />

er möchte) eben darin besteht, daß er seinem<br />

Nachbarn ebenso vertraut und ebenso um<br />

sein Wohl bedacht ist wie um sich selber.<br />

Diese Bedingungen sind ganz einfach; und<br />

da sie mehr oder weniger durch unzählige<br />

Tier- und Menschenstämme erfüllt worden<br />

sind, ist es doch gewiß nicht unmöglich<br />

für die Kulturmenschen, sie ebenfalls zu erfüllen.<br />

W e n n man sagt (was vollkommen<br />

richtig ist), daß die m o d e r n e Gesellschaft<br />

so viel komplizierter ist als die primitive,<br />

so können wir darauf antworten, daß, wenn<br />

der moderne Mensch mit all seiner Wissenschaft<br />

und Erziehung und seiaem seit Jahrhunderten<br />

kultiviertem Geist nicht befähigter<br />

ist, ein komplizierteres Problem zu lösen<br />

als der Wilde, es dann besser wäre, wenn<br />

er zur Wildheit zurückkehren würde.<br />

Ich bin sicher, daß an der M ö g l i c h ­<br />

k e i t einer freien kommunistischen Gesellschaft<br />

nicht der geringste Zweifel möglich<br />

ist. Edward Carpenter.<br />

Wir machen aus dem Antimilitarismus<br />

keine theoretische Frage. Unser Vorgehen<br />

darin wird nicht durch philosophische oder<br />

sentimentale Bedenken bestimmt, sondern<br />

Antimilitarismus und Antipatriotismus<br />

in den Gewerkschaften.<br />

unsere wohlerwogenen wirtschaftlichen Interessen<br />

sind es, welche uns den Antimilitarismus<br />

und Antipatriotismus aufzwingen.<br />

Die Habsucht des Kapitalismus, der<br />

koloniale Wettbewerb können von einen T a g<br />

zum andern einen europäischen Krieg entfesseln.<br />

Gerade zur Stunde wetterleuchtet<br />

es wieder auf dem Balkan. Um neue Märkte<br />

für ihre Waren zu erobern, um irgend ein<br />

unglückliches Land zu unterwerfen, werden<br />

die herrschenden Klassen aller Länder nicht<br />

zögern, den Krieg zu entfesseln, und die<br />

Proletarier der verschiedenen Länder gegen<br />

einander zu hetzen. Um die Kampfesorganisationen<br />

des Proletariats zu zerstören, um<br />

den Geist der E m p ö r u n g zu töten, werden<br />

die Regierungen aller Länder nicht zögern,<br />

die Völker zur Schlachtbank zu führen; sie<br />

werden vielleicht kein besseres Mittel finden,<br />

um den Zorn der Arbeiter von sich a b z u ­<br />

lenken, als daß sie dieselben im Namen des<br />

Vaterlandes gegen einander hetzen.<br />

Das gefährdet alles, w a s die sozialistische<br />

und anarchistische Aufklärung bisher<br />

erreicht hat. Müssen wir den Massen nicht<br />

klar machen, daß der Patriotismus nur ein<br />

Band zwischen den Besitzenden jedes Landes<br />

ist, daß der Arbeiter kein Vaterland<br />

hat, daß er immer nur zum Profit der Herrschenden<br />

seine Haut zu Markte t r ä g t ?<br />

Müssen wir ihm nicht verständlich machen,<br />

daß seine Interessen mit den Interessen der<br />

Arbeiter der übrigen Länder solidarisch<br />

s i n d ? Und müssen wir nicht für die unaufhörlich<br />

drohende Gefahr eines europäischen<br />

Krieges vorbereitet s e i n ?<br />

Sollten wir uns zur Schlachtbank führen<br />

lassen, ohne auch nur etwas zu unserer.<br />

Befreiung versucht zu h a b e n ?<br />

Niemand wagt es, noch zu bestreiten,<br />

daß der Antimilitarismus der Arbeiter notwendig<br />

ist. Die Argumente, die man gegen<br />

denselben vorbringt, entspringen bloß dem<br />

Opportunismus. Man sagt u n s :<br />

Die Gewerkschaft muß neutral bleiben,<br />

sie darf die politische oder religiöse Überzeugung<br />

der Arbeiter nicht verletzen, sie<br />

darf nicht die patriotischen Gefühle jener<br />

verwunden, die Patrioten geblieben sind.<br />

Wenn man in den Gewerkschaften antipatriotische<br />

P r o p a g a n d a betreiben würde,<br />

dann träten die Arbeiter nicht mehr den Gewerkschaften<br />

bei."<br />

W a s für eine jämmerliche Auffassung!<br />

Als ob die Arbeiter durch philosophische<br />

oder politische Bedenken zum Beitritt zur<br />

Gewerkschaft getrieben würden, und nicht<br />

durch die zum äußersten getriebene Ausbeutung<br />

der Unternehmer, welche den Arbeiter<br />

zwingt, sich mit seinen Kameraden<br />

zu vereinigen, um nicht vollständig erdrückt<br />

zu werden.<br />

Ein Beispiel soll genügen. Die östlichen<br />

Bezirke Frankreichs sind vielleicht die zurückgebliebensten<br />

in der Arbeiterbewegung.<br />

Die patriotischen Hetzereien finden hier an<br />

der deutschen Grenze mehr Widerhall als<br />

a n d e r s w o . Seitdem die hiesige Gewerkschaftsvereinigung<br />

besteht, haben wir fortwährend<br />

eine rege antimilitaristische und<br />

antipatriotische P r o p a g a n d a entfaltet. Und<br />

das Resultat? Vor drei Jahren umfaßte die<br />

Vereinigung nur 13 Gewerkschaften, heute<br />

sind es 26 mit doppelt so viel Mitgliedern.<br />

Unsere Kameraden sehen, wie die Fabriken<br />

und Bergwerke beider Länder ihre Arbeiter<br />

ausbeuten, sie sehen, wie in den Streiken<br />

die französischen republikanischen Gensdarmen<br />

mit den deutschen, belgischen,<br />

luxemburgischen monarchischen Gensdarmen<br />

sich verbrüdern. Und sie begreifen, daß<br />

der Patriotismus nichts anderes bedeutet,<br />

als die Verteidigung des Kapitalismus,<br />

während Antipatriotismus und Antimilitarismus<br />

die VerteidigungihrerKlasse bedeuten.<br />

Kurzum: Die antimilitaristische und antipatriotische<br />

P r o p a g a n d a , ebenso wie die<br />

revolutionäre P r o p a g a n d a innerhalb der<br />

französischen Armee sind ein unentbehrlicher<br />

ergänzender Teil der gewerkschaftlichen<br />

Bewegung Frankreichs. Sie sind unvermeidlich,<br />

um d a s Niederschießen der Arbeiter<br />

während der Streiks zu vermeiden,<br />

um zu verhindern, daß die Proletarier der<br />

verschiedenen Länder sich gegenseitig hinmorden,<br />

um endlich die soziale Revolution<br />

vorzubereiten, welche der Arbeiter- und<br />

Bauernklasse den Boden und die Fabriken<br />

und Maschinen geben und jede Ausbeutung<br />

und alles Elend abschaffen wird.<br />

J. S. Bondoux, Sekretär der Gewerkschaftsvereinigung<br />

von Meurthe es Moselle.<br />

Ein g ü n s t i g e s Angebot!<br />

Die B i o g r a p h i e S t i r n e r s : » M a x S t i r n e r , s e i n Leben<br />

u n d s e i n W e r k * v o n J o h n H e n r y M a c k a y . sollte von allen<br />

gelesen w e r d e n , die die B e d e u t u n g S t i r n e r s u n d s e i n e s Werk<br />

e s . D e r Einzige u n d sein E i g e n t u m " e r k a n n t h a b e n . — Um<br />

den L e s e r n d e s . W o h l s t a n d für Alle* ihre Anschaffung zu erleichtern,<br />

v e r k a u t e ich b 1 s a u f W I d e r r u f die Biographie '<br />

s t a t t d e s L a d e n p r e i s e s v o n M k . 4.— f U r 3 M a r k , gebunden<br />

s t a t t M k . 5.— für M k . 4.—. Ich füge j e d e r Bestellung<br />

gegen E r s t a t t u n g d e r P o r t o k o s t e n v o n 50 Pfg. je ein Exemnlar<br />

d e r drei G e d i c h t b ä n d e M a c k a y ' s : . F o r t g a n g , * . D a s starke<br />

J a h r " u n d . W i e d e r g e b u r t " bei, die a u s d e m H a n d e l zurückg<br />

e z o g e n w u r d e n (fiüherer L a d e n p r e i s M k . 4 . — ) .<br />

Ich bitte, bald zu bestellen, da die V o r r ä t e s e h r gering<br />

sind. V e r s a n d gegen E i n s e n d u n g d e s B e t r a g e s o d e r unter<br />

N a c h n a h m e .<br />

Bernhard Zack's Verlag, T r e p t o w bei Berlin,<br />

Klefholzstraße 186.<br />

Wir empfehlen aufs angelegentlichste:<br />

8 Jahre Zuchthaus<br />

Von Sepp Oerter.<br />

Preis K 1.10.<br />

Durch unsere Expedition zu beziehen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!