Nummer 18 Juni-Juli 1998 kostenlos G reatest S chülerzeitung in ...
Nummer 18 Juni-Juli 1998 kostenlos G reatest S chülerzeitung in ...
Nummer 18 Juni-Juli 1998 kostenlos G reatest S chülerzeitung in ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
22<br />
„Vous êtes des Allemands?<br />
Frankreich, Orléans, 8. Mai<br />
<strong>1998</strong>. Jeanne d’Arc-Fest.<br />
Großartige Stimmung. Es ist heiß.<br />
Wir sitzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Café am Straßenrand.<br />
Tausende Leute bevölkern<br />
den Bürgersteig, drängen<br />
sich an die Absperrungen. Wir<br />
freuen uns auf e<strong>in</strong>en traditionellen,<br />
mittelalterlichen Umzug zu<br />
Ehren der im Jahre 1414 als Hexe<br />
verbrannten Befreier<strong>in</strong> von<br />
Orléans: Jeanne d’Arc.<br />
Um 15.15 Uhr ertönt e<strong>in</strong>e männliche<br />
Stimme aus den überall aufgestellten<br />
Lautsprechern:<br />
“Messieurs Dames, visiteurs de<br />
tout le monde, les habitants<br />
d’Orléans vous souhaitent la<br />
bienvenue.” (zu Deutsch: “Sehr<br />
geehrte Damen und Herren, Gäste<br />
aus der ganzen Welt, die E<strong>in</strong>wohner<br />
von Orléans heißen Sie<br />
willkommen.”) Es wird kurz die<br />
Geschichte der Jeanne d’Arc erzählt,<br />
wie sie die Stadt Orléans<br />
aus der englischen Belagerung<br />
befreite. Dann das Schlußwort:<br />
“Liberté, Egalité, Fragernité! Vive<br />
la Sa<strong>in</strong>te République! Vive la<br />
France!” (“Freiheit, Gleichheit,<br />
Brüderlichkeit! Es lebe die heilige<br />
Republik! Es lebe Frankreich!”)<br />
- Nun gut, daß die Franzosen<br />
stolz auf ihre Nation s<strong>in</strong>d,<br />
ist den meisten wohl bekannt,<br />
warum auch nicht. Aber es geht<br />
weiter: Von der etwa 200 Meter<br />
entfernten Statue der Jeanne d’Arc<br />
nähern sich Truppen. Nicht e<strong>in</strong><br />
Zug, ne<strong>in</strong>, gleich zwanzig verschiedene<br />
Militärzüge kommen da<br />
auf uns zu, Soldaten. Soldaten im<br />
Kampfanzug, <strong>in</strong> Uniform, <strong>in</strong> allen<br />
möglichen Variationen mit und<br />
ohne Orden, nur e<strong>in</strong>es haben alle<br />
geme<strong>in</strong>sam: das Schnellfeuerge-<br />
Allons, enfants de la patrie...<br />
Alors, vous êtes des Nazies?!“<br />
wehr mit aufgestecktem Bajonett,<br />
an die Brust gepreßt. Und die<br />
Menge jubelt. Fähnchen wehen,<br />
und von überall her tönt es: “Vive<br />
la France!”. Es kommt noch besser;<br />
Panzer rollen <strong>in</strong> Zweierreihen<br />
über die Hauptstraße, Kommandanten<br />
ragen aus ihren Luken,<br />
Schützen halten mit ernster<br />
Miene ihr Masch<strong>in</strong>engewehr.<br />
Dah<strong>in</strong>ter rollen Jeeps mit Fahnenträgern<br />
und lebendigen Weihnachtsbäumen,<br />
also Offizieren mit<br />
Orden, vorbei. Und immer wieder<br />
hört man: “Vive la Sa<strong>in</strong>te<br />
France!”<br />
Wir fürchten schon, zu fal<br />
scher Zeit am falschen Ort<br />
zu se<strong>in</strong>, denn unter e<strong>in</strong>em mittelalterlichen<br />
Umzug verstehen wir<br />
etwas anderes, aber ‘nur’ 2 Stunden<br />
später reitet, völlig<br />
unspektakulär, die bei weitem<br />
weniger bejubelte Jeanne d’Arc-<br />
Schauspieler<strong>in</strong> vorbei. Bei all diesem<br />
Militarismus bleibt die Frage:<br />
Wer ist der Fe<strong>in</strong>d?<br />
Dieser Umzug hat uns entsetzt.<br />
Die teilweise wie Soldaten marschierenden<br />
Pfadf<strong>in</strong>der, <strong>in</strong> Frankreich<br />
“Les Scout” genannt, sche<strong>in</strong>en<br />
mächtig stolz zu se<strong>in</strong>, hier<br />
auftreten zu dürfen- ke<strong>in</strong> Wunder,<br />
daß es <strong>in</strong> Frankreich e<strong>in</strong>ige<br />
Jugendliche gibt, die glauben, daß<br />
ihre Nation das e<strong>in</strong>zig wahre sei.<br />
Das fällt uns auf, weil wir an e<strong>in</strong>igen<br />
Tagen während unseres<br />
Aufenthaltes mitten auf der Straße<br />
angesprochen werden: “Vous<br />
êtes des Allemands?” (“Seid Ihr<br />
Deutsche?”) Nach Bejahung dieser<br />
Frage me<strong>in</strong>t unser Gegenüber:<br />
“Ah! Vous êtes des Nazies!”<br />
(“Ah! Ihr seid Nazis!”). Es geht<br />
aber auch e<strong>in</strong>facher: E<strong>in</strong>es<br />
Abends wird uns e<strong>in</strong>fach mal<br />
“Heil Hitler” h<strong>in</strong>terhergeschrien.<br />
Und sowas nennt sich Europäische<br />
“Geme<strong>in</strong>schaft”?<br />
Möglich, daß bei den Fran<br />
zosen durch Ereignisse wie<br />
der DVU-Erfolg <strong>in</strong> Sachsen-Anhalt<br />
der E<strong>in</strong>druck entsteht,<br />
Deutschland bef<strong>in</strong>de sich auf demselben<br />
Weg wie schon 1933. Aber<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land, <strong>in</strong> dem die Partei<br />
“Front National” mit Parolen wie<br />
“Frankreich den Franzosen”<br />
agiert und diese Partei <strong>in</strong> Frankreich<br />
weit mehr Anhänger hat als<br />
die DVU oder die NPD <strong>in</strong><br />
Deutschland, darf ke<strong>in</strong> anderes<br />
Land des Rassismus bezichtigt<br />
werden wenn gleichzeitig Gäste<br />
mit nazistischen Parolen als Rassisten<br />
beleidigt werden. Denn<br />
Frankreich hat teilweise mit Nazi-<br />
Deutschland kollaboriert und sitzt<br />
- wie Deutschland selbst - im<br />
Glashaus. Und wer das Sprichwort<br />
kennt, wird wissen, daß es<br />
dort nicht ratsam ist, mit Ste<strong>in</strong>en<br />
zu werfen.<br />
[ODo]