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Paper (pdf) - Berner & Mattner

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Von der Komponenten- zur Funktionsorientierten<br />

Entwicklung in der Funktionalen Sicherheit<br />

Passing from component-oriented to function-oriented<br />

development in the domain of Functional Safety<br />

Dr.-Ing. B. Kaiser, <strong>Berner</strong>&<strong>Mattner</strong>, Berlin;<br />

Dipl.-Ing. B. Augustin, AUDI AG, Ingolstadt,<br />

Dipl.-Math. C. Baumann, AUDI AG, Ingolstadt<br />

Kurzfassung<br />

In den letzten Jahren kam es in der Automobilindustrie zu einem Paradigmenwechsel von<br />

der komponentenorientierten hin zu einer funktionsorientierten Entwicklung: Komponentenübergreifende<br />

Systeme werden zunächst als Ganzes funktional modelliert, erst in einem<br />

zweiten Schritt erfolgt die Allokation auf technische Komponenten. Auch die Methoden der<br />

Funktionalen Sicherheit (FuSi) müssen sich an das neue Paradigma anpassen, da bspw. die<br />

für die Gefährdungsanalyse wesentliche Definition der Betrachtungseinheit (“Item”)<br />

schwieriger wird, die Abgrenzung funktionales vs. technisches Sicherheitskonzept eine ganz<br />

neue Bedeutung erhält und die Sicherheitsanalysen sich neben Komponentenfehlern auch<br />

auf Fehler im Zusammenwirken fokussieren müssen. Da der maßgebliche FuSi-Standard<br />

ISO 26262 die funktionsorientierte Entwicklung nicht explizit adressiert, liefert der<br />

vorliegende Artikel einige Vorschläge, wie diese Norm im Kontext der funktionsorientierten<br />

Entwicklung ausgelegt werden kann.<br />

Abstract<br />

During the last couple of years, the paradigm of component-oriented development has been<br />

shifting towards a function-oriented approach: complex functions that span across many<br />

ECUs are first modeled and designed as a whole, and then the allocation to technical<br />

components is done in a separate step. Also functional safety methods need to reflect this<br />

new paradigm, as, for instance, the definition of the “item” for the hazard analysis becomes<br />

more difficult, the separation of functional and technical safety concept gets a new<br />

interpretation, and safety analyses have to focus more and more on failures of collaboration,<br />

in addition to component failures. As the current standard ISO 26262 does not address<br />

function-oriented development explicitly, the present article makes some proposals on how to<br />

interpret the ISO 26262 in the context of function oriented development.


1. Von der Komponenten- zur Funktionsorientierten Entwicklung<br />

Traditionell denkt die Automobilbranche komponentenorientiert: die Entwicklung findet in den<br />

Domänen Antrieb, Fahrwerk, Karosserie und Innenraum statt, dort wird nach Systemen,<br />

Baugruppen und schließlich Bauteilen strukturiert, die jeweils dedizierte Funktionen ausüben.<br />

Die Funktionen vormals rein mechanischer Bauteile wurden durch elektronische Systeme<br />

erweitert oder ganz übernommen, wobei aber immer noch ein Steuergerät (auch ECU<br />

genannt, für Electronic Control Unit) genau einem mechatronischen System zugeordnet und<br />

auf dessen abgegrenzten Funktionsbereich hin optimiert war. In diesem Setting war die<br />

komponentenorientierte Entwicklung optimal, da die Expertise bezüglich Hardware,<br />

Software, Mechanik und Einsatzumgebung an einer Stelle gebündelt war.<br />

Die Vernetzung der Komponenten in Verbindung mit immer leistungsfähigerer Hard- und<br />

Software und Sensorik erlaubte die Evolution neuer, bereichsübergreifender Funktionen zur<br />

Steigerung von Komfort und Sicherheit. So konnte die im Bremsensteuergerät<br />

untergebrachte ABS/ESC-Funktion das Antriebsmanagement im Motorsteuergerät anweisen,<br />

nach Bedarf das Motordrehmoment zu reduzieren oder über die elektrische Servolenkung<br />

auf den Lenkwinkel einwirken. Noch immer ließ sich die komponentenorientierte Sicht<br />

aufrechterhalten, da die Funktion im Wesentlichen auf einem Steuergerät „gehosted“ war (im<br />

Beispiel dem Bremsensteuergerät) und die mit dessen Entwicklung betraute Abteilung in der<br />

Verantwortung für die ganze Funktion war.<br />

Die heute bereits vorhandenen Hardwaresysteme ermöglichen weitere Synergien und damit<br />

neue Funktionen, die mit geringem Zusatzaufwand realisierbar sind. Beispiele sind<br />

Parkassistenten, die unter Zugriff auf vorhandene Sensoriken (z.B. der etablierten Funktion<br />

Park Distance Control) und unter Beeinflussung mehrerer der vorhandenen Aktuatoren einen<br />

weitgehend autonomen Ein- und Ausparkvorgang gestatten. Diese Funktionen<br />

überschneiden sich bezüglich Sensor- und Aktuator-Zugriff mit anderen übergreifenden<br />

Funktionen, etwa Spurhalteassistent, Notbremsassistent oder autonome Notbremsung<br />

(siehe Bild 1). Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar, da für die nächsten Jahre<br />

auch das hochautomatisierte Fahren auf der Agenda für die Serieneinführung steht.<br />

Es wird also zur Kernkompetenz der Fahrzeughersteller, komponentenübergreifende<br />

Funktionen und deren Interaktion – auch in Gegenwart von Fehlern und<br />

Funktionseinschränkungen – disziplinübergreifend spezifizieren, modellieren und verifizieren<br />

zu können, wozu alle Entwicklungsbereiche enger als bisher werden kooperieren müssen.<br />

Um sich dieser Herausforderung zu stellen, begannen viele Automobilunternehmen<br />

umzudenken und von einer komponentenorientierten zu einer funktionsorientierten<br />

Entwicklung überzugehen [1].


Power Steering<br />

EPS ECU<br />

M<br />

Lane Assist<br />

Camera<br />

LDW ECU<br />

Algorithm<br />

Park Assist<br />

Ultrasonic Sensors<br />

PDC ECU<br />

Algorithm<br />

Motor Reg<br />

Engine ECU<br />

ABS / ESP<br />

Wheel Sensor<br />

Brake<br />

Pedal<br />

ABS/ESC<br />

ESC ECU<br />

Brake<br />

Bild 1: Hochvernetzter und steuergeräteübergreifender Funktionskomplex<br />

2. Kurze Darstellung der Funktionsorientierten Entwicklung<br />

In der funktionsorientierten Entwicklung wird zunächst jede kundenerlebbare Funktion<br />

möglichst unabhängig von einer späteren technischen Umsetzung definiert und das auf<br />

Fahrzeugebene erlebbare Sollverhalten durch Funktionsblöcke modelliert. So wird einerseits<br />

eine frühe Validation durch Simulation und Rapid Prototyping möglich und andererseits das<br />

Ziel verfolgt, die Funktion in möglichst vielen verschiedenen Fahrzeugprojekten einsetzen zu<br />

können.<br />

Für neue Funktionen folgt dann eine Systemarchitekturphase. In dieser werden die<br />

funktionalen Anforderungen aller im Projekt eingeplanten Funktionen auf die<br />

Fahrzeugarchitektur abgebildet und die Funktionsblöcke auf tatsächliche Komponenten<br />

(Sensorik, Aktuatorik, Steuergeräte) des jeweiligen Fahrzeugs allokiert. Jede Komponente<br />

erhält folglich Anforderungen aus diversen Funktionen, die miteinander zu vereinigen und auf<br />

Widersprüche und gesamtheitliche Umsetzbarkeit zu prüfen sind. Dabei liegt deutlich mehr<br />

Verantwortung als in der Vergangenheit auf der Rolle des Systemarchitekten, der Aspekte<br />

wie die Funktionsarchitektur im Fahrzeug, Bus-Latenzen, Rechenkapazitäten der


Steuergeräte, Fähigkeiten der Sensorik, Feature Interaction und Verhalten bei<br />

Komponentenausfällen berücksichtigen muss.<br />

Das vermehrte Aufkommen teil- und hochautomatisierter Assistenzfunktionen potenziert die<br />

Anforderung funktionsorientiert zu entwickeln, da sich solche Funktionen zum großen Teil<br />

dieselben Sensoren und Aktuatoren teilen. Es bietet sich an, ihre Kernfunktionen in einem<br />

zentralen Fahrerassistenzsteuergerät (kurz: zFAS) zu bündeln, wo alle ihre Eingangsdaten<br />

(d.h. Input der Sensorik) und Ausgangsdaten (d.h. Output zur Aktuatorik) über einheitliche<br />

Schnittstellen kanalisiert werden (siehe Bild 2). So wird eine Auflösung eventueller<br />

Widersprüche zwischen Funktionen durch zentrale Arbitrierung und eine gemeinsame<br />

Rückfallstrategie bei Sensorausfällen möglich.<br />

Ego-<br />

Bewegungs-<br />

Sensorik<br />

Radar Ultraschall<br />

Laser<br />

Sensoren<br />

Kamera<br />

Sensordatenfusion<br />

Bewegungsmanager<br />

Bild 2: Systemarchitekturlösung mit zFAS<br />

Um den Lösungsraum nicht einzuschränken, machen die Funktionsverantwortlichen keine<br />

konkreten Vorgaben über Typ und Leistungsfähigkeit einzelner Sensoren, sondern<br />

beschreiben auf funktionaler Ebene die Objekte, die erkannt werden sollen, einschließlich<br />

Genauigkeits- und Entfernungsangaben, bleiben also auf funktionaler Ebene. Die<br />

Systemdesigner haben anschließend zu bewerten, mit welcher Sensorik die geforderten<br />

Gütemaße erfüllt werden können und wählen entsprechend das fahrzeugprojekt-spezifische<br />

Sensorset aus.<br />

Der weitere Entwicklungsprozess verläuft weitgehend analog zur klassischen<br />

komponentenorientierten Entwicklung, i.d.R. bei den verschiedenen Komponentenlieferanten<br />

entsprechend dem V-Modell. Die System-Integrationsebene – als Gegenpart zur System-


Architektur-Ebene im linken V-Ast – hat im rechten V-Ast eine herausgehobene Bedeutung.<br />

Beim Validationstest am Ende des V’s dienen schließlich die Funktionsbeschreibungen vom<br />

Beginn der funktionsorientierten Entwicklung als Referenz (vgl. Bild 3).<br />

Bild 3: Darstellung der funktionsorientierten Entwicklung als V-Modell<br />

3. Neue Herausforderungen für den Prozess der Funktionalen Sicherheit<br />

Zur Umstellung des Entwicklungsprozesses auf die funktionsorientierte Entwicklung kommt<br />

als weitere Herausforderung hinzu, dass quasi alle in Frage kommenden Systeme<br />

sicherheitsrelevant sind und daher die Forderungen der ISO 26262 [2] zusätzlich in diesen<br />

funktionsorientierten Prozess zu integrieren sind. Das domänenübergreifende Erstellen von<br />

FuSi-Artefakten wie Sicherheitskonzepten ist für viele FuSi-Verantwortliche noch Neuland.<br />

Hazards resultieren im Bereich des hochautomatisierten Fahrens nicht nur aus Fehlern in<br />

einzelnen Komponenten, sondern auch aus Fehlern im Zusammenspiel der verschiedenen<br />

Funktionen und Steuergeräte, was den Fokus von Sicherheitsanalysen verschiebt. Bei der<br />

Objekterkennung ist die Güte der Sensoriken und Auswertungsalgorithmen für die Sicherheit<br />

auf Fahrzeugebene entscheidend, so dass die Grenzen zwischen FuSi, Gebrauchssicherheit<br />

und nomineller Performanz zu verschwimmen beginnen. Zusätzlich ist beim<br />

hochautomatisierten Fahren im höheren Geschwindigkeitsbereich eine fail-safe Eigenschaft<br />

der Funktion nicht mehr ausreichend, da es keinen unmittelbar erreichbaren sicheren<br />

Zustand gibt und dieser erst durch einen (evtl. eingeschränkten) fail-operational Betrieb<br />

erreicht werden kann. Deshalb muss die FuSi auf Systemebene Aspekte wie Redundanz,


Mehrkanaligkeit und Schutz vor gemeinsamen Fehlern deutlich stärker als bisher<br />

berücksichtigen.<br />

4. Integration der FuSi-Aktivitäten in die Funktionsorientierte Entwicklung<br />

In der Praxis hat sich als vorteilhaft herausgestellt, den funktionsorientierten Prozess als<br />

Vorlage zu nehmen und die FuSi-Aktivitäten darauf abzubilden. Wie sich auch beim<br />

funktionsorientierten Entwicklungsansatz Vorteile bzgl. Portabilität (bzgl. Fahrzeugprojekte)<br />

und Skalierbarkeit (bzgl. Fzg.architekturen, bspw. neuer Bustopologien) ergeben, führen die<br />

so entstehenden Synergien auch in der FuSi zu Verbesserungen bezogen auf Systematik<br />

und Effizienz. Die folgenden Erkenntnisse wurden aus Praxisprojekten gewonnen, bei denen<br />

die Vorgaben der ISO 26262 auf funktionsorientierte Entwicklungsvorhaben interpretiert<br />

wurden. Es werden die jeweiligen Besonderheiten der Hauptaktivitäten der ISO 26262<br />

vorgestellt.<br />

4.1. Item Definition<br />

Bereits bei der Item Definition ist einiges zu beachten, denn dieses bildet die Grundlage für<br />

die Gefährdungsanalyse und Risikobewertung (G&R) und grenzt den Arbeitsumfang des<br />

gesamten nachfolgenden Sicherheitsprozesses ab. Die ISO 26262 verortet Hazards auf<br />

Fahrzeugebene – und dort sind es primär die Aktuatoren, die Unfallszenarien auslösen.<br />

Auch wenn althergebrachte Aktuatoren wie Lenkung und Bremse nicht zur Assistenzfunktion<br />

im engeren Sinne gerechnet werden, sind sie Teil der Funktion und damit des Items. Es<br />

bietet es sich an, für die G&R die Aktuatorik in den Scope mit einzubeziehen (und dabei von<br />

vorhandenen G&Rs aus dem Fahrwerksbereich zu profitieren), im späteren System-<br />

Sicherheitskonzept jedoch nur den reduzierten Scope des Funktionskernumfangs technisch<br />

auszudefinieren. Somit unterscheidet die Item Definition also künftig mehrere „Scopes“ (man<br />

denke an verschiedenfarbige Umrahmungen von Teilkomplexen) und es ist auf diese Weise<br />

auch möglich, eine gemeinsame Item Definition für mehrere eng verwandte Funktionen (so<br />

genannte Funktionskomplexe) auf einmal zu erstellen und diese durch Scopes abzugrenzen,<br />

was Aufwand reduziert und Inkonsistenzen verhindert.<br />

4.2. Gefährdungsanalyse und Risikobewertung (G&R)<br />

Werden die o.g. Ratschläge bezüglich der Item Definition beherzigt, so wird auch die G&R<br />

durch den neuen funktionsorientierten Ansatz vereinfacht und vereinheitlicht. So ist es etwa<br />

bei der Gefährdung „Fehllenker bei Autobahnfahrt“ auf Fahrzeugebene gleichgültig, ob


dieser verursacht wird durch einen fehlerhaften Steuerbefehl eines Parkassistenten oder<br />

durch einen internen Hardwarefehler des Lenkungssteuergeräts.<br />

In der bisherigen komponentenorientierten Sicht hatten Analysten „innenliegender“<br />

Komponenten oft die Schwierigkeit, bewertbare Gefährdungen auf Fahrzeugebene zu<br />

analysieren, da solche Steuergeräte keinen unmittelbaren Zugriff auf Aktuatoren, sondern<br />

meist nur Bus-Schnittstellen zu den Aktuator-Steuergeräten haben. In der<br />

funktionsorientierten Sicht legen nun die Experten aller beteiligten Disziplinen (Sensorik,<br />

Verarbeitung, Aktuatorik, Fahrerinterface) unter Leitung des Funktionsverantwortlichen die<br />

gesamte Wirkkette der Funktion aus und analysieren diese auch bezüglich FuSi. Dadurch<br />

steht bei der G&R eine höhere Expertise zur Verfügung und es tritt eine Verbesserung der<br />

Konsistenz und eine Effizienzsteigerung durch Wiederverwendung ein.<br />

Beim Übergang zum automatisierten Fahren scheint es zudem sinnvoll, die Gefährdungen<br />

bei einer aktivierten automatisierten Funktion nicht mehr aktuatororientiert, sondern vielmehr<br />

freiraum- bzw. trajektorienorientiert zu betrachten. Im automatisierten Modus ist bspw. der<br />

Begriff „Selbstlenker“ für einen Hazard an sich schon fragwürdig, aber selbst der Term<br />

„Fehllenker“ wäre nicht ohne Bezug zur Längsdynamik und zur Umgebungssituation zu<br />

definieren. Somit erscheint die Suche nach Hazards alleine des Aktuators „Lenkung“ nicht<br />

mehr zielführend – ein Hazard tritt nämlich erst dann auf, wenn durch das Zusammenspiel<br />

von Antrieb, Lenkung und Bremse der tatsächliche Freiraum um das Fahrzeug verletzt wird<br />

und Kollisionen entstehen können. Somit erhält man auch bereits in der G&R einen<br />

Übergang von einer komponentenorientierten zu einer funktionsorientierten Denkweise.<br />

4.3. Funktionales Sicherheitskonzept (FuSiKo)<br />

In der Vergangenheit gingen funktionales und technisches Sicherheitskonzept oft fließend<br />

ineinander über – das FuSiKo als grobere Vorstufe des technischen Konzepts – und waren<br />

folglich in gleicher Weise, meist nach Sicherheitszielen, strukturiert. Dies sorgt zwar auf den<br />

oberen Gliederungsebenen für gute Übersicht, zwingt aber bei weiterem Vordringen in die<br />

technischen Details zu häufigen Wiederholungen oder Querverweisen, weil<br />

Komponentenfehler mehrere Gefährdungen verursachen können, weil technische<br />

Maßnahmen mehreren Sicherheitszielen auf einmal dienen können und vor allem, weil<br />

Sicherheitsmaßnahmen an anderer Stelle allokiert sein können als dem Entstehungsort der<br />

zugeordneten Fehler. Somit ist diese klassische Strukturierung bei verteilten Systemen mit<br />

hoher Funktionsüberschneidung weder der Verständlichkeit förderlich, noch der<br />

wünschenswerten definierten Wiederverwendung von Teilen des Sicherheitskonzepts.


In der funktionsorientierten Entwicklung bietet es sich nun an, funktionales und technisches<br />

Sicherheitskonzept stärker zu trennen und ihnen klare Aufgaben zuzuweisen: das FuSiKo,<br />

das weiterhin nach Sicherheitszielen strukturiert wird, wird einmal pro Fahrzeugfunktion<br />

erstellt. Es bricht die Sicherheitsziele herunter auf Sicherheits-Features (z.B. Integrität der<br />

Abstandserfassung zu einem Hindernis), die durch funktionale (technologieunabhängige)<br />

Anforderungen ausdefiniert werden, z.B. „Es ist sicherzustellen, dass alle Fehler, die zur<br />

Nichtentdeckung oder zur verspäteten Entdeckung von Hindernissen führen können, sicher<br />

entdeckt und übermittelt werden und zur geordneten Beendigung der Funktion führen.“<br />

Solche Anforderungen beziehen sich nicht auf eine spezifische Sensortechnologie und<br />

nennen auch keine konkreten technischen Maßnahmen wie Plausibilisierungen. Die<br />

Anforderungen sind bewusst abstrakt formuliert (z.B. „Jegliche … sind zu verhindern.“),<br />

damit sie sich leicht in die technologieunabhängige funktionale Anforderungsspezifikation<br />

integrieren lassen und unverändert weiter gelten, wenn dieselbe Funktion in einem späteren<br />

Fahrzeugprojekt mit anderen technischen Mitteln realisiert wird.<br />

Die Betrachtungen im FuSiKo basieren auf dem Funktionsblockmodell, das aus der<br />

Funktionsspezifikation übernommen wird. Hieran werden die Auswirkungen möglicher Fehler<br />

untersucht und funktionale Maßnahmen dagegen definiert. Die Sicherheitsanforderungen<br />

werden vorhandenen Funktionsblöcken (z.B. Sensordatenfusion, Bewegungsmanager)<br />

zugeordnet, wobei es zusätzlich nötig werden kann, neue Funktionsblöcke speziell für die<br />

Erfüllung der Sicherheitsanforderungen hinzuzufügen: Entsprechend der freiraumorientierten<br />

Hazard-Definition aus der G&R, liegt z.B. es bei teil- und hochautomatisiertem Fahren nahe,<br />

einen neuen Funktionsblock vorzusehen, der sich drohenden Kollisionen zwischen Ego-<br />

Fahrzeug und Umgebung widmet. Dieser „Kollisionswächter“ ist somit der „ASIL-Träger“ der<br />

Funktion, während viele weitere Teile der Funktion anschließend ohne (bzw. mit geringeren)<br />

Sicherheitsanforderungen auskommen.<br />

4.4. Systemsicherheitskonzept (SysSiKo)<br />

Das SysSiKo ist das FuSi-seitige Gegenstück zur Systemarchitektur, denn wie diese allokiert<br />

es die abstrakten Sicherheitsfunktionen auf konkrete technische Komponenten. Hier laufen<br />

die Anforderungen aus den FuSiKos aller Funktionen zusammen (siehe Bild 4). Das SysSiKo<br />

wird entsprechend vom OEM erstellt und kann interpretiert werden als komponentenübergreifender<br />

Teil des technischen Sicherheitskonzept gem. ISO 26262 (der detailliertere<br />

Teil des technischen Sicherheitskonzepts, der sich bspw. mit der Absicherung von<br />

Mikroprozessoren befasst, wird weiterhin vom Zulieferer erstellt).


Bild 4: Zusammenhang FuSiKo / SysSiKo / TeSiKo<br />

Im SysSiKo werden die Maßnahmen aus den FuSiKos technisch konkretisiert und es wird<br />

auf Fehlermodi der realen, projektspezifischen Implementierung Bezug genommen (etwa<br />

Botschaftsverfälschungen durch ein CAN-Gateway eines spezifischen Fahrzeugs, das in der<br />

funktionalen Betrachtung noch gar nicht existierte). Die Anforderungen werden zudem an<br />

Komponenten adressiert (z.B. „Das ESC-Steuergerät muss bei Eintreffen einer gültigen<br />

Notbremsungs-Signalisierung innerhalb von 200 ms das unter Einhaltung der<br />

Fahrzeugstabilität maximal mögliche Bremsmoment aufbauen.“). Eine Traceability zu den<br />

verschiedenen beteiligten FuSiKos wird durch identifizierbare Verweise hergestellt oder, falls<br />

man das Sicherheitskonzept in Systemen wie DOORS pflegt, durch Links.<br />

Ebenfalls im SysSiKo findet die Allokierung von ASILs und Budgets im Sinne der Hardwareund<br />

Architekturmetriken statt, sowie die Budgetierung der Fehlerreaktionszeiten über die<br />

Wirkketten, die im Falle komplexer Assistenzsysteme über drei und mehr Steuergeräte auf<br />

verschiedenen Teilbussen verlaufen können und komplexe Modellierung erfordern. Der Blick<br />

des FuSi-Analysten ist hier besonders auf das richtige Zusammenwirken der Komponenten<br />

gerichtet, nicht nur auf ihre individuelle Fehlerfreiheit – und eine enge Kooperation mit dem<br />

Systemarchitekten ist essentiell.<br />

Im SysSiKo wechselt auch die Kapitel-Strukturierung von der sicherheitsziel-orientierten<br />

Sicht auf die komponentenorientierte Sicht. Alle Aspekte bspw. der Umfelderfassung werden<br />

im selben Kapitel betrachtet, gleich von welchen Sicherheitszielen sie sich herleiten.<br />

Entsprechend findet hier auch eine Maximum-Bildung über den ASIL statt: jede Funktion<br />

einer Komponente erbt den höchsten ASIL aller Sicherheitsanforderungen, die sie betreffen.<br />

Da viele Maßnahmen im SysSiKo (etwa End-to-End-Absicherung der Kommunikation) gegen<br />

diverse Fehlermodi verschiedener Komponenten wirken, empfiehlt sich die von uns bereits


früher vorgeschlagene Matrixmethode [4], um einerseits die Vollständigkeit der Maßnahmen<br />

zu garantieren, andererseits aber Over-Engineering zu vermeiden (siehe Bild 5).<br />

zFAS<br />

ESC-SG<br />

Fehler-Modi<br />

Sensor Eval<br />

CAN<br />

FuSi-Maßnahme<br />

Cross- Plausibilisierung<br />

durch Sensorfusion<br />

ASIL- Konforme SW-<br />

Entwicklung<br />

CAN- Absicherung durch<br />

CRC<br />

Ignorieren von<br />

Bremsanforderung bei v<br />

> v-max<br />

Fehlerhafte Bremsanforderung wg<br />

Phantom- Objekt □ ■<br />

Fehlerhafte Bremsanforderung wg<br />

SW- Fehler □ ■<br />

Fehlerhafte Bremsanforderung wg<br />

Botschafts- Verfälschung ■ ■<br />

Bild 5: Matrix zur Allokation von Sicherheitsmaßnahmen zu Fehlermodi<br />

Im SysSiKo werden technische Entwurfsentscheidungen (etwa die Verwendung eines zFAS<br />

mit einheitlichen Schnittstellen zwischen Funktionen und Sensordaten/Aktuatorik) gegen<br />

daraus resultierende Herausforderungen der FuSi abgewogen und bewertet: So sind für<br />

Einzelpunktfehler anfällige Einkanaligkeiten evtl. durch Redundanzen oder<br />

Rückfallebenenlösungen zu ergänzen, so dass trotz der schlanken einkanaligen<br />

Funktionsarchitektur unter Umständen auf technischer Ebene wieder zusätzliche<br />

sicherheitsbedingte By-Pass-Lösungen generiert werden müssen. Die Bedeutung des<br />

SysSiKo ist also analog zur Bedeutung der Systemarchitektur in der funktionalen<br />

Entwicklung erheblich gewachsen.<br />

4.5. Komponentenweise Umsetzung beim Lieferanten<br />

Sind die Sicherheitsanforderungen aus dem SysSiKo den Komponenten zugeordnet, auf die<br />

Lastenhefte der Komponenten verteilt und den Lieferanten übergeben, unterscheidet sich<br />

das weitere Vorgehen nicht mehr wesentlich von der klassischen Entwicklung. Für die<br />

Komponente ist ein technisches Sicherheitskonzept (TeSiKo) zu erstellen. Dieses greift die<br />

Sicherheitsanforderungen aus dem SysSiKo des OEMs auf und verfeinert sie zu konkreten<br />

Lösungen, ergänzt um weitere Sicherheitsmaßnahmen auf Grund der Komponenten-FMEA.<br />

Hierzu zählen bspw. Abschaltpfadtests, Spannungs- und Temperaturüberwachungen oder


Prozessor-Absicherungsmaßnahmen. Die Lösungen aus dem Sicherheitskonzept sind<br />

konform zu den Regeln der ISO 26262 entsprechend ihrem ASIL umzusetzen und die<br />

Nachweise dazu an den Komponentenverantwortlichen beim OEM zu liefern. Die Einhaltung<br />

der im SysSiKo des OEMs festgesetzten Zuverlässigkeits- und Metrik-Budgets sowie die<br />

zeitlichen Anforderungen bzgl. Fehlerdetektions- und Fehlerreaktionszeiten sind<br />

nachzuweisen.<br />

4.6. Integration und Sicherheitsnachweis<br />

Im klassichen V-Modell verlaufen Komponenten-Integration und zugehörige Tests im rechten<br />

V-Ast in spiegelbildlicher Reihenfolge wie die Dekomposition in Komponenten, die im linken<br />

V-Ast stattfand. Dies gilt im funktionsorientierten Kontext weiterhin. Zu beachten ist jedoch,<br />

dass die im linken Ast formulierten funktionalen Sicherheitsanforderungen abstrakt und nicht<br />

unbedingt direkt testbar sind (ein häufig gehörter Kritikpunkt), da man bewusst auf die<br />

Benennung konkreter Signale, Schnittstellen und selbst Sicherheitsmaßnahmen verzichtet<br />

hat, um die Skalierbarkeit der Funktion nicht zu behindern.<br />

Zur Lösung dieses Problems bedient man sich für die Verifikation der funktionalen<br />

Sicherheitsanforderungen einer Kombination aus Funktionstest der funktionalen<br />

Sicherheitsanforderungen (bei dem sich die für den Test nötigen konkreten technischen<br />

Schnittstellen aus der Verlinkung zwischen Funktionsanforderung und Systemdesign im<br />

linken V-Ast ermitteln lassen) und einer strukturierten Argumentation im Sicherheitsnachweis<br />

(z.B. nach Kelly [4]), die nachvollziehbar die Erfüllung der abstrakten funktionalen<br />

Sicherheitsanforderungen belegt unter Bezugnahme auf die lückenlose Ableitung und die<br />

erfolgreichen Tests der konkreten technischen Realisierung.<br />

5. Varianten, Änderungen und Wiederverwendung<br />

Ihre eigentliche Stärke spielt die funktionsorientierte Entwicklungsmethodik aus, wenn es zu<br />

Variantenbildung, Änderungen an einem bestehenden Produkt und zu Wiederverwendung<br />

von Funktionen oder aber technischen Lösungen im Rahmen neuer Funktionskomplexe<br />

kommt. Durch die Modularisierung und die Abstraktion der Funktion von der<br />

fahrzeugspezifischen Umsetzung müssen nur die Artefakte im Entwicklungsprozess<br />

angepasst werden, die von der Änderung betroffen sind (und natürlich müssen im rechten V-<br />

Ast alle Integrations- und Testschritte wiederholt werden). Diese Aussage gilt für Artefakte<br />

der normalen Entwicklung ebenso wie für die Arbeitsprodukte der FuSi-Aktivitäten: Wird z.B.<br />

nur ein Steuergerät durch ein Modell eines anderen Zulieferers ersetzt, so gelten FuSiKo und<br />

SysSiKo weiterhin; nur das TeSiKo der Komponente ist neu zu erstellen sowie die


komponentenbezogenen Analysen wie Design-FMEA. Selbst die nötig werdenden<br />

Anpassungen bei Änderungen an der Funktion oder bei einer geänderten Realisierung in<br />

einem anderen Fahrzeugprojekt vereinfachen sich durch die modularere Struktur aller FuSi-<br />

Arbeitsprodukte. Entscheidend für die Wiederverwendung ist jedoch, dass schon in den<br />

frühen Phasen (Item Definition, G&R, FuSiKo) der Empfehlung befolgt wird, alle Annahmen<br />

explizit (z.B. in einer separaten Tabelle mit eindeutigen IDs) festzuhalten. So kann bei jeder<br />

Veränderung oder Übernahme geprüft werden, ob alle Annahmen noch gelten und, falls<br />

nicht, welche Teile der Konzepte von den Änderungen betroffen sind.<br />

6. Fazit<br />

Der vorliegende Beitrag stellte einen neuen und in weiten Teilen bereits praktisch erprobten<br />

Ansatz vor, wie sich die FuSi-Aktivitäten gem. ISO 26262 in den funktionsorientierten<br />

Entwicklungsprozess in der Automobilindustrie integrieren lassen. Die Veränderungen, die<br />

sich unter diesen Vorzeichen für alle wesentlichen FuSi-Aktivitäten ergeben, wurden mit<br />

Bezugnahme auf neue Assistenzfunktionen im Bereich des teil- und hochautomatisierten<br />

Fahrens diskutiert. Der Hauptvorteil der Adaption der Sicherheitsaktivitäten an die<br />

funktionsorientierte Entwicklung liegt in der Beherrschung der hohen Komplexität heutiger<br />

steuergeräteübergreifender Funktionen und der Maximierung der Synergieeffekte durch<br />

Übernahmepotential von FuSi-Arbeitsprodukten in veränderten Projektkontexten. Mehrere<br />

Projekte im Bereich der Fahrerassistenzsysteme und des automatisierten Fahrens im<br />

Kontext der Unternehmen Volkswagen und Audi haben gezeigt, dass sich tatsächlich<br />

erhebliche Aufwandsreduktionen erzielen ließen und sich die Beherrschung der Komplexität<br />

solcher Systeme im Bereich der FuSi vereinfachte. Außer im Fahrerassistenzbereich eignet<br />

sich die Methode auch für andere komponentenübergreifende Funktionen, etwa in der<br />

Hybridantriebstechnik, wo sowohl Antreiben als auch Bremsen durch komplexe Kooperation<br />

mehrerer Komponenten realisiert werden.<br />

[1] Dietrich, B. und Kuther, T.: Funktionsorientierte Entwicklung schafft Transparenz und<br />

stellt perfektes Zusammenspiel aller Komponenten sicher. Elektronik Praxis Feb 2009<br />

[2] ISO 26262 Road Vehicles – Functional Safety . International Standard<br />

[3] Kaiser, B.: Approaches Towards Reusable Safety Concepts”. 2 nd VDA Automotive SYS<br />

Conference, Berlin, 15./16.05.2012<br />

[4] Kelly, T. und Weaver, R.: The Goal Structuring Notation – A Safety Argument Notation.<br />

Proc. of Dependable Systems and Networks 2004 Workshop on Assurance Cases,<br />

2004

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