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Sachlicher Romanze

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Kästner, Sachliche <strong>Romanze</strong><br />

I<br />

II<br />

III<br />

IV<br />

Als sie einander acht Jahre kannten<br />

(und man darf sagen: sie kannten sich gut),<br />

kam ihre Liebe plötzlich abhanden.<br />

Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.<br />

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,<br />

versuchten Küsse, als ob nichts sei,<br />

und sahen sich an und wussten nicht weiter.<br />

Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.<br />

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken,<br />

Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier<br />

und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.<br />

Nebenan übte ein Mensch Klavier.<br />

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort<br />

und rührten in ihren Tassen.<br />

Am Abend saßen sie immer noch dort.<br />

Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort<br />

und konnten es einfach nicht fassen.<br />

Formale Analyse<br />

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um ein Gedicht von Erich Kästner mit der Überschrift<br />

"Sachliche <strong>Romanze</strong>". Es besteht aus drei Strophen à vier Versen und einer abschließenden<br />

Versgruppe mit fünf Zeilen, die im folgenden aber auch als Strophe bezeichnet werden soll. In<br />

den ersten drei Strophen liegt ein Kreuzreim vor, die letzte Strophe hat das Reimschema<br />

a,b,a,a,b. Ein einheitliches Versmaß ist nicht zu erkennen. Das Gedicht beginnt direkt, ohne nähere<br />

Einführung, mit dem Vorfall, der Thema des Gedichts ist.<br />

Interpretation<br />

Die erste Strophe<br />

Das Gedicht beginnt in einem ruhigen Ton, obwohl es sich um einen äußerst schmerzhaften Vorgang<br />

handelt – zumindest dann schmerzhaft, wenn man ihn bemerkt. Auf jeden Fall liegt bei näherem<br />

Hinsehen ein Missverhältnis vor zwischen dem eigentlichen, traurigen Vorgang und der<br />

Beiläufigkeit, mit der darüber gesprochen wird. Das passt aber zugleich schon zum Titel, wenn<br />

auch ein ironischer Ton mit hineinkommt. In gewisser Weise könnte man sagen, die <strong>Romanze</strong> ist<br />

das, was einmal war – und das Sachliche ist die Gegenwart: So sieht eine Liebe eben häufig aus,<br />

wenn der Alltag all das Schöne, Aufregende abgeschliffen hat.<br />

Dennoch bleibt es ein eigentlich ungeheurer Ton, den Kästner hier anschlägt, wenn er die Liebe<br />

zwischen zwei Menschen mit alltäglichen Gegenständen vergleicht. Zugleich bringt er es auf<br />

unnachahmliche Art und Weise auf den Punkt, stärker kann man das künstlerisch nicht verdichten,<br />

was sich hier abspielt: Die Liebe verflüchtigt sich eben manchmal, kommt einem „abhanden“ – wie<br />

man eben auch sonst etwas verliert. In der Regel merkt man es zunächst auch überhaupt nicht,<br />

kommt die Einsicht vielleicht erst in einer besonderen Situation, etwa, wenn man einen neuen möglichen<br />

Partner kennen lernt.


Wichtig ist noch die zweite Zeile, der Hinweis auf die Dauer der Beziehung: Kästner bleibt hier<br />

im Rahmen der allgemeinen Erfahrung, die sich ja in der Wendung vom „verflixten 7. Jahr“ einer<br />

Beziehung verdichtet hat – im 8. Jahr hat man dann das, was im 7. Jahr passiert ist.<br />

Während der kleine Nachtrag eben durchaus in das bisher entworfene Gesamtbild passt, sieht das<br />

anders aus, wenn man sich die 3. Zeile noch einmal genauer anschaut: Da ist ja davon die Rede,<br />

dass die Liebe „plötzlich“ abhanden kam – das widerspricht der Vorstellung von einer allmählich<br />

auslaufenden Beziehung. Erklären kann man es aber doch wohl dadurch, dass man es eben dann<br />

plötzlich merkt – nur so macht diese Zeile Sinn.<br />

Die zweite Strophe<br />

Die zweite Strophe beschreibt die Reaktion der beiden ehemals Liebenden: Sie behalten die äußere<br />

Form bei, während sie sich in Wirklichkeit natürlich ganz anders fühlen: Objektiv handelt es<br />

sich um Lüge, was sie treiben – subjektiv ist es überaus verständlich. Sie sehen sich zwar noch an,<br />

aber das hilft ihnen in keiner Weise, sie haben keine Lösung für ihre Probleme.<br />

Das Ende der Strophe zeigt dann eine Situation, wie sie wohl für viele Beziehungen typisch ist,<br />

wenn sich Mann und Frau im Rahmen ihrer Rollenklischees (die zu Kästners Zeit natürlich noch<br />

fester waren als heute!) verhalten: Die Frau weint, der Mann versucht, Haltung zu bewahren –<br />

eine Haltung, die aber nur ein Sich-Entziehen ist, mehr nicht.<br />

Die dritte Strophe<br />

In der dritten Strophe verlässt der Sprecher das traurige Innenleben dieser Beziehung, dazu gibt es<br />

ja auch zunächst nichts mehr zu sagen: Stattdessen wendet er sich der Umgebung zu, die natürlich<br />

einen Kontrast bildet, dort geht das Leben nämlich ganz normal weiter. Jetzt ist es der Mann, der<br />

aus der Starrheit ausbricht, aber nicht in der Weise, dass er ihre Situation thematisieren würde, sondern<br />

nur mit dem einfachen Hinweis auf die Zeit und die Gewohnheit – der Sprecher interessiert<br />

sich dann auch gar nicht weiter für ihn und das Gesagte, sondern wendet sich wieder der Außenwelt<br />

zu – diesmal ist es ein Klavierspieler im Nachbarzimmer oder Nachbarhaus.<br />

Die vierte Strophe<br />

Offensichtlich geht die Frau darauf ein, vielleicht erhofft sie sich doch noch ein klärendes Gespräch,<br />

eine Rückkehr ihrer alten Liebe: Aber die zweite Zeile nimmt diese Hoffnung weg – sie sitzen<br />

schweigend nebeneinander, nur durch einfachste Alltagstätigkeiten verbunden, die nichts mit Gemeinsamkeit<br />

zu tun haben: Jeder rührt in seiner Tasse. Man könnte auch unter völlig fremden Menschen<br />

sitzen.<br />

Fast schon ironisch ist die dritte Zeile: „Am Abend saßen sie immer noch dort.“ Aber vielleicht<br />

nimmt der Sprecher auch die traurige Situation auf, jedenfalls fasst er sie ganz deutlich in den letzten<br />

zwei Zeilen zusammen.<br />

Deutlicher kann man das Problem dieser beiden Ex-Liebenden nicht beschreiben: Sie sind allein,<br />

obwohl sie noch zu zweit an einem Tisch sitzen, sie sprechen nicht miteinander, d.h. sie versuchen<br />

nicht einmal, eine Erklärung zu finden – und das können sie auch gar nicht, wie die letzte Zeile<br />

zeigt. Sie steht übrigens in deutlichem Kontrast zur Ausgangssituation: Hier gibt es keine Leichtigkeit<br />

des Tons mehr, zwar herrscht immer noch Sachlichkeit, aber nicht die provozierende der ersten<br />

Strophe.<br />

Zusammenfassung<br />

Dieses Gedicht zeigt eine ganz alltägliche Situation, die jedem Liebespaar zustoßen kann und in<br />

vielen Fällen auch zustößt. Aber gezeigt wird diese Situation auf eine einmalige Weise, indem über<br />

die frühere „<strong>Romanze</strong>“, was hier wohl für Liebe steht, in einem schon quälend, provozierend sachlichen<br />

Ton gesprochen wird.


Die Frage ist, welche Haltung der Sprecher und letztlich Kästner selbst gegenüber dem Geschehen<br />

einnimmt, ob es wirklich unpersönliche Distanz ist oder nicht vielmehr eine allgemein menschliche<br />

Trauer, auch wenn sie einfach auf der Beschreibungsebene bleibt. Vielleicht löst das ja gerade Betroffenheit<br />

aus, was in der ersten Strophe beschrieben wird, dass das Schönste, was es in diesem<br />

Leben gibt, nämlich die Liebe, genauso verschwindet, verloren geht wie ein überhaupt nicht wichtiger<br />

Gegenstand.<br />

Hier kann eine Bemerkung zum Autor weiter helfen: Kästner glaubte an das Mitleid als den höchsten<br />

moralischen Wert – und man kann dieses Mitleid durchaus in diesem Gedicht erkennen – aber<br />

es ist eins, das von Humor in dem Sinne nicht weit entfernt ist, dass hier etwas beschrieben wird,<br />

was jedem von uns passieren kann. Kästner erhebt sich nicht über die vom Unglück Betroffenen,<br />

fast hält er schonende Distanz.<br />

Die Idee von der Allgemeingültigkeit des Vorgangs wird dadurch unterstützt, dass Kästner im Gedicht<br />

einfach „sie“ sagt, wenn es um die beiden Unglücklichen geht – damit stehen sie stellvertretend<br />

für die Vielen, denen es genauso geht. Das Gedicht bekommt eine gewisse parabolische Bedeutung,<br />

d.h. wie in einer Parabel wird eine Geschichte erzählt, die - auf das Wesentliche reduziert<br />

– eine allgemeine Aussage macht. Man verlässt dieses Gedicht klüger, als man hineingeraten ist,<br />

aber auch trauriger, vielleicht auch etwas wachsamer, was die eigene Liebe angeht – aber wie die zu<br />

schützen ist, darüber sagt das Gedicht nichts, man muss es selbst herausfinden.<br />

Noch ein kleiner Nachtrag zum Begriff der „Sachlichkeit“<br />

Die Zeit der Weimarer Republik, in der dieses Gedicht entstanden ist (um 1928), enthält auch eine<br />

literarische Strömung, die man „neue Sachlichkeit“ nennt: Diese Literatur bedeutete eine Art gereimte<br />

Prosa, Journalismus in Versen, bzw. Lebenshilfe in Gedichten. Zwar bekommt man nicht<br />

viel Hilfe in diesem Gedicht, aber über das Leben erfährt man viel – und das in einer provozierend<br />

einfachen Sprache, die viele Menschen erreichen konnte und kann.

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