Der Hüter - Gruselromane
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<strong>Der</strong> <strong>Hüter</strong> #11<br />
ob man sechzig, hundert oder hundertfünfzig<br />
Meter in die Tiefe stürzte. Das<br />
Ergebnis war das gleiche.<br />
Sie atmete noch einmal tief durch,<br />
dankbar, diesem Schicksal entronnen zu<br />
sein, da hörte sie hinter sich das Keifen<br />
der Hexe.<br />
„Hab ich dich endlich, du freches<br />
Gör!“, triumphierte sie.<br />
Christine kam nicht einmal dazu, sich<br />
umzudrehen. Sie spürte nur einen heftigen<br />
Schlag, als die Hexe sie ansprang<br />
und sich an ihr festklammerte.<br />
Christine taumelte einen Schritt nach<br />
vorne, dann noch einen - und dann trat<br />
sie ins Leere.<br />
Für einen Augenblick glaubte sie, das<br />
Tuch böte genügend Widerstand, um<br />
ihren Sturz zu verhindern, doch dies war<br />
eher die letzte verzweifelte Hoffnung, als<br />
eine wirkliche Möglichkeit.<br />
Das Tuch gab nach und Christine<br />
stürzte über den Rand. In einem Reflex<br />
riss sie die Arme hoch, versuchte sich<br />
festzuhalten, irgendwo, doch da war<br />
nichts. Nur Luft und das Tuch. Genauso<br />
gut hätte sie versuchen können, sich an<br />
einer glatten Wand festzuhalten.<br />
Doch das stimmte nicht. Plötzlich gerieten<br />
ihre Finger in eine Masche des<br />
Stoffs. Sofort krallte sie sich fest. Sie<br />
spürte das Reißen ihres Gewichts in den<br />
Fingern. Ihre Gelenke kreischten auf vor<br />
Schmerz, aber Christine verbot sich, den<br />
Schmerz zu spüren.<br />
Halt dich fest! Halt dich einfach nur<br />
fest!<br />
Wenigstens fiel sie nicht mehr. Aber<br />
warum bekam sie keine Luft?<br />
Da erst wurde ihr bewusst, dass die<br />
Hexe noch immer ihren Oberkörper umklammerte<br />
und ihr das Atmen erschwerte.<br />
Christine neigte den Kopf und schielte<br />
nach unten. Tatsächlich, da hing die<br />
Die Horror-Serie<br />
Hexe und lächelte sie an.<br />
Ihr Porzellanlächeln veränderte sich<br />
auch nicht, als sie langsam am glatten<br />
Stoff von Christines Anorak nach unten<br />
rutschte. Schon hatte sie die Jeans erreicht,<br />
doch auch dort fand sie nicht genügend<br />
Halt.<br />
Es würde nicht mehr lange dauern, bis<br />
sie in den Abgrund stürzte.<br />
Ein Grund zu frohlocken war dies für<br />
Christine jedoch nicht, denn auch ihre<br />
Finger versagten allmählich den Dienst.<br />
<strong>Der</strong> Faden, der die Masche bildete, an<br />
der sie sich festhielt, schnitt ihr in die<br />
Hände.<br />
Christine sah nach oben. Die Tischkante<br />
war drei oder vier Meter über ihr,<br />
was tatsächlich vielleicht drei oder vier<br />
Zentimetern entsprach.<br />
Sie musste versuchen, sich diese Strecke<br />
hochzuziehen. Freeclimbing in einem<br />
lose hängenden Tuch! Großartig!<br />
Aber sie wusste, dass sie es nicht<br />
schaffen würde. Sie konnte sich kaum<br />
noch festhalten, geschweige denn klettern!<br />
Sie spürte, wie die Hexe wieder ein<br />
Stück abrutschte. Inzwischen umklammerte<br />
sie Christines Fellstiefel.<br />
Christine wollte mit dem freien Fuß<br />
nach der Hexe treten, doch die Bewegung<br />
übertrug sich auf ihren ganzen<br />
Körper. Die Finger jaulten auf. Es fühlte<br />
sich an, als würde ihr der Faden das<br />
Fleisch von den Knochen schälen, aber<br />
sie gab nicht auf. Sie durfte nicht aufgeben,<br />
denn das wäre gleichbedeutend mit<br />
ihrem Tod gewesen!<br />
Die Adern an den Schläfen traten ihr<br />
vor Anstrengung hervor.<br />
Zieh dich hoch! Du schaffst es! Nun<br />
mach schon!<br />
Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte.<br />
Sie zog, zerrte, versuchte eine Masche<br />
weiter oben zu erreichen. Aber es war<br />
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