Thesenpapier zum Workshop
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Dr. Nadine Zeibig, Referat Arbeits- und Sozialrecht, WSI Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf<br />
<strong>Workshop</strong> II: Perspektiven der privaten und betrieblichen Altersvorsorge<br />
Inputthema: Das Dreisäulenmodell in der Altersvorsorge – über Fehlentscheidungen<br />
und Fehler<br />
Die Alterssicherung in Deutschland basiert auf drei Säulen – 1. Säule Gesetzliche<br />
Rentenversicherung (GRV), 2. Säule Betriebliche Altersvorsorge (BAV), 3. Säule Private<br />
Altersvorsorge.<br />
Das deutsche Alterssicherungssystem wurde in den letzten Jahren wiederholt reformiert<br />
(z.B. 1992, 1999, 2001, 2004, 2007, 2011, 2013). Neben deutlichen Senkungen des<br />
gesetzlichen Rentenniveaus durch die Reformen 2001 und 2004 hat der Gesetzgeber 2007<br />
zudem das Regelrentenalter von 65 auf 67 Jahre angehoben. 2011 hat er die für ALG-II-<br />
Empfänger zu zahlenden Rentenbeiträge abgeschafft. Aufgehoben wurden auch vielfältige<br />
Möglichkeiten der Frühverrentung, so z.B. die vorgezogene Inanspruchnahme einer Rente<br />
wegen Arbeitslosigkeit und die geförderte Altersteilzeit.<br />
Die Alterssicherungspolitik der letzten Jahre ist bedenklich; sie entspricht nicht der<br />
betrieblichen Realität, setzt auf vermeintliche Eigenvorsorge der Beschäftigten und verstärkt<br />
das Risiko von Altersarmut.<br />
Die Reform 2001 führte zu einem Paradigmenwechsel in der Alterssicherung – weg von der<br />
gesetzlichen Rentenversicherung als Lebensstandard(ver-)sicherung hin zur Gewährleistung<br />
von Beitragsstabilität. Aufgrund der Reformen werden die Rentenzahlbeträge in Deutschland<br />
bis 2030 um gut ein Viertel sinken, obwohl bereits heute ein Großteil der gesetzlichen<br />
Renten unterhalb der Grundsicherung liegt. Im schlechtesten Fall wird das Rentenniveau vor<br />
Steuern bis 2030 auf unter 43 % fallen, denn § 154 III Nr. 2 SGB VI sieht insoweit kein<br />
Mindestsicherungsniveau vor.<br />
Muss ein Durchschnittsverdiener heute 27 Jahre arbeiten, um eine Rente auf<br />
Grundsicherungsniveau zu erreichen, sind es 2030 aufgrund des sinkenden Rentenniveaus<br />
immerhin 35 Jahre (wer nur 75 % des Durchschnitts verdient, muss 47 Jahre lang RV-<br />
Beiträge zahlen; ein Minijobber 170 Jahre). Die durchschnittliche Erwerbstätigkeit von<br />
Frauen über 65 Jahre betrug 2011 in Westdeutschland jedoch nur 25 Jahre, in<br />
Ostdeutschland 37 Jahre; bei Männern waren es in Westdeutschland 42 Jahre, in<br />
Ostdeutschland 43 Jahre.<br />
Arbeiten bis <strong>zum</strong> Alter von 67 Jahren – der neuen Regelaltersgrenze – ist vielen<br />
Beschäftigten nicht möglich. Zwar ist die Erwerbsbeteiligung der 60-64 Jährigen gestiegen<br />
(2012: Männer 56 %; Frauen 39 %), jedoch ist nur ein Viertel der 60-64 Jährigen vor<br />
Rentenantritt in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung tätig. Die Mehrheit der<br />
Beschäftigten geht wegen vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente mit lebenslangen<br />
Abschlägen in Rente (2011: 48 % der Neuzugänge); das durchschnittliche<br />
Rentenzugangsalter lag 2010 und 2011 bei rund 63 Jahren. Viele Beschäftigte müssen aus<br />
gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden.<br />
Verstärkt wird die Gefahr von Altersarmut darüber hinaus durch die seitens der<br />
Arbeitsmarktpolitik ermöglichte Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Zunahme
2<br />
atypischer, prekärer Beschäftigung, denn sie wirken sich erheblich auf die an das<br />
Erwerbseinkommen anknüpfende gesetzliche Rente aus.<br />
Die durch die Reformen entstandenen Rentenlücken können entgegen der Annahme des<br />
Gesetzgebers nicht durch die 2. und 3. Säule kompensiert werden, denn beide Formen der<br />
Altersvorsorge sind längst nicht flächendeckend verbreitet und die Auszahlungen häufig<br />
niedrig. Leistungen der 2. und 3. Säule fehlen insbesondere dort, wo sie dringend nötig<br />
wären, so z. B. bei Geringverdienern, Geringqualifizierten und Arbeitslosen. Die betriebliche<br />
sowie die private Altersvorsorge sind allenfalls als Zusatzvorsorge denkbar, nicht jedoch als<br />
Ersatz für reformbedingt sinkende Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung.<br />
Die Einführung eines Entgeltumwandlungsanspruchs in der betrieblichen Altersvorsorge<br />
2002 und die Einführung der privaten Riester-Rente haben trotz steuer- und<br />
sozialversicherungsrechtlicher Begünstigungen bzw. staatlicher Zuschüsse nicht die<br />
gewünschten Erfolge gebracht. 2011 verfügten rund 60 % der sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigten über eine BAV-Anwartschaft (inklusive ÖD). Die Zahl der letztendlich<br />
tatsächlich eine betriebliche Altersvorsorge beziehenden Rentner ist jedoch deutlich kleiner.<br />
Riester-Verträge gab es 2012 knapp 16 Millionen, jedoch entspricht dies unter den<br />
förderberechtigten Haushalten einem Verbreitungsgrad von gerade einmal 40 %. Darüber<br />
hinaus sind die Zahlen rückläufig; zudem ist rund ein Fünftel der Verträge ruhend gestellt.<br />
Kapitalgedeckte Vorsorgeprodukte wie die Riester-Rente sind anders als die<br />
umlagefinanzierte GRV anfällig für Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die geringe Rendite und<br />
der gesunkene Garantiezins führen teilweise zu unrentablen Anlagen, die häufig gerade<br />
einmal die eingezahlten Beiträge und die staatlichen Zulagen ausschütten. Die<br />
Produktpalette ist trotz eingeführten Produktinformationsblattes unüberschaubar; die<br />
Abschluss- und Verwaltungskosten sind nach wie vor erheblich.<br />
Reformbedarf:<br />
Die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder in Richtung einer<br />
lebensstandardsichernden Versicherung entwickelt werden. Sie muss so ausgestaltet sein,<br />
dass sie eine deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegende gesetzliche Rente<br />
gewährt.<br />
Die 2. und 3. Säule sind nicht geeignet die Rentenlücken zu schließen; sie können allenfalls<br />
eine Zusatzvorsorge sein, denn viele Beschäftigte können sich eine BAV oder eine private<br />
Altersvorsorge nicht leisten. Im Hinblick auf die betriebliche Altersvorsorge als<br />
Zusatzvorsorge muss darüber nachgedacht werden, wie eine weitere Verbreitung und eine<br />
höhere Beteiligung von Arbeitgebern/-innen erreicht werden kann. Allein<br />
Betriebsvereinbarungen und tarifliche Regelungen <strong>zum</strong> Ausbau der betrieblichen<br />
Altersvorsorge genügen nicht, da längst nicht alle Arbeitnehmer/-innen in tarifgebunden<br />
Betrieben arbeiten; auch gibt es nicht in jedem Betrieb Betriebsräte. Darüber hinaus ist die<br />
Tarifbindung seit Jahren rückläufig, nur 2 % der Tarifverträge sind allgemeinverbindlich;<br />
rückläufig ist auch die Vertretung durch Betriebsräte. In Abhängigkeit der Ausgestaltung der<br />
ersten beiden Säulen muss zudem über Notwendigkeit und Ausgestaltung der privaten<br />
Altersvorsorge diskutiert werden.
3<br />
Anhang:<br />
Nettoaltersbezüge (vor Steuern) der 65 Jahre und älteren Personen in Deutschland 2011<br />
Geschlecht<br />
Anteil<br />
Bezieher<br />
eigener<br />
GRV<br />
durchschnittliche<br />
Höhe der<br />
Leistungen<br />
aus GRV<br />
Anteil Bezieher<br />
eigener<br />
BAV<br />
Privatwirtschaft<br />
(ohne ÖD)<br />
durchschnittliche<br />
Höhe BAV<br />
(ohne ÖD)<br />
Anteil Bezieher<br />
private AV (ohne<br />
Einmalkapitalauszahlungen)<br />
durchschnittliche<br />
Höhe private<br />
AV (nur für 55<br />
Jahre und<br />
Ältere)<br />
Männer West: 89<br />
%<br />
Ost: 99<br />
%<br />
West: 1120 €<br />
Ost: 1099 €<br />
West: 31 %<br />
Ost: 3 %<br />
West: 580 €<br />
Ost: 292 €<br />
West: 4 %<br />
Ost: 1 %<br />
West: 528 €<br />
Ost: 280 €<br />
Frauen West: 86<br />
%<br />
Ost: 99<br />
%<br />
West: 507 €<br />
Ost: 726 €<br />
West: 8 %<br />
Ost: 1 %<br />
West: 207 €<br />
Ost: 89 €<br />
West: 2 %<br />
Ost: 1 %<br />
West: 332 €<br />
Ost: 231 €<br />
Quelle: BMAS/Infratest Sozialforschung, ASID 2011 (Befragung von Personen 55-jährigen und älteren Personen)<br />
Durchschnittliche Rentenzahlbeträge aus der GRV 2011 – Renten wegen Alters<br />
Rentenzugang/-<br />
bestand<br />
Frauen<br />
Männer<br />
West Ost Deutschland West Ost Deutschland<br />
Rentenzugang 487 € 681 € 520 € 868 € 867 € 868 €<br />
Rentenbestand 495 € 711 € 541 € 987 € 1058 € 1000 €<br />
Quelle: Deutsche Rentenversicherung zitiert in BT-Drs. 17/11666 sowie in Betriebliche Altersversorgung 1/2013, 31ff.<br />
Verbreitung BAV/private AV bei 25-65 jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 2011<br />
mit zusätzlicher<br />
Altersvorsorge<br />
davon<br />
mit BAV mit Riester darunter<br />
BAV und<br />
gesamt davon ZÖD BAV ohne<br />
ZÖD<br />
Riester<br />
Gesamt 71,3 % 56,4 % 17,5 % 38,8 % 35,2 % 20,2 %<br />
Männer 70,6 % 57,3 % 11,7 % 45,6 % 32,6 % 19,3 %<br />
Frauen 72,1 % 55,3 % 24,4 % 30,9 % 38,2 % 21,4 %<br />
West 72,8 % 59 % 17,4 % 41,5 % 34,9 % 21 %<br />
Ost 64,9 % 45,8 % 17,9 % 27,9 % 36,3 % 17,2 %<br />
Quelle: BT-Drs. 17/11666 sowie in Betriebliche Altersversorgung 1/2013, S. 31ff. (Befragung sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigter)
4<br />
Höhe der BAV/ZÖD-Anwartschaften der 25-65 jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in 2011<br />
Zusatzversorgung Öffentliche<br />
Dienst (ZÖD)<br />
BAV in Privatwirtschaft<br />
Männer 279 € 328 €<br />
Frauen 189 € 170 €<br />
Quelle: BMAS/Infratest Sozialforschung, Verbreitung der Altersvorsorge 2011 (Befragung sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigter)<br />
Beteiligung von Arbeitgebern an Finanzierung der BAV von 25-65 jährigen sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigten in Privatwirtschaft in 2011<br />
ausschließlich ANfinanziert<br />
ausschließlich AGfinanziert<br />
mischfinanziert<br />
gesamt<br />
18 %<br />
34 % 39 % 100 %<br />
(durchschnittlich gezahlter<br />
Eigenbeitrag: 109<br />
€/monatlich = 3,4 % des<br />
Bruttoeinkommens)<br />
Quelle: BMAS/Infratest Sozialforschung, Verbreitung der Altersvorsorge 2011 (Befragung sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigter). Etwas andere Werte finden sich in der Arbeitgeber- bzw. Trägerbefragung des BMAS aus 2011, siehe dazu<br />
BMAS/Infratest Sozialforschung, BAV 2011. Zur Beteiligung von AG an der Finanzierung der BAV in Betrieben mit mindestens<br />
20 Beschäftigten und Betriebsrat sowie zur Verbreitung und Durchführungswegen in diesen Betrieben siehe Blank, Florian: Die<br />
Betriebliche Altersvorsorge in Deutschland, WSI-Diskussionspapier Nr. 181, 2012.<br />
BAV-Anwartschaften nach Betriebsstätten und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der<br />
Privatwirtschaft im Zeitverlauf<br />
Dezember 2001 Dezember 2011<br />
Westdeutschland<br />
Betriebsstätten 32 % 51 %<br />
Beschäftigte insgesamt 42 % 54 %<br />
Männer 44 % 55 %<br />
Frauen 35 % 48 %<br />
Ostdeutschland<br />
Betriebsstätten 24 % 45 %<br />
Beschäftigte insgesamt 19 % 37 %<br />
Männer 18 % 36 %<br />
Frauen 20 % 37 %<br />
Quelle: BMAS/Infratest Sozialforschung, BAV 2011 (Arbeitgeber- bzw. Trägerbefragung)
5<br />
BAV-Anwartschaften der 25-65 jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Betriebsgrößen<br />
in der Privatwirtschaft in 2011<br />
Betriebsgröße<br />
Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter<br />
mit BAV-Anwartschaft<br />
bis unter 10 Beschäftigte 26 %<br />
10 bis unter 50 Beschäftigte 28 %<br />
50 bis unter 250 Beschäftigte 33 %<br />
250 bis unter 500 Beschäftigte 35 %<br />
500 bis unter 1000 Beschäftigte 38 %<br />
1000 und mehr Beschäftigte 54 %<br />
Quelle: BMAS/Infratest Sozialforschung, Verbreitung der Altersvorsorge 2011 (Befragung sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigter). Zu Daten der Verbreitung nach Betriebsgrößen und Branchen basierend auf Arbeitgeberbefragungen siehe<br />
BMAS/Infratest Sozialforschung, BAV 2011.<br />
Entwicklung private Altersvorsorge (Riester-Verträge) in Tsd.<br />
Jahr<br />
Versicherungsverträge<br />
Banksparverträge<br />
Investmentfonds<br />
Wohn-Riester/<br />
Eigenheimrente<br />
Anzahl in<br />
Tsd.<br />
2001 1.400 k.A. k.A. 1.400<br />
2002 3.047 150 174 3.371<br />
2003 3.486 197 241 3.924<br />
2004 3.660 213 316 4.190<br />
2005 4.797 260 574 5.631<br />
2006 6.468 351 1.231 8.050<br />
2007 8.355 480 1.922 10.757<br />
2008 9.185 554 2.386 22 12.147<br />
2009 9.794 633 2.629 197 13.253<br />
2010 10.380 703 2.815 460 14.359<br />
2011 10.882 750 2.953 724 15.309<br />
2012 10.956 781 2.989 953 15.679<br />
2013 10.925 795 2.953 979 15.652<br />
Quelle: BMAS 2013. Die Höhe der Riestersparbeträge lag bei den 25-65 jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigten<br />
Riester-Sparern bei 75 € monatlich (Männer 91 €, Frauen 59 €). Dies entspricht 2,8 % des durchschnittlichen Bruttolohns eines<br />
Riestersparers (siehe BMAS/Infratest Sozialforschung, Verbreitung Altersvorsorge 2011).