OWi 05.2013 | 09
titelthema „Die Ostseeregion beschreibt eine Dachmarke, die viel Patchwork vereint“ Werner Koopmann kennt sich aus mit den Ostseeanrainer-Staaten. Im Interview erläutert er, warum sich Unternehmer nicht vom skandinavischen „Du“ täuschen lassen sollten, Balten keine Almosen wollen und der Berliner Regierung eine „Ostsee-Brille“ fehlt. Herr Koopmann, bei Internationalisierung denken viele Unternehmer an ferne Länder – warum lohnt sich auch der Blick auf die Ostseeregion? Koopmann: Es lohnt sich, weil es viele echte Hingucker gibt: In Estland beispielsweise die IT-Entwicklung. Dänen und Schweden besetzen sehr erfolgreich viele Nischen im Maschinenbau, stehen unter anderem für Medizintechnik, Schweden zusätzlich noch für Engineering im Automotive-Bereich. Und Norwegen ist stark in maritimen Technologien. Energiefragen werden auf einem hohen Niveau behandelt, „smart grids“, intelligente Stromnetze, beschäftigen uns auch in <strong>Deutsch</strong>land. Der Wettbewerb hat eine hochspannende Arbeitsteilung im Ostsee- Raum produziert – eine tiefe Spezialisierung einerseits, verbunden mit Vielfalt und unterschiedlichen Kompetenzen andererseits. Freundlich, direkt, immer per Du und viel Lebensqualität – mit welchen Klischees räumen Sie zuerst auf, wenn Sie über Wirtschaftsbeziehungen zu Skandinavien reden? Koopmann: Die Lockerheit ist teilweise hart erarbeitet, ich vergleiche das mit dem Karneval. Viele Individualprobleme werden den Einwohnern vom Staat abgenommen. In Skandinavien gibt es beispielsweise nicht den Beruf des Steuerberaters. Die „Steuererklärung“ produziert faktisch das Finanzamt. Dem Steuerzahler bleibt allenfalls das eine oder andere Detail zu ergänzen. Die öffentliche Hand weiß und regelt sehr viel, sie handelt nach allgemeingültigen, transparenten Regeln. Das bedeutet umgekehrt auch, dass Sie kaum oder gar keine Verhandlungsspielräume gegenüber Behörden haben. Auch sollten Sie sich nie die Gewerkschaften zum Gegner machen, wenn Sie in Skandinavien erfolgreich Geschäfte abschließen wollen. Als Unternehmer haben Sie zusätzlich zu Ihrem Geschäftspartner indirekt das gesamte Gesellschaftssystem mit am Tisch sitzen. Und dieses Gesellschaftssystem wird nicht in Frage gestellt. Außerdem müssen Sie sich dauerhaft interessant machen, um Ge- Werner Koopmann ist Geschäftsbereichsleiter bei den IHKs Kiel und Lübeck und verantwortet für beide den Bereich International. Der 50-jährige Wirtschaftswissenschaftler hat selbst einige Zeit in Stockholm gelebt. Heute beschäftigt er sich intensiv mit dem wirtschaftlichen Entwicklungspotenzial des Ostseeraumes. Foto: IHK Kiel zur person „Alte“ Wirtschaftsbeziehungen zu Dänemark und Schweden, relativ „neue“ zu Polen, den <strong>Baltische</strong>n Staaten und Russland – wo bestehen Unterschiede, welche Gemeinsamkeiten gibt es? Koopmann: Die Unterscheidung in „alt“ und „neu“ würde den Ländern nicht gerecht werden. Es gibt stattdessen eine Menge Gemeinsamkeiten. So existiert zweifelsohne länderübergreifend eine Art Hanseatische Geschäftskultur. Außerdem müssen die Ostseenachbarn sehr gute Produkte anbieten, um mit einer kleinen Bevölkerung und einem mengenmäßig geringen Output auskömmliche Margen zu erzielen – das sagt eine Menge über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Nachbarn. In allen Ländern rund um die Ostsee gibt es eine aus deutscher Sicht überdurchschnittlich hohe IT- und Technikaffinität. Hinzu kommt eine überdurchschnittliche Sprachkompetenz. Außerdem haben beispielsweise die Balten in der IT einige Entwicklungsstufen übersprungen: Statt jahrzehntelang auf den Ausbau einer Breitbandinfrastruktur zu warten, haben sie gleich auf Funktechnik gesetzt. Für welche Branchen eignen sich Wirtschaftsbeziehungen zu den Ostseeanrainern am besten? Koopmann: Im Energiesektor gibt es für jeden Maschinenbauer etwas zu tun, auch für Spezialmaschinenhersteller rund um die Entwicklung von öffentlicher Infrastruktur ist der Ostseeraum interessant. Für die Ernährungsindustrie lohnt sich ein Blick nach Schweden, nicht nur zu den Erfindern des Tetra Paks. Firmen, die IT- und Kommunikationstechnik anbieten, kommen an einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Ostseeraum nicht vorbei. Außerdem existiert eine starke Forschungslandschaft, es wird eine Menge ausprobiert und auf Marktfähigkeit getestet. „Die Ostseeregion“ beschreibt eine Dachmarke, die viel Patchwork vereint. 10 | OWi 05.2013