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jüdisches leben in bayern - Landesverband der Israelitischen ...

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN<br />

MITTEILUNGSBLATT DES LANDESVERBANDES DER ISRAELITISCHEN KULTUSGEMEINDEN IN BAYERN<br />

28. JAHRGANG / NR. 123 ã“òùú äëåðç<br />

DEZEMBER 2013


EDITORIAL<br />

Liebe Leser<strong>in</strong>nen, liebe Leser,<br />

Während dieses<br />

CHA NUKKA-<br />

HEFT von <strong>der</strong> Redaktion<br />

produziert<br />

wird und ich me<strong>in</strong><br />

EDITORIAL dafür<br />

schreibe, laufen<br />

jetzt, Anfang November,<br />

<strong>in</strong> vielen<br />

Städten und <strong>in</strong> jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>den<br />

die letzten Vorbereitungen<br />

für die<br />

Gedenkfeiern zur Er<strong>in</strong>nerung an die Pogromnacht<br />

vom 9. auf den 10. November 1938. „Es<br />

war die Katastrophe vor <strong>der</strong> Katastrophe“,<br />

erklärte Professor Raphael Gross, Direktor<br />

des Jüdischen Museums <strong>in</strong> Frankfurt, <strong>in</strong> diesen<br />

Tagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitungs<strong>in</strong>terview. Neben<br />

den Brandstiftungen <strong>in</strong> unseren Synagogen<br />

und den E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>den,<br />

neben den Zerstörungen von Wohnungen,<br />

Häusern und Geschäften von Juden,<br />

neben den unzähligen Verhaftungen und Deportationen<br />

von jüdischen Menschen war <strong>der</strong><br />

9. November auch <strong>der</strong> Auftakt zu e<strong>in</strong>er gewaltigen<br />

Raubaktion von jüdischem Eigentum.<br />

Der enorme Kunstschatz, über den die Medien<br />

gerade ausführlich berichten, 1400 Bil<strong>der</strong><br />

und Kunstwerke, von den Nazis gestohlen und<br />

bis vor kurzem <strong>in</strong> München versteckt, auch<br />

dieser Kunstfund wirft e<strong>in</strong> weiteres Licht auf<br />

Enteignung und Massenraub.<br />

Vorausgegangen war die systematische Erfassung<br />

von sämtlichen Vermögenswerten. Aber<br />

nicht nur ihre Bankkonten, Immobilien, ihren<br />

Schmuck und ihr Bargeld mussten die Juden<br />

angeben, auch ihre Möbel, die Bil<strong>der</strong>, die Bücher<br />

und Haushaltsgegenstände kamen auf<br />

die „Vermögenslisten“. Die Nazis hatten also<br />

die besten Unterlagen für den Diebstahl jüdischen<br />

Eigentums. Sie wussten genau, was die<br />

dann ausgeplün<strong>der</strong>ten Menschen besaßen<br />

und wo sich ihr Eigentum befand.<br />

Auch diese Erfahrungen führten bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik zu e<strong>in</strong>em relativ guten Datenschutz,<br />

zu e<strong>in</strong>er ausgeprägten Sensibilität und<br />

zu e<strong>in</strong>er großen Skepsis von vielen Menschen<br />

gegenüber den Ausspähungen ihrer persönlichen<br />

Daten auch von Geheimdiensten.<br />

Die jüdische Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland<br />

jedenfalls zog sich nach diesen<br />

Erfahrungen eher zurück und öffnete sich<br />

nicht wirklich. Die angezündeten Kerzen im<br />

Chanukka-Leuchter <strong>in</strong> diesen Tagen <strong>in</strong>s Fenster<br />

zu stellen und damit zu zeigen: wir s<strong>in</strong>d Juden,<br />

wir feiern Chanukka, das wäre für viele<br />

Menschen damals unmöglich gewesen. Das<br />

hat sich zum Glück bis heute stark verän<strong>der</strong>t.<br />

Mittlerweile gibt es sogar auch bei uns <strong>in</strong> vielen<br />

Städten öffentliche Chanukka-Leuchter.<br />

Rabb<strong>in</strong>er Steven E. Langnas schreibt, dass die<br />

Öffnung, dass die Offenheit zum Konzept von<br />

Chanukka gehört. Lesen Sie bitte dazu se<strong>in</strong>en<br />

Beitrag auf <strong>der</strong> nächsten Seite.<br />

Das Thema Raubkunst, oben schon aus aktuellem<br />

Anlass erwähnt, beschäftigt die Museen,<br />

die Kunstwelt und die Öffentlichkeit<br />

schon seit vielen Jahren. Da geht es auch um<br />

Ansprüche von Erben, die geraubte Bil<strong>der</strong> zu-<br />

rück haben wollen, da geht es immer wie<strong>der</strong><br />

um Museen, die aus unterschiedlichen Gründen<br />

Schwierigkeiten mit diesen For<strong>der</strong>ungen<br />

haben und da geht es um Provenienzforschung<br />

als Grundlage für e<strong>in</strong>e Restitution, da<br />

geht es also auch ums große Geld. E<strong>in</strong>ig ist<br />

man sich, dass die Kunstwerke an die Erben<br />

übergeben werden sollen, wenn <strong>der</strong> Raub<br />

auch nachgewiesen werden kann.<br />

Ich möchte heute auf e<strong>in</strong> Projekt <strong>in</strong> Nürnberg<br />

aufmerksam machen, von <strong>der</strong> überregionalen<br />

Öffentlichkeit nicht so sehr beachtet, wo die<br />

Stadtbibliothek seit vielen Jahren e<strong>in</strong>en umfassenden<br />

Bestand geraubter Bücher, die sogenannte<br />

Stürmer-Bibliothek, aufarbeitet und<br />

auch Provenienzforschung betreibt mit dem<br />

Ziel, die Nachkommen <strong>der</strong> ursprünglichen<br />

Besitzer zu f<strong>in</strong>den und ihnen die Bücher zu<br />

übergeben. Lesen Sie bitte dazu die Beiträge<br />

auf den Seiten 11 bis 13. Ich würde gerne <strong>in</strong><br />

Zukunft die Berichterstattung aus diesem<br />

Raum verstärken, denn Nürnberg gehört ja zu<br />

Bayern.<br />

Raw David Spiro sel. A.<br />

Zum dritten Mal werden wir im Februar 2014<br />

den Rabb<strong>in</strong>er-Spiro-Preis vergeben. Diese<br />

Auszeichnung des <strong>Landesverband</strong>es <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultusgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern er<strong>in</strong>nert<br />

an den früheren Fürther Rabb<strong>in</strong>er David<br />

Spiro sel. A. Ursprünglich kam er aus Polen,<br />

wo er 1936 <strong>in</strong>s Warschauer Rabb<strong>in</strong>at aufgenommen<br />

wurde. Se<strong>in</strong> späterer Leidensweg<br />

führte ihn auch durch die Konzentrationslager<br />

von Flossenbürg und Dachau und durch das<br />

Lager Hersbruck. Nach se<strong>in</strong>er Befreiung<br />

durch die US-Armee g<strong>in</strong>g Rabbi Spiro nach<br />

Fürth. Dort gehörte er zu den Grün<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

neuen Nachkriegsgeme<strong>in</strong>de.<br />

Die bisherigen Preisträger waren <strong>der</strong> ehemalige<br />

Bayerische M<strong>in</strong>isterpräsident Dr. Edmund<br />

Stoiber und <strong>der</strong> ehemalige evangelische Landesbischof<br />

Dr. Johannes Friedrich. Mit dem<br />

nächsten Rabb<strong>in</strong>er-Spiro-Preis werden wir<br />

den Landtagsabgeordneten Karl Freller auszeichnen.<br />

Der ehemalige Staatssekretär ist<br />

seit Ende 2007 Direktor <strong>der</strong> Stiftung Bayerische<br />

Gedenkstätten. Mit Gründung <strong>der</strong> Stiftung<br />

übertrug <strong>der</strong> Freistaat Bayern die beiden<br />

KZ-Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg<br />

<strong>der</strong> neuen Institution. Seit se<strong>in</strong>er Wahl zum<br />

Direktor <strong>der</strong> Stiftung ist Karl Freller den<br />

Bayerischen Gedenkstätten <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er<br />

Weise verbunden. Für se<strong>in</strong> Engagement und<br />

se<strong>in</strong>e verdienstvollen Leistungen wird er von<br />

uns den Rabb<strong>in</strong>er-Spiro-Preis erhalten.<br />

Nachtrag<br />

Im letzten Editorial hatte ich über Ereignisse<br />

im Würzburger Priestersem<strong>in</strong>ar berichtet.<br />

Nach antisemitischen Vorfällen, belegt durch<br />

den Bericht e<strong>in</strong>er Untersuchungskommission,<br />

mussten zwei Priester-Anwärter das Sem<strong>in</strong>ar<br />

verlassen. Ich äußerte allerd<strong>in</strong>gs die Befürchtung,<br />

dass sie durch die H<strong>in</strong>tertür <strong>in</strong> e<strong>in</strong> wichtiges<br />

Amt kommen könnten. In e<strong>in</strong>em persönlichen<br />

Gespräch hat mir <strong>der</strong> Würzburger Bischof<br />

dann versichert, dass beide Sem<strong>in</strong>aristen<br />

nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en deutschsprachigen<br />

Priestersem<strong>in</strong>ar aufgenommen werden<br />

können.<br />

Ihnen und Ihren Familien, den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>in</strong><br />

unseren Geme<strong>in</strong>den, ihren Vorständen und<br />

Repräsentanten und allen Freunden unseres<br />

Lichterfestes wünsche ich angenehme Chanukka-Tage<br />

mit unseren traditionellen Speisen<br />

und Spielen und e<strong>in</strong>er wun<strong>der</strong>schönen<br />

und <strong>in</strong> den dunklen Abend h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>leuchtenden<br />

Chanukkia.<br />

Ihr<br />

CHAG CHANUKKA SAMEACH<br />

Dr. Josef Schuster<br />

Präsident des <strong>Landesverband</strong>es <strong>der</strong> IKG <strong>in</strong> Bayern,<br />

Vizepräsident des Zentralrates <strong>der</strong> Juden Deutschlands<br />

AUS DEM INHALT<br />

Chanukka 5774<br />

Chanukka – das Lichterfest<br />

Von Rabb<strong>in</strong>er Steven E. Langnas . . . . . . . . 3<br />

Chanukka mit <strong>der</strong> Feuerwehr . . . . . . . . . 4<br />

E<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> Tel Aviv<br />

Von Christiane Wirtz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

Kultur<br />

Ausstellung „Mitten unter uns“ . . . . . . . . . 9<br />

Neue Suchliste über geraubte Bücher . . . . 11<br />

Die SchUM-Geme<strong>in</strong>den . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Synagoge Obernbreit . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Die ganze Wahrheit<br />

Von Miriam Magall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Ausstellung „Ton <strong>in</strong> Ton“ . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Gedenkraum Olympia-Attentat 1972 . . . . 17<br />

Israel-Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

Aus den jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />

<strong>in</strong> Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Serie<br />

Jüdische Landgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern (35)<br />

Von Michael Schneeberger . . . . . . . . . . . . 26<br />

Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

Russische Beiträge<br />

Von Vladislav Zeev Slepoy . . . . . . . . . . . . 36<br />

Jiddischer Beitrag<br />

Von Marion Eichelsdörfer . . . . . . . . . . . . . 40<br />

Zum Titelbild<br />

Chanukkabuch aus <strong>der</strong> Stadtbibliothek Nürnberg,<br />

„Sammlung Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

(IKG)“. Foto: Stadt Nürnberg. Beachten<br />

Sie dazu auch die Beiträge auf den Seiten 11<br />

bis 13.<br />

Impressum<br />

Herausgeber: <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong> Kul tus -<br />

geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern, Effnerstraße 68, 81925 München,<br />

Telefon (0 89) 989442<br />

Redaktion: Benno Reicher, bere.journal@smartone.de<br />

Gesamtherstellung: Druckerei Edw<strong>in</strong> H. Höhn, Gottlieb-Daimler-Straße<br />

14, 69514 Laudenbach<br />

2 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


CHANUKKA 5774<br />

Chanukka – das Lichterfest<br />

Von Rabb<strong>in</strong>er Steven E. Langnas<br />

Was haben das Lächeln e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Babys,<br />

e<strong>in</strong> klarer fließen<strong>der</strong> Fluss und e<strong>in</strong> weißes<br />

Kleid geme<strong>in</strong>sam? Sie ziehen uns an, weil sie<br />

das Konzept <strong>der</strong> Re<strong>in</strong>heit darstellen. E<strong>in</strong> unschuldiges,<br />

fröhliches Baby, schönes sauberes,<br />

fließendes Wasser und e<strong>in</strong> weißes Kleid, frei<br />

von Flecken und Schmutz.<br />

Jeden Tag sagen wir im Gebet: Me<strong>in</strong> G’tt, die<br />

Seele, die Du mir gegeben hast, ist re<strong>in</strong>!<br />

Wenn wir ehrlich mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d, werden<br />

wir zugeben, dass es leichter ist, die Re<strong>in</strong>heit<br />

e<strong>in</strong>es weißen Kleides o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> unschuldiges<br />

Baby wahrzunehmen als die Re<strong>in</strong>heit unserer<br />

eigenen Seele. Warum ist es so?<br />

Schlomo Hamelach – König Salomon lehrt<br />

uns: Die Seele e<strong>in</strong>es Menschen ist mit dem<br />

Licht G’ttes vergleichbar. Wenn wir e<strong>in</strong>e brennende<br />

Kerze auf e<strong>in</strong>en Tisch stellen, ist es<br />

klar, dass wir das Licht <strong>der</strong> Kerze sehen.<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>en Vorhang zwischen uns und<br />

den Tisch hängen, ist das Licht immer noch zu<br />

sehen, allerd<strong>in</strong>gs nicht so hell wie zuvor. Noch<br />

zwei, vier o<strong>der</strong> sechs Vorhänge dazu und das<br />

Licht ist immer noch zu sehen, aber sehr<br />

schwach. Mit 100 o<strong>der</strong> 1000 Vorhängen sehen<br />

wir ke<strong>in</strong> Licht mehr! Dennoch, es brennt trotzdem!<br />

Unsere Seele ist wie dieses Licht. Die Vorhänge<br />

stehen symbolisch für die Entscheidungen<br />

und Prioritäten, die wir im Leben treffen, die<br />

im Gegensatz zu jüdischen Prioritäten stehen,<br />

die uns h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, das Licht unserer eigenen<br />

Seele nicht nur zu sehen, son<strong>der</strong>n nach außen<br />

strahlen zu lassen.<br />

Deswegen ist es ke<strong>in</strong> Zufall, dass Kerzen die<br />

Ausübung von vier wichtigen religiösen Zeremonien<br />

beleuchten: Bedikas Chomez, die Suche<br />

und das Entfernen von allem Gesäuerten<br />

am Vorabend von Pessach, Schabbat-E<strong>in</strong>gang,<br />

Hawdala, die Trennung zwischen Schabbat<br />

und Werktag, und Chanukka.<br />

Die Mischna im Traktat Pesochim unterrichtet<br />

uns, am Vorabend des 14. Nissan den Chomez,<br />

das Gesäuerte, beim Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kerze<br />

zu suchen, damit es am nächsten Tag vernichtet<br />

werden kann. Chomez bedeutet nicht nur<br />

den physischen Prozess des Gärens, son<strong>der</strong>n<br />

ist auch e<strong>in</strong> Symbol für alles Überhebliche<br />

und Arrogante <strong>in</strong> unserem Charakter. Deswegen<br />

suchen wir auf vorsichtige Art und Weise<br />

unsere Fehler und Unzulänglichkeiten auf allen<br />

Gebieten unseres Lebens. Das Kerzenlicht<br />

beleuchtet unsere Suche <strong>in</strong> allen Löchern und<br />

Spalten unserer Existenz, um das Negative<br />

wegzuschaffen und wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Kontakt mit<br />

unserer re<strong>in</strong>en Seele zu kommen.<br />

Das Licht <strong>der</strong> Schabbat-Kerzen weiht den<br />

Schabbat zu Hause e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum von<br />

zwei Kerzen wird gezündet zur Er<strong>in</strong>nerung an<br />

die zwei Erwähnungen <strong>der</strong> Schabbat-Vorschriften<br />

<strong>in</strong> den Zehn Geboten: Sachor, gedenke<br />

des Schabbat-Tages ihn zu heiligen, und<br />

Schemor, hüte den Schabbat-Tag ihn zu heiligen.<br />

Die Schabbat-Kerzen sollen im gleichen<br />

Zimmer gezündet werden, <strong>in</strong> welchem man<br />

die Schabbat-Mahlzeiten e<strong>in</strong>nimmt und sie<br />

sollten lang genug brennen, damit die ganze<br />

Mahlzeit von ihrem Licht beleuchtet wird.<br />

Wir zünden die Schabbat-Kerzen, um e<strong>in</strong>e At-<br />

mosphäre von Licht und Freude – Ora weSimcha<br />

– und von – Schalom Bajith – von Freude<br />

und Frieden <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Familie zu kreieren.<br />

Die Heiligkeit <strong>der</strong> Schabbat-Kerzen verleiht<br />

e<strong>in</strong>e friedvolle, gesunde, fröhliche und liebevolle<br />

Ausstrahlung <strong>in</strong> jedem jüdischen Haus.<br />

Die Hawdala-Kerze, die wir zünden, um uns<br />

vom Schabbat zu verabschieden, ist mit Wissen<br />

verbunden. Damit man unterscheiden kann zwischen<br />

Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit,<br />

zwischen dem Heiligen und dem Profanen<br />

brauchen wir das Wissen! Das Hawdala-<br />

Licht steht als Symbol für die erste menschliche<br />

Begegnung mit Wissen und Technologie, als <strong>der</strong><br />

liebe G’tt selbst, nachdem <strong>der</strong> erste Schabbat<br />

vorbei war, Adam und Eva beibrachte, wie man<br />

Feuer zündet und verwendet. Das Licht <strong>der</strong><br />

Hawdala-Kerze er<strong>in</strong>nert uns daran, dass jüdisches<br />

Wissen <strong>der</strong> Schlüssel zu e<strong>in</strong>em guten<br />

Charakter, zu e<strong>in</strong>em jüdischen Haus, zu e<strong>in</strong>em<br />

Leben gefüllt mit guten Taten ist.<br />

Das Judentum verlangt von uns auch, Chanukka-Kerzen<br />

zu zünden! Die Chanukka-Kerzen<br />

dienen als Symbol von Mesirat Nefesch,<br />

unserer Bereitschaft, und wenn notwendig,<br />

unserer Opferbereitschaft, uns voll und ganz<br />

mit unserem Judentum zu identifizieren.<br />

In unserer langen Geschichte erlebten wir oft<br />

Völker, die uns vernichten wollten. Die Chanukka-Geschichte<br />

schil<strong>der</strong>t das erste Mal,<br />

dass die spirituelle Existenz des Judentums<br />

durch e<strong>in</strong>e Ideologie und Kultur bedroht wurde!<br />

Die Griechen konfrontierten unsere jüdische<br />

Weltanschauung mit e<strong>in</strong>em großen Kulturkampf.<br />

In <strong>der</strong> antiken griechischen Kultur<br />

war die Betonung auf den Körper und nicht<br />

auf die Seele. Sie stellten den s<strong>in</strong>nlichen Genuss<br />

des Hedonismus auf Kosten des Spirituellen<br />

<strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund. Ihr Liebl<strong>in</strong>gsversammlungsort<br />

Ort war die Turnhalle und nicht<br />

das Lehrhaus, das Amphitheater und nicht<br />

das G’ tteshaus.<br />

Die Historiker haben diesen Kulturkampf<br />

zwischen Judentum und Hellenismus kurz<br />

und prägnant dargestellt. Der Hellenismus<br />

predigt die Heiligkeit <strong>der</strong> Schönheit. Das Judentum<br />

predigt die Schönheit <strong>der</strong> Heiligkeit.<br />

Unsere Reaktion auf diesen Zwang, Hellenisten<br />

zu werden, zeigt sich durch die Tatsache,<br />

dass Öl, die Lichtquelle für die Menora, e<strong>in</strong>es<br />

<strong>der</strong> Hauptsymbole von Chanukka ist. Die physischen<br />

Eigenschaften von Öl s<strong>in</strong>d Symbole<br />

unserer Treue zum jüdischen Geist. Die meisten<br />

Flüssigkeiten vermischen sich mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

und verlieren ihre eigene Identität. Öl aber<br />

nicht, es behält se<strong>in</strong>en eigenen Charakter. Aus<br />

diesem Grund dient Öl als Licht-Quelle für<br />

die Menora, als passendes Symbol des jüdischen<br />

Volkes; e<strong>in</strong> Volk, das se<strong>in</strong>er Identität<br />

treu geblieben ist. Obwohl die griechische<br />

Kultur, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> damaligen Welt dom<strong>in</strong>ant<br />

war, versuchte, den jüdischen Geist, die jüdische<br />

Weltanschauung zu unterdrücken und zu<br />

elim<strong>in</strong>ieren, hat e<strong>in</strong>e Gruppe von eifrigen und<br />

frommen Juden es geschafft, nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

Weltmacht zu besiegen, son<strong>der</strong>n dem eigenen<br />

Volk beizubr<strong>in</strong>gen, wie wichtig es ist, se<strong>in</strong>e eigene<br />

Identität zu schützen.<br />

Verbunden mit dem Gebot, die Chanukka-<br />

Lichter zu zünden, ist das Konzept, das Chanukka-Wun<strong>der</strong><br />

bekannt zu machen, die Chanukka-Lichter<br />

nach außen strahlen zu lassen,<br />

damit sie gesehen werden können. Das Judentum<br />

verlangt auch Offenheit, die Bereitschaft,<br />

unser Jüdischse<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu bekennen<br />

und es zu verteidigen, anstatt die Kritik<br />

von an<strong>der</strong>en Kreisen so weit zu ver<strong>in</strong>nerlichen,<br />

dass wir sie selbst glauben.<br />

Die Kerze von Bedikas Chomez hilft uns, <strong>in</strong><br />

unsere Seele re<strong>in</strong>zuschauen, um das Negative<br />

wegzuschaffen und das Positive wie<strong>der</strong> zu entdecken.<br />

Die Schabbat-Kerzen verbreiten Frieden<br />

und Freude im Rahmen unserer Familien.<br />

Die Hawdala-Kerze lehrt uns, wie wichtig<br />

Wissen ist, zu unterscheiden zwischen richtig<br />

und falsch. Es s<strong>in</strong>d aber die Chanukka-Kerzen,<br />

wenn wir ihre Botschaft zu Herzen nehmen,<br />

die uns ermöglichen, stolz auf unsere<br />

jüdische Identität zu se<strong>in</strong>. Das Licht, das von<br />

den Chanukka-Kerzen nach draußen strahlt,<br />

sagt uns, wie auch <strong>der</strong> ganzen Welt, es ist nicht<br />

schwer zu se<strong>in</strong> a Jid, es ist schön zu se<strong>in</strong> a Jid!<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne wünsche ich me<strong>in</strong>en Lesern<br />

e<strong>in</strong> Chanukka voller Licht und Freude!<br />

Secharjas<br />

Menora-Vision<br />

E<strong>in</strong>e Chanukka-Betrachtung<br />

Von Yizhak Ahren<br />

Unsere Weisen haben festgelegt, dass am<br />

Schabbat von Chanukka die dem jeweiligen<br />

Wochenabschnitt zugeordnete Haftara durch<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte an<strong>der</strong>e ersetzt wird. Man liest<br />

am Makkabäerfest e<strong>in</strong>en Abschnitt aus dem<br />

Buch des Propheten Secharja (Kap. 2, 14 bis<br />

Kap. 4, 7). Dieser Abschnitt bildet auch die<br />

Haftara zum Wochenabschnitt Behaalotcha.<br />

Was <strong>der</strong> Verknüpfungspunkt zwischen Behaalotcha<br />

und <strong>der</strong> Secharja-Passage ist, fällt bei<br />

<strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> zwei Texte gleich <strong>in</strong>s Auge.<br />

Die ersten Verse des Wochenabschnittes handeln<br />

vom Leuchter (Menora) mit den sieben<br />

Lampen (Bamidbar Kap. 8, 2–4), und Secharja<br />

berichtet, er habe e<strong>in</strong>e Menora mit sieben<br />

Lampen gesehen.<br />

In <strong>der</strong> Übersetzung von Leopold Zunz lautet<br />

<strong>der</strong> Dialog zwischen dem Engel und Secharja<br />

wie folgt: „ Und er sprach zu mir: Was siehest<br />

du? Und ich sprach: Ich sehe, und siehe, e<strong>in</strong>en<br />

Leuchter, ganz aus Gold, und e<strong>in</strong>e Schale<br />

oben darauf und die sieben Lampen darauf, je<br />

sieben Röhren zu den Lampen oben darauf.<br />

Und zwei Ölbäume daran, e<strong>in</strong>en rechts von<br />

<strong>der</strong> Schale, und e<strong>in</strong>en zur L<strong>in</strong>ken. Und ich<br />

hub an und sprach zu dem Engel, <strong>der</strong> mich<br />

anredete, also: Was s<strong>in</strong>d diese, me<strong>in</strong> Herr?<br />

Und es antwortete <strong>der</strong> Engel, <strong>der</strong> mit mir redete,<br />

und sprach zu mir: Weißt du nicht, was<br />

diese s<strong>in</strong>d? Und ich sprach: Ne<strong>in</strong>, me<strong>in</strong> Herr.<br />

Und er antwortete und sprach zu mir, also:<br />

Das ist das Wort des Ewigen an Serubabel,<br />

also: Nicht durch Macht und nicht durch Stärke,<br />

son<strong>der</strong>n durch me<strong>in</strong>en Geist; spricht <strong>der</strong><br />

Ewige <strong>der</strong> Heerscharen“ ( Kap. 4, 2–6 ).<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 3


Am achttägigen Chanukkafest er<strong>in</strong>nern wir uns<br />

an das Ölwun<strong>der</strong> im Heiligtum, von dem <strong>der</strong><br />

Talmud (Schabbat 21,b) berichtet. Vom Öl <strong>der</strong><br />

Menora ist, wie wir eben gesehen haben, auch<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Haftara die Rede. Bemerkenswert ist,<br />

dass die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge vorgelesene Secharja-<br />

Passage an e<strong>in</strong>er Stelle endet, die dem Hörer <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Synagoge e<strong>in</strong>e Erklärung vorenthält; die<br />

Bedeutung <strong>der</strong> beiden Ölbäume wird nämlich<br />

erst später deutlich gemacht (siehe Verse 11–<br />

14). Der Prophet Secharja konnte das Bild nicht<br />

deuten und daher musste <strong>der</strong> mit ihm redende<br />

Engel dem Propheten das Gesehene erläutern.<br />

Wie lautet die wichtige Botschaft, die an den<br />

politischen Führer Serubabel gerichtet ist? Der<br />

bekannte Bibelkommentator Raschi erklärt<br />

den S<strong>in</strong>n des Mitgeteilten: So wie das Öl <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

prophetischen Vision ohne menschliche Bemühungen<br />

<strong>in</strong> die Lampen fließt, so wird <strong>der</strong> anstehende<br />

Neubau des Heiligtums kampflos erfolgen;<br />

Gottes Geist wird den persischen Herrscher<br />

dazu bewegen, den Wie<strong>der</strong>aufbau des<br />

Tempels zu Jerusalem zu ermöglichen.<br />

Wie Rabb<strong>in</strong>er Issachar Jacobson <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Betrachtung<br />

zu unserer Haftara (<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk<br />

„Chason HaMikra“) bemerkte, ist e<strong>in</strong> politischer<br />

Kontrast zwischen <strong>der</strong> Zeit von Serubabel<br />

und <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Chanukka-Geschichte festzustellen.<br />

Secharja riet dem führenden israelitischen<br />

Politiker von e<strong>in</strong>er Aufwiegelung des Volkes<br />

gegen die Perser ab; er sollte sich vielmehr<br />

unbed<strong>in</strong>gt auf Gottes Geist verlassen. H<strong>in</strong>gegen<br />

lehnten die Makkabäer sich gegen antijüdische<br />

Verordnungen des griechischen Reiches auf<br />

und griffen zu den Waffen. Im Gebet am Chanukka<br />

danken wir Gott „für die Kämpfe, die<br />

Du für unsere Väter vollbracht hast, <strong>in</strong> jenen<br />

Tagen, zu unserer Zeit. Du übergabst Starke <strong>in</strong><br />

die Hand <strong>der</strong> Schwachen, viele <strong>in</strong> die Hand von<br />

wenigen.“ Was lehrt uns <strong>der</strong> offensichtliche Gegensatz<br />

<strong>in</strong> den politischen Stellungnahmen?<br />

Rabb<strong>in</strong>er Jacobson hat den Schluss gezogen,<br />

dass das Volk Israel verschiedene Formen <strong>der</strong><br />

Erlösung (Geula) kennt: Manchmal hilft <strong>der</strong><br />

Ewige den Israeliten auch und gerade wenn sie<br />

ihrerseits kaum etwas zur Entwicklung beigetragen<br />

haben, und manchmal müssen die Juden<br />

militärisch aktiv werden, und erst dann greift<br />

Gott <strong>in</strong> das Geschehen e<strong>in</strong> und verhilft den wenigen<br />

zum Sieg gegen die fe<strong>in</strong>dliche Übermacht.<br />

Secharja hat über die Menora, die er sah, präzise<br />

Angaben gemacht (siehe Verse 2 und 3).<br />

Nahum HaLevi hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „The color<br />

of prophecy“ (Jerusalem 2012) Secharjas Vision<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em farbigen Bild dargestellt. Wie man auf<br />

den ersten Blick erkennen kann, hat <strong>der</strong> Künstler<br />

die Menora, die im Triumphbogen zu sehen<br />

ist, den Kaiser Titus <strong>in</strong> Rom errichten ließ, zum<br />

Vorbild für se<strong>in</strong> Gemälde genommen. Es ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

fraglich, ob man Secharjas Menora mit<br />

<strong>der</strong> Menora des Heiligtums gleichsetzen darf.<br />

Gewiss, hier wie dort leuchteten sieben Lampen<br />

an <strong>der</strong> Menora. Die Bedeutung <strong>der</strong> Zahl<br />

sieben wird übrigens im Buch Secharja erklärt:<br />

„Diese sieben s<strong>in</strong>d die Augen des Ewigen, die<br />

auf <strong>der</strong> ganzen Welt umherschweifen“ (Kap. 4,<br />

Ende Vers 10). Aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tora heißt es, dass<br />

die Menora sechs Leuchter-Arme haben soll<br />

(Schmot 25, 32). Bei Secharja ist e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e<br />

Konstruktion des Leuchters angedeutet!<br />

Mordechai Zer-Kavod, <strong>der</strong> Ausleger des Buches<br />

Secharja <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Daat Mikra“-Ausgabe,<br />

vertritt die Ansicht, dass die Lampen, die <strong>der</strong><br />

Prophet sah, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kreis angeordnet waren!<br />

Im Heiligtum h<strong>in</strong>gegen waren sie auf e<strong>in</strong>er geraden<br />

L<strong>in</strong>ie angeordnet, wie die Menora auf<br />

dem Titusbogen beweist.<br />

Chanukka mit <strong>der</strong> Feuerwehr<br />

Neun kle<strong>in</strong>e Kerzenlichthalter auf e<strong>in</strong>em roten<br />

Feuerwehrauto aus Draht. Das soll e<strong>in</strong><br />

Leuchter zu dem traditionellen jüdischen<br />

Lichterfest se<strong>in</strong>? Warum wählte jemand e<strong>in</strong><br />

solches Motiv aus, bei dem sche<strong>in</strong>bar jeglicher<br />

Bezug zur jüdischen Religion fehlt?<br />

Um sich diesen außergewöhnlichen Leuchter<br />

anzuschauen, muss man nach Mittelfranken<br />

<strong>in</strong>s Jüdische Museum Fürth fahren.<br />

Dort stellt <strong>der</strong> Besucher dann schnell fest:<br />

Dieser Leuchter ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong> Versehen. Denn im Museum<br />

s<strong>in</strong>d weitere ausgefallene Exponate zu<br />

entdecken: Fußbälle stellen die Kerzenhalter<br />

e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Chanukka-Leuchters dar.<br />

Auch neun High Heels <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />

Farben bilden ordentlich nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

aufgereiht ebenfalls e<strong>in</strong>en Leuchter. In diesen<br />

beiden Chanukkiot spiegelt sich Sport<br />

und Mode wi<strong>der</strong>. „Je nach Interesse und<br />

Geschmack gibt es Leuchter mit den verschiedensten<br />

Motiven“, sagt Monika Berthold-Hilpert,<br />

die wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong><br />

des Museums. Entworfen werden<br />

sie sowohl von Designern als auch von Rabb<strong>in</strong>ern.<br />

Und es handelt sich bei ihnen auch<br />

ke<strong>in</strong>eswegs nur um Museumsstücke, denn<br />

sie s<strong>in</strong>d für je<strong>der</strong>mann zu kaufen.<br />

„Bei diesem Design stellt sich vermutlich<br />

je<strong>der</strong> erst e<strong>in</strong>mal die Frage, wie die Idee von<br />

extravaganten Chanukka-Leuchtern entsteht,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e was sie bezwecken soll“,<br />

erklärt Frau Berthold-Hilpert.<br />

Nicht nur <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n und Kulturen,<br />

auch <strong>in</strong> Deutschland sollen mo<strong>der</strong>nere<br />

Gegenstände den Menschen Zugang zu alten<br />

Bräuchen f<strong>in</strong>den lassen und von Gläubigen<br />

genutzt werden können. Das jüdische<br />

Leben mit se<strong>in</strong>en Ritualen soll nicht als etwas<br />

Vergangenes angesehen, nicht als nur<br />

„traditionell“ abgestempelt werden. So entstand<br />

die Idee, etwas Zeitgenössisches <strong>in</strong>s<br />

Fürther Museum zu holen und auszustellen.<br />

Das Feuerwehrauto stammt aus dem Jüdischen<br />

Museum New York und steht nun mit<br />

weiteren ausgefallenen Leuchtern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Glasvitr<strong>in</strong>e des Museums. Außerdem gibt es<br />

noch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en metallfarbenen, leicht<br />

gekippten Chanukka-Leuchter, hergestellt<br />

von Emil Shenfeld, Designer und Silberschmied<br />

aus Israel. Er ist zusammenklappbar<br />

und dadurch für Reisen ideal geeignet.<br />

„Wir hatten im Museum e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Rabb<strong>in</strong>er,<br />

<strong>der</strong> sich darüber aufregte, dass diese<br />

Chanukkia nicht koscher sei“, erzählt Frau<br />

Berthold-Hilpert. „Besucher waren daraufh<strong>in</strong><br />

verwun<strong>der</strong>t und ließen sich von dem<br />

Rabb<strong>in</strong>er erklären, dass wohl e<strong>in</strong>ige Gläubige<br />

<strong>der</strong> Auffassung s<strong>in</strong>d, die e<strong>in</strong>zelnen Kerzenhalter<br />

würden nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geraden Reihe<br />

als koscher gelten. Durch die Möglichkeit<br />

des Zusammenklappens sei bei diesem Chanukka-Leuchter<br />

allerd<strong>in</strong>gs die gerade Reihe<br />

nicht mehr gewährleistet, fand <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er“,<br />

und lächelnd fügt sie h<strong>in</strong>zu: „Daraufh<strong>in</strong><br />

g<strong>in</strong>g er empört h<strong>in</strong>aus“. E<strong>in</strong> weiteres<br />

Exponat des Fürther Museums ist e<strong>in</strong>e<br />

Sammlung von acht Bierflaschen aus Prag.<br />

Es bildet mit se<strong>in</strong>en unterschiedlichen tschechischen<br />

Biersorten ebenfalls e<strong>in</strong>en außergewöhnlichen<br />

Chanukka-Leuchter.<br />

Was aber haben diese exotischen Chanukka-<br />

Leuchter nun überhaupt noch mit Religion<br />

zu tun? Denn das haben sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat. Sie<br />

verdeutlichen: Es handelt sich beim Judentum<br />

ke<strong>in</strong>eswegs um e<strong>in</strong>e uralte Religion mit<br />

verstaubten altertümlichen Traditionen.<br />

Auch e<strong>in</strong> Glaube, <strong>der</strong> viele Jahrhun<strong>der</strong>te alt<br />

ist, kann <strong>in</strong>teressant und mo<strong>der</strong>n se<strong>in</strong> und<br />

se<strong>in</strong> Publikum f<strong>in</strong>den. Mit den ausgefallenen<br />

Motiven durchbricht man auch Klischees,<br />

denn Judentum muss nicht nur konventionell<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Dies wird aber nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltung<br />

<strong>der</strong> Chanukka-Leuchter deutlich. Auch an<strong>der</strong>e<br />

Gegenstände wandeln sich im Laufe<br />

<strong>der</strong> Zeit und passen sich gesellschaftlichen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen an. Im Museum liegt beispielsweise<br />

die alte Ausstattung für e<strong>in</strong>e Brit<br />

Mila neben den Utensilien aus <strong>der</strong> Gegenwart.<br />

E<strong>in</strong>e Beschneidungsserie aus Beschneidungsmesser<br />

und -klemme von damals,<br />

direkt daneben zum Vergleich e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nes<br />

Beschneidungsbesteck von heute.<br />

Die Erhaltung von Tradition erfolgt nicht<br />

e<strong>in</strong>zig alle<strong>in</strong> durch Festhalten am Alten. Sie<br />

for<strong>der</strong>t gleichzeitig auch Weiterentwicklung.<br />

Wie es eben an den aufsehenerregenden<br />

Leuchtern mit ihren kuriosen Motiven zu<br />

sehen ist. Neues anstreben und offen se<strong>in</strong><br />

für Verän<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d auch Faktoren, die<br />

helfen können, alte Bräuche zu erhalten.<br />

Wer sich nun selbst e<strong>in</strong> Bild von diesen beson<strong>der</strong>en<br />

Chanukkiot machen möchte, sollte<br />

sich die Variationen im Fürther Museum<br />

anschauen. Fest steht jedenfalls, dass das<br />

leuchtend rote Feuerwehrauto sofort e<strong>in</strong><br />

H<strong>in</strong>gucker ist.<br />

Maria Fr<strong>in</strong>gs<br />

http://www.juedische s-museum.org<br />

Foto: Jüdisches Museum Fürth<br />

4 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


In ihrem Buch „E<strong>in</strong> Jahr<br />

<strong>in</strong> Tel Aviv“ beschreibt<br />

die Kölner Redakteur<strong>in</strong><br />

Christiane Wirtz unterhaltsam<br />

und witzig die<br />

<strong>leben</strong>dige Stadt am Mittelmeer,<br />

ihre jungen israelischen<br />

Freunde und<br />

ihre typischen Redewendungen<br />

wie kacha kacha<br />

o<strong>der</strong> ayn be’a’ya. E<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e weitgehend<br />

fiktive Biografie <strong>der</strong> Erzähler<strong>in</strong>,<br />

zeichnet sie Szenen aus dem israelischen<br />

Alltag, aus den Cafés und den Straßen von<br />

Tel Aviv. Sie verliebt sich <strong>in</strong> Land und Leute<br />

und natürlich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en jungen Israeli.<br />

Und sie erlebt die jüdischen Feiertage, sie<br />

beschreibt die typischen Bräuche und die<br />

kul<strong>in</strong>arischen Spezialitäten.<br />

In unserem letzten Pessach-Heft hatten wir<br />

das entsprechende Kapitel aus dem Buch<br />

nachgedruckt. Heute stellen wir, mit freundlicher<br />

Genehmigung des Her<strong>der</strong>-Verlages,<br />

das Kapitel „Dezember“ vor und dazu gehören<br />

auch amüsante Chanukka-Geschichten.<br />

bere.<br />

E<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> Tel Aviv<br />

Reise <strong>in</strong> den Alltag<br />

Von Christiane Wirtz<br />

Dezember<br />

Fünfter Monat, <strong>in</strong> dem ich zur Schwiegertochter<br />

werde, Weihnachten naht und ich am Ende<br />

die Hosen runter lasse.<br />

Wir waren den Berg nach Jerusalem h<strong>in</strong>aufgefahren<br />

und ich hatte an me<strong>in</strong>e ersten<br />

Stunden im Ulpan denken müssen. „Ata ole<br />

chadash?“, „At ola chadasha?“ – „Bist du<br />

neuer E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er?“, „Bist du neue E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong><strong>in</strong>?“,<br />

hatten Ryan und ich uns gegenseitig<br />

gefragt, immer wie<strong>der</strong>, bis die Vokabeln<br />

<strong>in</strong> unseren Köpfen festsaßen. Wörtlich<br />

übersetzt bedeutete „ole chadash“ – „neuer<br />

Aufsteiger“. Und die Idee dah<strong>in</strong>ter war, dass<br />

das Leben im gelobten Land e<strong>in</strong> besseres<br />

war, egal, woher man kam. Ich hatte bei diesem<br />

Aufstieg immer an den Weg nach Jerusalem<br />

denken müssen, die steilen Kurven<br />

h<strong>in</strong>auf, bis e<strong>in</strong> profanes Straßenschild den<br />

Namen <strong>der</strong> biblischen Stadt verkündete.<br />

„In Jerusalem man kann schwer atmen“,<br />

sagte Alón. „Es ist auf <strong>der</strong> Brust. Man fährt<br />

auf den Berg und es wird immer schwerer.“<br />

Tatsächlich war die Luft viel klarer als <strong>in</strong> Tel<br />

Aviv. Es war um e<strong>in</strong>ige Grad kälter, und im<br />

Sommer war es weniger schwül. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

war die Luft <strong>in</strong> Jerusalem geschwängert von<br />

Religion. Die Grabeskirche, die Klagemauer<br />

und die Al-Aqsa-Moschee standen auf wenigen<br />

Quadratmetern, mitten im Zentrum,<br />

drei Weltreligionen pilgerten zu diesem<br />

Fleckchen Erde. Die meisten jungen Menschen,<br />

die ich kannte, zog es fort von den bedeutungsschweren<br />

Ste<strong>in</strong>en, 62 Kilometer<br />

weiter westlich, nach Tel Aviv.<br />

„Bruchim harbaim … herzlich Willkommen“,<br />

sagte Alóns Mutter, als sie die Haustüre<br />

öffnete und uns strahlend begrüßte.<br />

Das ganze Haus war voll von Menschen. Die<br />

Mutter hatte Nachbarn e<strong>in</strong>geladen, Tanten<br />

und Onkel, Cous<strong>in</strong>en und Cous<strong>in</strong>s mit ihren<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und K<strong>in</strong>desk<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Zu Chanukka,<br />

dem Lichterfest, sollte niemand alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>.<br />

Eigentlich sollte überhaupt niemals jemand<br />

alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>. Die Augen aller Gäste blieben<br />

an uns hängen und ich war froh, die weiße<br />

Pappschachtel mit den Sufganiot zu halten.<br />

So hatten wenigstens me<strong>in</strong>e Hände etwas zu<br />

tun. Sufganiot waren so ziemlich dasselbe<br />

wie Berl<strong>in</strong>er Ballen. Ich hatte sie am Nachmittag<br />

im Café Judith gekauft. „Dort gibt es<br />

die Besten“, hatte mir Alón vorsorglich gesteckt,<br />

und so hatte ich mich <strong>in</strong> die Reihe<br />

<strong>der</strong>er gestellt, die nur zu Chanukka <strong>in</strong> die<br />

Konditorei <strong>der</strong> alten Damen kamen.<br />

Alón schob mich <strong>in</strong> die Küche, wo es nach<br />

Reibekuchen und geräuchertem Lachs duftete.<br />

Kaum hatte ich me<strong>in</strong>e Sufganiot auf<br />

dem Büffet abgestellt, neben das Apfelmus<br />

und die saure Sahne, kam die Mutter h<strong>in</strong>ter<br />

uns her und zog mich an ihrer Hand <strong>in</strong>s<br />

Wohnzimmer. Alón blieb mit Orí <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche<br />

zurück und aus den Augenw<strong>in</strong>keln erkannte<br />

ich ihre Ähnlichkeit, wenn sie leise<br />

lächelten.<br />

Die Tanten und Onkel saßen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen<br />

Kreis zusammen, <strong>der</strong> schwere Esstisch<br />

war zur Feier des Tages an die Seite gerückt,<br />

die Plastikstühle aus dem Garten boten zusätzliche<br />

Plätze. „Na’im me’od, na’im me’od<br />

… sehr erfreut, sehr erfreut“, sagte ich, während<br />

die Mutter mich durch die Manege<br />

führte wie e<strong>in</strong> Zirkuspferd. Ich nickte und<br />

lächelte und sagte, dass ich aus Deutschland<br />

komme, aus Berl<strong>in</strong>. Und ne<strong>in</strong>, ich lebe nicht<br />

<strong>in</strong> Jerusalem, ich lebe <strong>in</strong> Tel Aviv. Dass es<br />

mir gut gehe <strong>in</strong> Israel, sagte ich auch, die<br />

Menschen machten es mir nicht schwer, das<br />

Wetter sei schön, und das Essen? Ja, das Essen,<br />

natürlich, das Essen sei hervorragend.<br />

Dass ich e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> von Alón sei, sagte<br />

ihnen die Mutter.<br />

Chanukka<br />

Als wir die Hälfte des Kreises geschafft hatten,<br />

g<strong>in</strong>g offiziell die Sonne unter, und es<br />

war Zeit für Chanukka. Auf dem kle<strong>in</strong>en<br />

Tisch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte stand <strong>der</strong> neunarmige<br />

Leuchter. Alón setzte sich neben mich, um<br />

mir alles zu erklären, und um die Zeremonie<br />

nicht zu stören, rückten wir eng nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

Unterm Strich war Chanukka e<strong>in</strong>e<br />

weitere Geschichte vom Kampf <strong>der</strong> Juden<br />

gegen den Rest <strong>der</strong> Welt. Die Syrer waren<br />

schon damals ihre Fe<strong>in</strong>de gewesen, das hatte<br />

sich seit 164 vor Christus bis heute nicht<br />

geän<strong>der</strong>t. Unter Führung <strong>der</strong> Makkabäer<br />

zog das jüdische Volk <strong>in</strong> die Schlacht, siegte<br />

und nahm den Tempel wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Besitz.<br />

Dort wurde die Menora entzündet, <strong>der</strong><br />

neunarmige Leuchter, <strong>der</strong> im Tempel niemals<br />

erlöschen durfte. Das geweihte Öl aber<br />

reichte nur für e<strong>in</strong>en Tag, und doch leuchteten<br />

die Kerzen, leuchteten und leuchteten.<br />

Am Ende des achten Tages gab es neues Öl<br />

für die Menora. Acht Kerzen also kamen<br />

dem Wun<strong>der</strong> zugute. Die neunte, die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Mitte thronte, war <strong>der</strong> Schamasch, <strong>der</strong> Diener,<br />

alle<strong>in</strong> mit ihr durften die an<strong>der</strong>en Kerzen<br />

entzündet werden.<br />

Dann war <strong>der</strong> Segen gesprochen, die erste<br />

Kerze brannte und alle sangen Lie<strong>der</strong>, die<br />

sie seit ihrer K<strong>in</strong>dheit kannten. Schließlich<br />

erhoben sie ihre Gläser, chag sameach …<br />

glückliche Feiertage, lecha’im … auf das Leben.<br />

Wie<strong>der</strong> g<strong>in</strong>gen die Gläser <strong>in</strong> die Höhe,<br />

<strong>der</strong> Rotwe<strong>in</strong> schwappte. „Auf unseren<br />

Gast“, sagte die Mutter, „e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> von<br />

Alón, aus Berl<strong>in</strong>“. Ich spürte, wie die heiße<br />

Farbe von me<strong>in</strong>em Hals über die Nase bis<br />

zur Stirn stieg, und ich war mir sicher, dass<br />

alle Kerzen gleichzeitig <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Gesicht<br />

leuchteten.<br />

Später, zum Essen, setzte sich die Mutter<br />

neben mich, tastete sich vorsichtig an die<br />

Grenzen me<strong>in</strong>es hebräischen Wortschatzes<br />

und darüber h<strong>in</strong>aus.<br />

„Hast du Familie <strong>in</strong> Israel?“, fragte sie.<br />

Diese Frage hatte ich <strong>in</strong> den vergangenen<br />

Monaten häufig gehört, ich hielt sie für die<br />

klassische Gretchenfrage, <strong>in</strong> Watte gepackt<br />

natürlich, um möglichst schonend herauszuf<strong>in</strong>den:<br />

Sag, wie hältst du’s mit <strong>der</strong> Religion?<br />

Hatte ich Familie <strong>in</strong> Israel, bestand<br />

schließlich Hoffnung. Mir blieb nichts an<strong>der</strong>es,<br />

als sie mit me<strong>in</strong>er Antwort zu enttäuschen,<br />

schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em so frühen Stadium<br />

unserer Bekanntschaft. Doch das schien<br />

mich nicht gleich für me<strong>in</strong>e Rolle zu disqualifizieren,<br />

jedenfalls setzte sie ihr Cast<strong>in</strong>g<br />

mit unverm<strong>in</strong><strong>der</strong>tem Eifer fort.<br />

„Aber Zuhause hast du Familie, e<strong>in</strong>e große<br />

Familie?“ Ich dachte an Deutschland, Weihnachten,<br />

me<strong>in</strong>e Schwestern und nickte. Orí<br />

kam mit e<strong>in</strong>em Zwanzig-Schekel-Sche<strong>in</strong> zu<br />

mir, den ihm e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Tanten zugesteckt<br />

hatte, und ließ ihn <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Handtasche<br />

verschw<strong>in</strong>den.<br />

„Eize motek …was für e<strong>in</strong> süßer Kerl“, sagte<br />

die Mutter verzückt, während sie mir gefillte<br />

Fisch und Hähnchenspieße auf den Teller<br />

legte. „Die Menschen bekommen viel zu wenig<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>“, sagte die Mutter, was ich für<br />

reichlich übertrieben hielt, schließlich lag<br />

die Geburtenrate <strong>in</strong> Israel mit fast drei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

pro Frau beneidenswert hoch. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

musste man dazu sagen, dass die Araber<br />

noch mehr K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekamen als die Israelis,<br />

und wenn es so weitergehen würde,<br />

übernahmen sie e<strong>in</strong>es Tages, <strong>der</strong> nicht mehr<br />

so fern lag, die Mehrheit im gelobten Land.<br />

Yassir Arafat soll e<strong>in</strong>mal gesagt haben, <strong>der</strong><br />

Uterus <strong>der</strong> arabischen Frau sei se<strong>in</strong>e stärkste<br />

Waffe. In Israel sprach man <strong>in</strong>zwischen<br />

von e<strong>in</strong>em ernsthaften demographischen<br />

Problem. Zu den Großmutterhormonen gesellten<br />

sich hier also offenbar die Vaterlandspflichten.<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 5


Nachdem sie mehrfach Falafel, Reibekuchen<br />

und kle<strong>in</strong>e Frikadellen auf me<strong>in</strong>en Teller<br />

nachgeschoben hatte, war sie zum Nachtisch<br />

übergegangen. Sie reichte mir e<strong>in</strong>en<br />

Teller mit Apfelstrudel und Obstsalat, <strong>in</strong><br />

dem die roten Kerne <strong>der</strong> Granatäpfel steckten.<br />

Inzwischen hatte sie vergessen, dass<br />

me<strong>in</strong>e Muttersprache e<strong>in</strong>e fremde war, ihr<br />

Mund bewegte sich nicht länger g-a-n-z<br />

l-a-n-g-s-a-m und d-e-u-t-l-i-c-h, son<strong>der</strong>n<br />

ohnepunktundkomma. „Ani lo mev<strong>in</strong>a, ani<br />

lo mev<strong>in</strong>a … ich verstehe nicht, ich verstehe<br />

nicht“, sagte ich e<strong>in</strong> ums an<strong>der</strong>e Mal. Nur<br />

ihre Botschaft, die hatte ich längst verstanden.<br />

Nach <strong>der</strong> zweiten Portion Strudel fühlte ich<br />

mich wie im dritten Monat. Alón tauchte auf<br />

und fragte, wie es mir g<strong>in</strong>ge. „Ich kann nicht<br />

mehr.“ – „Ah, das ist gar nichts. Me<strong>in</strong>e<br />

Großmutter war viel schlimmer. Sie dachte,<br />

dass du bist auf <strong>der</strong> Stelle tot, wenn du de<strong>in</strong>en<br />

Teller nicht isst. Eigentlich me<strong>in</strong>e Mutter<br />

ist schon mo<strong>der</strong>n.“<br />

Inzwischen war ich sicher, dass ich schneller<br />

e<strong>in</strong>e jüdische Schwiegermutter haben würde<br />

als e<strong>in</strong>en israelischen Freund. Für den Augenblick<br />

fand ich die Rolle gar nicht so übel.<br />

Es gab Schlimmeres als mit offenen Armen<br />

empfangen zu werden; mir schwappte e<strong>in</strong>e<br />

warme Welle von Herzlichkeit entgegen,<br />

und am Sabbat würde ich wissen, wo ich h<strong>in</strong>gehörte.<br />

Der Zustand „alles <strong>in</strong> Ordnung“<br />

schien auf e<strong>in</strong>mal zum Greifen nah. Alón<br />

und ich würden nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> im Wagen<br />

sitzen, auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem,<br />

auf me<strong>in</strong>en Knien e<strong>in</strong>e Pappschachtel<br />

mit Gebäck, auf dem Rücksitz Orí und daneben<br />

all die an<strong>der</strong>en Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong>, die wir<br />

<strong>der</strong> Mutter später schenken würden.<br />

Als wir g<strong>in</strong>gen, sagte uns die Mutter, wir<br />

müssten bald wie<strong>der</strong> kommen.<br />

„Und, was denkst du?“, fragte Alón, als wir<br />

im Auto saßen. „Sie ist viel netter als du immer<br />

sagst.“ – „Sie ist nicht de<strong>in</strong>e Mutter.“<br />

Wäre es nach mir gegangen, hätten wir es<br />

dabei bewenden lassen können. Alón war<br />

Architektur <strong>in</strong> Tel Aviv.<br />

mir im Laufe des Abends zu ernst geworden.<br />

Se<strong>in</strong>e bissige Ironie, ohne die er niemals<br />

das Haus verließ, hatte sich auf leisen<br />

Sohlen davon geschlichen. Das machte mich<br />

unsicher.<br />

„Ich habe schon gesehen, die blonden Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> ihren Augen“, sagte er, ganz<br />

sachlich, als hätte das alles überhaupt nichts<br />

mit uns zu tun. „Dabei dachte ich immer, jüdische<br />

Mütter…“ – „…aahh, was denkst du,<br />

irgendwann ist es ihnen egal“, sagte er und<br />

sah mich herausfor<strong>der</strong>nd an, „irgendwann<br />

nehmen sie sogar e<strong>in</strong>e Christen-Frau“.<br />

Ich tat e<strong>in</strong> bisschen beleidigt, aber <strong>in</strong> Wahrheit<br />

entspannte ich mich langsam, während<br />

wir den Berg h<strong>in</strong>unterfuhren, zurück nach<br />

Tel Aviv. Spätestens dort würden wir zu unserem<br />

vertrauten Ton zurückf<strong>in</strong>den.<br />

Draußen war es stockdunkel. Es waren<br />

kaum Autos unterwegs. Kurz bevor wir auf<br />

die Autobahn fuhren, hielten wir an e<strong>in</strong>em<br />

Grenzposten, e<strong>in</strong>e weiße Pförtnerloge, aus<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e nackte Glühbirne leuchtete, umgeben<br />

von Betonhürden und Stacheldraht.<br />

Durch die Dunkelheit sah ich schemenhaft<br />

e<strong>in</strong>en kräftigen Mann, <strong>der</strong> auf uns zukam,<br />

das Sturmgewehr über <strong>der</strong> Schulter. Se<strong>in</strong><br />

junges Gesicht erschien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fahrertür, die<br />

grüne Uniform, <strong>der</strong> Kolben se<strong>in</strong>es Gewehres,<br />

und kurz darauf e<strong>in</strong>e offene Schachtel<br />

mit Sufganiot, die er lächelnd durchs Fenster<br />

schob.<br />

„Chag sameach“, sagte er. Ich schüttelte nur<br />

müde den Kopf. „Fürs Vaterland … o<strong>der</strong><br />

sollen eure Soldaten dick werden?“<br />

Chanukka, die vielen Kerzen und Lie<strong>der</strong>,<br />

ließen mich an me<strong>in</strong>en Plänen zweifeln. Ich<br />

hatte mir fest vorgenommen, Weihnachten<br />

<strong>in</strong> Bethlehem zu verbr<strong>in</strong>gen. Die Geburtskirche<br />

schien mir <strong>der</strong> beste Ort für die Heilige<br />

Nacht, hier ward e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d geboren, ich<br />

würde die Engel jubilieren hören und <strong>in</strong> die<br />

Fußstapfen <strong>der</strong> drei Könige treten. Jetzt<br />

aber mischte sich ungeahntes Heimweh <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>en biblischen Eifer. Zu Hause leuchtete<br />

Foto: MBR<br />

mittlerweile die dritte Kerze und me<strong>in</strong>e<br />

Mutter hatte mir am Telefon erzählt, dass<br />

sie die Gans schon bestellt habe.<br />

„Du wirst uns hier fehlen“, sagte sie. „Willst<br />

du es dir nicht noch e<strong>in</strong>mal überlegen?“ –<br />

„Ne, ne.“ In <strong>der</strong> Leitung Tel Aviv–Köln<br />

herrschte Schweigen. „Wirklich nicht?“, fragte<br />

me<strong>in</strong>e Mutter. – „Ne, ne.“ – „Nun, wie du<br />

me<strong>in</strong>st.“<br />

„Jetzt habe ich auch schon e<strong>in</strong>e Karte für<br />

Bethlehem. War gar nicht so e<strong>in</strong>fach.“ – „Ja,<br />

das kl<strong>in</strong>gt <strong>in</strong>teressant, habe ich auch de<strong>in</strong>em<br />

Vater erzählt, dass du Heiligabend <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Geburtskirche verbr<strong>in</strong>gst … Übrigens, er<br />

lässt dich herzlich grüßen.“ – „Wirklich?“ –<br />

„Ach, K<strong>in</strong>d.“<br />

Damit legten wir auf.<br />

In Tel Aviv fehlte von Weihnachten jede<br />

Spur. Der 24. Dezember würde e<strong>in</strong> ganz<br />

normaler Arbeitstag se<strong>in</strong>. Den Menschen<br />

hier war die Geburt Christi vollkommen<br />

egal, wie auch nicht, schließlich war ihr Messias<br />

noch auf dem Weg. Für mich dagegen<br />

war e<strong>in</strong> Leben ohne Weihnachten plötzlich<br />

undenkbar, das hatte ich vorher nicht gewusst.<br />

Nur me<strong>in</strong>e Mutter hatte sich offensichtlich<br />

so etwas gedacht und e<strong>in</strong>en Adventskalen<strong>der</strong><br />

auf die Reise geschickt, so<br />

e<strong>in</strong>en hatte ich zuletzt als K<strong>in</strong>d gehabt. Mit<br />

jedem Türchen, das ich öffnete, rückte <strong>der</strong><br />

Zeiger me<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Uhr bedrohlich auf<br />

Bes<strong>in</strong>nlichkeit. In Tel Aviv dagegen roch<br />

es nach Frühl<strong>in</strong>g, die Menschen saßen im<br />

T-Shirt am Strand und ließen me<strong>in</strong>en Gott<br />

e<strong>in</strong>en guten Mann se<strong>in</strong>.<br />

Um nicht weiter <strong>in</strong> die Jahresendzeitstimmung<br />

zu schlittern, stürzte ich mich <strong>in</strong> die<br />

Rout<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>es jungen Alltags. Ich zog<br />

Wartenummern bei <strong>der</strong> Post, um me<strong>in</strong>e<br />

Rechnungen zu bezahlen, studierte die<br />

Grammatik <strong>der</strong> Vergangenheit und ließ<br />

mich beim Scrabbeln schlagen. Als mir, auf<br />

dem Weg zur alten Dame, Mayumi im Treppenhaus<br />

begegnete, verkündete sie mir, dass<br />

wir uns bis Ende Januar nicht sehen würden.<br />

Ab nächster Woche werde e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> sie<br />

vertreten, sie selbst fahre nach Hause, das<br />

erste Mal seit fünf Jahren.<br />

Strahlend zeigte sie mir den Primus-Kocher,<br />

den sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verblichenen Karton unterm<br />

Arm trug, ihr Weihnachtsgeschenk.<br />

Dann fragte sie mich, ob ich auch nach Hause<br />

fahre. Ich gab mir Mühe, me<strong>in</strong>e Antwort<br />

nicht allzu verzweifelt kl<strong>in</strong>gen zu lassen, und<br />

erzählte etwas von Christmas zu Hause,<br />

me<strong>in</strong>er Familie und dass nur e<strong>in</strong>mal im Jahr<br />

alle zusammenkämen. Schnell fügte ich h<strong>in</strong>zu,<br />

dass ich <strong>in</strong> die Geburtskirche nach Bethlehem<br />

fahren werde; das sei bestimmt auch<br />

sehr <strong>in</strong>teressant. Ihr war die ganze Tapferkeit<br />

me<strong>in</strong>er Antwort nicht entgangen. Sie<br />

wusste wohl besser als ich, wovon ich sprach.<br />

Am Samstag rief Mayumi an und fragte, ob<br />

ich sie <strong>in</strong> ihre Kirche nach Yafo begleiten<br />

wolle. Bislang war ich nicht auf die Idee gekommen,<br />

dass Mayumi und ich denselben<br />

Gott teilten. Ohne länger darüber nachzudenken,<br />

war ich davon ausgegangen, dass ich<br />

als Christen-Frau <strong>in</strong> Tel Aviv ziemlich alle<strong>in</strong>e<br />

war. Als ich aber <strong>in</strong> Sankt Anthonys ankam,<br />

hielt dort e<strong>in</strong> Bus nach dem an<strong>der</strong>en,<br />

aus denen die Filip<strong>in</strong>os <strong>in</strong> den Gottesdienst<br />

strömten. Ich musste an Charlotte Strohbach<br />

und die an<strong>der</strong>en alten Menschen denken,<br />

die jetzt alle<strong>in</strong>e zu Hause saßen. Verlassen<br />

von ihren guten Geistern.<br />

6 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Geme<strong>in</strong>sam mit Mayumi zwängte ich mich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> vollen Holzbänke. Me<strong>in</strong> Kopf<br />

ragte auffällig aus den geschlossenen Reihen,<br />

ich war größer als die meisten und die<br />

e<strong>in</strong>zige, <strong>der</strong>en Haar nicht schwarz glänzte.<br />

Sie waren jung o<strong>der</strong>, wie man sagt, im besten<br />

Alter, um Geld zu verdienen für ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

und Eltern, die zu Hause zurückgeblieben<br />

waren. Mayumi kannte fast jeden hier.<br />

Sankt Anthonys war offenbar e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

philipp<strong>in</strong>ische Insel im gelobten Land.<br />

Die Lie<strong>der</strong> ließen mich alles vergessen. Sobald<br />

<strong>der</strong> Chor e<strong>in</strong> neues <strong>in</strong>tonierte, warf <strong>der</strong><br />

Overhead-Projektor den englischen Text an<br />

die Wand, und die Geme<strong>in</strong>de fiel <strong>in</strong> die Melodie<br />

e<strong>in</strong>. Der Jubel füllte die Kirche und<br />

bald auch me<strong>in</strong>e Lungen; er trug uns h<strong>in</strong>weg,<br />

über den Indischen Ozean o<strong>der</strong> das<br />

Mittelmeer, jeden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Richtung. Der<br />

Schatten e<strong>in</strong>er Hand schob die Textfolie immer<br />

weiter nach oben, und während wir den<br />

Herrn aus tiefster Seele lobten, drückte die<br />

junge Frau neben mir verstohlen e<strong>in</strong> paar<br />

Tränen <strong>in</strong> ihr Taschentuch. Zum „Vater unser“<br />

fasste mich Mayumi an <strong>der</strong> Hand, me<strong>in</strong>e<br />

Nachbar<strong>in</strong> zur Rechten stopfte das Taschentuch<br />

<strong>in</strong> ihre Tasche, und die ganze Kirche<br />

verwandelte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>gende Menschenkette.<br />

Danach folgte e<strong>in</strong> philipp<strong>in</strong>isches<br />

Lied, <strong>in</strong> das ich erst zögernd und dann<br />

immer lauter e<strong>in</strong>stimmte. „Nang Dioys,<br />

nang dioys…“, sang ich, Mayumi drückte<br />

fest me<strong>in</strong>e Hand, lachte mir <strong>in</strong>s Gesicht und<br />

zeigte auf den Wochenbrief, <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong><br />

für den Chor suchte. „Have a more mean<strong>in</strong>gful<br />

Saturday. Come and serve the Lord<br />

through s<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, share the talent, HE has<br />

given to you.“ Später schoben wir uns mit<br />

<strong>der</strong> Menge nach draußen, und ich sah über<br />

die an<strong>der</strong>en Köpfe h<strong>in</strong>weg me<strong>in</strong>e Banknachbar<strong>in</strong>,<br />

<strong>in</strong> den Armen e<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong>. Das<br />

alles machte me<strong>in</strong> Heimweh nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

besser.<br />

Als ich das nächste Mal mit me<strong>in</strong>er Mutter<br />

telefonierte, waren die Risse <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Stimme nicht mehr zu überhören. Ohne Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu dulden, schenkte sie mir zu<br />

Weihnachten e<strong>in</strong>en Flug nach Hause. Me<strong>in</strong>e<br />

Seele war <strong>in</strong>zwischen wund genug, um das<br />

Angebot nicht abzulehnen.<br />

Danach g<strong>in</strong>g alles verdammt schnell. Nachdem<br />

Alón mir versprochen hatte, ab und an<br />

bei <strong>der</strong> alten Dame vorbeizuschauen, g<strong>in</strong>g<br />

ich Weihnachtsgeschenke e<strong>in</strong>kaufen. Noa<br />

fand die Vorstellung wildromantisch und begleitete<br />

mich.<br />

An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Deutschland waren die Geschäfte<br />

um diese Jahreszeit so voll o<strong>der</strong> leer<br />

wie immer, die Verkäufer<strong>in</strong>nen waren entspannt,<br />

und wir hatten me<strong>in</strong>e Liste nach<br />

zwei Stunden abgearbeitet. Ich f<strong>in</strong>g allmählich<br />

an, mich auf Weihnachten zu freuen.<br />

Das e<strong>in</strong>zige Geschenk, das mir am Ende<br />

noch fehlte, war das Geschenk für me<strong>in</strong>en<br />

Vater. Noa versuchte mir auf die Sprünge zu<br />

helfen, doch wir kamen nicht zusammen.<br />

„Hat er Hobbys?“ – „Er arbeitet.“ – „Ich me<strong>in</strong>e<br />

nach <strong>der</strong> Arbeit.“ – „Isst er zu Abend.“ –<br />

„Macht er Sport?“ – „Er geht jeden Morgen<br />

um sechs Uhr schwimmen.“ – „Vor <strong>der</strong> Arbeit“,<br />

stellte Noa klar. „Und e<strong>in</strong>e Badehose<br />

hat er schon.“ – „Liest er?“ – „Se<strong>in</strong>e Akten“,<br />

sagte ich. „Die nimmt er sogar abends mit <strong>in</strong>s<br />

Bett.“ Das reichte erst e<strong>in</strong>mal. Ich beschloss,<br />

dass ich mir vorerst genug Gedanken über<br />

me<strong>in</strong>en Vater gemacht hatte.<br />

Carmel Markt <strong>in</strong> Tel Aviv.<br />

„Lass uns e<strong>in</strong>en Kaffee tr<strong>in</strong>ken“, sagte ich.<br />

„Tola’at Sfarim?“, schlug Noa vor. Der<br />

Tola’at Sfarim, also <strong>der</strong> Bücherwurm, lag<br />

auf dem Weg. Er war e<strong>in</strong> Café mit Buchhandlung<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Buchhandlung mit Café<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe des Kikar Rab<strong>in</strong>.<br />

„War de<strong>in</strong> Vater schon mal <strong>in</strong> Israel?“, fragte<br />

Noa, nachdem wir bestellt hatten. Sie<br />

konnte wirklich hartnäckig se<strong>in</strong>. „Ne<strong>in</strong>.“ –<br />

„Kommt er dich besuchen?“ – „Bist du verrückt?“<br />

– „Warum?“ – „Weiß nicht.“ Ich<br />

wusste es tatsächlich nicht so genau. Ich<br />

wusste nur: Israel war nicht das Land me<strong>in</strong>es<br />

Vaters.<br />

Vielleicht hatte er ganz e<strong>in</strong>fach Angst, hier<br />

jeden Augenblick <strong>in</strong> die Luft zu fliegen. Marietta<br />

Slomka sprach zu Hause schließlich<br />

von nichts an<strong>der</strong>em als dem Terror <strong>in</strong> Israel,<br />

und auch Caren Miosga hatte den Strand<br />

von Tel Aviv noch mit ke<strong>in</strong>em Wort erwähnt.<br />

Wie also sollte man sich vorstellen,<br />

dass hier normales Leben möglich war, man<br />

sich an den Alltag gewöhnte, viel schneller<br />

als gedacht.<br />

„Ich weiß nicht“, sagte ich noch e<strong>in</strong>mal.<br />

„Wir haben nie darüber gesprochen.“ Ich<br />

kratzte mit me<strong>in</strong>em Löffel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kaffeetasse,<br />

obwohl von Milchschaum ke<strong>in</strong>e Spur<br />

mehr. „Mal abgesehen davon, ist me<strong>in</strong> Vater<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt glücklich darüber, dass ich<br />

hier b<strong>in</strong>.“ – „Lama?“, fragte Noa.<br />

Ich versuchte, ihr me<strong>in</strong>e Geschichte zu erklären.<br />

Gar nicht so leicht. Der Bücherwurm<br />

hatte so gar nichts von me<strong>in</strong>em Büro <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

zehnten Etage. Die dicken, roten Gesetze.<br />

Der time sheet neben me<strong>in</strong>em Telefon. Karl,<br />

<strong>der</strong> Freund me<strong>in</strong>es Vaters. Me<strong>in</strong> Vater. Die<br />

Hoffnung auf e<strong>in</strong>e solide Karriere. O<strong>der</strong><br />

doch wenigstens e<strong>in</strong>en geraden Lebensweg.<br />

Ich hörte mich sprechen und dachte dabei,<br />

dass me<strong>in</strong>e Worte nicht zu mir gehörten. Als<br />

wären die Gefühle, die seit Jahr und Tag mit<br />

diesen Worten verbunden waren, mit <strong>der</strong> Zeit<br />

<strong>in</strong> Israel taub geworden. Berl<strong>in</strong> schien auf<br />

e<strong>in</strong>mal so unvorstellbar weit weg.<br />

„Hey, gibora …“, sagte Noa schließlich, um<br />

mich aus me<strong>in</strong>en ganzen Grübeln zu befreien.<br />

„Hey, Held<strong>in</strong>. Ich b<strong>in</strong> jedenfalls<br />

glücklich darüber, dass du hier bist.“ Ich<br />

musste lachen. „Ma?“, fragte sie. „Was?“ –<br />

„Von wegen Held<strong>in</strong>“, sagte ich. „Eigentlich<br />

b<strong>in</strong> ich hier doch die Anti-Held<strong>in</strong>. Deutsch.<br />

Christlich. K<strong>in</strong><strong>der</strong>los. Viel unterschiedlicher<br />

kann man kaum se<strong>in</strong>.“ Noa zuckte mit den<br />

Schultern. „Vielleicht bist du ja gerade deshalb<br />

hier.“ Sie schien eben so wenig zu wissen<br />

wie ich, was genau sie damit me<strong>in</strong>te.<br />

Aber es klang plausibel.<br />

Als wir das Café durch die Buchhandlung<br />

verließen, blieb Noa an e<strong>in</strong>em Büchertisch<br />

stehen. „Interessiert er sich für Architektur?“,<br />

fragte sie und drückte mir e<strong>in</strong>en Bauhaus-Führer<br />

<strong>in</strong> die Hand.<br />

Ich blätterte durch die Bil<strong>der</strong>, runde Balkone,<br />

verglaste Treppenhäuser, schlichte Formen.<br />

Das war schließlich auch Israel. O<strong>der</strong><br />

doch wenigstens Tel Aviv, die weiße Stadt,<br />

wenn auch mancherorts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em traurigen<br />

Zustand. Ich musste daran denken, dass sich<br />

me<strong>in</strong> Vater bei se<strong>in</strong>en Berl<strong>in</strong>-Besuchen für<br />

jede neue Baustelle begeisterte. Hätte ich eigentlich<br />

auch selbst drauf kommen können.<br />

„Vielleicht ke<strong>in</strong>e schlechte Idee“, sagte ich.<br />

„Hat ja auch etwas mit mir zu tun.“<br />

48 Stunden vor dem Heiligen Abend setzte<br />

mich Alón am Flughafen ab. Kaum hatte ich<br />

die Halle betreten, nahm mir die Frau von<br />

<strong>der</strong> Sicherheit auch schon me<strong>in</strong>en Pass ab.<br />

Sie ließ mich wissen, dass sie mir e<strong>in</strong> paar<br />

Fragen stellen müsse, und ich beschloss, sie<br />

geduldig zu beantworten. Schließlich war<br />

demnächst Weihnachten.<br />

„Wer hat Sie hergebracht?“<br />

„Wo wohnen Sie <strong>in</strong> Tel Aviv?“<br />

„Haben Sie Familie <strong>in</strong> Israel?“<br />

„Was machen Sie den ganzen Tag?“<br />

„Haben Sie paläst<strong>in</strong>ensische Freunde?“<br />

So g<strong>in</strong>g es endlos weiter. Bis sie sich schließlich<br />

mit e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> zurückzog und ihr<br />

anvertraute, was sie über mich herausgefunden<br />

hatte. Inzwischen fragte ich mich schon<br />

nicht mehr, was die israelische Sicherheit<br />

me<strong>in</strong> Privat<strong>leben</strong> eigentlich ang<strong>in</strong>g. Sobald<br />

Foto: MBR<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 7


sie anf<strong>in</strong>gen zu fragen, fühlte ich mich ertappt,<br />

ohne etwas getan zu haben, und<br />

bekam Angst, mich <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen zu<br />

verhed<strong>der</strong>n. Also strich ich me<strong>in</strong> Leben so<br />

glatt wie möglich und wie<strong>der</strong>holte gebetsmühlenartig:<br />

„Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> Israel, weil ich das<br />

Land mag.“ Dass ich es hasste, wie e<strong>in</strong>e<br />

Krim<strong>in</strong>elle behandelt zu werden, sagte ich<br />

nicht.<br />

Mit me<strong>in</strong>em Pass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand kam die Frau<br />

von <strong>der</strong> Sicherheit zurück zu mir. Sie bat<br />

mich, me<strong>in</strong>e Reisetasche zu öffnen und<br />

wühlte sich ohne Vorwarnung durch me<strong>in</strong>e<br />

Hosen, Bücher und Pullis. Obenauf hatte<br />

ich me<strong>in</strong> schwarzes Seidenkleid gelegt, das<br />

ich zu Heiligabend tragen wollte, bis eben<br />

war es frisch gebügelt gewesen.<br />

Am Ende lagen me<strong>in</strong>e Habseligkeiten <strong>in</strong><br />

drei großen, grauen Plastikwannen. Socken,<br />

Tagebuch, Zahnbürste, BHs, Haustürschlüssel,<br />

Jogg<strong>in</strong>gschuhe und die Weihnachtsgeschenke,<br />

die mittlerweile <strong>in</strong> trostlos verknautschten<br />

Papieren steckten. Die Frau<br />

von <strong>der</strong> Sicherheit hatte sich AIDS-Handschuhe<br />

übergezogen, so als wäre me<strong>in</strong>e Tasche<br />

e<strong>in</strong>e ansteckende Krankheit, und rührte<br />

mit e<strong>in</strong>em Plastikstab immer und immer<br />

wie<strong>der</strong> dar<strong>in</strong> herum. Nach e<strong>in</strong>er Ewigkeit<br />

stellte sie die drei grauen Wannen vor mir ab<br />

und sagte: „Das war’s. Sie können wie<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>packen.“<br />

Ich hatte mir Zeit genommen, um me<strong>in</strong>e Tasche<br />

ausnahmsweise mal <strong>in</strong> Ruhe packen zu<br />

können und schließlich den Reißverschluss<br />

kaum zubekommen. Was jetzt vor mir lag,<br />

war nicht mehr als e<strong>in</strong>e traurige Masse aus<br />

Stoff, Le<strong>der</strong> und Papier. Ich musste an die<br />

Trödler denken, die morgens mit ihren abgemagerten<br />

Pferden durch me<strong>in</strong>e Straße fuhren.<br />

„Alte Sachen, alte Sachen“, riefen sie<br />

auf jiddisch und luden Kühlschränke, Lampen<br />

und Stühle auf ihre Kutschen. Was man<br />

<strong>in</strong> Tel Aviv nicht mehr brauchte, stellte man<br />

e<strong>in</strong>fach auf die Straße, irgendjemand würde<br />

es schon mitnehmen. Mir fiel das beigefarbene<br />

Sofa wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>, das lange Zeit vor<br />

me<strong>in</strong>er Haustür gestanden hatte. Jahrelang<br />

hatten Menschen darauf gesessen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Wohnzimmer, sie hatten geredet, gestritten<br />

und ihr Leben geplant. Irgendwann stand<br />

das Sofa auf <strong>der</strong> Straße, von jetzt auf gleich<br />

ohne Nutzen, zum Abschuss freigegeben.<br />

E<strong>in</strong>e Weile hatten die Katzen <strong>in</strong> den Kissen<br />

gewohnt, die Bezüge zerrissen und <strong>in</strong> die<br />

Polster gep<strong>in</strong>kelt. Bis das Sofa e<strong>in</strong>es Tages<br />

spurlos verschwunden war. Auf dem Bürgersteig<br />

verloren die D<strong>in</strong>ge ihren Wert. In e<strong>in</strong>er<br />

grauen Plastikwanne auch. Ich wurde immer<br />

nervöser. In an<strong>der</strong>thalb Stunden g<strong>in</strong>g me<strong>in</strong><br />

Flug. In weniger als 48 Stunden war Weihnachten.<br />

Doch ich hielt es für das Klügste,<br />

mir me<strong>in</strong>e Unruhe nicht anmerken zu lassen,<br />

alles an<strong>der</strong>e würde mich erst recht<br />

verdächtig machen. Also setzte ich e<strong>in</strong><br />

Pokerface auf und gab me<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>gen ihre<br />

Ordnung wie<strong>der</strong>.<br />

„Wann geht Ihr Flug?“, fragte die Frau von<br />

<strong>der</strong> Sicherheit. – „23.30 Uhr“, sagte ich.<br />

Sie sah skeptisch auf ihre Uhr. „Ma koré“,<br />

fragte ich. „Was ist los?“ Doch sie würdigte<br />

mich ke<strong>in</strong>es Blickes. Das g<strong>in</strong>g mich überhaupt<br />

nichts an.<br />

Dann führte sie mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en abgelegenen<br />

Raum h<strong>in</strong>ter den Schaltern, <strong>der</strong> nur mit e<strong>in</strong>er<br />

Code-Karte zu betreten war, und spätestens<br />

jetzt sah ich me<strong>in</strong> Flugzeug ohne mich<br />

abfliegen. Die Frau griff nach e<strong>in</strong>er Elektrosonde<br />

und fuhr über me<strong>in</strong>en Körper. „Ziehen<br />

Sie die Hose runter“, sagte sie schließlich<br />

und versuchte ihre Stimme so selbstverständlich<br />

wie möglich kl<strong>in</strong>gen zu lassen.<br />

„Das ist nicht ihr Ernst.“ – „Ich kann me<strong>in</strong>en<br />

Supervisor holen“, beeilte sie sich zu sagen<br />

und war schon fast h<strong>in</strong>ter dem Vorhang<br />

verschwunden.<br />

E<strong>in</strong>e ohnmächtige Wut durchflutete me<strong>in</strong>en<br />

Körper. Dabei wollte ich dieses Land doch nur<br />

verlassen. Nichts lieber als das. Ums Gehen<br />

g<strong>in</strong>g es hier, nicht ums Kommen. Doch vielleicht<br />

wollten sie mir vor me<strong>in</strong>em Abschied<br />

noch schnell die Wie<strong>der</strong>kehr verleiden. An<strong>der</strong>s<br />

konnte ich mir das alles nicht erklären.<br />

„Ich kann me<strong>in</strong>en Supervisor holen“, sagte<br />

die Frau noch e<strong>in</strong>mal, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hoffnung,<br />

mich, also das Problem, gleich weiter reichen<br />

zu können. Den Gefallen aber tat ich<br />

ihr nicht. Die M<strong>in</strong>uten zerronnen. Außerdem<br />

hatte ich nicht vor, das Publikum für<br />

me<strong>in</strong>en Strip unnötig zu vergrößern. Ich<br />

wollte nur noch weg, <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Flugzeug,<br />

nach Hause. Mit gepresstem Atem ließ ich<br />

me<strong>in</strong>e Hose runter, die mir augenblicklich<br />

<strong>in</strong> die Kniekehlen rutschte. Danach vermieden<br />

wir es, uns noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> die Augen<br />

zu sehen.<br />

Schließlich begleitete sie mich bis zur letzten<br />

Kontrolle vor den Gates. Neben mir sah ich<br />

e<strong>in</strong>en Mann mit dunklerer Hautfarbe als <strong>der</strong><br />

me<strong>in</strong>en, auch er <strong>in</strong> Begleitung <strong>der</strong> Sicherheit.<br />

Ohne e<strong>in</strong> Wort gab sie mir me<strong>in</strong>en Pass<br />

zurück und ich rannte los.<br />

Tel Aviv.<br />

Foto: MBR<br />

8 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


KULTUR<br />

Mitten unter uns<br />

Neue Ausstellung über Landjuden wan<strong>der</strong>t durch Unterfranken<br />

Jakob Kohnstam lebte im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong><br />

Haßfurt mitten unter uns, erzählt die Ausstellung,<br />

die im Oktober im Landratsamt<br />

Würzburg eröffnet wurde. Der jüdische<br />

We<strong>in</strong>händler verkaufte auch Spirituosen<br />

und Bücher. Beson<strong>der</strong>s neugierig macht,<br />

dass er Gedichte schrieb und sie wohl auch<br />

veröffentlichte. Und wer war Sara, die jüdische<br />

Ärzt<strong>in</strong> im Würzburg des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />

Dieser biographische Aspekt weckt das Interesse<br />

an <strong>der</strong> historischen Präsentation, die<br />

900 Jahre Landjudentum <strong>in</strong> Unterfranken<br />

zeigen möchte. E<strong>in</strong> Ausstellungssegment<br />

widmet sich folglich den Lebensgeschichten<br />

von unterfränkischen Juden, darunter auch<br />

Lore Fleischmann, 1931 <strong>in</strong> Obbach geboren<br />

und 1942 im Raum Lubl<strong>in</strong> im Alter von 11<br />

Jahren ermordet, und Julius Frank, <strong>der</strong> um<br />

die Wende vom 19. zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t se<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong>dheit und Jugend <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>ach an <strong>der</strong><br />

Saale, Kitz<strong>in</strong>gen und Ma<strong>in</strong>stockheim verbrachte.<br />

Wan<strong>der</strong>ausstellung<br />

Als Wan<strong>der</strong>ausstellung für die neun unterfränkischen<br />

Landkreise konzipiert, greift sie<br />

neun Themen auf, die exemplarisch die Kultur<br />

des Landjudentums <strong>in</strong> Unterfranken zeigen.<br />

Dargestellt werden Lebenswelten wie<br />

„Wirtschaft und Armut <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühen Neuzeit“,<br />

„Religiöses Leben“ o<strong>der</strong> „Christlichjüdische<br />

Koexistenz“. Bis zu 200 jüdische<br />

Geme<strong>in</strong>den gab es e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Unterfranken.<br />

1932 waren es noch immer 108 jüdische Geme<strong>in</strong>den,<br />

bevor die Nazis sich an ihr Ver-<br />

Die Ausstellung „Mitten unter uns“.<br />

nichtungswerk machten. „Den Menschen<br />

und ihrer Kultur, die e<strong>in</strong> Teil Unterfrankens<br />

s<strong>in</strong>d, soll mit dieser Ausstellung e<strong>in</strong> Denkmal<br />

gesetzt werden“, betont Projektmanager<strong>in</strong><br />

Rebekka Denz.<br />

Chanukka<br />

Foto: Rebecca Denz<br />

In e<strong>in</strong>em weiteren Teil zeigt die Ausstellung<br />

E<strong>in</strong>richtungen jüdischer Geme<strong>in</strong>den, das jüdische<br />

Bildungswesen o<strong>der</strong> Frau und Mann<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> jüdischen Tradition. Den verschiedenen<br />

Sprachen, <strong>in</strong> denen unterfränkische Juden<br />

<strong>in</strong> unterschiedlichen Lebensfel<strong>der</strong>n und<br />

Epochen kommunizierten, ist e<strong>in</strong>e eigene<br />

Tafel gewidmet. Dazu gehört auch e<strong>in</strong>e Audiostation.<br />

Besucher können hier e<strong>in</strong> hebräisches<br />

Gebet und Ausschnitte e<strong>in</strong>es jiddischen<br />

Chanukkaliedes hören. Die deutschen<br />

Übersetzungen stehen zum Mitlesen zur<br />

Verfügung. Auch e<strong>in</strong> deutschsprachiges Interview,<br />

<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e christliche Frau von ihrer<br />

Arbeit als Dienstmädchen bei e<strong>in</strong>er jüdischen<br />

Geschäftsfrau berichtet, steht als Tondokument<br />

bereit.<br />

Verantwortlich erarbeitet wurde die Ausstellung,<br />

neben vielen ehrenamtlichen Beiträgern<br />

<strong>in</strong> den Landkreisen, von Dr. Rotraud<br />

Ries, Leiter<strong>in</strong> des Johanna-Stahl-Zentrums<br />

<strong>in</strong> Würzburg, und von Rebekka Denz<br />

vom Kooperationsprojekt Landjudentum <strong>in</strong><br />

Unterfranken. Ihnen allen dankte Landrat<br />

Eberhart Nuß für den Landkreis Würzburg<br />

als Projektträger auf <strong>der</strong> Eröffnungsveranstaltung,<br />

an <strong>der</strong> auch <strong>Landesverband</strong>spräsident<br />

Dr. Josef Schuster teilnahm.<br />

Die Wan<strong>der</strong>ausstellung soll bis Ende 2014<br />

<strong>in</strong> allen Landkreisen und kreisfreien Städten<br />

gezeigt werden. Nächste Stationen nach<br />

Würz burg waren bereits Bad Brückenau und<br />

Ham melburg. Bis zum 2. Dezember ist sie<br />

im Landratsamt von Bad Kiss<strong>in</strong>gen zu sehen.<br />

Benno Reicher<br />

Ausstellungseröffnung im Würzburger Landratsamt mit, v. rechts: stellv. Landrät<strong>in</strong> Elisabeth Schäfer,<br />

<strong>Landesverband</strong>spräsident Dr. Josef Schuster, Bürgermeister<strong>in</strong> Marion Schäfer-Blake, Dr. Rotraud Ries<br />

vom Johanna-Stahl-Zentrum, Rebecca Denz vom Projekt Landjuden und auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite <strong>der</strong> Ausstellungstafel<br />

<strong>der</strong> Projektträger Landrat Eberhard Nuß.<br />

Foto: Eva-Maria Schorno<br />

Weitere Informationen und Term<strong>in</strong>e:<br />

http://www.landjudentum-unterfranken.de/<br />

projekte/Wan<strong>der</strong>ausstellungen<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 9


Chuppaste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Süddeutschland<br />

Bei Exkursionen zu Stätten früheren jüdischen<br />

Lebens <strong>in</strong> Süddeutschland werden<br />

meistens ehemalige Synagogen und jüdische<br />

Friedhöfe besucht. An e<strong>in</strong>igen e<strong>in</strong>stigen Syna -<br />

gogen f<strong>in</strong>det man auch heute noch an <strong>der</strong><br />

Außenwand e<strong>in</strong>en Chuppaste<strong>in</strong>, auch Trauste<strong>in</strong><br />

o<strong>der</strong> Hochzeitsste<strong>in</strong> genannt. Die Exkursionsteilnehmer<br />

wollen dann natürlich<br />

wissen, um was es sich da handelt.<br />

Der Name des Ste<strong>in</strong>s kommt vom hebräischen<br />

Wort Chuppa, was eigentlich Baldach<strong>in</strong><br />

bedeutet. Die Chuppa ist <strong>der</strong> Baldach<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong> aus Stoff besteht und an den vier Ecken<br />

durch Stangen festgehalten wird, die entwe<strong>der</strong><br />

im Boden befestigt s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> von vier<br />

jungen Männern gehalten werden. Unter<br />

diesem Baldach<strong>in</strong> f<strong>in</strong>det die Trauungszeremonie,<br />

meist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Hochzeitssaal (Olam),<br />

oft auch unter freiem Himmel vor o<strong>der</strong> neben<br />

<strong>der</strong> Synagoge statt. Eigentlich wissen nur<br />

wenige Menschen <strong>in</strong> Süddeutschland und <strong>in</strong><br />

Israel um die Bedeutung des Chuppaste<strong>in</strong>s,<br />

den meisten – Juden wie Nichtjuden – ist er<br />

relativ fremd.<br />

Um den Chuppaste<strong>in</strong> zu verstehen, muss<br />

man sich die jüdische Hochzeit e<strong>in</strong> wenig vor<br />

Augen führen. Die meisten jüdischen Trauungen<br />

(beim Konservativen und Reformjudentum<br />

kann es e<strong>in</strong>ige, wenn auch nicht sehr<br />

bedeutende Abweichungen geben) verlaufen<br />

nach e<strong>in</strong>er bestimmten Abfolge: Zu Beg<strong>in</strong>n<br />

<strong>der</strong> Hochzeitszeremonie versammeln sich die<br />

Festgäste <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Saal (Olam) o<strong>der</strong><br />

früher vor o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge. Braut und<br />

Bräutigam s<strong>in</strong>d getrennt. Die Braut sitzt auf<br />

e<strong>in</strong>em Sessel o<strong>der</strong> Stuhl <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite<br />

des Raumes, ihr Gesicht ist nicht verschleiert;<br />

neben ihr stehen die Mutter und die<br />

Schwiegermutter. Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />

Seite des Raumes wartet <strong>der</strong> Bräutigam,<br />

begleitet von Vater und Schwiegervater. Kurz<br />

vor Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Trauung setzen sich <strong>der</strong> Bräutigam,<br />

die beiden Väter, zwei Trauzeugen<br />

(Ejdim), evtl. noch an<strong>der</strong>e Persönlichkeiten<br />

und <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> die Trauung vollzieht,<br />

an e<strong>in</strong>en Tisch. Hier wird jetzt die Hochzeitsurkunde<br />

(Ketuba) ausgefüllt, e<strong>in</strong> Dokument,<br />

<strong>in</strong> dem u.a. auch festgelegt wird, welche<br />

Summe <strong>der</strong> Bräutigam im Falle e<strong>in</strong>er Scheidung<br />

zu zahlen hat. Nachdem die Ketuba,<br />

e<strong>in</strong>e schlichte Fassung für die persönlichen<br />

Unterlagen <strong>der</strong> Braut und e<strong>in</strong>e prächtige,<br />

farbige zum Vorzeigen, von den beiden Zeugen,<br />

dem Bräutigam und dem Rabb<strong>in</strong>er unterzeichnet<br />

worden s<strong>in</strong>d, beg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> eigentliche<br />

Trauungsakt. Der Bräutigam schreitet,<br />

begleitet von Vater und Schwiegervater, zur<br />

wartenden Braut. Hier erfolgt nun das „Bedecken“.<br />

Der Bräutigam bedeckt das Gesicht<br />

<strong>der</strong> Braut mit dem Schleier, damit es ihm<br />

nicht so ergeht wie e<strong>in</strong>st Jakov, <strong>der</strong> statt Rachel,<br />

um die er gearbeitete hatte, ihre<br />

Schwester Lea untergeschoben bekam. Dann<br />

schreitet er mit beiden Vätern zur Chuppa.<br />

Jetzt erhebt sich die Braut und geht, begleitet<br />

von beiden Müttern, zu dem unter <strong>der</strong><br />

Chuppa wartenden Bräutigam. Beide Zeugen<br />

und die Eltern stehen auch neben dem<br />

Brautpaar. Nun kommt <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er und<br />

s<strong>in</strong>gt drei Segenssprüche (Berachot) <strong>der</strong> biblischen<br />

Verlobungszeremonie. Das Brautpaar<br />

nimmt aus dem Becher e<strong>in</strong>en Schluck We<strong>in</strong>.<br />

Nach e<strong>in</strong>er kurzen Ansprache des Rabb<strong>in</strong>ers<br />

steckt <strong>der</strong> Bräutigam <strong>der</strong> Braut den Traur<strong>in</strong>g<br />

an den rechten Zeigef<strong>in</strong>ger und sagt dabei:<br />

„Mit diesem R<strong>in</strong>g bist Du mir angeheiligt<br />

nach den Gesetzen von Moses und Israel.“<br />

Dies bedeutet symbolisch die Aneignung <strong>der</strong><br />

Braut durch den Bräutigam und ihre Zustimmung<br />

dazu. Im Reformjudentum steckt auch<br />

die Braut dem Bräutigam e<strong>in</strong>en R<strong>in</strong>g an den<br />

F<strong>in</strong>ger. Bei orthodoxen Trauungen, sowohl<br />

bei europäischen als auch bei orientalischen<br />

Juden, wird anschließend <strong>der</strong> Ehekontrakt<br />

(Ketuba) <strong>in</strong> aramäischer Sprache laut verlesen.<br />

Danach werden weitere drei Danksprüche<br />

gesungen und erneut e<strong>in</strong> Schluck<br />

We<strong>in</strong> aus dem Becher getrunken, den jetzt<br />

aber <strong>der</strong> Bräutigam <strong>der</strong> Braut reicht (während<br />

dies beim ersten Mal die Mutter tat).<br />

Anschließend wird <strong>der</strong> Braut die Ketuba<br />

überreicht, die sie gut aufheben muss. Nun<br />

folgt <strong>der</strong> letzte Akt <strong>der</strong> Trauungszeremonie,<br />

das Zertreten des Glases. Dieses Zertreten<br />

soll symbolisieren, dass sogar im Augenblick<br />

des höchsten Glücks, <strong>der</strong> ja die Trauung se<strong>in</strong><br />

sollte, je<strong>der</strong> Jude <strong>in</strong> <strong>der</strong> ganzen Welt se<strong>in</strong>e<br />

Trauer über die Zerstörung Jerusalems zum<br />

Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Der Rabb<strong>in</strong>er (eigentlich<br />

kann je<strong>der</strong> Jude e<strong>in</strong>e Trauung durchführen)<br />

spricht daher den Satz aus Psalm 137, 5:<br />

„Wenn ich de<strong>in</strong>er vergessen sollte, Jeru salem,<br />

möge me<strong>in</strong>e rechte Hand verdorren….“, den<br />

dann <strong>der</strong> Bräutigam wie<strong>der</strong>holt. Danach zertritt<br />

er mit dem Fuß e<strong>in</strong> Glas, das verpackt<br />

ist, um Verletzungen zu vermeiden. Mit dem<br />

von allen laut gesprochenen „Masal tow“,<br />

„Gut Glück“, endet die eigentliche Trauungszeremonie<br />

und es beg<strong>in</strong>nt das Hochzeitsfest,<br />

die Chatuna.<br />

Auch <strong>in</strong> den früheren jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />

Süddeutschlands wird die Trauung und<br />

Hochzeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichen Reihenfolge abgelaufen<br />

se<strong>in</strong> – bis auf e<strong>in</strong>e wesentliche Ausnahme.<br />

Am Ende <strong>der</strong> Zeremonie zertrat <strong>der</strong><br />

Bräutigam nach dem Wie<strong>der</strong>holen des<br />

Psalms nicht das Glas, son<strong>der</strong>n er zerschmetterte<br />

es an dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Chuppa an<br />

<strong>der</strong> Synagoge bef<strong>in</strong>dlichen Chuppaste<strong>in</strong>. Die<br />

heute noch an o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen ehemaligen<br />

Synagogen bef<strong>in</strong>dlichen Chuppaste<strong>in</strong>e (die<br />

meisten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Unterfranken z.B. <strong>in</strong> Urspr<strong>in</strong>gen,<br />

Laudenbach, Obernbreit, Hüttenheim<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Altenkunstadt) waren so e<strong>in</strong><br />

fester Bestandteil <strong>der</strong> Trauungszeremonie. In<br />

fast allen Chuppaste<strong>in</strong>en sieht man e<strong>in</strong>en<br />

Stern, im Zentrum häufig das hebräische MT<br />

(Masal Tow), manchmal (wie <strong>in</strong> Obernbreit)<br />

auch e<strong>in</strong>e hebräische Jahreszahl, die das Datum<br />

<strong>der</strong> Erbauung <strong>der</strong> Synagoge angibt und<br />

den Auszug aus Jeremias 7, 34 und 33, 1:<br />

„Kol sasson we kol simcha, kol chatan we kol<br />

kalla, Stimme des Jubels, Stimme <strong>der</strong> Freude,<br />

Stimme des Bräutigams, Stimme <strong>der</strong> Braut.“<br />

Es ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat erfreulich, dass sich solche<br />

Chuppaste<strong>in</strong>e an relativ vielen Orten Süddeutschlands,<br />

und ganz beson<strong>der</strong>s Frankens,<br />

erhalten haben. Zu verdanken ist dies oft<br />

den Besitzern des jeweiligen Synagogen -<br />

gebäudes.<br />

Israel Schwierz<br />

Datenbank „Juden <strong>in</strong><br />

Unterfranken“<br />

Früher hatte man biographische Lexika, <strong>in</strong> denen<br />

Artikel zu den wichtigen, klugen und e<strong>in</strong>flussreichen<br />

Personen zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d – die<br />

meisten von ihnen Männer. Heute bietet man<br />

solche Informationen <strong>in</strong> Datenbanken an und<br />

erhält damit die Möglichkeit, die Informationen<br />

zu vernetzen. Zielt man nicht auf Individuen<br />

ab, son<strong>der</strong>n auf Gruppen „normaler“<br />

Menschen und ihre E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> Familie<br />

und Verwandtschaft, Vere<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> Wohnorte,<br />

so bieten Datenbanken umso mehr s<strong>in</strong>nvolle<br />

Strukturen für Sammlung und -verknüpfung.<br />

In Aschaffenburg entstand bereits vor Jahren<br />

e<strong>in</strong> Projekt, das sich zunächst die Erfassung<br />

<strong>der</strong> Juden am bayerischen Unterma<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Datenbank zum Ziel setzte. Hier<strong>in</strong> wird jede<br />

Person durch die Zuordnung zu den Eltern <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Verwandtschaftsgeflecht e<strong>in</strong>geordnet. Die<br />

Darstellung mehrerer Generationen e<strong>in</strong>er Familie<br />

ist möglich. Ursprünglich vom För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong><br />

Haus Wolfsthalplatz e.V. <strong>in</strong>itiiert, hat<br />

sich <strong>der</strong> Entwickler <strong>der</strong> Datenbank, <strong>der</strong> Informatiker<br />

Oded Z<strong>in</strong>gher, <strong>in</strong>zwischen an das Kooperationsprojekt<br />

„Landjudentum <strong>in</strong> Unterfranken“<br />

angeschlossen, über dessen Homepage<br />

die Datenbank genutzt werden kann.<br />

Mittlerweile ist auch ganz Unterfranken e<strong>in</strong>bezogen.<br />

Neben den Daten zum Raum Aschaffenburg,<br />

<strong>der</strong>en Fehler noch zu den „K<strong>in</strong><strong>der</strong>krankheiten“<br />

<strong>der</strong> Datenbank zählen, s<strong>in</strong>d nun auch<br />

sämtliche Personen des Biographischen<br />

Handbuchs Würzburger Juden erfasst. Mehrere<br />

ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten daran,<br />

die Informationen des Handbuchs komplett<br />

e<strong>in</strong>zugeben und durch e<strong>in</strong>e umfangreiche<br />

Verl<strong>in</strong>kung mit Stolperste<strong>in</strong>seiten, Deportationslisten,<br />

Grabste<strong>in</strong>dokumentationen und<br />

an<strong>der</strong>en Quellen zu erweitern. Das Projekt ist<br />

e<strong>in</strong> „work <strong>in</strong> progress“, an dem ständig weiter<br />

gearbeitet wird, noch nicht perfekt, aber mit<br />

bemerkenswerten Potentialen. Rotraud Ries<br />

http://www.landjudentum-unterfranken.de/<br />

materialien<br />

http://www.johanna-stahl-zentrum.de/<br />

Dr. Rotraud Ries leitet das Johanna-Stahl-<br />

Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur<br />

<strong>in</strong> Unterfranken.<br />

10 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Neue Suchliste für geraubte Bücher<br />

Die Stadtbibliothek Nürnberg beherbergt e<strong>in</strong>e<br />

bedeutende Sammlung <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS-Zeit geraubter<br />

Bücher, bestehend aus 9000 Schriften,<br />

die vor allem verfolgten Juden und Freimaurern<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen 1933 und 1945<br />

entzogen wurden. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Inhalt, Herkunft<br />

und Zusammensetzung vergleichbare Schriftensammlung<br />

existiert unseres Wissens <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en deutschsprachigen Bibliothek.<br />

Diese Bestände, die heute unter dem Namen<br />

„Sammlung Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

(IKG)“ zusammengefasst s<strong>in</strong>d, wurden bei<br />

Kriegsende <strong>in</strong> den Redaktionsräumen des antisemitischen<br />

Hetzblattes „Der Stürmer“ sowie<br />

<strong>in</strong> Julius Streichers Landgut <strong>in</strong> Cadolzburg<br />

bei Fürth aufgefunden. Knapp 1400 Namen<br />

von Vorbesitzern aus ganz Europa lassen<br />

sich auf <strong>der</strong> umfangreichen neuen Suchliste<br />

<strong>der</strong> Nürnberger Stadtbibliothek f<strong>in</strong>den, die<br />

vor kurzem auch im Internet veröffentlicht<br />

wurde.<br />

Seit 1997 bemühen sich die Stadt und die Israelitische<br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg geme<strong>in</strong>sam<br />

um e<strong>in</strong>e Erschließung und Restitution <strong>der</strong><br />

Sammlung, bzw. e<strong>in</strong>zelner Schriften daraus.<br />

Im September 2002 unterzeichneten die Israelitische<br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de als Eigen tümer und<br />

Leihgeber und die Stadt als Leihnehmer e<strong>in</strong>en<br />

Vertrag zur dauerhaften Regelung des<br />

Verbleibs <strong>der</strong> Sammlung. Neben den juristischen<br />

Details wurden im Vertrag die Absichten<br />

bei<strong>der</strong> Seiten festgehalten. Dazu gehören<br />

die komplette Neukatalogisierung <strong>der</strong> Bestände,<br />

e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Erfassung sämtlicher<br />

Besitzh<strong>in</strong>weise, die etwaige Restaurierung beschädigter<br />

Schriften und die erklärte Absicht,<br />

sie <strong>der</strong> Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />

Bislang wurden unter den etwa 9000 Schriften<br />

<strong>in</strong>sgesamt 3690 provenienztragende Schriften<br />

festgestellt, 2200 Vorbesitzer – 1895 E<strong>in</strong>zelpersonen<br />

und 305 Körperschaften – konnten<br />

namhaft gemacht werden. Besitze<strong>in</strong>träge bzw.<br />

Provenienze<strong>in</strong>träge wurden <strong>in</strong> verschiedenster<br />

Form vorgefunden: Schriftzüge, Autorenwidmungen,<br />

Umschlags- und Rückenprägungen,<br />

Stempel und Prägestempel, Exlibris, Etiketten<br />

<strong>in</strong> Form von Buchhändler- und Buchb<strong>in</strong><strong>der</strong>zeichen,<br />

Briefe, Briefumschläge, Post- und<br />

Ansichtskarten, Briefmarken, Visitenkarten,<br />

Fotografien, Quittungen, Geldsche<strong>in</strong>e, Notizzettel,<br />

Formulare und Bibliothekskarteikärtchen.<br />

Die bisherigen Untersuchungen lassen auf die<br />

geographische Herkunft <strong>der</strong> Schriften aus 495<br />

Orten von Aachen bis Zurom<strong>in</strong> <strong>in</strong> 23 Län<strong>der</strong>n<br />

schließen, darunter Albanien, Chile, Deutschland,<br />

England, Italien, Li tauen, Polen, Russland,<br />

Schweiz, Ungarn und USA.<br />

Mit Hilfe von mehr als 500 Quellen – von<br />

Nachschlagewerken über Schriften bis h<strong>in</strong> zu<br />

Datenbanken und nicht zuletzt dem Internet<br />

– wurde aus den oft kryptischen und spärlichen<br />

H<strong>in</strong>weisen ermittelt, um welche Person<br />

o<strong>der</strong> Körperschaft es sich bei dem Vorbesitzer<br />

handelt. Der Austausch mit Zeitzeugen, Familienmitglie<strong>der</strong>n<br />

und Forschern <strong>in</strong> Archiven im<br />

In- und Ausland ergänzte diese Recherche.<br />

Die Publikation dieser Namen dient als s<strong>in</strong>nvolles<br />

Instrument für die Suche und Kontaktaufnahme<br />

<strong>der</strong> Vorbesitzer und <strong>der</strong>en Nachkommen.<br />

Seit Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Veröffentlichungen konnten<br />

knapp 200 Schriften an die ursprünglichen<br />

Vorbesitzer bzw. <strong>der</strong>en Nachkommen – Personen<br />

und Institutionen – <strong>in</strong> Canada, Deutschland,<br />

Großbritannien, Israel, Österreich, <strong>der</strong><br />

Schweiz und den USA zurückgegeben werden.<br />

Weitere Restitutionen an wenigstens 20<br />

Familien stehen unmittelbar zuvor.<br />

Die Bestände <strong>der</strong> Sammlung stammen größtenteils<br />

aus dem Besitz von Personen und Institutionen,<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit von 1933 bis 1945 zu<br />

Opfern <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verfolgung<br />

wurden: Juden, Freimaurer, Mitglie<strong>der</strong> und<br />

Funktionäre <strong>der</strong> Arbeiterbewegung und Vertreter<br />

verschiedener christlicher Glaubensrichtungen.<br />

Ihr Besitz fiel e<strong>in</strong>em gewaltigen<br />

Raubzug anheim, dessen Ausmaße wir heute<br />

nur schätzen können. Die Menge <strong>der</strong> ursprünglich<br />

aufgefundenen Schriften ist unbekannt.<br />

Die Bestände wurden 1945 von <strong>der</strong><br />

US-Armee bzw. von <strong>der</strong> gleich nach Kriegsende<br />

e<strong>in</strong>gerichteten amerikanischen Militärregierung<br />

beschlagnahmt und zunächst teilweise<br />

<strong>der</strong> Stadtbibliothek Nürnberg übergeben.<br />

Ende 1945 o<strong>der</strong> Anfang 1946 übertrug<br />

die Militärverwaltung den Besitz dieser<br />

Schriften <strong>der</strong> sich eben neu konstituierenden<br />

<strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Nürnberg.<br />

Es kann darüber h<strong>in</strong>aus nicht ausgeschlossen<br />

werden, dass Teile <strong>der</strong> „Streicher-Bibliothek“,<br />

ganz ähnlich wie an<strong>der</strong>e Sammlungen von gedrucktem<br />

Raubgut, über das Central Collect<strong>in</strong>g<br />

Po<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Offenbach am Ma<strong>in</strong> – <strong>der</strong> Hauptsammelstelle<br />

geraubter jüdischer Bibliotheken,<br />

Archivdokumente und Ritualgegenstände<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> amerikanischen Besatzungszone –<br />

auch nach Israel gelangten. E<strong>in</strong>e Erforschung<br />

dieser vermutlich sehr großen Bestände auf<br />

die Feststellung ihrer Herkunft an Hand <strong>der</strong><br />

Provenienze<strong>in</strong>träge steht noch aus.<br />

Die Sammlung IKG stellt sich uns heute nicht<br />

als Ergebnis e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>deutig erkennbaren, <strong>in</strong>haltlich<br />

bestimmten Sammlungswillens dar,<br />

son<strong>der</strong>n als Anhäufung von Fragmenten verschiedenster<br />

Schriftensammlungen, die zwar<br />

manche thematischen Schwerpunkte erkennen<br />

lassen, aber <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> höchst heterogenes<br />

Gebilde ergeben, das letztlich dem räuberischen<br />

Impetus <strong>der</strong> Nazis geschuldet ist. Es<br />

werden auch nach noch so gründlichen Recherchen<br />

niemals sämtliche Geheimnisse und<br />

Rätsel dieser Schriftensammlung gelüftet werden<br />

können.<br />

Die Sammlung IKG umfasst heute Schriften <strong>in</strong><br />

28 Sprachen: Altsyrisch, Aramäisch/Chaldäisch,<br />

Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Esperanto,<br />

F<strong>in</strong>nisch, Französisch, Griechisch (alt<br />

und neu), Hebräisch (alt und neu), Italienisch,<br />

Jiddisch, Late<strong>in</strong>isch, Lettisch, Nie<strong>der</strong>ländisch,<br />

Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch,<br />

Russisch, Schwedisch, Serbokroatisch,<br />

Tschechisch, Ungarisch und Ukra<strong>in</strong>isch.<br />

Anhand von Datumse<strong>in</strong>trägen lassen sich viele<br />

Bände auch nach ihrer zeitlichen Herkunft<br />

e<strong>in</strong>ordnen. Die Angaben <strong>in</strong> den Büchern<br />

beziehen sich auf den Zeitraum von 1648 bis<br />

1944, am häufigsten s<strong>in</strong>d Bücher aus den<br />

Jahren 1860 bis 1940 vertreten, was auch<br />

durch die Ersche<strong>in</strong>ungsdaten <strong>der</strong> katalo gi sierten<br />

Schriften belegbar ist.<br />

E<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit stellen die Schriften dar,<br />

die dem Stürmer von se<strong>in</strong>en Lesern und<br />

Freunden zugesandt worden s<strong>in</strong>d. Unter diesen<br />

wie<strong>der</strong>um lassen sich auch geraubte Bücher<br />

nachweisen:<br />

„Dieses Buch fand ich am 8/VI 44 an <strong>der</strong> Adria,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abseits gelegenen Hause. Nachdem ich<br />

es mehreremale durchblättert habe, fand ich es<br />

als e<strong>in</strong> lehrreiches, von Juden nie<strong>der</strong>geschriebenes<br />

Werk, und stelle es dem Stürmer zur Verfügung.<br />

Zur Zeit im Felde, F. P. Nr. 05011 am<br />

26//X 1944, He<strong>in</strong>rich Tiefenthaler“ (Schriftzüge<br />

<strong>in</strong>: Moses Mendelssohns sämtliche Werke).<br />

E<strong>in</strong> weiteres Beispiel:<br />

„Dir, liebe Mutter, sei dieses Werk gewidmet zur<br />

Erhebung und Erbauung <strong>in</strong> den sabbatlichen<br />

Mußestunden de<strong>in</strong>es Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong>s von de<strong>in</strong>em<br />

dich liebenden Sohn Sebald. / Marisfeld, Erew<br />

Rosch Haschana Taw Resch Aj<strong>in</strong> Daled (=<br />

5674 = 1913/14), am Tage <strong>der</strong> Beendigung <strong>der</strong><br />

Schiwa für unseren lieben Vater (dt.-hebr.<br />

Schriftzug). Am 20. Elul 5683 Samstag den 1.<br />

September 1923 starb me<strong>in</strong> lieber guter Mann.<br />

Er ruhe <strong>in</strong> Frieden! Bertha Müller “ (E<strong>in</strong>trag <strong>in</strong>:<br />

Bibel- und Talmudschatz. E<strong>in</strong> Buch für die jüdische<br />

Familie).<br />

Der Nürnberger Kantor und Lehrer Sebald<br />

Müller wurde zusammen mit se<strong>in</strong>er Familie<br />

am 29. 11. 1941 nach Riga-Jungfernhof verschleppt<br />

und ermordet. Schriften aus se<strong>in</strong>er<br />

Sammlung konnten vor kurzem se<strong>in</strong>em Sohn<br />

als e<strong>in</strong>zigem Über<strong>leben</strong>den <strong>der</strong> Familie rückerstattet<br />

werden.<br />

Alle Fotos: Stadt Nürnberg<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 11


Die Provenienze<strong>in</strong>träge gewähren immer wie<strong>der</strong><br />

aufschlussreiche und bewegende E<strong>in</strong>blicke<br />

<strong>in</strong> Lebensumstände und Schicksale von<br />

Menschen und Institutionen, die vertrieben<br />

o<strong>der</strong> vernichtet wurden. Die Sammlung birgt<br />

Er<strong>in</strong>nerungen, manchmal auch e<strong>in</strong> letztes Lebenszeichen<br />

und kann deshalb <strong>in</strong> mancherlei<br />

H<strong>in</strong>sicht als historisches Dokument gelesen<br />

werden.<br />

An die Dokumentation aller Besitze<strong>in</strong>träge<br />

schließen sich, wo immer möglich, aktive Recherchen<br />

zur Identifikation <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Eigentümer und zur E<strong>in</strong>leitung von Restitutionsverhandlungen<br />

mit den Vorbesitzern,<br />

ihren Nachkommen o<strong>der</strong> Nachfolge<strong>in</strong>stitutionen<br />

an. Diese Bemühungen stoßen lei<strong>der</strong><br />

häufig an Grenzen. Charakteristisch für die<br />

ehemalige „Bücherei <strong>der</strong> Schriftleitung bzw. <strong>der</strong><br />

Hauptschriftleitung des Stürmer“ ist die breite<br />

geographische Streuung <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Besitze<strong>in</strong>trägen<br />

genannten Orte. Dem „Stürmer“ wurden<br />

nicht nur Bücher aus Nürnberg, Franken<br />

o<strong>der</strong> dem Gebiet des Deutschen Reiches zugesandt;<br />

mit den Annektionen und Besetzungen<br />

seit 1938 fielen Bücherbestände auch aus<br />

diesen Gebieten an. Detaillierte Recherchen<br />

können aber nicht an allen Orten vorgenommen<br />

werden.<br />

Wie kamen diese Bücher nach Nürnberg? Im<br />

„Stürmer“ konnte man jahrelang lesen:<br />

„Stürmerleser! Viele unserer Stürmerleser s<strong>in</strong>d<br />

im Besitze jüdischer und antijüdischer Bücher,<br />

Dokumente, Bil<strong>der</strong>, Zeitschriften usw., die für sie<br />

wenig Bedeutung haben. Für das Stürmer-<br />

Archiv s<strong>in</strong>d diese D<strong>in</strong>ge jedoch sehr wichtig. Wir<br />

ersuchen daher un sere Stürmerfreunde, unsere<br />

Sammlung durch Zusendung solcher Gegenstände<br />

ausbauen zu helfen. Die Schriftleitung<br />

des Stürmers / Nürnberg = A, Pfannenschmiedsgasse<br />

19.“<br />

Mit diesem Aufruf warb Julius Streicher viele<br />

Jahre <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wochenblatt um Material<br />

für se<strong>in</strong>e publizistischen Zwecke. Er warb<br />

nicht vergeblich. Es lässt sich heute nicht<br />

mehr rekonstruieren, welche und wie viele<br />

Schriften, Dokumente und Archivalien <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

„Bücherei <strong>der</strong> Schriftleitung und <strong>der</strong> Hauptschriftleitung<br />

des Stürmer“ aufbewahrt wurden.<br />

Auch <strong>in</strong>wieweit diese Materialien <strong>in</strong> die<br />

Redaktionsarbeit des „Stürmers“ e<strong>in</strong>flossen,<br />

ist weitgehend unerforscht.<br />

Die „Bücherei <strong>der</strong> Schriftleitung des Stürmer“ erhielt<br />

spätestens am 1. Juli 1942 e<strong>in</strong>e bedeutende<br />

„Bereicherung“. An diesem Tag wurden alle<br />

jüdischen Schulen <strong>in</strong> Deutschland geschlossen.<br />

Die Israelitische Volksschule Nürnberg war auf<br />

Befehl <strong>der</strong> NS-Behörden im März 1934 <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Oberen Kanal Straße 25 eröffnet worden. Ihr<br />

Vorläufer war die Schule <strong>der</strong> Adas Israel gewesen,<br />

was an Hand <strong>der</strong> Buchbesitzer leicht verifiziert<br />

werden kann. Zu dieser Schule gehörte<br />

auch e<strong>in</strong>e Schulbibliothek, die durch die mitgebrachten<br />

Lehrmaterialien vieler neuer Schüler<br />

erweitert wurde. Am 10. 6. 1943, dem zweiten<br />

Tag des jüdischen Schawuot-Festes, drangen<br />

Gestapo-Beamte <strong>in</strong> die Synagoge e<strong>in</strong> und verkündeten<br />

den dort gerade Gottesdienst abhaltenden<br />

Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n die Auflösung<br />

<strong>der</strong> Reichsvere<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong> Deutschland<br />

und die Beschlagnahmung des noch vorhandenen<br />

Geme<strong>in</strong>debesitzes, e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Reste<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>debibliothek.<br />

Der Rückerstattung verfolgungsbed<strong>in</strong>gt entzogenem<br />

Kulturguts an se<strong>in</strong>e Vorbesitzer bzw.<br />

an <strong>der</strong>en Rechtsnachfolger ist weit mehr als<br />

nur e<strong>in</strong>e juristische Auflage, sie ist e<strong>in</strong>e ethischmoralische<br />

Verpflichtung, die trotz immenser<br />

sachbed<strong>in</strong>gter Hürden e<strong>in</strong>e Daueraufgabe ist<br />

und wohl auch bleiben wird. Die Feststellung<br />

<strong>der</strong> tatsächlichen Besitzverhältnisse alle<strong>in</strong>e ist<br />

schon problematisch genug, mit den jeweiligen<br />

Familien o<strong>der</strong> den Nachfolgern <strong>der</strong> zerstörten<br />

Institutionen <strong>in</strong> Kontakt zu kommen,<br />

fällt noch viel schwerer.<br />

Manche Restitutionsvorgänge können sich<br />

über Jahre h<strong>in</strong>ziehen. Das hat nicht nur mit<br />

<strong>der</strong> geographischen Distanz zu den Familien<br />

und Rechtsnachfolgern <strong>der</strong> Vorbesitzer zu<br />

tun. So manche persönliche und psychologische<br />

Bef<strong>in</strong>dlichkeiten treten zutage. Geduld<br />

und Verständnis auf beiden Seiten s<strong>in</strong>d gefragt.<br />

Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt<br />

bleiben, dass die Reaktionen <strong>der</strong> Familien<br />

auf die Funde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sammlung IKG durchwegs<br />

sehr positiv waren. Mit Dankbarkeit<br />

und Zufriedenheit wird die Arbeit <strong>der</strong> Stadt<br />

Nürnberg auf diesem Gebiet registriert.<br />

Um die enorme und komplexe Menge an Informationen<br />

nutzbar zu machen, wurde e<strong>in</strong>e<br />

Datenbank aufgebaut, die ständig ergänzt und<br />

optimiert wird. Der größte Teil <strong>der</strong> Provenienze<strong>in</strong>träge<br />

wurde e<strong>in</strong>gescannt. Diese Bilddateien<br />

stehen <strong>in</strong>teressierten Familien und<br />

Rechtsnachfolgern auf Anfrage zur Verfügung.<br />

Leibl Rosenberg<br />

Die aktuelle Suchliste <strong>der</strong> Vorbesitzer sortiert<br />

nach Namen:<br />

http://www.nuernberg.de/imperia/md/stadtbib<br />

liothek/dokumente/suchliste_name-2013.pdf<br />

Die aktuelle Suchliste <strong>der</strong> Vorbesitzer sortiert<br />

nach Orten:<br />

http://www.nuernberg.de/imperia/md/stadtbib<br />

liothek/dokumente/suchliste_ort-2013.pdf<br />

Weitere Informationen zur Sammlung <strong>der</strong><br />

<strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de unter<br />

http://www.nuernberg.de/<strong>in</strong>ternet/stadtbiblio<br />

thek/sammlungikg.html?pk_campaign=stadt<br />

bibliothek&pk_kwd=altbestaende_sammlung<br />

ikg.html<br />

12 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Provenienzforschung<br />

Die gezielte Suche nach von den Nazis geraubten<br />

Büchern und Schriften ist seit dem<br />

Herbst e<strong>in</strong> Stück leichter geworden. Angehörige<br />

<strong>der</strong> ursprünglichen Eigentümer, Rechtsnachfolger<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den und Institutionen<br />

o<strong>der</strong> auch nur Interessierte haben jetzt über<br />

das Internet Zugriff auf die Suchbereiche e<strong>in</strong>er<br />

Datenbank <strong>der</strong> Nürnberger Stadtbibliothek,<br />

die e<strong>in</strong>e Recherche nach Namen und<br />

Orten ermöglicht. Die Rückerstattung von gestohlenen<br />

Druckwerken soll dadurch weiter<br />

forciert werden.<br />

Seit mehr als 15 Jahren kümmert sich Leibl<br />

Rosenberg um die wohl e<strong>in</strong>malige Sammlung<br />

geraubter Bücher <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadtbibliothek <strong>der</strong><br />

fränkischen Metropole. Rosenberg studierte<br />

u.a. Judaistik, Germanistik und Amerikanistik<br />

<strong>in</strong> Jerusalem und <strong>in</strong> München. Bevor er als<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Bildungscampus<br />

nach Nürnberg g<strong>in</strong>g, war er viele Jahre<br />

für unterschiedliche Medien journalistisch<br />

tätig. Auch die Leser von JÜDISCHES LE-<br />

BEN IN BAYERN kennen ihn als Autoren.<br />

Se<strong>in</strong> Brot verdient er aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bibliothek<br />

(siehe Foto). „Das Schönste an dieser Arbeit<br />

<strong>in</strong> all den Jahren“, sagt Leibl Rosenberg <strong>in</strong>mitten<br />

se<strong>in</strong>er Bücher, „waren immer die Beziehungen<br />

zu den Menschen auf <strong>der</strong> ganzen<br />

Welt, denen wir etwas von ihren Familien zurückgeben<br />

konnten“. Für uns schreibt er <strong>in</strong><br />

diesem Heft über die Nürnberger Sammlung<br />

und se<strong>in</strong>e langjährige Arbeit. Benno Reicher<br />

Zum Titelbild<br />

Das Chanukka-Buch „Moaus Zur“ aus <strong>der</strong><br />

Nürnberger Sammlung <strong>der</strong> geraubten Bücher<br />

gehörte dem jüdischen Schüler Artur<br />

Goldberger, geboren am 17. 7. 1912 <strong>in</strong> Nürnberg.<br />

Die Familie lebte am Josephsplatz 20<br />

und gehörte zur Adas-Jisroel-Geme<strong>in</strong>de.<br />

Das hier abgebildete Ex Libis bef<strong>in</strong>det sich<br />

auch <strong>in</strong> dem Buch. Es wird <strong>in</strong> nächster Zukunft<br />

an die Tochter von Artur Goldberger<br />

<strong>in</strong> Jerusalem zurückerstattet.<br />

Alle Fotos zum Themenschwerpunkt „Geraubte<br />

Bücher“: Stadt Nürnberg.<br />

Die SchUM-Geme<strong>in</strong>den<br />

Dem kulturellen Profil <strong>der</strong> jüdischen<br />

„SchUM“-Geme<strong>in</strong>den Speyer, Worms und<br />

Ma<strong>in</strong>z war im Oktober e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<br />

wissenschaftliche Tagung <strong>in</strong> Worms gewidmet.<br />

Worms, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ältesten Städte<br />

Deutschlands, bemüht sich zusammen mit<br />

Speyer und Ma<strong>in</strong>z, für die „jüdischen Muttergeme<strong>in</strong>den<br />

im Rhe<strong>in</strong>land“ die Anerkennung<br />

als UNESCO-Welterbe zu erlangen.<br />

Dabei spielen die jüdischen Stätten e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle. Während aber das materielle<br />

jüdische Erbe <strong>in</strong>folge von Verfolgungen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Kreuzzüge, bei späteren antisemitischen<br />

Ereignissen und vor allem <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Schoa vielfach vernichtet wurde,<br />

ist <strong>der</strong> überlieferte immaterielle kulturelle<br />

Schatz das Eigentliche, was immer<br />

noch als e<strong>in</strong> Markste<strong>in</strong> im jüdischen Bewusstse<strong>in</strong><br />

weltweit gilt. Die Er<strong>in</strong>nerungen,<br />

Lie<strong>der</strong>, Erzählungen und Legenden zeugen<br />

von dem e<strong>in</strong>stigen Ruhm, <strong>der</strong> Größe und<br />

Bedeutung dieser aschkenasischen Geme<strong>in</strong>den,<br />

auf die ihre jüdischen Bewohner stolz<br />

waren. Der älteste Ste<strong>in</strong> auf dem jüdischen<br />

Friedhof „Heiliger Sand“ <strong>in</strong> Worms stammt<br />

von 1058/1059, <strong>der</strong> „Wormser Machsor“ enthält<br />

den ältesten bekannten jiddischen Satz,<br />

e<strong>in</strong>en Segensspruch für den Träger dieses<br />

Gebetbuches. Der mehrfache Wie<strong>der</strong>aufbau<br />

<strong>der</strong> Wormser Synagoge aus dem Jahr 1034,<br />

<strong>der</strong> ebenfalls legendenumwobenen zeitweiligen<br />

Studienstätte des berühmtesten jüdischen<br />

Exegeten Raschi aus Troyes (1040 bis<br />

1105) als e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> bedeutendsten Lehrhäuser<br />

Europas, zeugt trotz <strong>der</strong> Zerstörung von<br />

dem kont<strong>in</strong>uierlichen Bestehen <strong>der</strong> jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>de Worms vom Mittelalter bis<br />

<strong>in</strong> die Neuzeit.<br />

Auch <strong>der</strong> berühmte Talmudgelehrte und<br />

Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mystischen Bewegung <strong>der</strong><br />

Hasidej Aschkenas, Eleasar aus Worms,<br />

auch genannt Eleasar ben Juda ben Kalonymos<br />

o<strong>der</strong> ha-Rokeach (um 1176–1238), wirkte<br />

und starb dort. Laut e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Gründungslegenden<br />

<strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

Worms aus Ma’asse Nissim (das Buch <strong>der</strong><br />

Wun<strong>der</strong>, Amsterdam 1693) von Juspa Schammes,<br />

heißt es sogar, dass die Juden schon zur<br />

Zeit <strong>der</strong> Zerstörung des Ersten Tempels im<br />

Jahre 587 v. d. Zt. <strong>in</strong> die Stadt gekommen<br />

waren, von wo sie nicht mehr <strong>in</strong> das Land<br />

Israel zurückkehrten. An ihre sie zur Rückkehr<br />

aufrufenden Brü<strong>der</strong> dort schrieben sie:<br />

„Liebe Brü<strong>der</strong>, ihr wohnt <strong>in</strong> Groß-Jerusalem,<br />

wir aber wollen hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> heiligen<br />

Geme<strong>in</strong>de zu Worms, <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>-Jerusalem,<br />

bleiben.“<br />

Wie <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Tagung, Prof. K. E. Gröz<strong>in</strong>ger<br />

(Potsdam/Berl<strong>in</strong>), <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>leitenden<br />

Vortrag erläuterte, s<strong>in</strong>d die jüdischen<br />

Überlieferungen zugleich das Echo e<strong>in</strong>er<br />

deutschen Bef<strong>in</strong>dlichkeit, nicht nur e<strong>in</strong>er<br />

heidnisch-germanischen Kultur wie die des<br />

Nibelungenlieds. Die SchUM-Städte s<strong>in</strong>d<br />

auch nicht nur Bischofs- o<strong>der</strong> Kaiserstädte,<br />

son<strong>der</strong>n zugleich die Heimat <strong>der</strong> aschkenasischen<br />

Juden und <strong>der</strong> Quell ihrer Kultur.<br />

Diese ist Teil <strong>der</strong> deutschen Kultur, trotz<br />

aller geschichtlichen Friktionen und Verfolgungen.<br />

Beispielhaft dafür ist die Ur-Wormser<br />

Sage von dem L<strong>in</strong>dwurm, dem die Stadt<br />

laut dieser Legende ihren Namen als Drachenstätte<br />

verdankt, welche sich aber nur <strong>in</strong><br />

dem jiddisch-deutschen Legendenbuch von<br />

Juspa Schammes f<strong>in</strong>det.<br />

Die Juden <strong>der</strong> SchUM-Städte hatten Kontakte<br />

nach Köln und B<strong>in</strong>gen, nach Würzburg<br />

und Regensburg. Ihr Erbe hat aber nicht nur<br />

<strong>in</strong> Deutschland nachgewirkt. Wie die christlichen<br />

Magier <strong>der</strong> Renaissance, so haben<br />

auch die Juden ihre eigenen Wun<strong>der</strong>män-<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 13


Im Abendprogramm <strong>der</strong> Tagung: Synagogale Gesänge mit v. l.: Eliyahu Schleifer (Leitung) und die<br />

Kantoren Aviv We<strong>in</strong>berg, Svetlana Kundish, Ido Ben-Gal und Assaf Levit<strong>in</strong>.<br />

Erst mit <strong>der</strong> Renovierung dieses Chuppaste<strong>in</strong>es,<br />

die <strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen verstorbene Pfarrer<br />

Helmut Walz anlässlich se<strong>in</strong>es 60. Geburtstages<br />

durchführen ließ, begann man<br />

sich <strong>in</strong> Obernbreit wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> früheren<br />

jüdischen Geme<strong>in</strong>de und ihrer Synagoge zu<br />

beschäftigen. Im Oktober 2005 wurde unter<br />

maßgeblicher Beteiligung des damaligen<br />

evangelischen Ortspfarrers und des Altbürgermeisters<br />

<strong>der</strong> „Träger- und För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong><br />

ehemalige Synagoge Obernbreit e.V.“ gegründet,<br />

<strong>der</strong> es sich zum Ziel setzte, das<br />

e<strong>in</strong>stige Synagogengebäude, das zu dieser<br />

Zeit immer noch als Lagerhalle genutzt wurde,<br />

als bedeutendes Denkmal <strong>der</strong> Ortsgeschichte<br />

zu erhalten. Noch im gleichen Jahr<br />

wurde <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong> Eigentümer des Gebäudes,<br />

welches ihm se<strong>in</strong>e damalige Eigentümer<strong>in</strong><br />

überlassen hatte. Danach wurden umner,<br />

die Ba’ale Schem. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> also, dass<br />

e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> aktivsten religiösen Bewegungen des<br />

gegenwärtigen Judentums, <strong>der</strong> Lubawitscher<br />

Chassidismus, se<strong>in</strong>e Herkunft direkt auf<br />

Worms zurückführt, auf den dort wirkenden<br />

Eliahu Ba’al Schem, den Rabb<strong>in</strong>er Elia Loanz<br />

(1551–1636). Und wie Prof. A. Weber (Heidelberg)<br />

<strong>in</strong> ihrem Vortrag „Auf <strong>der</strong> Spur des<br />

Drachen: Zur Darstellung <strong>der</strong> Stadt Worms<br />

mit dem L<strong>in</strong>dwurm <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge von Mogilev“<br />

darlegte, wurde <strong>der</strong> Wormser Drache<br />

als Motiv von Malereien <strong>in</strong> osteuropäischen<br />

jüdischen Gebethäusern noch im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

zur Inspiration für jüdische Künstler wie<br />

El Lissitzky und Issachar Ryback.<br />

Über die mittelalterlichen hebräischen Legenden<br />

aus Aschkenas sprach Prof. E. Yassif (Tel-<br />

Aviv). Dar<strong>in</strong> sahen sich die deutschen Juden<br />

als Gelehrte sogar den Juden Babyloniens,<br />

die den Talmud verfassten, überlegen. Sie<br />

brachten ihren Lokalpatriotismus deutlich<br />

zum Ausdruck, wobei sie zugleich die Gefahren,<br />

die ihnen durch die Christen drohten,<br />

nicht verschwiegen. Dr. E. Shoham-Ste<strong>in</strong>er<br />

(Beer Schewa) erläuterte Geschichten von jüdischen<br />

Randgestalten wie Gauner und Betrüger,<br />

die <strong>in</strong> den <strong>in</strong>nerjüdischen Kreisen wie<br />

auch im Zusammen<strong>leben</strong> mit <strong>der</strong> christlichen<br />

Bevölkerung ke<strong>in</strong>eswegs nur e<strong>in</strong>e positive<br />

Rolle spielten, während Dr. D. Rotman (Tel-<br />

Aviv/Philadelphia) über Monster, Vampire<br />

und Werwölfe referierte, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>de ihr meist unmoralisches Unwesen<br />

trieben.<br />

Als Vorbereitung auf das abendliche Kan torenkonzert<br />

stellte Prof. E. Schleifer (Jerusalem/Berl<strong>in</strong>),<br />

Maharil (R. Ja’akow ha-Levi Mol<strong>in</strong>,<br />

1375 Ma<strong>in</strong>z – 1427 Worms) als den mythischen<br />

Vater des aschkenasischen synagogalen<br />

Gesangs vor. Im letzten Tagungsteil wurde die<br />

literarische Fortschreibung und Rezeption <strong>der</strong><br />

SchUM-Erzählungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen, hebräischen<br />

und jiddischen Literatur des 19. und<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts von Prof. G. von Glasenapp<br />

(Köln), Prof. A. Lipsker (Ramat Gan) und<br />

Dr. J. Bamberger (Ramat Gan/Frankfurt a.M.)<br />

thematisiert.<br />

Im Abendprogramm rezitierte K.-H. Deichelmann<br />

Erzählungen und Legenden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

szenischen Lesung. Die überragende Bedeutung<br />

<strong>der</strong> SchUM-Städte anhand <strong>der</strong> Narrative<br />

wurde übere<strong>in</strong>stimmend bestätigt, zumal sogar<br />

<strong>der</strong> Messias, laut e<strong>in</strong>er Legende, aus Worms<br />

kommen wird.<br />

Die Beiträge werden demnächst <strong>in</strong> Buchform<br />

publiziert.<br />

Ursula Weiss<br />

Synagoge Obernbreit<br />

In Obernbreit im Landkreis Kitz<strong>in</strong>gen existierte<br />

von 1528 bis 1910 e<strong>in</strong>e jüdische Geme<strong>in</strong>de.<br />

Sie besaß e<strong>in</strong>e 1748 erbaute Synagoge<br />

mit Vorbeterwohnung, e<strong>in</strong>e Schule, die<br />

1712 errichtet worden war, und e<strong>in</strong>e Mikwe<br />

unter dem Synagogengebäude. Nach dem<br />

Verkauf an Privatleute 1911 wurde die Synagoge<br />

zunächst als Wartungsbau für landwirtschaftliche<br />

Nutzfahrzeuge, später, bis<br />

Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts, als Schuppen<br />

und Lagerhalle benutzt. An die ursprüngliche<br />

Funktion des Bauwerks er<strong>in</strong>nerte lange<br />

Zeit lediglich e<strong>in</strong> sehr schöner Chuppaste<strong>in</strong><br />

an <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite des Synagogengebäudes,<br />

<strong>der</strong> aber im Laufe <strong>der</strong> Zeit nur noch schwer<br />

zu erkennen war.<br />

fangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong>en Verlauf auch die Mikwe auf<br />

<strong>der</strong> rechten Seite des Gebäudes wie<strong>der</strong> entdeckt<br />

wurde, ca. 10 Meter unter <strong>der</strong> Erde<br />

und über e<strong>in</strong>en schmalen Treppenschacht<br />

mit 44 Sandste<strong>in</strong>stufen zu erreichen. Hier<br />

f<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Besucher heute im Tauchbecken<br />

erstaunlicherweise ganz klares, re<strong>in</strong>es Wasser<br />

vor. Im Zuge <strong>der</strong> Renovierungsarbeiten<br />

konnten auch Überreste e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Genisa<br />

gefunden werden.<br />

Am 29. September 2013 wurde die ehemalige<br />

Synagoge Obernbreit e<strong>in</strong> Jahr nach dem<br />

Beg<strong>in</strong>n aufwändiger Umbauarbeiten mit e<strong>in</strong>em<br />

großen Festakt feierlich als e<strong>in</strong> „Ort<br />

des Er<strong>in</strong>nerns, des Gedenkens und <strong>der</strong> Begegnung“<br />

eröffnet. Zu diesem Ereignis hatten<br />

sich Vertreter <strong>der</strong> beiden christlichen<br />

Kirchen und <strong>der</strong> jüdischen Religionsgeme<strong>in</strong>schaft,<br />

<strong>der</strong> Politik und ganz viele Mitglie<strong>der</strong><br />

des Träger- und För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>stigen<br />

Synagogengebäude e<strong>in</strong>gefunden. Erstaunlich<br />

und gleichzeitig begrüßenswert ist<br />

die Tatsache, dass das Gebäude nicht e<strong>in</strong>heitlich<br />

renoviert wurde, son<strong>der</strong>n so, dass<br />

man Zeugnisse aller Epochen, die das Bauwerk<br />

erlebt hatte, deutlich vor Augen geführt<br />

bekommt, von <strong>der</strong> farbigen Wandmalerei<br />

aus <strong>der</strong> Entstehungszeit über dem<br />

Platz, an dem sich e<strong>in</strong>st <strong>der</strong> Toraschre<strong>in</strong> befunden<br />

hatte, bis zu Spuren aus <strong>der</strong> Zeit, als<br />

es als Lagerhalle diente. Auch die beiden<br />

großen hölzernen Schiebetüren s<strong>in</strong>d auf <strong>der</strong><br />

rechten Seite des Gebäudes erhalten geblieben,<br />

aber man betritt es durch zwei ganz<br />

mo<strong>der</strong>ne Glastüren.<br />

Die e<strong>in</strong>stige Synagoge soll auf ke<strong>in</strong>en Fall<br />

als Museum dienen, son<strong>der</strong>n vielmehr als<br />

e<strong>in</strong>e Stätte <strong>der</strong> Begegnung. Dies sche<strong>in</strong>t den<br />

Initiatoren des Projekts gelungen zu se<strong>in</strong>,<br />

denn seit <strong>der</strong> Eröffnung gab es schon e<strong>in</strong>ige<br />

Veranstaltungen, an<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Planung.<br />

Allen, die sich um die Renovierung und Restaurierung<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>stigen Synagoge Obernbreit<br />

verdient gemacht haben, gebührt für<br />

ihr verdienstvolles Tun Dank und Anerkennung.<br />

Israel Schwierz<br />

14 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Die ganze Wahrheit<br />

Von Miriam Magall<br />

„Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer<br />

über Juden wissen wollten“. Das war <strong>der</strong><br />

Name e<strong>in</strong>er Ausstellung, die bis zum 1. September<br />

im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> gezeigt<br />

wurde. Dafür hatten sich die Kuratoren etwas<br />

Beson<strong>der</strong>es e<strong>in</strong>fallen lassen. Jeden Tag<br />

saß von 14 bis 16 Uhr e<strong>in</strong>e Jüd<strong>in</strong> o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

Jude <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vitr<strong>in</strong>e und beantwortete Fragen<br />

zum Judentum, über Juden o<strong>der</strong> über<br />

alles, was mit Jüdischem zusammenhängt.<br />

Sowohl <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> Ausstellung, mehr aber<br />

noch diese Idee, e<strong>in</strong>en <strong>leben</strong>digen jüdischen<br />

Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vitr<strong>in</strong>e zu setzen, wurde<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zum Teil recht kontrovers<br />

diskutiert. Darf man? Soll man? Und<br />

wie kommt das an?<br />

Ich saß <strong>in</strong>sgesamt fünfmal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e.<br />

Damit s<strong>in</strong>d wir auch schon mittendr<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

den vielen Fragen, die e<strong>in</strong>em sozusagen als<br />

„<strong>leben</strong>des Exponat“ im Museum gestellt<br />

werden. E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Fragen, die mir persönlich<br />

oft als Erstes gestellt wurden, lauteten:<br />

„Warum sitzen Sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e?“ „Wie<br />

kommen Sie dazu, hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e zu<br />

sitzen?“ Und: „Wie fühlen Sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Vitr<strong>in</strong>e?“ Die Fragesteller waren häufig junge<br />

Menschen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe an <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e<br />

vorbeikamen. Sie kamen aus Deutschland,<br />

aus den Nie<strong>der</strong>landen, aus Mexiko, aus<br />

Korea, aus den USA und aus an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n.<br />

Ihre Reaktionen waren zum Teil sehr<br />

positiv, zeitweise waren sie erfreut, dass sie<br />

fragen durften, was sie wollten.<br />

E<strong>in</strong>e Ausnahme zu diesem allgeme<strong>in</strong> positiven<br />

Tenor ist mir ganz beson<strong>der</strong>s im Gedächtnis<br />

geblieben. E<strong>in</strong>e Frau mittleren<br />

Alters aus Wien berichtete, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wiener<br />

Museum habe man Vertreter unterschiedlicher<br />

Ethnien an e<strong>in</strong>en Tisch gesetzt und<br />

die Besucher konnten sie befragen. Hier im<br />

Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> graue es ihr angesichts<br />

e<strong>in</strong>es <strong>leben</strong>den Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Vitr<strong>in</strong>e, denn er komme ihr vor wie e<strong>in</strong> ausgestopftes<br />

Tier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Glaskasten!<br />

An<strong>der</strong>e, meistens Besucher mittleren Alters,<br />

erzählten, sie seien sehr an Jüdischem <strong>in</strong>teressiert,<br />

aus ganz verschiedenen Gründen:<br />

Bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en hatte die Tochter <strong>in</strong> Jerusalem<br />

studiert; e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Dame aus Budapest<br />

erzählte, sie habe e<strong>in</strong>e 102 Jahre alte jüdische<br />

Freund<strong>in</strong>, die sie regelmäßig besuche<br />

und <strong>der</strong> sie vorlese, weil die alte Dame bl<strong>in</strong>d<br />

sei. E<strong>in</strong>e ältere jüdische Frau, die jetzt <strong>in</strong><br />

Wien lebt, erzählte mir von ihrer Vergangenheit<br />

und wie sie gerettet wurde.<br />

E<strong>in</strong>ige Besucher erkundigten sich, was genau<br />

„koscheres Essen“ sei. Dazwischen stellten<br />

meistens deutsche Männer im höheren<br />

Alter die Frage, ob sie sich schuldig fühlen<br />

müssten wegen Hitlers Verbrechen. Sowohl<br />

junge Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe als auch<br />

oft Frauen mittleren Alters wollten viel über<br />

mich persönlich wissen: Was mit me<strong>in</strong>er Familie<br />

ist. Wie ich von Israel nach Deutschland<br />

gekommen b<strong>in</strong>. Ob mir me<strong>in</strong> Leben als<br />

Jüd<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland gefällt.<br />

E<strong>in</strong> koreanisches Ehepaar wollte wissen,<br />

was ich über Jesus weiß. Am e<strong>in</strong>em Sonntag<br />

kamen Mexikaner <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren Gruppen an<br />

<strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e vorbei und fragten, unabhängig<br />

vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, warum Juden nicht an Jesus<br />

glauben und auch, ob Juden mit Christen<br />

konkurrieren. Alle wollten mehr über Juden<br />

Leeor Englän<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausstellung „Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer über Juden wissen<br />

wollten“.<br />

Foto: L<strong>in</strong>us L<strong>in</strong>tner, Jüdisches Museum Berl<strong>in</strong><br />

und Judentum erfahren. E<strong>in</strong> jüngeres Paar<br />

aus Dänemark wollte wissen, wo <strong>der</strong> Ursprung<br />

für die Gebote <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bibel zu f<strong>in</strong>den<br />

ist. Dass sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> hebräischen Bibel stehen,<br />

wusste sie.<br />

E<strong>in</strong> Mann mittleren Alters aus Holland erkundigte<br />

sich nach dem Ursprung <strong>der</strong> Wörter<br />

Aschkenas und Sefarad und hörte erstaunt,<br />

dass es auch noch Juden gibt, die<br />

man Must’arabim, d.h. orientalische Juden,<br />

nennt. E<strong>in</strong>e junge Besucher<strong>in</strong> aus Polen, die<br />

jetzt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> lebt, wollte von mir wissen,<br />

was ich über Polen und das Leben dort wisse.<br />

Drei US-Amerikaner <strong>in</strong>teressierten sich<br />

für den Antisemitismus im heutigen<br />

Deutschland und unter Migranten.<br />

Auch Israel kam zur Sprache. Zwei junge<br />

Frauen aus Deutschland wollten von mir etwas<br />

über die aktuelle israelische Politik angesichts<br />

<strong>der</strong> Lage <strong>in</strong> Syrien hören. Zwei junge<br />

Australier wollten erfahren, wie es mit<br />

<strong>der</strong> Sicherheit dort steht und wie frei man <strong>in</strong><br />

Israel umherreisen kann.<br />

Und dann kamen auch ganz an<strong>der</strong>e Fragen.<br />

E<strong>in</strong> junger Mann aus e<strong>in</strong>er Schulklasse wollte<br />

von mir wissen, warum Juden geldgierig<br />

s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e junge Frau aus Kroatien wollte<br />

wissen, warum Hitler die Juden hasste und<br />

warum Menschen oft Juden hassen. E<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e junge Frau aus Nie<strong>der</strong>sachsen erklärte,<br />

sie habe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule schon so viel<br />

über Juden und die Schoa gehört und auch<br />

immer wie<strong>der</strong> KZs besichtigen müssen, dass<br />

Am Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> wird zur Zeit<br />

e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Befragung durchgeführt,<br />

die sich erstmalig an junge russischsprachige<br />

Jüd<strong>in</strong>nen und Juden wendet und wissen<br />

möchte, wie sie hier <strong>leben</strong> und was ihnen<br />

wichtig ist. Die Studie „Lebenswirklichkeiten.<br />

Jüdische Gegenwart <strong>in</strong> Deutschland“ entsteht im<br />

Rahmen des Fellowship-Programms am JMB<br />

und erforscht den Wandel jüdischen Lebens <strong>in</strong><br />

Deutschland seit den 1990er-Jahren. Die Teilnahme<br />

an <strong>der</strong> Befragung dauert ca. 15 M<strong>in</strong>uten.<br />

Alle Angaben werden selbst verständ lich streng<br />

sie davon genug habe und nichts mehr hören<br />

wolle. Durch die KZs seien schließlich alle<br />

nur noch „gelatscht“, ohne sich für etwas zu<br />

<strong>in</strong>teressieren.<br />

Nachdem ich auf die Frage, welchen Stellenwert<br />

Jesus für die Juden habe, geantwortet<br />

hatte, er sei für Juden we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Sohn Gottes<br />

noch e<strong>in</strong> Prophet, empörte sich e<strong>in</strong>e<br />

deutsche Frau, ich hätte die Christen nicht<br />

gebührend gewürdigt. E<strong>in</strong> junger Deutscher,<br />

<strong>der</strong> jetzt <strong>in</strong> Österreich lebt, empörte sich<br />

über den grassierenden Antisemitismus <strong>der</strong><br />

letzten Zeit; beson<strong>der</strong>s die Rapper hätten<br />

da ganz böse Texte. Abschließend erwähnte<br />

er noch se<strong>in</strong>e Oma, die so alt ist wie ich,<br />

1942 geboren, und dass sie, weil sie auf dem<br />

Land gelebt habe, nichts von <strong>der</strong> Judenverfolgung<br />

mitbekommen habe.<br />

Aufgrund me<strong>in</strong>er Erfahrungen aus me<strong>in</strong>er<br />

Tätigkeit im Bereich <strong>der</strong> Erwachsenenbildung<br />

waren die Fragen nicht neu für mich.<br />

Neu für mich war lediglich die Erfahrung,<br />

dass ich warten musste, bis man mich fragt.<br />

Auch die negativen Reaktionen waren nicht<br />

neu für mich. Abschließend konnte ich feststellen:<br />

Es herrscht <strong>in</strong>sgesamt großes Interesse<br />

an jüdischen und israelischen Themen.<br />

Aber viele Menschen wissen zu wenig darüber,<br />

möchten aber gerne mehr erfahren.<br />

Von Miriam Magall gibt es das Buch: „Warum<br />

Adam ke<strong>in</strong>en Apfel bekam. Grundfragen des<br />

Judentums.“ Calwer Verlag, Stuttgart 2008.<br />

vertraulich, entsprechend <strong>der</strong> gelten den Datenschutz<br />

gesetze behandelt. Die Daten werden nur<br />

anonymisiert erhoben und ausge wer tet und auf<br />

ke<strong>in</strong>en Fall an Dritte weiter gegeben.<br />

Zur Befragung geht es über diesen L<strong>in</strong>k:<br />

ww2.unipark.de/uc/juedisches-museum<br />

Weitere Informationen zum Projekt f<strong>in</strong>den<br />

Sie auf unserer Internetseite:<br />

www.jmberl<strong>in</strong>.de/ma<strong>in</strong>/DE/03-Sammlungund-Forschung/Fellowship/Fellowship.php<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 15


Ton <strong>in</strong> Ton<br />

Neue Ausstellung im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong><br />

Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Ausstellung „Ton <strong>in</strong> Ton.<br />

Jüdische Keramiker<strong>in</strong>nen aus Deutschland<br />

nach 1933“ stehen vier Frauen, die <strong>in</strong> den<br />

1920er-Jahren zur Avantgarde <strong>der</strong> deutschen<br />

Keramikkunst gehörten: Margarete Heymann-<br />

Loebenste<strong>in</strong>, <strong>in</strong> zweiter Ehe Marks (1899–<br />

1990), Hedwig Grossmann (1902–1998), Hanna<br />

Charag-Zuntz (1915–2007) und Eva Samuel<br />

(1904–1989).<br />

Im Rahmen des Berl<strong>in</strong>er Themenjahrs „2013<br />

– Zerstörte Vielfalt“ zeichnet das Jüdische<br />

Museum Berl<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> Schau die künstlerische<br />

und berufliche Entwicklung <strong>der</strong> Frauen<br />

im Exil nach: Als jüdische Künstler<strong>in</strong>nen war<br />

es ihnen mit dem Erstarken des Nationalsozialismus<br />

nicht mehr möglich, <strong>in</strong> Deutschland<br />

zu arbeiten. Zwischen 1932 und 1940<br />

emigrierten sie nach Großbritannien und<br />

Paläst<strong>in</strong>a. Im Exil gelang den Künstler<strong>in</strong>nen<br />

zwischen Aufbruchstimmung und Enttäuschung<br />

e<strong>in</strong> Neuanfang. E<strong>in</strong>e Auswahl von<br />

mehr als 60 Keramikarbeiten für den alltäglichen<br />

und rituellen Gebrauch zeigt, wie die<br />

Frauen <strong>in</strong> ihrem R<strong>in</strong>gen um ihre künstlerische<br />

Identität neue Ausdrucksformen im<br />

Keramikdesign entwickelten.<br />

„Mehrere Jahre lang habe ich mich auf die<br />

Suche begeben, um anhand unterschiedlicher<br />

Quellen die Geschichten dieser Frauen nachzuzeichnen.<br />

Die Ausstellung legt daher nicht<br />

alle<strong>in</strong> den Fokus auf die künstlerische Qualität<br />

<strong>der</strong> Arbeiten, vielmehr haben die Stücke<br />

e<strong>in</strong>en historischen Wert und sie verdeutlichen<br />

die Lebenswege <strong>der</strong> Keramiker<strong>in</strong>nen“,<br />

sagt Michal Friedlan<strong>der</strong>, Kurator<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausstellung.<br />

Neuanfang <strong>in</strong> England<br />

Die Kölner<strong>in</strong> Margarete Heymann-Loebenste<strong>in</strong>,<br />

<strong>in</strong> zweiter Ehe Marks, gründete 1923 die<br />

erfolgreichen „Haël-Werkstätten für künstlerische<br />

Keramik“ <strong>in</strong> Velten, etwa 40 Kilometer<br />

nördlich von Berl<strong>in</strong>. Ihre Entwürfe zeichnen<br />

sich durch gewagte, mo<strong>der</strong>ne Formen,<br />

abstrakte Dekorationen und leuchtende<br />

Glasuren aus. Nachdem die Nationalsozialisten<br />

Margarete Heymann-Loebenste<strong>in</strong> 1933<br />

„staats fe<strong>in</strong>dliche Umtriebe“ vorgeworfen hatten,<br />

verkaufte sie ihre Keramikwerkstatt weit<br />

unter Wert an e<strong>in</strong> NSDAP-Mitglied. Neue<br />

künstlerische Leiter<strong>in</strong> wurde die junge Hedwig<br />

Bollhagen. 1935 erschien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er antisemitischen<br />

Zeitung e<strong>in</strong> Artikel, <strong>der</strong> Entwürfe<br />

von Heymann-Loebenste<strong>in</strong> und Bollhagen<br />

verglich und die bei Haël hergestellten Formen<br />

als „entartet“ diffamierte. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Teekannen,<br />

die den Artikel illustrieren, wird <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Ausstellung gezeigt. 1936 emigrierte Margarete<br />

Heymann-Loebenste<strong>in</strong>. Die Ausstellung<br />

folgt ihr nach England. Dort versuchte<br />

sie mit neuen Keramikprodukten unter dem<br />

Namen »Greta-Pottery« wie<strong>der</strong> Fuß zu fassen.<br />

Jedoch konnte sie an ihren großen Erfolg <strong>in</strong><br />

Deutschland nicht anknüpfen.<br />

Neuanfang <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a<br />

Die Berl<strong>in</strong>er<strong>in</strong> Hedwig Grossmann, die Hamburger<strong>in</strong><br />

Hanna Charag-Zuntz und Eva Samuel<br />

aus Essen gelten als Grün<strong>der</strong><strong>in</strong>nen <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen israelischen Keramikkunst. Sie kamen<br />

zwischen 1932 und 1940 nach Paläst<strong>in</strong>a.<br />

Ausgebildet <strong>in</strong> Deutschland, brachten sie<br />

hohe technische Fertigkeiten mit. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus verfügten sie über e<strong>in</strong>e ausgeprägte<br />

künstlerische Sensibilität, starke Durchsetzungskraft<br />

und den Willen, sich den neuen<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen zu stellen. Als Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

und Pionier<strong>in</strong>nen entwickelten die drei<br />

Künstler<strong>in</strong>nen neue Traditionen <strong>der</strong> Keramikkunst<br />

<strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a und Israel.<br />

Hedwig Grossmann zog nach Haifa und begann<br />

– auf <strong>der</strong> Suche nach Ton und an<strong>der</strong>en<br />

Rohstoffen – geologische Recherchen. Sie arbeitete<br />

ausschließlich mit Materialien aus<br />

<strong>der</strong> Umgebung und brannte ihre Stücke <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em selbst gebauten Holzofen. Dabei verzichtete<br />

sie auf Ornamente und verwendete<br />

nur selten Glasuren. Angelehnt an nahöstliche<br />

Keramikformen und archäologische<br />

Fundstücke suchte sie nach e<strong>in</strong>er neuen<br />

künstlerischen Sprache. Ihre Arbeiten bestechen<br />

durch kraftvolle Silhouetten und makelloses<br />

Handwerk.<br />

Hanna Charag-Zuntz begeisterte sich für das<br />

vergessene römische Töpferverfahren „Terra<br />

Sigillata“. Als Keramiker<strong>in</strong> von herausragendem<br />

technischem Geschick gelang es ihr, die<br />

Hanna Zuntz, 1936.<br />

Foto: Familiennachlass Hanna Charag-Zuntz<br />

Terra-Sigillata-Technik neu zu be<strong>leben</strong>. Sie<br />

verarbeitete dünne Tonschichten und brannte<br />

die Objekte bei großer Hitze. Dadurch erzielte<br />

sie ohne Glanzbrand o<strong>der</strong> Glasur<br />

schimmernde Oberflächen. Doch das genaue<br />

Geheimnis dieser Technik nahm sie mit <strong>in</strong>s<br />

Grab.<br />

Eva Samuel fand <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a zunächst e<strong>in</strong>e<br />

Anstellung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Jerusalemer Keramikmanufaktur.<br />

Dort wurde unter e<strong>in</strong>fachsten<br />

Bed<strong>in</strong>gungen gearbeitet. Die Künstler<strong>in</strong><br />

begann mit folkloristischen Figuren, angelehnt<br />

an die ethnischen Gruppen, die sie <strong>in</strong><br />

Paläst<strong>in</strong>a antraf. Diese Figuren verkauften<br />

sich gut <strong>in</strong> Jerusalemer Kunsthandwerksgeschäften.<br />

Bald eröffnete sie zusammen mit<br />

Paula Ahronson e<strong>in</strong>e eigene Werkstatt <strong>in</strong><br />

Rishon LeZion. Trotz <strong>der</strong> hohen Kosten importierten<br />

sie Glasuren aus Deutschland.<br />

Um besseren Ton zu erwerben, nahmen sie<br />

streckenweise lange Wege mit dem Pferdekarren<br />

<strong>in</strong> Kauf. In <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Werkstatt<br />

fertigten sie Haushaltskeramik wie Kannen,<br />

Vasen und Schüsseln <strong>in</strong> traditionellen<br />

europäischen Formen. Bei <strong>der</strong> Bemalung orientierte<br />

sich Eva Samuel, die ihre Laufbahn<br />

als Maler<strong>in</strong> begann, an den Motiven aus ihrer<br />

neuen Umgebung.<br />

Die Ausstellung wird bis zum 9. Februar<br />

2014 im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> gezeigt.<br />

Keramikmanufaktur Naaman, Acre.<br />

Foto: Moshe Milner.<br />

Margarete Heymann-Loebenste<strong>in</strong> <strong>in</strong> England.<br />

Foto: Familiennachlass Marks.<br />

16 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Gedenkraum Olympia-Attentat 1972<br />

Elf israelische Sportler und e<strong>in</strong>en deutschen<br />

Polizisten ermordeten arabische Terroristen<br />

am 5. September 1972 im Olympischen Dorf<br />

<strong>in</strong> München. Sie drangen <strong>in</strong> die Unterkünfte<br />

<strong>der</strong> israelischen Mannschaft e<strong>in</strong> und nahmen<br />

die Israelis, Teilnehmer <strong>der</strong> Olympischen<br />

Sommerspiele, als Geiseln. Auch dieses<br />

Ereignis zählt zu den traurigen Kapiteln<br />

<strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Olympischen Spiele.<br />

Zum 40. Jahrestag im vergangenen Jahr beteiligten<br />

sich M<strong>in</strong>isterpräsident Horst Seehofer<br />

und die bayerische Landesregierung<br />

an Gedenkfeiern <strong>in</strong> Deutschland und <strong>in</strong> Israel.<br />

Teilnehmer <strong>in</strong> Tel Aviv war auch <strong>Landesverband</strong>spräsident<br />

Josef Schuster (siehe<br />

dazu auch unser Heft Nr. 120 vom Dezember<br />

2012). Dabei wurde auch verabredet, für<br />

die israelischen Sportler e<strong>in</strong>en geeigneten<br />

Gedenkort e<strong>in</strong>zurichten. Die Fe<strong>der</strong>führung<br />

übernahm Kultusm<strong>in</strong>ister Ludwig Spaenle.<br />

E<strong>in</strong> Jahr später stellte er se<strong>in</strong> Konzept dafür<br />

jetzt <strong>in</strong> München vor.<br />

Demnach soll bis 2016 auf dem ehemaligen<br />

Olympiagelände e<strong>in</strong> pavillonartiger, gut zugänglicher<br />

Gedenkraum errichtet werden,<br />

als Ort <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung an das terroristische<br />

Attentat und die Opfer: elf israelische Sportler<br />

und e<strong>in</strong> bayerischer Polizist.<br />

„Auch heute macht diese Bluttat von Terroristen<br />

die Menschen <strong>in</strong> Bayern tief betroffen“,<br />

betonte <strong>der</strong> gebürtige Münchner Ludwig<br />

Spaenle. „Das Attentat im Umfeld <strong>der</strong><br />

friedlichen XX. Olympischen Spiele wirft<br />

Fragen zu den Ursachen, zum Ablauf und zu<br />

den Konsequenzen auf. Deshalb haben M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

Seehofer und ich im vergangenen<br />

Jahr bei e<strong>in</strong>em Israelbesuch angeregt,<br />

e<strong>in</strong>en Gedenkraum zu errichten“, so Dr.<br />

Spaenle. Dabei geht es dem M<strong>in</strong>ister um<br />

drei Kernanliegen. Er will an das Geschehene<br />

er<strong>in</strong>nern, das Geschehene erklären und<br />

daraus den Alltag gestalten.<br />

Inhaltlich sollen folgende Aspekte im Mittelpunkt<br />

des Gedenkortes stehen: das Attentat<br />

selbst, jene schockierenden Vorfälle<br />

am 5. und 6. September 1972 <strong>in</strong> München<br />

und Fürstenfeldbruck, die 11 israelischen<br />

Sportler und <strong>der</strong> bayerische Polizist als Opfer,<br />

<strong>der</strong> Zusammenhang, <strong>in</strong> dem das Massaker<br />

<strong>der</strong> XX. Olympischen Spiele <strong>in</strong> München<br />

1972 erklärt werden kann, <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationale<br />

Terrorismus und die Attentäter des<br />

„Schwarzen September“ sowie die Frage<br />

nach den Folgen, den Nachwirkungen und<br />

dem Er<strong>in</strong>nern.<br />

Der geplante Standort am Kolehma<strong>in</strong>enweg,<br />

e<strong>in</strong>e Anhöhe südlich <strong>der</strong> Connollystraße, ist<br />

gut erreichbar und eröffnet e<strong>in</strong>en Blick auf<br />

die Connollystraße 31 als authentischem Ort<br />

des Verbrechens und zugleich auf Symbole<br />

von Olympia 1972. „Das eigentliche Gebäude<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Connollystraße ist aufgrund <strong>der</strong><br />

heutigen Nutzung als Wohnhaus ungeeignet<br />

für e<strong>in</strong>en öffentlich zugänglichen Gedenkort“,<br />

sagt <strong>der</strong> M<strong>in</strong>ister. Der Tower des Fliegerhorsts<br />

Fürstenfeldbruck soll als zweiter<br />

„Tatort“ <strong>in</strong> den kommenden Jahren <strong>in</strong> das<br />

Gedenkkonzept mit e<strong>in</strong>bezogen werden.<br />

Die Konzeption des Gedenkortes ist im engen<br />

Dialog mit Angehörigen <strong>der</strong> Opfer, mit<br />

den zuständigen Behörden, <strong>der</strong> Bayerischen<br />

Landeszentrale für politische Bildungsarbeit<br />

sowie dem Generalkonsulat des Staates Israel<br />

erstellt worden. E<strong>in</strong>e Publikation und mediale<br />

Angebote, e<strong>in</strong>e App für Smartphones<br />

und e<strong>in</strong>e Website sollen den Gedenkort ergänzen.<br />

Die Reaktion aus Israel auf das Vorhaben<br />

ist erfreulich. „Die Initiative Bayerns ist für<br />

uns außerordentlich wichtig. Das Projekt<br />

wirkt sich positiv auf die deutsch-israelischen<br />

Beziehungen aus und das werden wir<br />

auch so äußern“, sagt Ilan Ben Dov, für<br />

Westeuropa zuständiger Abteilungsleiter im<br />

Kultusm<strong>in</strong>ister Dr. Ludwig Spaenle. Foto: StMUK<br />

israelischen Außenm<strong>in</strong>isterium. „Für uns ist<br />

München 72 e<strong>in</strong> historischer Begriff; es ist<br />

e<strong>in</strong> Trauma für me<strong>in</strong>e gesamte Generation.<br />

Jede israelische Gruppe, die im Rahmen des<br />

Jugendaustausches und <strong>der</strong> Bildungskooperation<br />

nach Deutschland kommt, soll diesen<br />

Ort besuchen.“<br />

brr.<br />

Hier war die israelische Mannschaft untergebracht. Der Gedenkort soll <strong>in</strong> diesem Umfeld entstehen.<br />

Foto: StMUK<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 17


ISRAEL-NACHRICHTEN<br />

60 Jahre erste Mission des Staates Israel <strong>in</strong> Deutschland<br />

Anlässlich des 60. Jahrestages <strong>der</strong> Eröffnung<br />

<strong>der</strong> ersten Mission des Staates Israel <strong>in</strong><br />

Deutschland wurde am 15. Oktober e<strong>in</strong>e Gedenktafel<br />

am Gebäude <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ottostraße 85,<br />

dem Sitz <strong>der</strong> Synagogen-Geme<strong>in</strong>de Köln, enthüllt.<br />

Im Anschluss lud Oberbürgermeister<br />

Jürgen Roters zu e<strong>in</strong>em Empfang <strong>in</strong>s Historische<br />

Rathaus <strong>der</strong> Stadt Köln e<strong>in</strong>. Botschafter<br />

a.D. Mordechay Lewy, ehemaliger Gesandter<br />

<strong>in</strong> Deutschland, er<strong>in</strong>nerte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag an<br />

die Meilenste<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />

Köln und Israel. Er begann mit den Worten:<br />

„Wir gedachten den Anfang e<strong>in</strong>er wun<strong>der</strong>baren<br />

Freundschaft, auch wenn die ersten<br />

Schritte traumatisch belastet waren. Seitdem<br />

haben sich die Beziehungen zu e<strong>in</strong>em engen,<br />

ja <strong>in</strong>timen Verhältnis fortentwickelt.“<br />

Gedenktafel am Gebäude <strong>der</strong> Ottostraße 85.<br />

Foto: Y. Shermayahu<br />

Yakov Hadas-Handelsman, Botschafter des<br />

Staates Israel, Mordechay Lewy, Botschafter<br />

a.D., und Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied<br />

<strong>der</strong> Synagogen-Geme<strong>in</strong>de Köln, trugen sich<br />

im Rahmen des Empfangs <strong>in</strong> das Gästebuch<br />

<strong>der</strong> Stadt Köln e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> weiterer Höhepunkt<br />

des Tages war die Diskussionsrunde „Town<br />

Hall Meet<strong>in</strong>g“ mit Oberbürgermeister Jürgen<br />

Roters, dem Gesandten <strong>der</strong> Israelischen Botschaft,<br />

Emmanuel Nahshon, sowie Kölner<br />

Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern, die an e<strong>in</strong>em<br />

Austauschprogramm zwischen den Partnerstädten<br />

Köln und Tel Aviv-Yafo teilnehmen.<br />

Botschafter Hadas-Handelsman trägt sich <strong>in</strong>s Gästebuch<br />

<strong>der</strong> Stadt Köln e<strong>in</strong>. Im H<strong>in</strong>tergrund v.l.n.r. Emmanuel<br />

Nahshon, Gesandter <strong>der</strong> Botschaft; Abraham<br />

Lehrer; Oberbürgermeister Jürgen Roters;<br />

Mor dechay Lewy, Botschafter a.D. Foto: Y. Shermayahu<br />

Köln ist Sitz <strong>der</strong> ältesten, schriftlich dokumentierten<br />

jüdischen Geme<strong>in</strong>de nördlich <strong>der</strong> Alpen<br />

und war Ende des 19. und Anfang des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Sitz wichtiger zionistischer<br />

Organisationen. Botschafter Yakov Hadas-<br />

Handelsman unterstrich an diesem Tag voller<br />

Begegnungen die E<strong>in</strong>zigartigkeit <strong>der</strong> bilateralen<br />

Beziehungen zwischen Deutschland und<br />

Israel: „Gerade <strong>in</strong> Köln manifestiert sich diese<br />

enge Beziehung zwischen unseren beiden<br />

Staaten. Es besteht e<strong>in</strong> enger Austausch im<br />

Bereich <strong>der</strong> Städtepartnerschaft zwischen<br />

Köln und Tel Aviv-Yafo, aber auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Bereichen wie Kultur und Jugendaustausch<br />

kommen viele Kölner und Israelis zusammen.“<br />

Die Städtepartnerschaft wurde 1979<br />

offiziell geschlossen, aber schon 1960 reisten<br />

unter schwierigen Bed<strong>in</strong>gungen die ersten<br />

Schüler aus Köln zu e<strong>in</strong>em Jugendaustausch<br />

nach Israel.<br />

Kölns Oberbürgermeister Roters hob hervor,<br />

dass viele Grundste<strong>in</strong>e für die heutigen guten<br />

Beziehungen <strong>in</strong> Köln gelegt wurden. Die Kölner<br />

Stadtgeschichte ist für ihn wie e<strong>in</strong> Spiegelbild<br />

<strong>der</strong> wechselvollen Historie zwischen<br />

Christen und Juden sowie Israelis und Deutschen.<br />

„Die Geschichte zwischen unseren beiden<br />

Völkern ist nicht Vergangenheit. Sie<br />

bleibt Gegenwart. Sie trennt nicht, son<strong>der</strong>n<br />

verb<strong>in</strong>det uns. Wenn wir heute mit <strong>der</strong> Ent-<br />

hüllung e<strong>in</strong>er Gedenktafel an die E<strong>in</strong>richtung<br />

<strong>der</strong> ersten Mission des wenige Jahre zuvor gegründeten<br />

Staates Israel er<strong>in</strong>nern, blicken wir<br />

nicht nur zurück, son<strong>der</strong>n verabreden uns auf<br />

die vor uns liegende geme<strong>in</strong>same Zukunft, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> das Existenzrecht des Staates Israel <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalen Völkergeme<strong>in</strong>schaft hoffentlich<br />

bald so selbstverständlich se<strong>in</strong> wird wie<br />

das Existenzrecht jedes an<strong>der</strong>en Mitglieds <strong>der</strong><br />

Vere<strong>in</strong>ten Nationen.“ Er fuhr fort, dass es<br />

„fast an e<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> grenzt, dass Israel nach<br />

all den Schrecken die Hand als Zeichen <strong>der</strong><br />

Versöhnung ausgestreckt hat. Wir haben die<br />

Hand ergriffen, haben die Hand festgehalten<br />

und werden sie auch weiterh<strong>in</strong> festhalten.“<br />

V.l.n.r. Oberbürgermeister Jürgen Roters, Botschafter<br />

Yakov Hadas-Handelsman, Abraham Lehrer.<br />

Foto: Y. Shermayahu<br />

2015 wird sich die Aufnahme <strong>der</strong> diplomatischen<br />

Beziehungen zwischen Deutschland<br />

und Israel zum 50. Mal jähren. Doch schon<br />

wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges und <strong>der</strong> Schoa stimmten die Regierungen<br />

bei<strong>der</strong> Län<strong>der</strong> dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, dass<br />

nur die bilaterale Kooperation zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />

Zukunft führen kann. Das Resultat<br />

war die Eröffnung <strong>der</strong> Israelischen Mission<br />

<strong>in</strong> Köln im Jahr 1953 unter Leitung von Felix<br />

Sh<strong>in</strong>nar. Se<strong>in</strong>e diplomatische Mission war die<br />

Wie<strong>der</strong>aufnahme und Aufrechterhaltung e<strong>in</strong>es<br />

produktiven Dialogs mit <strong>der</strong> deutschen<br />

Regierung.<br />

Israel-Botschaft und Stadt Köln 15.10.13<br />

Zusammenarbeit <strong>der</strong> Gedenkstätte Yad Vashem<br />

mit deutschen Bildungse<strong>in</strong>richtungen<br />

Der israelische Bildungsm<strong>in</strong>ister Sha<strong>in</strong> Piron<br />

empf<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Jerusalem e<strong>in</strong>e Delegation <strong>der</strong><br />

Kultusm<strong>in</strong>isterkonferenz unter <strong>der</strong> Leitung<br />

des KMK-Präsidenten Stephan Dorgeloh. Im<br />

Mittelpunkt des Treffens stand die Unterzeichnung<br />

e<strong>in</strong>er wegweisenden Erklärung für<br />

die Zusammenarbeit <strong>der</strong> Gedenkstätte Yad<br />

Vashem mit <strong>der</strong> Kultusm<strong>in</strong>isterkonferenz<br />

und deutschen Bildungse<strong>in</strong>richtungen. Damit<br />

wurde zum ersten Mal e<strong>in</strong>e län<strong>der</strong>übergreifende<br />

Zusammenarbeit <strong>der</strong> beiden Seiten<br />

vere<strong>in</strong>bart, die über die schon bestehenden<br />

Vere<strong>in</strong>barungen zwischen Yad Vashem<br />

und e<strong>in</strong>zelnen Bundeslän<strong>der</strong>n h<strong>in</strong>aus geht<br />

und die e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Schwerpunkt auf<br />

die Fortbildung von Lehrern und die Ausbildung<br />

von Lehramtsstudenten <strong>in</strong> Deutschland<br />

legt.<br />

KMK-Präsident Dorgerloh sagte: „Es bleibt<br />

unser tiefempfundenes Anliegen, das Andenken<br />

an die Schoa gerade auch bei jungen<br />

KMK-Präsident Dorgerloh und Avner Shalev, Direktor<br />

von Yad Vashem (l<strong>in</strong>ks) vor dem Childrens<br />

Memorial <strong>in</strong> Yad Vashem.<br />

Foto: KMK<br />

Menschen und künftigen Generationen zu<br />

bewahren, um sie dafür zu sensibilisieren,<br />

dass Menschenrechte, Toleranz und Demokratie<br />

Werte s<strong>in</strong>d, die es täglich auf das Neue<br />

zu verteidigen gilt und die Denken und Handeln<br />

jedes E<strong>in</strong>zelnen prägen müssen. Die<br />

Geschichte des Holocaust muss <strong>in</strong> den deutschen<br />

Schulen weiter vertieft werden – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergrund, dass es immer<br />

weniger Zeitzeugen gibt, die e<strong>in</strong> authentisches<br />

Bild vermitteln können. Sie wird damit<br />

zu e<strong>in</strong>em selbstverständlichen Teil <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerungskultur.<br />

Zugleich ist uns sehr daran<br />

gelegen, im Schulunterricht bei<strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong> zeitgemäßes Bild von <strong>der</strong> Politik, Gesellschaft,<br />

Religion und Kultur aufzuzeigen.“<br />

Die Erklärung wurde neben den M<strong>in</strong>istern<br />

Stephan Dorgerloh und Shai Piron auch vom<br />

18 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Leiter <strong>der</strong> Gedenkstätte Yad Vashem unterzeichnet.<br />

Zu den geme<strong>in</strong>samen Zielen heißt<br />

es dar<strong>in</strong>, man wolle „e<strong>in</strong>e ständige und umfassende<br />

Zusammenarbeit mit dem Ziel för<strong>der</strong>n,<br />

Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern sowie Studierenden<br />

Unterricht über die Geschichte<br />

des jüdischen Vorkriegs<strong>leben</strong>s <strong>in</strong> Europa sowie<br />

des Holocaust <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er altersangemessenen<br />

und wirksamen Weise im Rahmen von<br />

Bildungs<strong>in</strong>stitutionen <strong>in</strong> ganz Deutschland<br />

angedeihen zu lassen.“<br />

Konkret bedeutet dies: „die Übermittlung<br />

und den Austausch von Informationen und<br />

Gedanken zwischen Yad Vashem und deutschen<br />

pädagogischen E<strong>in</strong>richtungen, Hochschulen,<br />

Holocaust-Gedenkstätten, Museen<br />

und Organisationen <strong>in</strong> allen sechzehn Län<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland zu<br />

för<strong>der</strong>n; die professionelle Entwicklung von<br />

Programm<strong>in</strong>halten für deutsche Pädagogen,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aus denjenigen Län<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

KMK-Präsident Stephan Dorgerloh, M<strong>in</strong>ister Shai<br />

Piron und Avner Shalev (Yad Vashem) unterzeichnen<br />

die geme<strong>in</strong>same Erklärung.<br />

Foto: Bildungsm<strong>in</strong>isterium<br />

Bundesrepublik Deutschland, die noch ke<strong>in</strong>e<br />

professionelle Arbeitsbeziehung mit Yad<br />

Vashem pflegen, zu för<strong>der</strong>n; die Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> koord<strong>in</strong>ierten Ausrichtung e<strong>in</strong>er Konferenz<br />

über Lehrmethoden <strong>in</strong> Bezug auf den<br />

Holocaust und jüdisches Vorkriegs<strong>leben</strong> zu<br />

prüfen; den Unterricht zum Thema Holocaust<br />

<strong>in</strong> den Lehrplänen aller sechzehn Län<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland weiter<br />

zu verankern.“<br />

An dem Gespräch mit Bildungsm<strong>in</strong>ister Shai<br />

Piron nahmen neben M<strong>in</strong>ister Dorgerloh unter<br />

an<strong>der</strong>em auch M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Dr. Mart<strong>in</strong>a<br />

Münch (Brandenburg), Senator Ties Rabe<br />

(Hamburg) und Staatsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Brunhild<br />

Kurth (Sachsen) teil. Weitere Themen waren<br />

neben <strong>der</strong> Erklärung mit Yad Vashem die<br />

Vermittlung e<strong>in</strong>es zeitgemäßen Bildes von<br />

Israel im deutschen Schulunterricht, die För<strong>der</strong>ung<br />

des deutsch-israelischen Schüler-,<br />

Jugend- und Lehreraustausches, die deutschisraelische<br />

Schulbuchkommission, die Umwelterziehung<br />

und <strong>der</strong> Austausch über geme<strong>in</strong>same<br />

Wertvorstellungen und bildungspolitische<br />

Maßnahmen für die Integration<br />

von Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund<br />

<strong>in</strong> beiden Län<strong>der</strong>n.<br />

Israel-Botschaft und KMK 23.10.13<br />

Lehrer beschäftigen sich mit Israelbild <strong>in</strong> deutschen Schulbüchern<br />

Seit 2011 analysiert die Deutsch-Israelische<br />

Schulbuchkommission Schulbücher bei<strong>der</strong><br />

Län<strong>der</strong>. Nachdem im vergangenen Jahr erste<br />

Untersuchungsergebnisse durch die Wissenschaftler<br />

vorgestellt worden waren, kamen<br />

nun Praktiker <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zusammen, um über<br />

das Thema zu diskutieren.<br />

Auf E<strong>in</strong>ladung des Berl<strong>in</strong>er Bildungssenats,<br />

des Brandenburgischen Bildungsm<strong>in</strong>isteriums,<br />

des Landes<strong>in</strong>stituts für Schule und Medien<br />

Berl<strong>in</strong>-Brandenburg (LISUM), <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />

Yad Vashem und <strong>der</strong> Botschaft<br />

des Staates Israel versammelten sich Lehr-<br />

Dr. Dirk Sadowski während se<strong>in</strong>es Vortrags.<br />

Foto: Botschaft<br />

kräfte und Multiplikatoren zur Konferenz<br />

„Israel im Schulbuch und <strong>in</strong> <strong>der</strong> schulischen<br />

Praxis“.<br />

In se<strong>in</strong>em Grußwort drückte Botschafter<br />

Yakov Hadas-Handelsman die Freude darüber<br />

aus, dass dieses Thema vertieft diskutiert<br />

wird, denn „Israel wird sehr oft verzerrt<br />

und e<strong>in</strong>seitig dargestellt – auch <strong>in</strong> Schulbüchern“.<br />

Der Berl<strong>in</strong>er Staatssekretär für<br />

Bildung, Mark Rackles, erhoffte sich für den<br />

Tag e<strong>in</strong>e Sensibilisierung bei den Lehrkräften.<br />

Der Direktor des LISUMs, Dr. Götz<br />

Bieber, zeigte sich überzeugt, dass e<strong>in</strong>e Konferenz<br />

wie diese Vorurteile abbauen könne,<br />

denn Israel würde zu häufig nur mit dem<br />

Nahost-Konflikt <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht.<br />

Für Dr. Dirk Sadowski vom Georg-Eckert-Institut<br />

für <strong>in</strong>ternationale Schulbuchforschung,<br />

<strong>der</strong> die Kommission mit se<strong>in</strong>em israelischen<br />

Kollegen Arie Kizel koord<strong>in</strong>iert, war die<br />

Konferenz e<strong>in</strong>e Gelegenheit, erste Ergebnisse<br />

mit Pädagogen zu diskutieren. Wie wirken<br />

Bil<strong>der</strong> auf Jugendliche? Wie empfänglich<br />

s<strong>in</strong>d sie für Emotionen? Wie wird man <strong>der</strong><br />

Multiperspektivität gerecht?<br />

Anwesende Pädagogen sahen durchaus<br />

Schwierigkeiten im Umgang mit deutschen<br />

Schulbüchern <strong>in</strong> Bezug auf Israel. „Manche<br />

Abbildungen s<strong>in</strong>d zu komplex für me<strong>in</strong>e<br />

Schüler“, berichtete e<strong>in</strong> Lehrer. An<strong>der</strong>e besche<strong>in</strong>igten,<br />

dass „die Kontextualisierung<br />

enorm wichtig sei“. Es stehe nichts Falsches<br />

<strong>in</strong> den Büchern, aber es stehe nicht immer<br />

alles im richtigen Kontext.<br />

In e<strong>in</strong>em zweiten Teil <strong>der</strong> Konferenz beschäftigten<br />

sich die Teilnehmenden mit den Werten,<br />

die Deutschland und Israel verb<strong>in</strong>den,<br />

sowie mit Best-Practice-Beispielen aus dem<br />

pädagogischen Bereich. Prof. Dr. Doron Kiesel<br />

legte se<strong>in</strong>e Überlegungen zur Wertegeme<strong>in</strong>schaft<br />

zwischen Deutschland und Israel<br />

dar. E<strong>in</strong> Hauptaugenmerk lag auf den Themen<br />

E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ung und Vielfalt, bei denen<br />

„Israel als Lernlabor für Deutschland“ dienen<br />

könne.<br />

E<strong>in</strong> Ansatz, <strong>der</strong> auch für Schulbuchverlage<br />

<strong>in</strong>teressant se<strong>in</strong> könnte. Denn dies wäre e<strong>in</strong>es<br />

von vielen Themen, das die israelische<br />

Realität aus an<strong>der</strong>em Blickw<strong>in</strong>kel darstellt<br />

und den Schülern e<strong>in</strong>en umfassen<strong>der</strong>en Blick<br />

auf das Land bieten würde.<br />

Israel-Botschaft 24.10.2013<br />

Digitale Revolution <strong>in</strong> Tel Aviv<br />

Die Stadtverwaltung Tel Aviv-Jaffa hat das<br />

Projekt e<strong>in</strong>es stadtweiten Wi-Fi-Netzes gestartet.<br />

Wie die Stadtverwaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> vergangenen<br />

Woche bekannt gab, s<strong>in</strong>d bereits 60 <strong>der</strong> <strong>in</strong>sgesamt<br />

80 Hotspots aktiv, die Besuchern und<br />

Bewohnern <strong>der</strong> Stadt je<strong>der</strong>zeit freien Internetzugang<br />

ermöglichen. Die Hotspots f<strong>in</strong>den<br />

sich entlang <strong>der</strong> Küste, vom Dolph<strong>in</strong>arium bis<br />

zum Hafen, entlang <strong>der</strong> Hauptstraßen Dizengoff<br />

und Ben-Gurion, ebenso an weiteren<br />

zentralen Punkten wie dem Kedumim-Platz<br />

<strong>in</strong> Jaffa, im Tel-Aviv-Museum, dem Suzanne-<br />

Dellal-Zentrum und dem Yarkon-Park.<br />

Die Reichweite <strong>der</strong> Hotspots beträgt etwa 100<br />

bis 150 Meter, wobei das Signal stark genug<br />

se<strong>in</strong> soll, um bequem Mails zu lesen und die<br />

eigene Facebookseite zu aktualisieren – nicht<br />

jedoch, um beispielsweise Filme herunterzuladen.<br />

Die Stadt Tel Aviv-Jaffa ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten<br />

Städte weltweit, die diesen Service zur Verfügung<br />

stellt. Damit verfolgt sie weiter die<br />

Strategie, Tel Aviv als Startup-City und als<br />

Zen trum von Innovation und Kreativität zu<br />

positionieren.<br />

Für den Initiatoren <strong>der</strong> Aktion, Alon Solar<br />

von <strong>der</strong> Stadtverwaltung Tel Avivs, ist das Wi-<br />

Fi-Netz daher nur e<strong>in</strong> folgerichtiger Schritt:<br />

„Die Stadt zieht kont<strong>in</strong>uierlich <strong>in</strong>novative Unternehmen<br />

an. Im Kommunika tionszeitalter<br />

ist <strong>der</strong> Zugang zu freiem Internet e<strong>in</strong> grundlegen<strong>der</strong><br />

Service.“<br />

Israel-Botschaft 16.9.13 Karte Tel Avivs mit Hotspots. Foto: Stadt Tel Aviv<br />

Nachdruck aus: Newsletter <strong>der</strong> Botschaft des Staates Israel, mit freundlicher Genehmigung.<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 19


AUS DEN JÜDISCHEN GEMEINDEN IN BAYERN<br />

„An<strong>der</strong>e jüdische Erfahrungen machen“<br />

Gespräch mit Dr. Josef Schuster über die <strong>Landesverband</strong>smitgliedschaft und über Fortbildungen für Mohalim<br />

Benno Reicher: Herr Dr. Schuster, die Israelitische<br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg ist vor<br />

über 20 Jahren aus dem <strong>Landesverband</strong> ausgetreten.<br />

Das hatte wohl auch etwas mit den<br />

damaligen Personen zu tun. Können Sie sich<br />

vorstellen, die Nürnberger Geme<strong>in</strong>de wie<strong>der</strong><br />

als Mitglied aufzunehmen?<br />

Dr. Josef Schuster: Vorstellen kann ich mir<br />

das schon.<br />

BR: Und…<br />

JS: Und…, zunächst ist das doch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne<br />

Angelegenheit <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

Nürnberg. Ich habe ke<strong>in</strong>e Ahnung,<br />

wie dort das Me<strong>in</strong>ungsbild zu dieser Frage<br />

aussieht. Ich kann mir aber vorste llen, dass<br />

man diese Frage <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de sehr ausführlich<br />

diskutieren wird. Und das ist auch<br />

richtig so, denn die Geme<strong>in</strong>de muss ja zuerst<br />

klar sagen können, ob sie das will. Aber<br />

wenn sich die Geme<strong>in</strong>de-Gremien für e<strong>in</strong>e<br />

Mitgliedschaft im <strong>Landesverband</strong> entscheiden,<br />

dann sollten sie diese bei uns beantragen.<br />

Unsere zuständigen Gremien werden<br />

den Antrag dann beraten und e<strong>in</strong>e vernünftige<br />

Entscheidung treffen.<br />

BR: Warum sollten die Nürnberger das eigentlich<br />

wollen?<br />

JS: Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn das<br />

müssen die Nürnberger Kollegen selbst herausf<strong>in</strong>den.<br />

Was ich aber sagen kann, und das<br />

ist ke<strong>in</strong>e neue Erkenntnis, Nürnberg war früher<br />

Mitglied im <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultusgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern, auch unserer<br />

Vorgängerorganisationen, und Nürnberg<br />

liegt doch immer noch <strong>in</strong> Bayern, also,<br />

historisch und geografisch betrachtet ist die<br />

Zuordnung ziemlich klar.<br />

BR: Aber was hätten die Nürnberger denn<br />

von e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft?<br />

JS: Unsere Mitglie<strong>der</strong> werden, und das kann<br />

ich ganz allgeme<strong>in</strong> sagen, durch den <strong>Landesverband</strong><br />

überregional auf allen wichtigen<br />

Ebenen vertreten, z. B. gegenüber <strong>der</strong> Bayerischen<br />

Landesregierung. Als Dach organisation<br />

hat man da wohl an<strong>der</strong>e Mög lichkeiten<br />

und Kontakte. Ich muss betonen:<br />

unsere Mitglie<strong>der</strong> verlieren nicht ihre Unabhängigkeit.<br />

Im Verband und im Verbund<br />

verstehen wir aber unsere Anliegen als geme<strong>in</strong>same<br />

Interessen. Wir s<strong>in</strong>d mit dieser<br />

Politik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz guten Situation und das<br />

wäre sicher nicht so, wenn jede Geme<strong>in</strong>de<br />

„ihre eigene Suppe kochen“ würde.<br />

BR: Das betrifft die Arbeit nach außen. Aber<br />

wo profitieren die Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> von<br />

<strong>der</strong> Verbandsarbeit?<br />

JS: Das tun sie an ganz vielen Stellen, z. B. <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Jugendarbeit. Durch unsere überregionalen<br />

Jugendaktivitäten haben die jungen<br />

Leute die Möglichkeit, Freunde aus an<strong>der</strong>en<br />

Geme<strong>in</strong>den zu treffen, mit ihnen zu lernen<br />

und neue Erfahrungen zu sammeln. Für unsere<br />

Geme<strong>in</strong>den ist es wichtig, dass gerade<br />

die jungen Menschen an<strong>der</strong>e jüdische Erfahrungen<br />

machen.<br />

BR: Sie haben als Zentralrats-Vize Anfang<br />

Oktober <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Fortbildung für Mohalim<br />

durchgeführt. Das ist das erste Mal,<br />

dass so etwas gemacht wurde. Wie kam es<br />

dazu?<br />

JS: Sie werden sich an die heftige öffentliche<br />

Diskussion im vergangenen Jahr er<strong>in</strong>nern.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Urteil des Landgerichtes Köln<br />

wurde plötzlich die Brit Mila, e<strong>in</strong> traditionelles<br />

und sehr altes jüdisches Ritual, als Körperverletzung<br />

angesehen und mit dem Ziel<br />

diskutiert, unser Ritual zu verbieten. Für viele<br />

Menschen war damals <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskussion<br />

nicht zu verstehen, dass <strong>der</strong> E<strong>in</strong>griff erfolgt,<br />

ohne dass tatsächlich mediz<strong>in</strong>ische Probleme<br />

entstehen. Ich kann verstehen, dass man,<br />

wenn man unser Ritual und die jahrhun<strong>der</strong>tealte<br />

Praxis nicht kennt, also ke<strong>in</strong>e Ahnung<br />

hat, dass man sich dann Sorgen macht. Wir<br />

<strong>leben</strong> heute ja nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em isolierten<br />

Raum. Auch wir werden öffentlich betrachtet<br />

und nehmen die Sorgen sehr ernst. Der Gesetzgeber<br />

hat dann vor e<strong>in</strong>em Jahr wichtige<br />

Standards für die Brit Mila festgeschrieben<br />

und als Arzt kann ich die <strong>in</strong> vollem Umfang<br />

unterschreiben.<br />

BR: Was sagt das neue Gesetz und was ist da<br />

wirklich neu?<br />

JS: Das Gesetz betont das K<strong>in</strong>deswohl, es<br />

for<strong>der</strong>t vom Mohel die E<strong>in</strong>haltung von<br />

Grundsätzen <strong>der</strong> Hygiene und <strong>der</strong> Instrumentensterilität<br />

und es for<strong>der</strong>t die Elternaufklärung.<br />

Das Gesetz verbietet die Metzitzah<br />

B’peh, also das Absaugen mit dem Mund,<br />

und es sagt, dass die Brit <strong>in</strong> den ersten sechs<br />

Monaten erfolgen muss. Danach verlangt das<br />

Gesetz, dass e<strong>in</strong> Arzt dabei se<strong>in</strong> muss, <strong>der</strong><br />

bei Problemen fachlich reagieren kann. Die<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Standards s<strong>in</strong>d nicht wirklich<br />

neu. Natürlich wird e<strong>in</strong>e Brit Mila heute<br />

nicht durchgeführt wie vor 500 Jahren. Was<br />

die Sterilität <strong>der</strong> Instrumente betrifft, so gibt<br />

es ja heute E<strong>in</strong>malsets wie <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en<br />

Bereichen <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> auch und es gibt<br />

heute für die Schmerzbekämpfung die Emla-<br />

Creme. Nicht nur <strong>in</strong> diesen beiden Punkten<br />

unterscheidet sich heute e<strong>in</strong>e Brit Mila von<br />

dem historischen Szenarium.<br />

BR: Wenn das alles schon so klar ist, warum<br />

sollen dann Mohalim den Kurs machen und<br />

das Zentralrats-Zertifikat erwerben?<br />

JS: Zum ersten Mal gibt es jetzt e<strong>in</strong>e juristische<br />

Def<strong>in</strong>ition von Brit Mila. Um sich nicht<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em rechtsfreien Raum zu bewegen,<br />

sollte je<strong>der</strong> Mohel, auch je<strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Bereich<br />

tätige Arzt, das Gesetz und alle Inhalte<br />

kennen. Mit unserem Zertifikat kann <strong>der</strong><br />

Mohel nachweisen, dass er zu diesen Inhalten<br />

e<strong>in</strong>e qualifizierte Fortbildung gemacht<br />

hat. Und das gab es bisher nicht.<br />

BR: Welche Inhalte haben Sie auf dem Fortbildungssem<strong>in</strong>ar<br />

vermittelt?<br />

JS: Wir hatten e<strong>in</strong>en Programmpunkt zum<br />

neuen Gesetz. Dafür konnten wir den Würzburger<br />

Ord<strong>in</strong>arius für öffentliches Recht<br />

Prof. Dr. Kyrill-A. Schwarz gew<strong>in</strong>nen. Er hat<br />

vor allem dargestellt, was das Gesetz vom<br />

Mohel for<strong>der</strong>t und er hat die Rechtslage bewertet.<br />

Dann haben sich zwei Ärzte mit den<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Fragen beschäftigt. Prof. Dr.<br />

Hans Kristof Graf, <strong>der</strong> Chefarzt des Jüdischen<br />

Krankenhauses Berl<strong>in</strong>, hat über die<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Abläufe, die Schmerzbehandlung<br />

und die Risiken gesprochen und Dr.<br />

Mart<strong>in</strong> Müller, <strong>der</strong> Hygienebeauftragte im<br />

Jüdischen Krankenhaus, hat die Fragen <strong>der</strong><br />

Instrumentensterilität und <strong>der</strong> Hygienevorschriften<br />

bearbeitet.<br />

BR: Und was besche<strong>in</strong>igt das Zentralrats-<br />

Zertifikat dem Mohel?<br />

JS: Unser Zertifikat besche<strong>in</strong>igt die Teilnahme<br />

an e<strong>in</strong>er Fortbildung mit den genannten<br />

Inhalten. In e<strong>in</strong>er juristischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

kann das nützlich se<strong>in</strong>. Ich muss betonen,<br />

dass es so e<strong>in</strong>en Nachweis bisher nicht<br />

gab. Als Arzt und auch als Zentralratsvorstand<br />

möchte ich ergänzen, dass zertifizierte<br />

Qualifizierungsmaßnahmen absolut richtig<br />

s<strong>in</strong>d. Und den Eltern gibt das Zertifikat natürlich<br />

auch zusätzliche Sicherheit.<br />

BR: Wird es weitere Fortbildungen geben?<br />

JS: Ich gehe davon aus, dass sich e<strong>in</strong>e weitere<br />

Nachfrage entwickeln wird. In unserer<br />

Gesellschaft, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>, wird berufliche<br />

Qualifikation immer wichtiger und<br />

auch je<strong>der</strong> Arzt muss heutzutage se<strong>in</strong>e Fortbildungen<br />

machen. Bezogen auf die Beschneidung<br />

wird <strong>der</strong> Zentralrat sie also wie<strong>der</strong><br />

anbieten.<br />

20 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


at <strong>der</strong> Juden for<strong>der</strong>t bereits seit Jahren, dass<br />

diese Partei nicht nur geächtet, son<strong>der</strong>n vom<br />

Parteienprivileg ausgeschlossen und somit<br />

endlich verboten wird. Dass die Verbreitung<br />

von braunem Gift sogar auch noch mit<br />

Steuer mitteln f<strong>in</strong>anziert wird, kann schließlich<br />

ke<strong>in</strong> vernünftiger Mensch im Land jemals<br />

verstehen. E<strong>in</strong> entschlossenes und vor<br />

allem auch e<strong>in</strong> geschlossenes Handeln <strong>der</strong><br />

Verfassungsorgane würde e<strong>in</strong> wichtiges politisches<br />

Zeichen gegen den von <strong>der</strong> NPD propagierten<br />

Menschenhass setzen.<br />

Es wäre daher mehr als wünschenswert, dass<br />

sich die neue Bundesregierung, aber auch <strong>der</strong><br />

neue Bundestag dem Verbotsantrag des Bundesrats,<br />

<strong>der</strong> nun sicher kommen wird, mit Entschlossenheit<br />

anschließen. E<strong>in</strong> solcher Verbotsantrag<br />

än<strong>der</strong>t natürlich gar nichts daran,<br />

dass wir alle weiterh<strong>in</strong> auf allen Ebenen gegen<br />

die Auswüchse von Faschismus und Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />

zu kämpfen haben. Je<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />

ist weiterh<strong>in</strong> gefor<strong>der</strong>t, sich gegen<br />

den braunen Hass zu stellen und für die Toleranz<br />

e<strong>in</strong>zustehen. Die neue Bundesregierung<br />

könnte und sollte durch e<strong>in</strong>en positiven Entscheid<br />

für e<strong>in</strong>en Verbotsantrag <strong>in</strong> Karlsruhe<br />

aber gleich am Anfang e<strong>in</strong> resolutes Signal<br />

setzen, das gewiss im ganzen Land gehört<br />

werden würde.“<br />

Amberg<br />

Amberg hat neuen Rabb<strong>in</strong>er<br />

Nachruf Arno Hamburger<br />

Der wichtigste Moment<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben<br />

Zu se<strong>in</strong>em 90. Geburtstag Anfang dieses Jahres<br />

schrieb Leibl Rosenberg <strong>in</strong> unserem<br />

Pessach-Heft über ihn: „Er ist <strong>der</strong> <strong>leben</strong>de Beweis<br />

dafür, dass es möglich ist, e<strong>in</strong> heimatverbundener<br />

Lokalpatriot und e<strong>in</strong> kämpferischer<br />

Jude zu se<strong>in</strong>.“ Arno Hamburger war seit 1966<br />

die dom<strong>in</strong>ierende Persönlichkeit <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg und seit<br />

1972 saß er für die SPD im Nürnberger Stadtrat.<br />

Ende September verstarb Arno Hamburger<br />

im Alter von 90 Jahren.<br />

Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly<br />

würdigte ihn als „politisch-moralische Instanz“.<br />

Er habe nach dem Zweiten Weltkrieg stets<br />

versucht, den Ruf Nürnbergs wie<strong>der</strong> herzustellen<br />

und gegen Rechtsextremismus gekämpft.<br />

„Er war e<strong>in</strong> Lokalpatriot im besten<br />

S<strong>in</strong>ne“, erklärte Maly, „e<strong>in</strong> Stadtrat im ursprünglichen<br />

S<strong>in</strong>ne, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> poltern konnte,<br />

aber immer den Kompromiss gesucht hat“.<br />

Und <strong>der</strong> ehemalige Bayerische M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

Günther Beckste<strong>in</strong> erklärte: „Er hat dafür<br />

gesorgt, dass Nürnberg e<strong>in</strong>e Stadt des Friedens<br />

und <strong>der</strong> Versöhnung geworden ist. E<strong>in</strong><br />

wun<strong>der</strong>barer Demokrat und Brücken bauer.“<br />

Geboren 1923 <strong>in</strong> Nürnberg, erlebte Arno<br />

Hamburger, wie se<strong>in</strong>e Heimatstadt nach 1933<br />

e<strong>in</strong>e Hochburg <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Bewegung wurde. Nach den Pogromen vom<br />

9. November 1938, die <strong>der</strong> Junge miter<strong>leben</strong><br />

Zur aktuellen Debatte um e<strong>in</strong>e Beteiligung<br />

<strong>der</strong> neuen Bundesregierung am NPD-Verbotsantrag<br />

erklärte ZR-Präsident Dr. Dieter<br />

Graumann Ende Oktober:<br />

„Die neue Bundesregierung sollte gleich mit<br />

dem richtigen Schritt und e<strong>in</strong>em geglückten<br />

Startsignal beg<strong>in</strong>nen: Wir hoffen deshalb<br />

sehr, dass die Frage zum NPD-Verbotsantrag<br />

<strong>in</strong> den laufenden Koalitionsverhandlungen<br />

nicht nur etwa aufkommt, son<strong>der</strong>n unzweideutig<br />

zugunsten e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen Vorgehens<br />

mit dem Bundesrat entschieden wird.<br />

Die NPD ist durch und durch verfassungsfe<strong>in</strong>dlich,<br />

menschenverachtend, rassistisch,<br />

antisemitisch und gewaltbereit. Der Zentral-<br />

musste, gelang es se<strong>in</strong>en Eltern, ihn außer Landes<br />

zu schicken. Im September 1939 g<strong>in</strong>g er <strong>in</strong><br />

Tel Aviv an Land. Ab 1941 diente er <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

britischen Armee und als Mitglied <strong>der</strong> Jewish<br />

Brigade kam er nach dem Krieg schon im<br />

Frühjahr 1945 wie<strong>der</strong> nach Nürnberg zurück.<br />

„Der wichtigste Moment <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben war<br />

wohl“, erklärte er später, „als ich nach dem<br />

Krieg me<strong>in</strong>e Eltern am Leben gefunden habe.<br />

Das war <strong>der</strong> Gipfel aller Wünsche und Gedanken,<br />

die mich von August 1939 bis Mai 1945<br />

bewegt haben. Dass dieses Wun<strong>der</strong> geschehen<br />

ist, dafür b<strong>in</strong> ich bis heute unserem Schöpfer<br />

dankbar.“ Und leise ergänzte er: „Lei<strong>der</strong> hat es<br />

<strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Familie nicht geschafft.“<br />

Der junge Hamburger machte e<strong>in</strong>e Metzgerausbildung.<br />

Sehr bald nach <strong>der</strong> Befreiung gründeten<br />

Dr. Julius Nürnberger, Paul Baruch und<br />

Adolf Hamburger, Arnos Vater, e<strong>in</strong>e neue Jüdische<br />

Geme<strong>in</strong>de und Arno engagierte sich<br />

dort schon sehr früh und über 40 Jahre war er<br />

ihr Vorsitzen<strong>der</strong>.<br />

Er war wohl auch e<strong>in</strong> unbequemer Mensch,<br />

wie nach se<strong>in</strong>em Tod e<strong>in</strong>e Nürnberger Zeitung<br />

schrieb. „Das Alter ließ ihn nicht milde<br />

werden“, und auch für se<strong>in</strong>e Mitstreiter sei<br />

se<strong>in</strong>e kompromisslose Haltung manchmal<br />

durchaus anstrengend gewesen. Darauf angesprochen,<br />

war er um e<strong>in</strong>e passende Antwort<br />

nicht verlegen. In e<strong>in</strong>em Interview mit den<br />

Nürnberger Nachrichten sagte er im Mai<br />

2007: „Wenn man von allen geliebt wird,<br />

macht man was falsch.“ Benno Reicher<br />

Zentralrat wünscht NPD-Verbotsantrag<br />

Elias Dray ist <strong>der</strong> neue Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />

Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Amberg. Seit dem Ab<strong>leben</strong><br />

von Rabb<strong>in</strong>er Nathan Zanger im Jahre<br />

1971 hatte die Geme<strong>in</strong>de ke<strong>in</strong>en eigenen Rabb<strong>in</strong>er<br />

mehr. Der neue Amberger Rabb<strong>in</strong>er<br />

Elias Dray erhielt e<strong>in</strong>e zehnjährige Rabb<strong>in</strong>erausbildung<br />

<strong>in</strong> Israel und er arbeitet bereits seit<br />

sieben Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> IKG München.<br />

Die Gottesdienste an den Hohen Feiertagen<br />

leiteten <strong>der</strong> neue Rabb<strong>in</strong>er und Schmuel Kur<strong>in</strong>.<br />

Am ersten Abend von Rosch Haschana<br />

kamen über 80 Gäste zum Gebet sowie zur<br />

festlichen Jom-Tow-Mahlzeit. Almira Sultanova,<br />

Elena Shktchepanska und Lubav Gerschunowitsch<br />

gestalteten geme<strong>in</strong>sam mit Rebbez<strong>in</strong><br />

Sara Rivka Dray das festliche Abendessen.<br />

Swetlana Jolowitsch war für die Organisation<br />

zuständig. Ignaz Berger vom Geme<strong>in</strong>devorstand<br />

begrüßte die Gäste und<br />

brachte se<strong>in</strong>e Freude zum Ausdruck, dass die<br />

Geme<strong>in</strong>de nun nach langer Zeit wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Rabb<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>den konnte.<br />

Der Geme<strong>in</strong>devorstand hat für die Feiertage<br />

e<strong>in</strong> neues Machsor e<strong>in</strong>geführt. Es heißt Tefilat<br />

Amcha und ist mit deutscher o<strong>der</strong> russischer<br />

Übersetzung sowie mit phonetischem Text erhältlich.<br />

Auch Anfänger können sich <strong>in</strong> diesem<br />

Gebetbuch gut zurechtf<strong>in</strong>den.<br />

Auch das Sukkot-Fest wurde <strong>in</strong> diesem Jahr<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de Amberg gefeiert. Rabb<strong>in</strong>er<br />

Elias Dray leitete den Gottesdienst. Es war<br />

e<strong>in</strong> schönes Beisammense<strong>in</strong> von Jung und Alt<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>schönen Sukka. Zum Kiddusch<br />

gab es für alle e<strong>in</strong>en Tscholent. Die vielen<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekamen Süßigkeiten.<br />

Am Donnerstag, 28. November, gibt <strong>der</strong> weltbekannte<br />

Kantor Mosche Fishel um 19 Uhr<br />

e<strong>in</strong> Chanukka-Konzert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

Amberg. Alle s<strong>in</strong>d herzlich e<strong>in</strong>geladen.<br />

Anmeldung unter Telefon 09621–13140 o<strong>der</strong><br />

unter ikg.amberg@gmail.com<br />

Rabb<strong>in</strong>er Elias Dray<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 21


Bamberg<br />

Israel-Basar<br />

Zum zweiten Israel-Basar, angeregt durch den<br />

Geme<strong>in</strong>de-Vorsitzenden Arieh Rudolph, kamen<br />

im Juni etwa 400 Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />

und Gäste <strong>in</strong> die Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

Bamberg. Die Stuttgarter Firma Doronia bot<br />

e<strong>in</strong>en reichen Querschnitt aus ihrem Sortiment<br />

an: Bücher, CDs und DVDs, Lebensmittel,<br />

schöne Kerzen und duftende Seifen,<br />

Festtagskarten, jüdische Kultgegenstände wie<br />

Gebetsmäntel und Kippot, Leuchter und vieles<br />

mehr. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Höhepunkte war e<strong>in</strong>e<br />

We<strong>in</strong>probe von israelischen We<strong>in</strong>en. Die Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>er<strong>in</strong><br />

Dr. Yael Deusel und <strong>der</strong><br />

1. Vorsitzende boten den Gästen kostenlose<br />

Synagogen-Führungen an. Auch e<strong>in</strong> reichhaltiges<br />

Kuchenbuffet ergänzte diesen erfolgreichen<br />

Israel-Basar.<br />

Besuch <strong>in</strong> Weiden<br />

Unser sommerlicher Geme<strong>in</strong>deausflug, organisiert<br />

vom Geme<strong>in</strong>devorstand <strong>in</strong> Zusammenarbeit<br />

mit dem Seniorenclub und dem Kultur-<br />

Café, brachte uns im Juli <strong>in</strong> die Oberpfalz und<br />

nach Weiden. Ziel <strong>der</strong> Reise war die Besichtigung<br />

jüdisch-historischer Orte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oberpfalz<br />

und natürlich auch die <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de Weiden. Dort wurden wir gegen<br />

11 Uhr freundlich von <strong>der</strong> Sozialarbeiter<strong>in</strong><br />

Mar<strong>in</strong>a Jurovetskaja empfangen. Ihr großes<br />

Engagement machte unser umfangreiches<br />

Programm erst möglich. Mar<strong>in</strong>a Jurovetskaja<br />

erwies sich als erfahrene und kompetente<br />

Gästeführer<strong>in</strong>. Wir besichtigten mit ihr die<br />

über 200 Jahre alte Synagoge <strong>in</strong> Floß. In <strong>der</strong><br />

Pogromnacht 1938 wurde auch sie angezündet,<br />

doch ist sie glücklicherweise nicht Raub<br />

<strong>der</strong> Flammen geworden. Nach dem Krieg,<br />

1964, kaufte <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Bayern das verfallene<br />

und als Lagerhalle genutzte Gebäude. Geme<strong>in</strong>sam<br />

mit öffentlichen bayerischen Stellen<br />

wurde die Synagoge aufwändig saniert und<br />

restauriert. Derzeit bef<strong>in</strong>det sich dort e<strong>in</strong> jüdisches<br />

Museum, und an den Hohen Feiertagen<br />

nutzt die Weidener Geme<strong>in</strong>de die Synagoge<br />

für Gottesdienste.<br />

Danach fuhren wir zu den Ru<strong>in</strong>en des mittelalterlichen<br />

Schlosses. Floß liegt 438 Meter<br />

über dem Meeresspiegel und das Schloss auf<br />

745 Meter. Der Aufstieg war deshalb für viele<br />

Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />

die nicht alle schafften. Sie konnten sich stattdessen<br />

unten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Burgschänke erholen.<br />

Dann g<strong>in</strong>g es zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg,<br />

dem ehemaligen Konzentrationslager<br />

für Juden und politische Häftl<strong>in</strong>ge. Heute ist<br />

es e<strong>in</strong> Museum und e<strong>in</strong>e Gedenkstätte für alle<br />

Opfer <strong>der</strong> nationalsozialistischen Diktatur. In<br />

diesem Lager ermordeten die Nazis den russischen<br />

General Dimitrij Karbyschev und den<br />

deutschen Admiral Wilhelm Franz Canaris.<br />

Nach <strong>der</strong> Besichtigung des früheren KZs besuchten<br />

wir die kle<strong>in</strong>e jüdische KZ-Gedenkstätte<br />

und blieben dort zu e<strong>in</strong>er Gedenkm<strong>in</strong>ute<br />

für unsere ermordeten Brü<strong>der</strong> und Schwestern<br />

und alle an<strong>der</strong>en Menschen.<br />

Die Fahrt mit dem sehr komfortablen 4-Sterne-Bus<br />

nach Weiden <strong>in</strong>s jüdische Geme<strong>in</strong>dezentrum<br />

war für den Busfahrer e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, denn überall <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt<br />

waren Veranstaltungen, die den direkten Weg<br />

blockierten. Wir kamen jedoch sicher an,<br />

konnten uns erholen, etwas essen und über<br />

unsere geme<strong>in</strong>samen Erlebnisse reden. Nach<br />

dieser schönen Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

Weiden fuhren wir zurück nach Bamberg.<br />

Es war sehr schön, dass bei diesem Ausflug<br />

auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> dabei waren. Sie waren begeistert<br />

von unserem Doppeldecker-Bus, hatten<br />

Spaß und versprachen, beim nächsten Mal<br />

wie<strong>der</strong> dabei zu se<strong>in</strong>.<br />

Für die Unterstützung und Organisation <strong>der</strong><br />

Reise danken wir dem 1. Vorsitzenden Herrn<br />

Rudolph, Frau Manastyrskaia und Frau Glasunova.<br />

Elisabeth Gorkurova,<br />

Kulturreferent<strong>in</strong> und Vorstandsmitglied<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>theater Chapeau Claque<br />

Unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong>theatergruppe besuchte im Juli<br />

mit zehn K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und drei Erwachsenen das<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>theater „Chapeau Claque“ auf dem<br />

früheren Gartenschaugelände <strong>in</strong> Gaustadt. Es<br />

war sehr heiß an diesem Tag und alle Zuschauer<br />

mussten sich mit kalten Getränken<br />

und Eis versorgen.<br />

Das K<strong>in</strong><strong>der</strong>theater brachte das Stück „Die<br />

rote Zora“ nach dem Roman von Kurt Held.<br />

In <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>baren und pädagogisch wertvollen<br />

Inszenierung zeigten die Schauspieler,<br />

trotz <strong>der</strong> großen Hitze von 35 Grad, e<strong>in</strong> gekonntes<br />

und humorvolles Spiel. Sie mussten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> prallen Sonne laufen, spr<strong>in</strong>gen, s<strong>in</strong>gen<br />

und ihre Kostüme wechseln. Die Zuschauer<br />

waren begeistert und spendeten großen und<br />

langanhaltenden Applaus.<br />

Hohe Feiertage<br />

Da <strong>in</strong> diesem Jahr die Hohen Feiertage zeitlich<br />

sehr früh begannen, konnten die Veranstalter<br />

nicht e<strong>in</strong>fach die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen<br />

nach den Sommerferien entsprechend<br />

vorbereiten. Dennoch begannen die für den<br />

Religionsunterricht Zuständigen, den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

die Symbole <strong>der</strong> Hohen Feiertage (das Schofar<br />

zu Rosch Haschana und Jom Kippur, die<br />

Sukka und die Reihenfolge <strong>der</strong> Lesungen zu<br />

Simchat Tora) mit Basteln, Malen und S<strong>in</strong>gen<br />

beizubr<strong>in</strong>gen. Auch das K<strong>in</strong><strong>der</strong>s<strong>in</strong>gprojekt<br />

von Frau Becker für die Woche <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>lichkeit<br />

2014 wurde gleich nach den Sommerferien<br />

wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Angriff genommen.<br />

Zu Jom Kippur fand wie<strong>der</strong>, es ist <strong>in</strong>zwischen<br />

schon Tradition, das Gedenken an die Opfer<br />

von Babij Jar am Denkmal <strong>der</strong> Verfolgten des<br />

Naziregimes an <strong>der</strong> Unteren Brücke vor dem<br />

Alten Rathaus statt. E<strong>in</strong>en Tag davor fand<br />

zum zweiten Mal für die jungen Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />

und ihre Eltern und Großeltern e<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>gottesdienst mit Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>er<strong>in</strong><br />

Dr. Deusel statt. Die jungen Mütter waren<br />

sehr gerührt von <strong>der</strong> Art und Weise, wie die<br />

Rabb<strong>in</strong>er<strong>in</strong> mit den schweren biblischen und<br />

talmudischen Texten entsprechend <strong>der</strong> k<strong>in</strong>dlichen<br />

Wahrnehmung umg<strong>in</strong>g.<br />

Das Sukkot-Fest brachte noch mehr Freude.<br />

Die Sukka wurde von unseren bewährten Helfern<br />

geschmückt. Sie hatten die erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Zweige im Wald geholt. Am nächsten Tag<br />

schmückten die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen unter<br />

<strong>der</strong> Leitung von Frau Manastyrskaia die<br />

Sukka und hängten Girlanden <strong>in</strong> vielen Farben,<br />

Lampions, Lichtschläuche und bunte<br />

Deko <strong>in</strong> die Zweige. Zum Sukkotfest selbst<br />

kamen trotz strömendem Regen viele Mitglie<strong>der</strong><br />

und Gäste <strong>in</strong> die Sukka.<br />

Mit dem Simchat-Tora-Fest am 27. September<br />

hatten die Hohen Feiertage zwar religiös ihren<br />

Abschluss, aber am Abend zu Kabbalat-<br />

Schabbat lief e<strong>in</strong> festlicher Zug aus K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

und Erwachsenen mit Tanz und Freude sieben<br />

Mal um die Bima. Anschließend gab es e<strong>in</strong>en<br />

leckeren Kiddusch. Lei<strong>der</strong> konnte Herr Rudolph<br />

zum ersten Mal bei <strong>der</strong> Feier nicht anwesend<br />

se<strong>in</strong>. Er lag im Krankenhaus und wurde<br />

aber während dieser Zeit von vielen Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n<br />

besucht. Hierfür möchte<br />

sich Herr Rudolph noch e<strong>in</strong>mal mit e<strong>in</strong>em<br />

herz lichen „Schkoyach“ bedanken.<br />

Reise nach Marburg<br />

Nach e<strong>in</strong>em Besuch <strong>der</strong> Marburger Geme<strong>in</strong>de<br />

bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> IKG Bamberg im Juli erfolgte im<br />

Oktober unser Gegenbesuch <strong>in</strong> Marburg. Die<br />

persönlichen Beziehungen zwischen Arieh<br />

Rudolph und Amnon Orbach boten gute Voraussetzungen<br />

für diesen Geme<strong>in</strong>de-Austausch.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Empfang bei Kaffee und Kuchen<br />

zeigte uns Amnon Orbach e<strong>in</strong>en Film über<br />

die schulische Ausbildung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />

Jugendlichen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de sowie die feierliche<br />

E<strong>in</strong>hebung ihrer Torarolle. Anschließend<br />

führte er uns durch die wun<strong>der</strong>schöne<br />

Synagoge und er erklärte, dass die Geme<strong>in</strong>de<br />

sehr stolz ist, e<strong>in</strong>e so große und repräsentative<br />

Synagoge zu haben. Besuche zwischen den<br />

Geme<strong>in</strong>den sollten viel öfters stattf<strong>in</strong>den.<br />

22 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Erlangen<br />

Ausflug mit dem Freundeskreis<br />

Auch <strong>in</strong> diesem Jahr lud <strong>der</strong> Freundeskreis<br />

<strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de die Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />

zu e<strong>in</strong>em Ausflug e<strong>in</strong>. Erste Station<br />

war Georgensgmünd, wo bereits 1564 e<strong>in</strong><br />

Jude lebte. Jüdisches Leben existierte bis<br />

1938, als die letzten Juden ihren Heimatort<br />

verlassen mussten. Der Friedhof wurde 1550<br />

angelegt. Er diente als Verbandsfriedhof für<br />

die umliegenden Orte. Bis heute s<strong>in</strong>d immer<br />

noch 1800 alte Grabste<strong>in</strong>e erhalten. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es<br />

Denkmal ist das e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> Süddeutschland<br />

noch erhaltene Taharahaus. Die<br />

schön ausgemalte Synagoge enthält e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

Museum und zwei Mikwen.<br />

Nächste Station bei hochsommerlichen Temperaturen<br />

war Ansbach, wo erst e<strong>in</strong>mal die<br />

Mittagsrast <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schattigen Biergarten<br />

e<strong>in</strong>gelegt wurde. Danach folgte e<strong>in</strong>e Stadtführung<br />

durch die hübsche Altstadt <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Residenz <strong>der</strong> Markgrafen von Brandenburg-Ansbach.<br />

Höhepunkt war <strong>der</strong> Besuch <strong>der</strong><br />

barocken Synagoge. Sie ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bedeutendsten<br />

<strong>in</strong> Süddeutschland, erbaut von Hofbaumeister<br />

Leopoldo Retty. Vor <strong>der</strong> Rückfahrt<br />

blieb noch Zeit für e<strong>in</strong>en Spaziergang o<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>en Kaffee im Hofgarten <strong>der</strong> Orangerie.<br />

Neujahrsempfang<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

Auch <strong>in</strong> diesem Jahr organisierte die Geme<strong>in</strong>de<br />

e<strong>in</strong>en Neujahrsempfang. Unter den Gästen<br />

waren Vertreter <strong>der</strong> Stadt Erlangen, <strong>der</strong> Universität,<br />

des Landkreises Erlangen-Höchstadt<br />

und Vertreter an<strong>der</strong>er Religionsgeme<strong>in</strong>schaften.<br />

Der bayerische Innenm<strong>in</strong>ister Joachim<br />

Herrmann überbrachte die Grüße <strong>der</strong> Landesregierung,<br />

Oberbürgermeister Dr. Siegfried<br />

Balleis die <strong>der</strong> Stadt Erlangen und Grit<br />

Nickel <strong>der</strong> islamischen Geme<strong>in</strong>den. Rabb<strong>in</strong>er<br />

Dani Danieli sprach für die Geme<strong>in</strong>de und<br />

<strong>der</strong> Sänger Igor Dubovsky, vom Zentralrat<br />

<strong>der</strong> Juden gesponsert, sorgte für den musikalischen<br />

Rahmen.<br />

Sukkot und Tag <strong>der</strong> offenen Tür<br />

In diesem Jahr feierten wir den Tag <strong>der</strong> offenen<br />

Tür <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sukkotwoche. E<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>schöner<br />

Tag, e<strong>in</strong>e geschmückte Sukka, Musik,<br />

gutes Essen und e<strong>in</strong> Vortrag von Rabb<strong>in</strong>er<br />

Danieli lockten viele <strong>in</strong>teressierte Gäste <strong>in</strong><br />

unsere Geme<strong>in</strong>de.<br />

Die Friedenstaube<br />

die Taube <strong>in</strong> den Schulen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den auf<br />

die Geschichte <strong>der</strong> Synagoge und <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />

dem Ort aufmerksam machen. Landrat Ir l<strong>in</strong>ger<br />

vom Landkreis Erlangen-Höchstadt schickte<br />

die Taube nach Baiersdorf zum Bürgermeister<br />

Galster.<br />

Aus unserer Sicht e<strong>in</strong>e hervorragende Idee,<br />

um an die dunkle Geschichte zu er<strong>in</strong>nern, bei<br />

ihrer Aufarbeitung mitzuwirken und Kontakte<br />

zu den Geme<strong>in</strong>den herzustellen.<br />

Die JKG Erlangen hat Christof Eberstadt als<br />

„Beauftragten <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

Erlangen für die alte jüdische Geme<strong>in</strong>de“ bestellt.<br />

Er wird zukünftig dazu beitragen, dass<br />

das Gedächtnis an die ehemalige Geme<strong>in</strong>de<br />

bewahrt und gesichert wird. Herr Eberstadt<br />

ist 61 Jahre alt und selbstständig. Er beschäftigt<br />

sich seit 30 Jahren mit <strong>der</strong> Erforschung<br />

se<strong>in</strong>er Vorfahren aus Worms und <strong>der</strong>en Verbreitung<br />

über die Welt. In dieser Tätigkeit ist<br />

er seit 15 Jahren Mitglied von Jewish Gen <strong>in</strong><br />

den USA und er hat weltweit Kontakte zu<br />

Menschen geknüpft, die sich dem gleichen<br />

Lebensthema verschrieben haben. Als Bewohner<br />

Erlangens hat er <strong>in</strong> den vergangenen<br />

Jahren se<strong>in</strong> Augenmerk zusätzlich verstärkt<br />

auf die Erforschung <strong>der</strong> fränkisch-jüdischen<br />

Geschichte gerichtet. Wir freuen uns, ihn für<br />

unsere Belange gewonnen zu haben.<br />

Das erste Freie Jüdische Lehrhaus<br />

Erlangen (EFJLƎ)<br />

Von Rabb<strong>in</strong>er Dan Danieli<br />

Das erste Freie Jüdische Lehrhaus Erlangen<br />

(EFJLƎ) hat sich zum Ziel gesetzt, Wissen<br />

über jüdische Religion und Kultur an Juden<br />

und Nichtjuden aus <strong>der</strong> Region zu vermitteln.<br />

E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Schwerpunkte des Jüdischen Lehrhauses<br />

liegt darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frage, wie<br />

jüdische Menschen, die <strong>der</strong>zeit kaum Kontakte<br />

zur Geme<strong>in</strong>de o<strong>der</strong> zu an<strong>der</strong>en jüdischen<br />

E<strong>in</strong>richtungen pflegen, dafür gewonnen werden<br />

können, sich wie<strong>der</strong> aktiv mit ihrem Glauben<br />

bzw. ihrer Herkunft ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu setzen.<br />

Hierbei ersche<strong>in</strong>t es notwendig, bessere<br />

Kenntnisse über <strong>der</strong>en Lebensstile, Interessen<br />

und Ressourcen, aber auch eventuelle Barrieren<br />

für e<strong>in</strong>en Kontakt zu jüdischen E<strong>in</strong>richtungen<br />

zu erlangen.<br />

Der Prozess <strong>der</strong> Assimilation fand schon bei<br />

dem Auszug aus Ägypten, bei <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>ung<br />

durch die Wüste S<strong>in</strong>ai, statt. Und heute bef<strong>in</strong>den<br />

wir uns auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> jüdischen<br />

Assimilation. Im Durchschnitt <strong>leben</strong> mehr als<br />

40 Prozent <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diaspora <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Mischehe. Derzeit <strong>leben</strong> <strong>in</strong> Erlangen und<br />

Umgebung schätzungsweise mehrere tausend<br />

Personen jüdischen Glaubens sowie <strong>der</strong>en<br />

Angehörige. Davon s<strong>in</strong>d ca. 30 Prozent Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>.<br />

Studien ergaben, dass nur 50 Prozent <strong>der</strong> Zuwan<strong>der</strong>er<br />

aus den Ex-Sowjetstaaten e<strong>in</strong>e Mitgliedschaft<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er jüdischen Geme<strong>in</strong>de erwerben.<br />

Von diesen ist wie<strong>der</strong>um nur e<strong>in</strong> Teil im<br />

Geme<strong>in</strong>de<strong>leben</strong> aktiv, noch weniger Personen<br />

nutzen bisher Bildungsangebote. Zudem <strong>leben</strong><br />

auch jüdische Studierende und israelische Familien<br />

<strong>in</strong> Erlangen, die we<strong>der</strong> Gottesdienste<br />

besuchen noch Unterrichtsangebote nutzen.<br />

Wir müssen die religiösen Angebote für Menschen<br />

jüdischen Glaubens sowie <strong>der</strong>en Angehörige<br />

verbessern und die Vermittlung jüdischer<br />

Religion, Tradition und Kultur attraktiver<br />

gestalten.<br />

E<strong>in</strong> weiteres wichtiges Ziel ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>terreligiöse<br />

Dialog mit allen Religionsgeme<strong>in</strong>schaften<br />

und <strong>der</strong> Bevölkerung <strong>in</strong> unserer Region. Hier<br />

möchten wir mehr Wissen über das Judentum<br />

vermitteln und Verständnis und Toleranz erreichen.<br />

Das Bildungsangebot richtet sich an alle jüdischen<br />

und nichtjüdischen Menschen <strong>in</strong> Erlangen<br />

und im Landkreis.<br />

Unsere nächste Veranstaltung:<br />

Auge um Auge<br />

Am: 15. 12. 2013 um 11.30 Uhr, E<strong>in</strong>tritt frei<br />

Ort: Ge me<strong>in</strong>dehaus, Rathsbergerstraße 8b,<br />

91054 Erlangen<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e Phrase, die von böswilligen Menschen<br />

häufiger im Zusammenhang mit dem<br />

Judentum zitiert wurde als „Auge um Auge“?<br />

Wie kaum e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Satz aus <strong>der</strong> Tora ist<br />

dieser sprichwörtlich geworden. So sprichwörtlich,<br />

dass niemand mehr weiß, dass die<br />

Unterstellung aus antijüdischer Polemik<br />

stammt. Diese behauptet, das Judentum sei<br />

e<strong>in</strong>e Religion, die nach dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Vergeltung<br />

Recht spricht, im Gegensatz zum<br />

Christentum, dem das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Nächstenliebe<br />

zugrunde liege. Wir werden zeigen, dass<br />

es sich bei <strong>der</strong> üblichen Auslegung des Bibelwortes<br />

um e<strong>in</strong>e Verzerrung und böswillige<br />

Verdrehung se<strong>in</strong>es wahren S<strong>in</strong>nes handelt.<br />

Um auf den 60. Geburtstag <strong>der</strong> UN-Menschenrechte<br />

aufmerksam zu machen, schuf<br />

<strong>der</strong> Künstler Richard Hill<strong>in</strong>ger 2008 bronzene<br />

Tauben. Seither fliegen sie mit e<strong>in</strong>em Olivenzweig<br />

im Schnabel als Symbol für den Frieden<br />

durch die Welt. Dieser schöne Brauch erreichte<br />

nun auch die Jüdische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

Erlangen, wo sie den Namen „Yonat Hatschuwa“<br />

erhielt. Yonat heißt Taube und Hatschuwa<br />

hat die Bedeutungen: Antwort auf e<strong>in</strong>e Frage,<br />

Rückkehr, etwas Neues mitbr<strong>in</strong>gen.<br />

Von uns aus fliegt Yonat Hatschuwa <strong>in</strong> die<br />

Geme<strong>in</strong>den des Landkreises Erlangen-Höchstadt,<br />

um sich dort auf den Plätzen <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Synagogen nie<strong>der</strong>zulassen. Danach wird<br />

Übergabe <strong>der</strong> Friedenstaube, v. l<strong>in</strong>ks: Ester Klaus, Vorsitzende <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de Erlangen,<br />

Eberhard Irl<strong>in</strong>ger, Landrat des Landkreises Erlangen-Höchstadt, Rabb<strong>in</strong>er Dani Danieli und Christof Eberstadt,<br />

Beauftragter <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de Erlangen für die alte jüdische Geme<strong>in</strong>de.<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 23


Hof<br />

Konzert mit Igor Milste<strong>in</strong><br />

In Kooperation mit dem Zentralrat <strong>der</strong> Juden<br />

<strong>in</strong> Deutschland gab Igor Milste<strong>in</strong> am 9. Juni<br />

e<strong>in</strong> Konzert <strong>in</strong> unserer Geme<strong>in</strong>de. Dazu kamen<br />

auch viele Gäste von außerhalb <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>desaal war mit fast<br />

100 Besuchern sehr gut gefüllt.<br />

Familientag<br />

E<strong>in</strong>e Woche später, am 16. Juni, feierten wir<br />

unseren jährlichen Familientag. Diese Veranstaltung<br />

ist beson<strong>der</strong>s den Familien mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

gewidmet. Das Jugendzentrum, unter<br />

<strong>der</strong> Leitung von Mar<strong>in</strong>a P<strong>in</strong>is und Lena Tykvatch,<br />

bereitete für die K<strong>in</strong><strong>der</strong> Spiele, Quiz<br />

und viele an<strong>der</strong>e Attraktionen vor. E<strong>in</strong>ige<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche führten zusammen<br />

mit unseren Chor „Shalom“ unter <strong>der</strong> Leitung<br />

von Alla Uritzkaya verschiedene Tänze und<br />

Lie<strong>der</strong> auf. Unsere Köch<strong>in</strong> Inge Schwalb bereitete<br />

leckere Salate und an<strong>der</strong>e Gerichte.<br />

Weitere Speisen wurden anschließend von Dr.<br />

Khasani und Efraim Geissler frisch auf dem<br />

Grill zubereitet. Das Programm wurden neben<br />

dem Ensemble „Shalom“ auch noch von<br />

den Gebrü<strong>der</strong>n Landsmann musikalisch untermalt.<br />

Die Hohen Feiertage<br />

Anfang September begann mit Rosc h Haschana<br />

<strong>der</strong> Feiertagsmarathon. Wie bereits im<br />

letzten Jahr luden wir zur Unterstützung unseres<br />

Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>ers den jungen Kantor<br />

Moishe Kaplan <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>.<br />

Vor Jom Kippur besuchte die Hofer Geme<strong>in</strong>de<br />

den jüdischen Friedhof. Dort gedachten<br />

wir <strong>der</strong> Verstorbenen, beson<strong>der</strong>s auch <strong>der</strong><br />

142 auf dem Hofer jüdischen Friedhof begrabenen<br />

KZ-Häftl<strong>in</strong>ge.<br />

Unseren Schabbat-Gottesdienst am 21. September<br />

besuchte <strong>der</strong> „Vere<strong>in</strong> für Israel“ zusammen<br />

mit Markus Büttner, dem Inhaber<br />

des Israelladens, und wir feierten geme<strong>in</strong>sam<br />

mit den Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n den Kiddusch.<br />

An dieser Stelle möchten wir uns<br />

nochmal ganz herzlich bei unserer Köch<strong>in</strong><br />

Inge Schwalb bedanken, die uns trotz des<br />

ganzen Feiertagsstresses immer wie<strong>der</strong> mit<br />

köstlichen Speisen verwöhnte.<br />

Jugendzentrum<br />

Jeden Sonntag trifft sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

unser Jugendzentrum. Mar<strong>in</strong>a P<strong>in</strong>is, die<br />

Leiter<strong>in</strong> des Jugendzentrums, bereitet für<br />

die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen verschiedene<br />

Spiele, Bastelarbeiten o<strong>der</strong> Ausflüge vor. So<br />

besuchten die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen den<br />

Zirkus Krone und sie machten e<strong>in</strong>en Ausflug<br />

<strong>in</strong> den Europapark. Frau P<strong>in</strong>is nutzt aber auch<br />

die Zeit mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und vermittelt noch<br />

Wissen zu den Themen jüdische Tradition und<br />

Feiertage. Auf diesem Weg möchten wir uns<br />

auch nochmal ganz herzlich bei Mar<strong>in</strong>a für<br />

ihren ehrenamtlichen E<strong>in</strong>satz im Jugendzentrum<br />

bedanken.<br />

Club Injan<br />

Unser Club „Injan“ trifft sich 14-tägig <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de und richtet sich an alle Mitglie<strong>der</strong>.<br />

Der Club veranstaltet verschiedene Vorlesungen<br />

und Informationsveranstaltungen zu den<br />

Themen Judentum, Literatur, Kunst, Musik<br />

und Heimat. Es ist mit Sicherheit nicht immer<br />

e<strong>in</strong>fach für die Leiter<strong>in</strong> des Clubs Riva Lev<strong>in</strong><br />

und ihren Ehemann Evgenij Lev<strong>in</strong> alles ehrenamtlich<br />

so gut zu organisieren, aber beide machen<br />

es wirklich sehr gut und es gel<strong>in</strong>gt ihnen<br />

immer wie<strong>der</strong>, die verschiedenen Interessen<br />

und Wünsche <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> unter<br />

e<strong>in</strong>en Hut zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Ensemble Shalom<br />

Unser Geme<strong>in</strong>dechor „Shalom“ trat auch <strong>in</strong><br />

diesem Jahr wie<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Leitung von<br />

Alla Uritzkaya bei <strong>der</strong> Hofer Kulturnacht im<br />

Juni auf und er beteiligte sich mit e<strong>in</strong>em Auftritt<br />

am 18. Oktober <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hofer Volkshochschule<br />

an <strong>der</strong> <strong>in</strong>terkulturellen Woche. Das<br />

Ensemble „Shalom“ unterstützt schon seit<br />

vielen Jahren die Geme<strong>in</strong>de bei den verschiedenen<br />

Festen und Veranstaltungen.<br />

Ausflug nach Dresden und Meißen<br />

Am Sonntag, 6. Oktober, fuhr die ganze Geme<strong>in</strong>de<br />

nach Dresden und Meißen. In Dresden<br />

besuchten wir die Jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />

und e<strong>in</strong>e Kunstausstellung und <strong>in</strong> Meißen die<br />

Porzellan-Manufaktur. E<strong>in</strong>ige Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />

nutzten die restliche Zeit und entdeckten<br />

die Stadt auf eigenen Füßen.<br />

Chanukka-Party<br />

Am Sonntag, dem 1. Dezember 2013, f<strong>in</strong>det<br />

unsere jährliche Chanukka-Party statt.<br />

Der Vorstand <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Hof<br />

wünscht allen Mitglie<strong>der</strong>n, Freunden und Bekannten<br />

Chanukka Sameach.<br />

Regensburg<br />

Die Hohen Feiertage<br />

In diesem Jahr haben die Hohen Feiertage<br />

beson<strong>der</strong>s früh begonnen. Zu den Festtagen<br />

war die Synagoge gut besucht. Viele Gäste ka-<br />

men gerne, um sich <strong>in</strong> die Augenblicke <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />

E<strong>in</strong>kehr zu vertiefen. Rabb<strong>in</strong>er Josef<br />

Chaim Bloch führte die Betenden mit viel<br />

Kawwana durch die Gebete. Se<strong>in</strong>e Schiurim<br />

über die jüdischen Feste im Monat Tischri,<br />

se<strong>in</strong>e Ansprachen nach <strong>der</strong> Lesung <strong>der</strong> Tora<br />

und beim geme<strong>in</strong>samen Kiddusch sowie <strong>der</strong><br />

Klang des Schofars gaben Impulse <strong>in</strong> den Alltag<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Oberbürgermeisterr Hans Schaid<strong>in</strong>ger<br />

war am Jom Kippur bei dem herrlichen<br />

Kiddusch <strong>der</strong> Familie Danziger dabei<br />

und überbrachte <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de zum neuen<br />

Jahr die Grüße <strong>der</strong> Stadt.<br />

Zum fünften Mal wurde die Sukka, die 1912<br />

im Innenhof des Geme<strong>in</strong>dehauses e<strong>in</strong>gebaut<br />

wurde, wie<strong>der</strong> hergerichtet. Sie bietet fast <strong>der</strong><br />

ganzen Geme<strong>in</strong>de Platz, sodass wir uns dort<br />

auch <strong>in</strong> diesem Jahr wie<strong>der</strong> oft zum Feiern<br />

versammeln konnten. Unser Rabb<strong>in</strong>er erklärte<br />

nochmals die Bedeutung des Festes und <strong>der</strong><br />

Sukka, wo wir an den Festtagen und am<br />

Schabbat Chol haMoed bei gutem Essen und<br />

Tr<strong>in</strong>ken feierten.<br />

Vor den nächsten Feiertagen hat unser Rabb<strong>in</strong>er<br />

über Hoschana Rabba und Schem<strong>in</strong>i Azeret<br />

gesprochen. An diesen Festen waren bei<br />

uns zu Gast Prof. Dr. Mosche Izchaki und<br />

Prof. Dr. Ben-Zion Rosenfeld von <strong>der</strong> Bar-<br />

Ilan-Universität <strong>in</strong> Israel. Am Simchat Tora<br />

schließlich wurden alle Tora-Rollen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

großen Prozession mit Tanz und Gesang sieben<br />

Mal um die Bima getragen. Dieses Jahr<br />

hatten alle Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> die Möglichkeit,<br />

die Mizwa des Lulaw-Schüttelns zu erfüllen.<br />

Nach den Hohen Feiertagen, am 6. Oktober,<br />

hat unser Rabb<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>e Lehrstunde<br />

unter dem Titel „Schabbat-Gebote“ durchgeführt.<br />

Herbst-Schachturnier<br />

Es ist schon e<strong>in</strong>e Tradition geworden, jährlich<br />

Turniere zwischen Schachfreunden <strong>der</strong> jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern durchzuführen:<br />

das Turnier im Frühl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Augsburg und das<br />

Herbstturnier <strong>in</strong> Regensburg. Die Schachwettkämpfe<br />

helfen, die Integration zu verbessern<br />

und die Kontakte zu an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>den<br />

und zu Mitglie<strong>der</strong>n des deutschen<br />

Schachklubs zu verstärken. Das bestens organisierte<br />

bayerische Schachturnier, <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung<br />

an Otto Schwerdt s. A. und Anatoliy<br />

Shapiro s. A., fand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>-<br />

24 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


de Regensburg statt. Am Turnier am 20. Oktober<br />

haben zwölf Mannschaften mit 45<br />

Schachspielern aus den Jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />

Augsburg, Bamberg, Erlangen, Fürth, Hof,<br />

München, Nürnberg, Regensburg und Weiden<br />

teilgenommen. In ihrer Begrüßung er<strong>in</strong>nerte<br />

Ilse Danziger, Vizepräsident<strong>in</strong> des <strong>Landesverband</strong>es<br />

<strong>der</strong> IKG <strong>in</strong> Bayern und Vorstandsmitglied<br />

<strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Regensburg,<br />

an Otto Schwerdt s. A., Mitbegrün<strong>der</strong> des<br />

Schachklubs <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de und<br />

selbst begeisterter Schachspieler, und an Anatoliy<br />

Shapiro s. A., ehemaliger eifriger Spieler<br />

und aktiver Organisator.<br />

Die Turnier-Ergebnisse:<br />

Die Mannschaftsmeisterschaft gewann die<br />

Mannschaft München 1, den 2. Platz Regensburg<br />

1 und den 3. Platz die Mannschaft Augsburg-Hof.<br />

Die E<strong>in</strong>zelmeisterschaft: 1.Platz Roman Vidonyak<br />

aus München, gefolgt von Nellya Vidonyak<br />

aus München und Paul Gaydar aus Regensburg.<br />

Nestorenmeister: Boris Miskevicer aus München;<br />

Seniorenmeister: Nikolay Shalnev aus<br />

Nürnberg; Juniorenmeister: Noam Bergaus<br />

aus München; Frauen meister<strong>in</strong>: Olga Shalneva<br />

aus Nürnberg. Ältester Schachspieler Leonid<br />

Rybak aus München und jüngster Teilnehmer<br />

Igal Bergaus aus Bamberg.<br />

Alle Sieger erhielten Pokale, Urkunden und<br />

Preise von den Vorständen Volodymyr Barskyy<br />

und Jakov Denyssenko. Große Unterstützung<br />

bei Organisation und Durchführung<br />

des Schachturniers gab es vom städtischen<br />

Schachklub RT und se<strong>in</strong>em Leiter Mart<strong>in</strong><br />

Grasser. Schiedsrichter war Isaak Urbach aus<br />

Augsburg.<br />

Straub<strong>in</strong>g<br />

Synagogen-Renovierung<br />

Den ganzen August nutzten wir für umsichtige<br />

Instandhaltungen an <strong>der</strong> Synagoge. Feuchtigkeitsflecken<br />

im Foyer des e<strong>in</strong>zigen jüdischen<br />

Kultbaus <strong>in</strong> Nie<strong>der</strong><strong>bayern</strong> schreckten<br />

uns auf. An <strong>der</strong> Fassade hatten sich auf <strong>der</strong><br />

Balustrade und im Dachbereich undichte Stel-<br />

Familenhaus-Eröffnung mit Vorstandsmitglied Anatoli<br />

Zap.<br />

len im über 100-jährigen Gebäude gebildet.<br />

Auch die Stabilität <strong>der</strong> granitenen Freitreppe,<br />

ursprünglich nur mit Bauschutt unterfüllt, hatte<br />

beson<strong>der</strong>s durch den harten W<strong>in</strong>ter gelitten.<br />

Für die Feiertage stoppten wir die Arbeiten,<br />

die jetzt wie<strong>der</strong> aufgenommen wurden.<br />

Die Hohen Feiertage<br />

Wie jedes Jahr zu Rosch Haschana und Jom<br />

Kippur kamen viele unserer Mitglie<strong>der</strong> zur<br />

Synagoge, um zu beten und zu feiern. In se<strong>in</strong>er<br />

Ansprache wies <strong>der</strong> Vorsitzende Israel<br />

Offman daraufh<strong>in</strong>, wie sehr er sich freue, dass<br />

viele unserer Mitglie<strong>der</strong> wenigstens an den<br />

Feiertagen den Weg zur Synagoge f<strong>in</strong>den,<br />

denn e<strong>in</strong>e volle Synagoge sichert den Fortbestand<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de und des Judentums. Mit<br />

e<strong>in</strong>em Augenzw<strong>in</strong>kern erwähnte er, dass es<br />

die sogenannten „Feiertagsjuden“ immer<br />

schon <strong>in</strong> Straub<strong>in</strong>g gab. Es folgten Sukkot mit<br />

Kidduschim <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sukka, und mit e<strong>in</strong>em großen<br />

Simchat-Tora-Ball endete diese beson<strong>der</strong>e<br />

Zeit.<br />

Drei auf <strong>der</strong> Arche<br />

Am 30. September fand <strong>in</strong> den Räumen <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de die Mitglie<strong>der</strong>versammlung <strong>der</strong><br />

Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammen<br />

arbeit statt. Unmittelbar vorher führte<br />

das K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendtheater Raduga das<br />

Stück „Drei auf <strong>der</strong> Arche“ auf. Die h<strong>in</strong>reißende<br />

Musik, die bunten Kostüme und das<br />

prächtige Spiel <strong>der</strong> jungen Schauspieler bescherten<br />

uns e<strong>in</strong> unvergessliches Erlebnis.<br />

Familienhaus<br />

Am 6. Oktober wurde mit e<strong>in</strong>em Festakt das<br />

Familienhaus, das dem Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>der</strong> Generationen<br />

und Kulturen dienen soll und von<br />

<strong>der</strong> Evangelischen Christuskirche erbaut wurde,<br />

feierlich e<strong>in</strong>geweiht. Vorstandsmitglied<br />

Anatoli Zap vertrat die Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

und versicherte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Grußwort,<br />

dass sich die Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de als<br />

Teil <strong>der</strong> Straub<strong>in</strong>ger Familie fühlt.<br />

Würzburg<br />

Der jüdische Friedhof am David-Schuster-<br />

Weg ist für die auf 1000 Mitglie<strong>der</strong> angewachsene<br />

Geme<strong>in</strong>de zu kle<strong>in</strong> geworden. Der Begräbnisplatz<br />

im Würzburger Stadtteil Lengfeld<br />

war am 4. Juli 1882 e<strong>in</strong>geweiht worden.<br />

Der älteste <strong>der</strong> etwa 700 Grabste<strong>in</strong>e, für<br />

Amalie Bechhöfer, trägt das Datum 1881. E<strong>in</strong><br />

Friedhofshaus mit e<strong>in</strong>er Taharahalle bef<strong>in</strong>det<br />

sich vor dem Haupte<strong>in</strong>gang.<br />

Jetzt soll dieser Friedhof erweitert werden.<br />

E<strong>in</strong> angrenzendes Grundstück bef<strong>in</strong>det sich<br />

bereits seit zehn Jahren im Besitz <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de. „Wir brauchen dr<strong>in</strong>gend<br />

mehr Platz für Gräber, weil wir durch<br />

die Zuwan<strong>der</strong>ung von Mitglie<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />

ehemaligen Sowjetunion sehr stark gewachsen<br />

s<strong>in</strong>d, wie die an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>den auch“, sagt<br />

Geme<strong>in</strong>devorsitzen<strong>der</strong> Dr. Josef Schuster,<br />

„bislang fehlten uns allerd<strong>in</strong>gs die notwendigen<br />

f<strong>in</strong>anziellen Mittel“. Nun will <strong>der</strong> Würzburger<br />

Stadtrat für die neue Anlage 580.000<br />

Euro im städtischen Haushalt bereitstellen.<br />

Die notwendigen Baumaßnahmen werden<br />

wohl etwa e<strong>in</strong> Jahr dauern. Mit den ersten Belegungen<br />

kann ab Anfang 2015 gerechnet<br />

werden.<br />

bere.<br />

E<strong>in</strong>stimmung auf den Schabbat<br />

Simchat Tora-Ball mit dem Geme<strong>in</strong>devorsitzenden Israel Offman<br />

Radio Schalom des <strong>Landesverband</strong>es<br />

<strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />

Kultus geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern<br />

sendet das 2. Hörfunkprogramm<br />

des Bayerischen Rundfunks<br />

jeden Freitag von 15.05 bis 15.20 Uhr<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 25


SERIE<br />

Jüdische Landgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern (35)<br />

Von Michael Schneeberger<br />

„Der Juden Häuser samt<br />

<strong>der</strong> umgebenden Mauern“<br />

Geschichte <strong>der</strong><br />

Juden von Gaukönigshofen<br />

In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

war Arieh Chazor aus Haifa mit se<strong>in</strong>er<br />

Gatt<strong>in</strong> Rifka Verwalter des jüdischen Altersheimes<br />

<strong>in</strong> Würzburg. Vor se<strong>in</strong>er Emigration <strong>in</strong><br />

den Dreißigerjahren war er als Ludwig Königshöfer<br />

<strong>in</strong> Köln geboren und än<strong>der</strong>te se<strong>in</strong>en<br />

Familiennamen <strong>in</strong> Israel <strong>in</strong> „CHAZOR“, <strong>der</strong><br />

hebräischen Übersetzung des Wortes „Königshof“.<br />

Arieh war e<strong>in</strong> Nachkomme des um 1800 geborenen<br />

Lehrers und Rabb<strong>in</strong>ers Mendel Löb<br />

Arieh Königshöfer aus Welbhausen bei Uffenheim,<br />

dessen Sohn Moses Jonas Direktor<br />

des jüdischen Waisenhauses <strong>in</strong> Fürth und die<br />

halachische Autorität se<strong>in</strong>er Zeit für die gesetzestreuen<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fürther Geme<strong>in</strong>de<br />

war. Er entstammte e<strong>in</strong>er großen orthodoxen<br />

Familie, die auch mit den rabb<strong>in</strong>ischen<br />

Familien Bamberger und Schönfeld eng verwandt<br />

ist.<br />

Auch wenn wir den Ursprung von Familie Königshöfer<br />

<strong>in</strong> den jüdischen Standesregistern<br />

nicht bis <strong>in</strong> den Ort Königshofen im Ochsenfurter<br />

Gau zurückverfolgen können, so ist<br />

doch anzunehmen, dass die Familie ursprünglich<br />

aus diesem Dorf auf dem halben Weg<br />

zwischen den Städten Aub und Würzburg<br />

stammt, die schon im hohen Mittelalter bekannte<br />

jüdische Geme<strong>in</strong>den beherbergten. In<br />

dem ausführlichen dreibändigen Werk von<br />

Karl He<strong>in</strong>z Müller, Simon Schwarzfuchs und<br />

Rami Re<strong>in</strong>er [Würzburg 2011] über die vor<br />

dreißig Jahren im Würzburger Stadtteil Pleich<br />

aufgefundenen mittelalterlichen jüdischen<br />

Grabste<strong>in</strong>e werden auch die ursprünglichen<br />

Heimatorte mancher <strong>der</strong> dort Bestatteten wie<br />

Grünsfeld, Tauberbischofsheim und Rött<strong>in</strong>gen<br />

erwähnt, die unweit unseres Dorfes schon<br />

vom 12. bis <strong>in</strong>s 14. Jahrhun<strong>der</strong>t jüdische Ansiedlungen<br />

kannten.<br />

Der Ort Königshofen im Gau<br />

In <strong>der</strong> Regierungszeit Karls des Großen wurde<br />

<strong>in</strong> Süddeutschland im achten Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Zeitrechnung e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />

von Königshöfen errichtet, die weiterh<strong>in</strong> diesen<br />

Namen trugen, wie zum Beispiel das badische<br />

Königshofen bei Bad Mergentheim, das<br />

im nördlichen Unterfranken bef<strong>in</strong>dliche Bad<br />

Königshofen im Grabfeld und unser Königshofen<br />

im Gau, das schon bald zur Unterscheidung<br />

zu den an<strong>der</strong>en gleich benannten Orten<br />

Gaukönigshofen genannt wurde. Bis <strong>in</strong> unsere<br />

Zeit kommt es allerd<strong>in</strong>gs trotzdem immer<br />

noch zu Verwechslungen, wie man zum Beispiel<br />

am 2004 <strong>in</strong> München erschienenen Rabb<strong>in</strong>erhandbuch<br />

von Brocke, Carlebach und<br />

Wilke sehen kann, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Geburtsort des<br />

Marktstefter Distriktsrabb<strong>in</strong>ers Faust Löw<br />

Thalheimer mit Bad Königshofen angegeben<br />

wird, obwohl er <strong>in</strong> unserem Gaukönigshofen<br />

als Mitglied e<strong>in</strong>er bedeutenden lokalen Familien<br />

das Licht <strong>der</strong> Welt erblickte.<br />

Auch wenn wir von e<strong>in</strong>er jüdischen Ansiedlung<br />

<strong>in</strong> Gaukönigshofen und dem benachbarten,<br />

heute e<strong>in</strong>geme<strong>in</strong>deten Acholshausen erst<br />

ab dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t wissen, so ist doch<br />

wie <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en bayrischen Landgeme<strong>in</strong><br />

den anzunehmen, dass die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region<br />

ansässigen Juden, die vor allem im Kle<strong>in</strong>handel<br />

und mit dem Verleih von Kle<strong>in</strong>krediten<br />

ihren Lebensunterhalt verdienten, schon sehr<br />

viel früher <strong>in</strong> <strong>der</strong> wirtschaftlichen und sozialen<br />

Landschaft des Ochsenfurter Gaus zu Hause<br />

waren.<br />

Durch die beson<strong>der</strong>en politischen Verhältnisse<br />

<strong>in</strong> Gaukönigshofen während des alten<br />

Reichs lässt sich für die Geschichte <strong>der</strong> bayrischen<br />

Juden hier manches exemplarisch aufzeigen.<br />

Vor allem die oft sehr verwickelten<br />

politischen Verhältnisse <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Herrschaften geben e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck davon,<br />

wie sich die süddeutsche jüdische Bevölkerung<br />

neben den christlichen Nachbarn zu behaupten<br />

verstand, wenn auch H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse verschiedener<br />

Art <strong>in</strong> den Weg gelegt wurden.<br />

Gaukönigshofen ist auf Grund se<strong>in</strong>er Zugehörigkeit<br />

zum Hochstift Würzburg bis zum heutigen<br />

Tag e<strong>in</strong> hauptsächlich katholischer Ort,<br />

<strong>der</strong> auf Grund se<strong>in</strong>er Lage mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

fruchtbaren Ebene immer sehr vermögend<br />

war. Körner, Schmid und Ott schreiben <strong>in</strong><br />

ihrer topographischen Abhandlung von 2006<br />

[S. 162] hierzu: „Inmitten des Ochsenfurter<br />

Gaus gelegen, steht <strong>der</strong> Ort für den Typus des<br />

wohlhabenden fränkischen Bauerndorfes.“<br />

Somit kann man also auch annehmen, dass<br />

die meisten Gaukönigshöfer Juden, die mit<br />

ihren christlichen Nachbarn Handel trieben,<br />

ebenfalls – im Vergleich zu ihren ärmeren<br />

Glaubensgenossen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rhön o<strong>der</strong> den<br />

Hassbergen – zu den Wohlhaben<strong>der</strong>en gehörten.<br />

Wir sehen dies später vor allem an <strong>der</strong><br />

Geschichte <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zigen geadelten Familie <strong>in</strong><br />

Bayern, von Hirsch auf Gereuth, die, aus<br />

Gaukönigshofen stammend, damals für das<br />

Adelsprivileg ihre Zugehörigkeit zur jüdischen<br />

Religion nicht aufgegeben hat.<br />

Der Freihof<br />

Wie schon so oft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> jüdischen<br />

Landgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern, die wir <strong>in</strong><br />

den letzten Jahren betrachtet haben, s<strong>in</strong>d<br />

auch <strong>in</strong> Gaukönigshofen die ersten Juden <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Mitte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts durch die Vertreibung<br />

aus den großen Städten und den<br />

geistlichen Gebieten aufgenommen worden.<br />

Bischof Friedrich von Wirsberg begann 1559<br />

die Juden aus dem Bistum Würzburg zu vertreiben,<br />

1573 wurde diese Verfolgung <strong>der</strong> Juden<br />

durch Julius Echter, <strong>der</strong> auch den Würzburger<br />

Judenfriedhof enteignete, vollendet.<br />

Der erste Jude, <strong>der</strong> nachweislich im ritterschaftlichen<br />

Freihof aufgenommen wurde,<br />

war Samuel, <strong>der</strong> unter Umständen 1553 aus<br />

dem schwarzenbergischen Marktbreit [siehe<br />

Aufsatz Serie Nr. 30] vertrieben, ke<strong>in</strong>en Schutz<br />

im hochstiftischen Hauptort erhalten hatte,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem von <strong>der</strong> bischöflichen Dorfherrschaft<br />

unabhängigen Freihof <strong>der</strong> Herren<br />

Kottwitz von Aulenbach Aufnahme fand. In<br />

<strong>der</strong> Mitte des Dorfes gelegen, lässt sich dieses<br />

Rittergut bis zum heutigen Tag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form<br />

e<strong>in</strong>es abgeschlossenen Wohnbereichs erkennen.<br />

Im Laufe <strong>der</strong> Geschichte gehörte <strong>der</strong> Freihof<br />

verschiedenen Herrschaften des ritterschaftlichen<br />

Adels wie den Kottwitz von Aulenbach,<br />

denen wir schon <strong>in</strong> Urspr<strong>in</strong>gen begegnet s<strong>in</strong>d<br />

[Serie Landgeme<strong>in</strong>den Nr. 32], seit 1682 den<br />

Faust von Stromberg und ab 1716 <strong>der</strong> Familie<br />

von Rosenbach an. Auch <strong>der</strong> Würzburger<br />

Bürgermeister und Rechtsanwalt Dr. Haan,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Jahre die Strombergschen Geschäfte<br />

<strong>in</strong> Gaukönigshofen erledigt hatte und später<br />

dann das Rittergut im Jahr 1688 selbst<br />

übernahm, hatte für e<strong>in</strong>ige Zeit die herrschaftliche<br />

Hoheit über den Freihof. Während<br />

se<strong>in</strong>er Zeit wurden auf dem Rittergut e<strong>in</strong>e<br />

große Anzahl von Juden aufgenommen, die<br />

zum Teil <strong>in</strong> sehr beengten Wohnverhältnissen<br />

lebten, wie sich bis heute an den kle<strong>in</strong>en<br />

„Judenhäusern“ rund um die ehemalige Synagoge<br />

sehen lässt.<br />

Da <strong>der</strong> ritterschaftliche Adel seit 1548 offiziell<br />

vom Kaiser das Judenregal erhalten hatte,<br />

d.h. das Recht, den Judenschutz zu verleihen,<br />

hatten die Vertreibungen durch die Bischöfe<br />

und den alten Adel zur selben Zeit oft nur<br />

wenig Wirkung, denn die Bereitschaft, vertriebene<br />

Juden aufzunehmen, war nicht nur aus<br />

pekuniären Gründen vorhanden, son<strong>der</strong>n gehörte<br />

nunmehr auch zum Standesstatus <strong>der</strong><br />

Ritterschaft, und da viele <strong>der</strong> Reichsritter <strong>in</strong><br />

jenen Zeiten von Reformation und Gegenreformation<br />

evangelisch-lutherisch geworden<br />

waren, hatte die Aufnahme von Juden auch<br />

e<strong>in</strong>en politisch-religiösen H<strong>in</strong>tergrund: Konnte<br />

man doch so dem verhassten Würzburger<br />

Bischof Julius Echter e<strong>in</strong>es auswischen. An<br />

an<strong>der</strong>er Stelle zeigt dies <strong>der</strong> Prozess, den die<br />

unterfränkischen Juden zusammen mit <strong>der</strong><br />

Ritterschaft gegen Julius Echter vor dem<br />

Reichskammergericht <strong>in</strong> Wetzlar wegen <strong>der</strong><br />

Beschlagnahme des jüdische Friedhofs <strong>in</strong><br />

Würzburg anstrengten, wenn auch letztlich<br />

die Macht vor dem Recht gesiegt hatte.<br />

Die ersten Juden im Ort<br />

Besagter Jude Samuel, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>e Klage<br />

über e<strong>in</strong>e beschlagnahmte o<strong>der</strong> gestohlene<br />

„thunen her<strong>in</strong>g“ vor dem Stadtgericht Ochsenfurt<br />

als erster Königshöfer Jude <strong>in</strong>s Licht<br />

<strong>der</strong> Geschichte trat, gibt uns e<strong>in</strong> Beispiel für<br />

die Streitigkeiten und gegenseitigen Wi<strong>der</strong>wärtigkeiten,<br />

die im Ort zwischen Juden und<br />

Christen, Freihof und Hochstift und zwischen<br />

Arm und Reich gang und gäbe waren.<br />

Aus <strong>der</strong> Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg<br />

s<strong>in</strong>d außer unserem Samuel ke<strong>in</strong>e weiteren<br />

Schutzjuden erwähnt, was wohl auch daran<br />

liegen mag, dass, wie im ganzen damaligen<br />

Deutschen Reich, durch die Kriegswirren auch<br />

viele <strong>der</strong> damals eher spärlichen archivalischen<br />

Unterlagen vernichtet wurden.<br />

26 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Im Jahr 1689 allerd<strong>in</strong>gs lassen sich m<strong>in</strong>destens<br />

sechs jüdische Familien im nunmehr Haanschen<br />

Freihof nachweisen: Götz und se<strong>in</strong>e<br />

Ehefrau Rachel, Nathan und Rifka, des alten<br />

Aron Söhne, <strong>der</strong>en Schutz auf e<strong>in</strong>en Schwiegersohn<br />

Arons überg<strong>in</strong>g, Mendel und se<strong>in</strong>e<br />

Frau H<strong>in</strong>del sowie Aron und se<strong>in</strong>e Gatt<strong>in</strong> Jendele,<br />

die pro Jahr „zwehn Gulden fraenkisch<br />

Gülten <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de vor wasser und weidt zahlen“.<br />

[Michel, S. 46]<br />

Die Dissertation von<br />

Thomas Michel von 1988<br />

Dass wir aus dem örtlichen Geme<strong>in</strong>dearchiv<br />

solch ausführliche Informationen besitzen, ist<br />

dem Gaukönigshöfer Thomas Michel1 zu verdanken,<br />

<strong>der</strong> als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten <strong>in</strong> Unterfranken<br />

nach dem Krieg die Geschichte e<strong>in</strong>er hiesigen<br />

Kehilla erforscht hat, dabei neben den lokalen<br />

Archiven auch noch mit über<strong>leben</strong>de Gaukönigshöfer<br />

Juden sprechen und korrespondieren konnte<br />

und als E<strong>in</strong>heimischer auch an<strong>der</strong>e persönliche<br />

Quellen zur Verfügung hatte, die e<strong>in</strong>em Auswärtigen<br />

noch vor 25 Jahren verschlossen gewesen<br />

waren.<br />

Hierzu muss allerd<strong>in</strong>gs noch gesagt werden, dass<br />

<strong>in</strong> Gaukönigshofen vor und während <strong>der</strong> Nazi-<br />

Jahre, wie wir noch sehen werden, e<strong>in</strong> gutes Verhältnisse<br />

zwischen Juden und vielen Christen bestand.<br />

Somit ist dieses 1988 <strong>in</strong> Wiesbaden publizierte,<br />

über 700 Seiten umfassende Werk, neben me<strong>in</strong>en<br />

eigenen Forschungen im Staatsarchiv Würzburg,<br />

im Synagogenarchiv Kitz<strong>in</strong>gen, <strong>der</strong> Entdeckung<br />

<strong>der</strong> Liste des jüdischen Friedhofs des benachbarten<br />

Allersheim, woh<strong>in</strong> die Gaukönigshöfer Juden<br />

beerdigten, im Leo-Baeck-Institut <strong>in</strong> New York,<br />

Forschungen zur Familie von Hirsch auf Gereuth<br />

und neueren Publikationen wie dem Rabb<strong>in</strong>erhandbuch,<br />

die hauptsächliche Grundlage dieses<br />

kle<strong>in</strong>en Aufsatzes. Ich werde also im folgenden<br />

bei Erwähnungen aus <strong>der</strong> Michelschen Dissertation<br />

den Namen „Michel“ und die zugehörige<br />

Seitenzahl angeben, wo sich weitere Angaben<br />

über die Prov<strong>in</strong>ienz des Zitierten f<strong>in</strong>den werden.<br />

Streit von Anfang an<br />

Die renovierte Synagogengedenkstätte von Gaukönighofen.<br />

Die Echterschen Behörden haben, nachdem<br />

es ihnen nicht gelang, die Juden aus den ritterschaftlichen<br />

Gütern zu vertreiben, auf e<strong>in</strong>em<br />

an<strong>der</strong>en Weg versucht, die jüdische Bevölkerung<br />

zu schädigen. Sie versuchten um<br />

das Jahr 1574 die e<strong>in</strong>heimischen Juden von<br />

<strong>der</strong> Benutzung <strong>der</strong> für sie als Viehhändler <strong>leben</strong>snotwendigen<br />

Benutzung von Wald, Wasser<br />

und Weide auszuschließen. Michel bezieht<br />

sich hierbei auf e<strong>in</strong>e fragwürdige Abhandlung<br />

aus dem Jahr 1938, die sicherlich ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />

Betrachtung <strong>der</strong> Materie zur<br />

Grundlage hatte, wobei das oben erwähnte<br />

Faktum wahrsche<strong>in</strong>lich aber <strong>der</strong> Wahrheit<br />

entspricht.<br />

Auch hun<strong>der</strong>t Jahre später gab es <strong>in</strong> den Jahren<br />

1688 und 1689 immer noch diese Probleme,<br />

die sich durch die Geschichte <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

ziehen: Sei es <strong>der</strong> Fleischverkauf des<br />

für Juden verbotenen H<strong>in</strong>terviertels am R<strong>in</strong>d<br />

an die christlichen Nachbarn o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um<br />

<strong>der</strong> Streit um „Wasser und Weydth“, wie dann<br />

nochmals 1773 den nunmehr Rosenbachschen<br />

Schutzjuden des Freihofs We<strong>in</strong>-, Ste<strong>in</strong>bruchund<br />

Brunnenwassergenuß streitig gemacht<br />

wurde. In diesem Zusammenhang schreibt<br />

J. B. Graser im Jahr 1828 über die Wohnverhältnisse<br />

<strong>der</strong> Juden auf dem Lande, die sich <strong>in</strong><br />

Gaukönigshofen – sicherlich etwas abgemil<strong>der</strong>t<br />

– heute noch nachempf<strong>in</strong>den lassen:<br />

„Dehnt erst aus den Blick auf die Wohnplätze<br />

dieser Unglücklichen <strong>in</strong> den Dörfern, schaut sie<br />

an, die erbärmlichen Hütten und Ställe, <strong>in</strong> welchen<br />

zahlreiche Haufen ihr Obdach, nur von<br />

Frost und Witterung den unbequemsten Schutz<br />

f<strong>in</strong>den.“ [Michel, S. 51]<br />

Nach <strong>der</strong> Vertreibung unter Julius Echter, die<br />

nur zum Teil die erwünschte Wirkung zeigte,<br />

ließen Echters Nachfolger wie<strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />

das Hochstift, hatten doch die <strong>in</strong> den Rittergütern<br />

<strong>der</strong> Region Ansässigen weiterh<strong>in</strong> mit<br />

hochstiftischen Untertanen ihre Geschäfte getätigt,<br />

so dass 1621, fünfzig Jahre nach <strong>der</strong><br />

Vertreibung, zu Beg<strong>in</strong>n des Großen Krieges<br />

wie<strong>der</strong> 39 jüdische Familien im Hochstift<br />

Schutz gefunden haben.<br />

Auch <strong>in</strong> Gaukönigshofen wurden wenige Jahre<br />

später im Jahr 1636 mit <strong>der</strong> Familie des<br />

Moses die ersten Juden unter hochstiftischen<br />

Schutz genommen, so dass von nun an die<br />

jüdische Geme<strong>in</strong>de aus den Familien im Freihof<br />

und denen unter hochstiftischem Schutz<br />

bestand, was die Verhältnisse nicht e<strong>in</strong>facher<br />

machte, waren doch e<strong>in</strong>erseits verschiedene<br />

Gesetze, Vorschriften und Auflagen zu beachten,<br />

an<strong>der</strong>erseits sollte sich e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />

jüdisches Geme<strong>in</strong>de<strong>leben</strong> entwickeln, das über<br />

die verschiedenen herrschaftlichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

h<strong>in</strong>aus auf e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Grundlage<br />

funktionieren sollte.<br />

Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

Wir können davon ausgehen, dass sich erst<br />

nach dem Dreißigjährigen Krieg e<strong>in</strong>e veritable<br />

jüdische Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Gaukönigshofen etabliert<br />

hat, die aus den wenigen hochstiftischen<br />

Juden [e<strong>in</strong>e bis drei Familien], <strong>der</strong>en Anzahl<br />

sich erst zu Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, vor<br />

allem durch die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Familie Hirsch<br />

auf sieben Familien erhöhte, und den bis<br />

Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf dreizehn Familien<br />

angewachsenen Rosenbachschen Schutzjuden,<br />

die im Freihof wohnten, bestand.<br />

Die Freihofschen Juden waren nach Michel<br />

zwar nicht zu Abgaben an das Hochstift und<br />

die politische Geme<strong>in</strong>de Gaukönigshofen verpflichtet,<br />

doch mussten sie für Wasser und<br />

Weide zahlen, was, wie schon erwähnt, immer<br />

wie<strong>der</strong> zu Problemen und Streitereien führte.<br />

Von nun an besaß die Geme<strong>in</strong>de sicherlich<br />

alle notwendigen E<strong>in</strong>richtungen e<strong>in</strong>er Kehilla<br />

wie Synagoge bzw. Betsaal und Mikwe. Der<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 27


1665 e<strong>in</strong>gerichteter Begräbnisplatz im nahen<br />

Allersheim, diente neben Gaukönigshofen<br />

auch den zahlreichen jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />

<strong>der</strong> Umgebung als Grabstätte.<br />

Die Synagoge<br />

Es muss m<strong>in</strong>destes seit dem Dreißigjährigen<br />

Krieg e<strong>in</strong>e Synagoge o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />

Betsaal im Freihof gegeben haben. Die<br />

Forschungen von Thomas Michel weisen auf<br />

e<strong>in</strong> erstes jüdisches Gotteshaus im Jahr 1768<br />

h<strong>in</strong>, das allerd<strong>in</strong>gs wohl schon sehr viel früher<br />

errichtet wurde. Es besteht auch die Möglichkeit,<br />

dass <strong>in</strong> den Anfangsjahren ihrer Ansiedlung<br />

die Gaukönigshöfer Juden <strong>in</strong>s zwei Kilometer<br />

entfernte Acholshausen zum Gottesdienst<br />

g<strong>in</strong>gen, wo sich schon seit Mitte des<br />

16. Jahrhun<strong>der</strong>ts e<strong>in</strong>e verhältnismäßig große<br />

jüdische Geme<strong>in</strong>de unter dem Schutz des<br />

Würzburger Stift Haug befand.<br />

Im Jahr 1790 wird e<strong>in</strong>e neue Synagoge errichtet,<br />

da nunmehr die Geme<strong>in</strong>de auf 17 Familien<br />

angewachsen war, was zum Wi<strong>der</strong>stand<br />

des katholischen Dorfpfarrers führte. Er<br />

schreibt an den Bischof: „Die allhiesige aus 17<br />

haushaltungen /: 1774 waren nur 13 :/ bestehende<br />

Judenschaft wolle e<strong>in</strong>e ganz neue auf freyherrlichen<br />

Rosenbachischen Grund und Boden<br />

zu sezende Synagoge bauen, welche 32 schuh<br />

lang 30 breit und 15 an Gemäuer hoch und mit<br />

8 Fenstern jedes 6 schuh hoch“ werden soll und<br />

merkt an, dass „die alte schul nur 19 schuh lang<br />

13 breit 10 hoch ist und nur 4 Fenster jedes a<br />

3½ schuh hoch hat“. Der Brief an die hochstiftische<br />

Regierung hatte zur Folge, dass diese<br />

sich an den Freiherrn von Rosenbach wandte<br />

und ihre Bedenken äußerte und es auf jeden<br />

Fall geboten sei, dass e<strong>in</strong> jüdisches Gotteshaus<br />

e<strong>in</strong>em normalen Bürgerhaus gleichen müsse.<br />

Da die Herrn von Rosenbach aber im Freihof<br />

völlig unabhängig waren und bauen konnten<br />

wie sie wollten, wurde dieses Schreiben des<br />

Bischofs nicht e<strong>in</strong>mal beantwortet und letztlich<br />

gestattete <strong>der</strong> geistliche Rat dann doch<br />

am Schabbat des 1. Oktobers 1790 die feierliche<br />

Überbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> während des Baus <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Privathaus untergebrachten Torarollen<br />

<strong>in</strong> das neue Gotteshaus, was darauf schließen<br />

lässt, dass <strong>der</strong> Freihof mit e<strong>in</strong>em Eruw aus<br />

Schabbatdrähten versehen war, da man am<br />

Schabbat tragen konnte. Im Jahr 1842 wird<br />

die Synagoge wie auch nochmals 1929 renoviert.<br />

In <strong>der</strong> Pogromnacht vom 10. November<br />

1938 wurde das Inventar und e<strong>in</strong> Großteil <strong>der</strong><br />

Ritualien verbrannt, auch wenn an<strong>der</strong>e christliche<br />

Dorfbewohner ihrer Abscheu über die<br />

Zerstörungen Ausdruck gaben. 1988 wurde<br />

die teilweise renovierte ehemalige Synagoge<br />

<strong>in</strong> Gaukönigshofen zur offiziellen Gedenkstätte<br />

<strong>der</strong> ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />

Landkreis Würzburg. E<strong>in</strong>e vergleichende Bil<strong>der</strong>sequenz<br />

zeigt <strong>in</strong> dem Bildband von Liedel/<br />

Dollhopf über „Jerusalem lag <strong>in</strong> Franken“<br />

den Zustand <strong>der</strong> Synagoge vor und nach <strong>der</strong><br />

Erneuerung2.<br />

Die Mikwe<br />

Im Gegensatz zur nicht unbed<strong>in</strong>gten Notwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>er Synagoge – e<strong>in</strong> Betsaal erfüllt<br />

ebenfalls die halachischen Notwendigkeiten<br />

für e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>dlichen Versammlungsraum<br />

– hatte die jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Gaukönigshofen<br />

sicherlich immer e<strong>in</strong>e Mikwe, wobei<br />

auch hier unter Umständen am Anfang die<br />

Acholshäuser Juden ausgeholfen haben.<br />

Nachweislich war unter dem ersten Synagogenraum<br />

vor 1790 e<strong>in</strong>e Mikwe <strong>in</strong>stalliert, die<br />

1817 von e<strong>in</strong>em eigenen Ritualbadgebäude<br />

abgelöst wurde, das heute noch besteht und<br />

im Jahr 1988 ebenfalls restauriert wurde.<br />

Näheres über die Probleme, die sich im Lauf<br />

<strong>der</strong> Zeit mit e<strong>in</strong>em Ritualbad entwickeln können,<br />

gibt e<strong>in</strong> Akt des Landratsamts Ochsenfurt<br />

Nr. 3232 [1882 bis 1923] im Staatsarchiv<br />

Würzburg.<br />

Auf 96 Seiten werden verschiedene Vorkommnisse<br />

aufgezeigt, die sich im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Mikwe ergeben haben: So<br />

berichtet e<strong>in</strong>e größere Korrespondenz über<br />

e<strong>in</strong>en Besuch des Ritualbades im Jahr 1882<br />

durch Distriktsrabb<strong>in</strong>er Imanuel Adler aus<br />

Kitz<strong>in</strong>gen3, <strong>der</strong> auch für Gaukönigshofen und<br />

e<strong>in</strong>e ganze Anzahl jüdischer Geme<strong>in</strong>den im heutigen<br />

südlichen Landkreis Würzburg zuständig<br />

war. 1894 ergab e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit<br />

den nichtjüdischen Nachbarn Blomeyer über<br />

e<strong>in</strong>e zu reparierende Zuleitung zur Mikwe, dass<br />

letztlich die politische und nicht die jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />

für die Reparatur <strong>der</strong>selben zuständig<br />

war.<br />

Ansonsten ist das Ritualbad e<strong>in</strong>e Grundwassermikwe,<br />

die mit glasklarem, sauberen Wasser gefüllt<br />

ist. Das Wasser für das nebenan bef<strong>in</strong>dliche<br />

Säuberungsbad kommt durch die obengenannte<br />

Rohrleitung und wird durch e<strong>in</strong>en Heizkessel bei<br />

Bedarf erwärmt. [Michel S. 394]<br />

Der Friedhof<br />

Wie schon erwähnt, hatten die Gaukönigshöfer<br />

Juden ke<strong>in</strong>en eigenen „Guten Ort“,<br />

son<strong>der</strong>n beerdigten seit 1665 im unweit gelegenen<br />

Allersheim. Vor 1665 haben die wenigen<br />

Gaukönigshöfer Juden wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

ihre Verstorbenen im südlich gelegenen Aub<br />

be erdigt, woh<strong>in</strong> immer religiöse, private und<br />

wirtschaftliche Verb<strong>in</strong>dungen bestanden.<br />

Durch die Entdeckung des von Rabb<strong>in</strong>er<br />

We<strong>in</strong>berg im Jahr 1938 transkripierten Friedhofsregisters4<br />

von Allersheim, se<strong>in</strong>em letzten <strong>in</strong><br />

Würzburg verfassten Werk vor <strong>der</strong> Deportation<br />

nach Theresienstadt im September 1942, wissen<br />

wir etwa seit 1778 von <strong>der</strong> Belegung des Gottesackers.<br />

Me<strong>in</strong>e getrennten Auflistungen für die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Geme<strong>in</strong>den geben uns bei manchen<br />

Fehlern We<strong>in</strong>bergs, die bei e<strong>in</strong>em solchen Unterfangen<br />

unvermeidbar s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en Überblick über<br />

die Größe und die Verhältnisse <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

seit Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Auch können wir durch die E<strong>in</strong>träge erkennen,<br />

welche Kley Kodesch, d.h. welche Lehrer, Rabb<strong>in</strong>er<br />

und Vorbeter die Geme<strong>in</strong>de im Laufe dieser<br />

125 Jahre zumeist <strong>in</strong> Personalunion beschäftigte<br />

und <strong>in</strong> wie weit Orchim [= hebr. Gäste], d.h.<br />

heimatlose Schnorr- und Betteljuden, die über<br />

Schabbat und die Feiertage aufgenommen wurden,<br />

<strong>in</strong> Gaukönigshofen verstarben. Die E<strong>in</strong>träge<br />

bis 1811 geben uns auch die Möglichkeit, manche<br />

<strong>der</strong> Stammbäume <strong>der</strong> Gaukönigshöfer Juden<br />

nach unten zu erweitern.<br />

Das Memorbuch<br />

Das von Rabb<strong>in</strong>er Magnus We<strong>in</strong>berg <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

1937 erschienenen Publikation über die<br />

Me morbücher <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

Bayern erwähnte Gaukönigshöfer Memorbuch,<br />

das neben se<strong>in</strong>er rituellen Bedeutung<br />

als schriftliche Fixierung aller Gebete und Segenssprüche,<br />

die am Almemor, <strong>der</strong> Bima, gesprochen<br />

werden, und <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung an<br />

Märtyrer, die ihr Leben für „Kiddusch ha-<br />

Schem“, für die Heiligung des göttlichen Namens,<br />

h<strong>in</strong>gegeben haben, auch an herausragende<br />

lokale Persönlichkeiten er<strong>in</strong>nert, wie<br />

den langjährigen Rabb<strong>in</strong>er Uri ben Josef ha-<br />

Kohen, zeigt e<strong>in</strong>e Verwandtschaft zum Auber<br />

Memorbuch und gibt dadurch auch hier e<strong>in</strong>en<br />

H<strong>in</strong>weis auf die enge Verb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Gaukönigshöfer<br />

Geme<strong>in</strong>de mit den südlichen Nachbarn.<br />

Die Schule<br />

Mit dem Edikt von 1813 wurden nunmehr<br />

auch die jüdischen K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> staatlichen<br />

Schulpflicht unterworfen, obwohl <strong>der</strong> jüdische<br />

Religionsunterricht <strong>in</strong> Gaukönigshofen erst<br />

nach e<strong>in</strong>iger Zeit im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> königlich bayerischen<br />

Regierung vonstatten g<strong>in</strong>g.<br />

Bisher hatte <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er und Chasan <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de auch die K<strong>in</strong><strong>der</strong> unterrichtet, wobei<br />

dessen Befähigung mit <strong>der</strong> Urteilskraft<br />

<strong>der</strong> Kehilla entschieden wurde; die Herren<br />

von Rosenbach und ihre Vorgänger mischten<br />

sich nicht e<strong>in</strong>. Aus dieser Zeit wissen wir über<br />

die Friedhofslisten von e<strong>in</strong>em 1784 verstorbenen<br />

Morenu haRav Lippman haCohen und<br />

von e<strong>in</strong>em Vorbeter Morenu haRav Michel<br />

[verst. 1796], <strong>der</strong> im Friedhofse<strong>in</strong>trag als<br />

SchazMaz, d.h. als Schaliach Zippur5 und als<br />

More Zedek, bezeichnet wird.<br />

Se<strong>in</strong> Nachfolger wurde haChassid Morenu ha-<br />

Rav Abraham Sandel Stern, <strong>der</strong> auch <strong>in</strong> den<br />

Standesmatrikeln als Brödl<strong>in</strong>g ersche<strong>in</strong>t und bis<br />

1831 nicht unbed<strong>in</strong>gt zur Zufriedenheit <strong>der</strong> staatlichen<br />

Behörden den althergebrachten talmudischen<br />

Unterricht lehrte und sich nicht „nach dem<br />

neu erschienenen Werkchen ,Hauptlehren <strong>der</strong><br />

mosaischen Religion für den Unterricht <strong>der</strong> Jugend‘“<br />

richtete, das immerh<strong>in</strong> von dem bekannten<br />

und akzeptierten Heid<strong>in</strong>gsfel<strong>der</strong> Oberrabb<strong>in</strong>er<br />

Abraham B<strong>in</strong>g verfasst wurde.<br />

In jener Zeit wurden die K<strong>in</strong><strong>der</strong> wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohnung Abraham Sterns o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge<br />

– <strong>der</strong> Schul – unterrichtet, da es ke<strong>in</strong> ausgesprochenes<br />

Schulhaus gab. Der schließlich von<br />

<strong>der</strong> Regierung für die beiden Geme<strong>in</strong>den Acholshausen<br />

und Gaukönigshofen bestimmte Lehrer<br />

und Rabb<strong>in</strong>atskandidat Meier Strauß aus Fuchsstadt<br />

hatte e<strong>in</strong> schweres Leben, war er doch von<br />

oben bestimmt und musste von 1849 bis 1862<br />

die Schüler bei<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Wohnung unterrichten. Im Internetbeitrag über<br />

Gaukönigshofen <strong>in</strong> <strong>der</strong> alemannia.judaica wird<br />

dann erst aus dem Jahr 1910 das heute noch bestehendes<br />

Geme<strong>in</strong>dehaus mit Lehrerwohnung<br />

und Schullokal neben <strong>der</strong> Synagoge erwähnt.<br />

Angaben über die früheren „Unterrichtslokale“<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Quellen eher unbestimmt.<br />

Trotz <strong>der</strong> unerquicklichen Verhältnisse lehrte<br />

Meier Strauß bis zu se<strong>in</strong>em Tod im Jahr 1875 <strong>in</strong><br />

Gaukönigshofen und wurde dann vom 1836 <strong>in</strong><br />

Hirschhorn geborenen Julius Lippmann abgelöst,<br />

<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um bis etwa 1890 neben dem<br />

Vorsängeramt die jüdischen K<strong>in</strong><strong>der</strong> unterrichtete.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs musste nach <strong>der</strong> Korrespondenz Rabb<strong>in</strong>er<br />

Adlers Lippmann später auf das Schächtamt<br />

verzichten, da er öfter zu Ohnmachten neigte,<br />

an<strong>der</strong>erseits wurde ihm vom Distriktsrabb<strong>in</strong>er<br />

oft Briefe direkt zugesandt, da sie wegen Renitenz<br />

des Vorstandes nicht <strong>in</strong> die Hände <strong>der</strong> Parnassim<br />

fallen sollten.<br />

1891 kam <strong>der</strong> 1866 <strong>in</strong> Unteraltertheim geborene<br />

Julius Bravmann nach Zwischenstationen <strong>in</strong><br />

Rimbach im Odenwald und Sulzdorf an <strong>der</strong><br />

Le<strong>der</strong>hecke als neuer Lehrer, Vorbeter und Schochet<br />

nach Gaukönigshofen, wo er vierzig Jahre<br />

als „Heiliges Geschirr“ <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de dienen<br />

sollte6. Er machte sich aber auch um die politi-<br />

28 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


sche Geme<strong>in</strong>de verdient, die ihm zum 40-jährigen<br />

Jubiläum 1931 die Ehrenbürgerschaft <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de Gaukönigshofen verlieh. In e<strong>in</strong>em anrührenden<br />

Artikel für die „Bayerische Israelitische<br />

Geme<strong>in</strong>dezeitung“ und den „Israelit“ schil<strong>der</strong>t<br />

Lehrer Brückheimer aus Marktbreit die Abschiedsfeier<br />

Julius Bravmanns:<br />

„... Die israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de hat es sich<br />

nicht nehmen lassen, diesen Tag festlich zu begehen.<br />

In <strong>der</strong> stilvoll geschmückten Synagoge<br />

versammelten sich gegen 15 Uhr alle anwesenden<br />

Mitglie<strong>der</strong> und auswärtigen Gäste. Dazu gesellten<br />

sich auch viele christliche Bürger, sodass<br />

die Anwesenden noch den Raum vor dem Gotteshaus<br />

füllten. Erschienen war auch <strong>der</strong> vollständige<br />

Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>at mit dem Bürgermeister und<br />

<strong>der</strong> katholische Geistliche ...“ [Israelit, 4. 6. 1931,<br />

siehe auch Internet]<br />

Se<strong>in</strong> Nachfolger, <strong>der</strong> 1901 <strong>in</strong> Mittels<strong>in</strong>n geborene<br />

Leo Kahn, <strong>der</strong> vorher <strong>in</strong> Westheim bei Haßfurt<br />

unterrichtete, wurde mit se<strong>in</strong>er Gatt<strong>in</strong> M<strong>in</strong>a und<br />

<strong>der</strong> 1933 geborenen Tochter Hannelore im März<br />

1942 nach Izbica bei Lubl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ostpolen deportiert<br />

und ermordet7. AL TISCHKACH<br />

Die Standesmatrikel<br />

von Gaukönigshofen<br />

Als 1817 nach vierjähriger Vorbereitungszeit<br />

durch das Edikt von 1813 auch den Gaukönigshöfer<br />

Juden bürgerliche Familiennamen<br />

verliehen wurden, zählte die Geme<strong>in</strong>de 22 jüdische<br />

Familien und ist damit seit 1790 nochmals<br />

um fünf Haushalte angewachsen:<br />

Aron David Thalheimer,<br />

Warenhändler<br />

Sara Almanat David Sulzbacher,<br />

Spezerei- und Kle<strong>in</strong>warenhändler<br />

Aron Moses Ma<strong>in</strong>zer,<br />

Schnitt- und Spezereiwarenhändler<br />

Abraham Moses Ma<strong>in</strong>zer,<br />

Vieh- und Warenhändler<br />

Hirsch Levi Schloß,<br />

Waren- und Rohhäutehändler<br />

Isac Nathan Goldste<strong>in</strong>,<br />

Schnittwarenhändler<br />

Moses Nathan Goldste<strong>in</strong>,<br />

Schmuser<br />

Mendel Nathan Goldste<strong>in</strong>,<br />

Schnittwarenhändler<br />

Ensel Levi Weickersheimer,<br />

Schnittwarenhändler<br />

Moses Ascher Goldberger,<br />

Kurzwarenhändler<br />

Jechiel Lippmann Schles<strong>in</strong>ger,<br />

Schnittwarenhändler<br />

Seligmann Salomon Rothschild,<br />

Schnitt- und Spezereiwarenhändler<br />

Samuel David Thalheimer,<br />

Waren- und Viehhändler<br />

Esther Almanat Mendel Ste<strong>in</strong>hardt,<br />

Waren- und Viehhändler<br />

Baer Levi Ste<strong>in</strong>hardt,<br />

Waren- und Viehhändler<br />

Simon Samuel Stettheimer,<br />

Waren- und Viehhändler<br />

Ella Almanat Lazarus Wolfsheimer,<br />

Handarbeiten<br />

Jaidel Hirsch Wolfsheimer,<br />

Kurzwarenhändler<br />

Moses David Thalheimer,<br />

Vieh- und Warenhändler<br />

Seligmann Löw Braunschild,<br />

ohne Beruf –<br />

wird von se<strong>in</strong>em Sohn unterhalten<br />

Faust Seligmann Braunschild,<br />

Pferdehändler<br />

Joseph Seligmann Braunschild,<br />

Waren- und Pferdehändler<br />

Hayum Schloß,<br />

Weber [1824]<br />

Faust Weikersheimer,<br />

Metzger [1825]<br />

Abraham Sandel Stern,<br />

Rabb<strong>in</strong>er, Lehrer, Chasan8.<br />

Erstmals ersehen wir aus <strong>der</strong> Auflistung von<br />

1817 die berufliche Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Juden des Ortes,<br />

die wie auch an<strong>der</strong>norts <strong>in</strong> Süddeutschland<br />

vor allem als Händler von auf dem Lande benötigten<br />

und angebotenen Produkten und Tieren<br />

ihren Lebensunterhalt verdienten.<br />

Wir können davon ausgehen, dass e<strong>in</strong> großer Teil<br />

<strong>der</strong> ehemals Rosenbachschen Juden im Freihof<br />

verhältnismäßig vermögend war, woh<strong>in</strong>gegen die<br />

vier hochstiftischen Familien, außer den Hirschs,<br />

eher als arm zu bezeichnen s<strong>in</strong>d [Michel S. 204<br />

ff.]. Die später geadelte Familie von Hirsch, e<strong>in</strong>e<br />

<strong>der</strong> reichsten Familien Unterfrankens, hatte<br />

schon 1806 den Ort verlassen und konnte sich<br />

nach 230 Jahren als erste jüdische Familie wie<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> Würzburg ansiedeln, wobei <strong>der</strong> Unterschied<br />

zwischen dem Vermögen <strong>der</strong> Familie<br />

Hirsch [24.000 Gulden (fl.) und 18.000 fl.] und<br />

dem <strong>der</strong> nachfolgenden Glaubensgenossen Abraham<br />

David Thalheimer [950 fl.] und Faust Seligmann<br />

Braunschild [325 fl.] sehr groß war.<br />

Durch die obigen Matrikel ist es nunmehr auch<br />

möglich, für die verschiedenen Familien Stammbäume<br />

aufzustellen und ihre Familiengeschichte<br />

zu eruieren.<br />

Familie von Hirsch<br />

Als im Jahr 1817 die Standesmatrikel mit den<br />

neu verliehenen bürgerlichen Familiennamen<br />

für die Gaukönigshöfer Juden aufgestellt wurden,<br />

lebten die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> prom<strong>in</strong>enten<br />

Familie von Hirsch schon lange nicht mehr im<br />

Ort. Sie waren 1806, nach dem sie <strong>in</strong> Würzburg<br />

für 15.620 Gulden den Ebracher Hof, die<br />

ehemalige Nie<strong>der</strong>lassung des Ebracher Zisterzienser<br />

Klosters <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt, ersteigert hatten,<br />

<strong>in</strong> die Bezirkshauptstadt übergesiedelt, von<br />

wo die Familie e<strong>in</strong>en rasanten wirtschaftlichen<br />

Aufstieg erlebte und wichtigen Anteil an <strong>der</strong><br />

deutschen und <strong>der</strong> jüdischen Geschichte des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nahm9.<br />

Moses Hirsch<br />

[1740 Gaukönigshofen – 1811 Würzburg]<br />

Der Stammvater Moses Hirsch ist seit 1761<br />

als Rosenbachscher Schutzjude <strong>in</strong> Gaukönigshofen<br />

nachweisbar und verdiente im Viehhandel<br />

se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt. 1769 wurde er <strong>in</strong><br />

den hochstiftischen Schutz aufgenommen und<br />

konnte dadurch e<strong>in</strong> Haus außerhalb des Freihofs,<br />

<strong>in</strong> dem die Juden zum Teil sehr beengt<br />

<strong>leben</strong> mussten, gegen den Willen des örtlichen<br />

Geistlichen erwerben. Schon damals hatten<br />

die Hirschs durch ihren sehr umfangreichen<br />

Viehhandel e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Rolle <strong>in</strong>nerhalb<br />

des Ortes gespielt. Moses Hirsch hatte aus<br />

drei Ehen sieben K<strong>in</strong><strong>der</strong>, von denen fünf das<br />

Erwachsenenalter erreichten.<br />

Als die Familie 1806 nach Würzburg übersiedelte,<br />

hatte sie offiziell e<strong>in</strong> Vermögen von ungefähr<br />

40.000 fl. und war vor allem durch die<br />

Säkularisation, d.h. durch den Auf- und Wie<strong>der</strong>verkauf<br />

kirchlichen Vermögens, das vom<br />

bayrischen Staat enteignet worden war, sehr<br />

wohlhabend geworden.<br />

Durch den Umzug nach Würzburg ermöglichte<br />

Familie von Hirsch nach über 200 Jahren<br />

die erneute Gründung e<strong>in</strong>er jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

<strong>in</strong> Würzburg, da nunmehr auch an<strong>der</strong>e,<br />

zumeist wohlhabende Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt<br />

Aufnahme fanden, so dass zur Zeit <strong>der</strong> Standesmatrikel<br />

von 1817 neben den fünf Familien<br />

von Hirsch noch 26 weitere jüdische Familien<br />

aus Heid<strong>in</strong>gsfeld, Höchberg, Ma<strong>in</strong>bernheim<br />

und Nie<strong>der</strong>werrn <strong>in</strong> Würzburg ansässig waren.<br />

Jakob von Hirsch auf Gereuth<br />

[1765 Gaukönigshofen – 1840 Planegg]<br />

Der zweitälteste Sohn von Moses Hirsch,<br />

Jakob, <strong>der</strong> schon <strong>in</strong> Ansbach e<strong>in</strong> Bankhaus<br />

begründet hatte, g<strong>in</strong>g 1809 zu se<strong>in</strong>em Vater<br />

nach Würzburg. Er war als Hofbankier tätig<br />

und nach se<strong>in</strong>er Nobilitierung zu Jakob von<br />

Hirsch auf Gereuth g<strong>in</strong>g er 1819 nach München,<br />

wo se<strong>in</strong> zweitältester Sohn Joseph die<br />

Münchner L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Familie begründete, die<br />

heute noch <strong>in</strong> Planegg bei München residiert.<br />

Julius Joel von Hirsch auf Gereuth<br />

[1789 Gaukönighsofen – 1876 Würzburg]<br />

Der älteste Sohn Julius Joel war viermal verheiratet<br />

und gründete <strong>in</strong> Würzburg e<strong>in</strong> Bankhaus,<br />

das vor allem den lokalen Adel mit<br />

großzügigen Krediten versorgte; er organisierte<br />

den fränkischen Holzhandel und war e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Bayerischen Hypotheken-<br />

und Wechsel-Bank.“ Se<strong>in</strong>e 23 K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

stammten von <strong>der</strong> <strong>in</strong> Höchberg geborenen<br />

Frie<strong>der</strong>ike Jeidels [sieben K<strong>in</strong><strong>der</strong>], e<strong>in</strong>er Tochter<br />

des aus Nie<strong>der</strong>werrn stammenden Juwelenhändler<br />

Samuel Jeidels, <strong>der</strong> sich ebenfalls<br />

schon bald <strong>in</strong> Würzburg nie<strong>der</strong>lassen konnte,<br />

von den beiden mit ihm nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verheirateten<br />

Schwestern des Stuttgarter Hofbankiers<br />

Rafael von Kaulla, Sara [neun K<strong>in</strong><strong>der</strong>]<br />

und Karol<strong>in</strong>e [e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d] sowie von Sara Wertheimber<br />

[sechs K<strong>in</strong><strong>der</strong>], die <strong>der</strong> Familie des<br />

berühmten Hoffaktors des Kaisers <strong>in</strong> Wien,<br />

Samson Wertheimer, entstammte.<br />

Julius von Hirsch war auch <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> zusammen<br />

mit dem Grafen von Giech se<strong>in</strong>en<br />

ganzen E<strong>in</strong>fluss dafür e<strong>in</strong>setzte, dass endlich<br />

im Jahr 1861 das reaktionäre Edikt von 1813<br />

Jakob von Hirsch auf Gereuth (1765–1840).<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 29


aufgehoben wurde und nunmehr auch <strong>in</strong><br />

Bayern Juden wohnen konnten, wo sie wollten<br />

und zum an<strong>der</strong>n weitgehend freie Berufswahl<br />

genossen.<br />

Joseph von Hirsch auf Gereuth<br />

[1805 Würzburg – 1885 Planegg]10<br />

Der jüngere Bru<strong>der</strong> Jakobs, Joseph von Hirsch,<br />

g<strong>in</strong>g 1828 nach München, wo er die Schwester<br />

se<strong>in</strong>er Schwäger<strong>in</strong> Sara, Carol<strong>in</strong>e Wertheimber<br />

heiratete, mit <strong>der</strong> er zehn K<strong>in</strong><strong>der</strong> zeugte. Joseph<br />

Prys schil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1931 erschienenen Geschichte<br />

<strong>der</strong> Familie die immensen Schwierigkeiten<br />

die Jakob und Joseph von Hirsch mit den<br />

Münchner Behörden hatten. Auch kämpfte Joseph<br />

immer wie<strong>der</strong> gegen die Beschränkungen<br />

durch das Edikt von 1813 und erhielt an<strong>der</strong>erseits<br />

auf Grund se<strong>in</strong>er engen Verb<strong>in</strong>dung mit<br />

dem württembergischen Königshaus e<strong>in</strong>e ganze<br />

Reihe verschiedener Orden. Durch se<strong>in</strong>e Hilfsbereitschaft<br />

im Hungerjahr 1846 und bei <strong>der</strong> Bekämpfung<br />

e<strong>in</strong>er Choleraepidemie im Jahr 1854<br />

wurde er 1859 mit dem „Ritterkreuz erster Klasse<br />

des Königlich Bayerischen Michaelverdienstordens“<br />

ausgezeichnet. Joseph von Hirsch starb<br />

hochgeehrt im Jahr 1885 und wurde im alten<br />

Thalkirchner Friedhof bestattet. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> und bei<br />

München geborenen heutigen Nachkommen, die<br />

zum Teil mit Angehörigen des deutschen und<br />

europäischen Adels verheiratet s<strong>in</strong>d, gehören<br />

nicht mehr <strong>der</strong> jüdischen Religion an11.<br />

Maurice de Hirsch<br />

(1831 München – 1896 O-Gyala, Ungarn]<br />

Der älteste Sohn Josephs von Hirsch wurde e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> bedeutendsten und reichsten Magnaten des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> an vielen europäischen Versicherungsgesellschaften<br />

beteiligt war und durch<br />

die F<strong>in</strong>anzierung des Eisenbahnbaus <strong>in</strong> Belgien,<br />

Holland, Russland, Ungarn und vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Türkei als „Türkenhirsch“ bekannt war. Nach<br />

dem Tod se<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Sohnes Lu cien [1856<br />

Brüssel – 1888 Paris] widmete er sich mit se<strong>in</strong>er<br />

Frau Clara geborene Bischoffsheim philantropischen<br />

Projekten: Vor allem versuchte er das traurige<br />

Los <strong>der</strong> osteuropäischen Judenheit zu verbessern,<br />

die <strong>in</strong> vielen Län<strong>der</strong>n, vor allem <strong>in</strong><br />

Russland, unter <strong>der</strong> Verfolgung durch den Staat<br />

und die russische Landbevölkerung litten. Er bot<br />

<strong>der</strong> russischen Regierung die hohe Summe von<br />

50 Millionen Francs an, um die dortigen Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

für Juden zu verbessern, die diese<br />

aber nur unter Voraussetzungen annehmen wollte,<br />

die Hirsch ablehnte. Deshalb gründete er zusammen<br />

mit an<strong>der</strong>en jüdischen Philantropen wie<br />

Lord Rothschild, Sir Julian Goldsmid, Ernst Cassel,<br />

Friedrich D. Mocatta und Benjam<strong>in</strong> Louis<br />

Cohen aus London sowie Salomon H. Goldschmidt<br />

und Salomon Re<strong>in</strong>ach aus Paris die<br />

Jewish Colonization Association „I.C.A.“, die<br />

vor allem die Emigration osteuropäischer Juden<br />

nach Argent<strong>in</strong>ien för<strong>der</strong>te12. Außerdem ließ er<br />

<strong>in</strong> London, Paris, Wien, Krakau, Lemberg und<br />

New York Wohltätigkeitsbüros e<strong>in</strong>richten. Im<br />

Jahr 1889 rief er die „Hirsch-Stiftung“ <strong>in</strong>s Leben,<br />

die ähnlich wie die heutige „Ronald S. Lau<strong>der</strong><br />

Foundation“ sich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung jüdischer<br />

Schulen für die osteuropäische Judenheit widmete.<br />

1902 wurde zu se<strong>in</strong>em Gedenken e<strong>in</strong> Denkmal<br />

im Central Park <strong>in</strong> New York errichtet, auf dem<br />

die von Präsident Theodore Roosevelt verfasste<br />

Inschrift e<strong>in</strong>graviert ist: „Was man auch immer<br />

sagen und tun mag, das Gesetz <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>lichkeit<br />

und <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Menschenliebe wird<br />

stets die erste und unabweisbare Bed<strong>in</strong>gung im<br />

Leben <strong>der</strong> Völker bleiben.“<br />

Familie Ma<strong>in</strong>zer<br />

Auch drei an<strong>der</strong>en Gaukönigshöfer Familien,<br />

die allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en so kometenhaften Aufstieg<br />

wie die von Hirschs erlebten, können als<br />

Beispiele e<strong>in</strong>er außergewöhnlichen Laufbahn<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t gelten: die kohanitische<br />

Familie Ma<strong>in</strong>zer, die mit dem Kauf des von<br />

Hirschschen Stammhauses nach <strong>der</strong>en Übersiedlung<br />

nach Würzburg <strong>in</strong> Gaukönigshofen<br />

ansässig wurde, stammte wahrsche<strong>in</strong>lich aus<br />

Ma<strong>in</strong>z. Der 1806 im Ort geborene Maier<br />

Ma<strong>in</strong>zer war später <strong>der</strong> erste akademisch gebildete<br />

Rabb<strong>in</strong>er Württembergs [Rabb<strong>in</strong>erhandbuch<br />

I/2, S. 639/640 – 1189] und amtierte<br />

bis 1861 <strong>in</strong> Weikersheim. Vor allem e<strong>in</strong>e<br />

grundsätzliche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um das<br />

Cregl<strong>in</strong>ger Tauchbad ist <strong>in</strong> den Archivalien erhalten<br />

und zeigt die unterschiedlichen Auffassungen<br />

e<strong>in</strong>es orthodoxen Rabb<strong>in</strong>ers und e<strong>in</strong>er<br />

unverständigen Landesregierung, die den<br />

Hauptzweck e<strong>in</strong>er Mikwe als Re<strong>in</strong>igungsbad<br />

begriff 13 .<br />

Maier Ma<strong>in</strong>zer hatte neun Geschwister, von denen<br />

sechs schon sehr jung verstarben. Die Ma<strong>in</strong>zers,<br />

die nach dem Ortsvorstand, dem Parnass,<br />

die wohlhabendste jüdische Familie ihrer Zeit<br />

war, haben vor allem mit dem Viehhandel ihren<br />

Lebensunterhalt bestritten.<br />

Der Vater Aaron Moses Ma<strong>in</strong>zer, <strong>der</strong> auch als<br />

Ellenwaren- und Spezereiwarenhändler tätig war,<br />

verstarb schon 1821.<br />

Die große Familie des 1801 geborenen Falk, die<br />

weiterh<strong>in</strong> im ehemals Hirschschen Haus Nr. 44<br />

lebte, befasst sich mit den verschiedensten Handelstätigkeiten,<br />

sei es – wie gehabt – Ellenwarenund<br />

Spezereiwarenhandel im offenen Laden und<br />

durchs Hausieren, was im Laden nicht verkauft<br />

werden kann, Vieh- und Fohlenhandel und, soweit<br />

es die gesetzlichen Möglichkeiten erlaubten,<br />

auch mit Güterhandel.<br />

Da später die Tochter Sara [*1847] Simon Neuberger<br />

aus Arnste<strong>in</strong> und Babette [*1848]14 den<br />

königlichen Hoflieferant Hermann Mai aus Berkach<br />

heiratete, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Würzburg nie<strong>der</strong>gelassen<br />

hat, und e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Söhne nach Amerika auswan<strong>der</strong>n,<br />

lebten um die Jahrhun<strong>der</strong>twende ke<strong>in</strong>e<br />

Nachkommen des Falk Ma<strong>in</strong>zer mehr <strong>in</strong> Gaukönigshofen.<br />

Nachkommen des jüngeren Bru<strong>der</strong>s Moritz<br />

[*1814] <strong>leben</strong> bis zum bitteren Ende im Ort.<br />

Schon bald gehörten <strong>der</strong> Sohn Heß Ma<strong>in</strong>zer und<br />

se<strong>in</strong>e Familie zu den Honoratioren, die im Viehhandel<br />

vor allem für den lokalen Bereich tätig<br />

war.<br />

Nicht alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> des Heß Ma<strong>in</strong>zer blieben im<br />

Ort: <strong>der</strong> erstgeborene Sohn August [*1869] eröffnete<br />

e<strong>in</strong>e eigene Rechtsanwaltskanzlei <strong>in</strong> Bamberg<br />

und g<strong>in</strong>g später als Amtsgerichtsrat nach<br />

Wiesbaden. Felix Ma<strong>in</strong>zer [*1870] war von 1912<br />

bis zur Deportation im Jahr 1942 Vorstand <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de. Er wurde wie se<strong>in</strong>e Schwestern Laura<br />

und Sophie nach Theresienstadt bzw. nach Izbica<br />

bei Lubl<strong>in</strong> deportiert und ermordet.<br />

Nur <strong>der</strong> 1872 geborene Bru<strong>der</strong> He<strong>in</strong>rich konnte<br />

mit se<strong>in</strong>er Gatt<strong>in</strong> noch im Jahr 1941 nach New<br />

York auswan<strong>der</strong>n. Von den fünfzehn Enkeln <strong>der</strong><br />

beiden Brü<strong>der</strong> Falk und Moritz Ma<strong>in</strong>zer wurden<br />

neun Opfer des Holocaust.<br />

Familie Thalheimer<br />

Die Vorfahren <strong>der</strong> drei <strong>in</strong> den Registerlisten<br />

von 1817 erwähnten Brü<strong>der</strong> Moses, Samuel<br />

und Aron Thalheimer, die als Waren- und<br />

Viehhändler ihren Lebensunterhalt bestritten,<br />

lassen sich bis Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong><br />

Gaukönigshofen nachweisen. Der Familienname<br />

steht nach Menk15 unter Umständen mit<br />

dem <strong>in</strong> Württemberg liegenden Thalheim o<strong>der</strong><br />

auch mit Theilheim bei Schwe<strong>in</strong>furt <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung.<br />

Wie anfangs schon erwähnt, haben die<br />

Thalheimers enge familiäre B<strong>in</strong>dungen zu lokalen<br />

Rabb<strong>in</strong>erfamilien 16 :<br />

So war die erste Frau von Moses Thalheimer,<br />

dem Vaters des späteren Marktstefter Distriktsrabb<strong>in</strong>ers<br />

Faust Löw Thalheimer [1808–1871],<br />

Sila geborene Lippmann, die Tochter des Ortsrabb<strong>in</strong>ers<br />

Morenu haRav Lippmann haCohen<br />

[siehe Friedhofsliste Allersheim]; die Schwester<br />

von Faust Löw, die 1804 geborene Klara Karol<strong>in</strong>e,<br />

war mit dem Seifensie<strong>der</strong> Abraham Haas<br />

aus Fuchsstadt verheiratet, <strong>der</strong>en Sohn David<br />

Hirsch [1834–1878] Distriktsrabb<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Reckendorf,<br />

Welbhausen und Uffenheim war. Der jüngste<br />

Sohn von David Hirsch Haas, Rechtsanwalt<br />

Dr. Gerson Haas [1871–1940], war von 1918 bis<br />

1938 Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> IKG Würzburg17.<br />

Von Familie Thalheimer war nach 1933 nur noch<br />

<strong>der</strong> 1890 geborene Josef Just<strong>in</strong> Thalheimer mit<br />

se<strong>in</strong>er Familie im Ort. Der Vieh- und Kolonialwarenhändler<br />

war auch Präsident des örtlichen<br />

Fußballclubs und Kassierer des Krieger- und<br />

Schützenvere<strong>in</strong>s. Trotz se<strong>in</strong>er Verdienste um das<br />

örtliche Geme<strong>in</strong>de<strong>leben</strong> wurde er mit se<strong>in</strong>em<br />

1926 geborenen Sohn Walter im März 1942 nach<br />

Izbica bei Lubl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ostpolen verschleppt. Nur<br />

se<strong>in</strong> 1923 geborener Sohn Günther konnte noch<br />

rechtzeitig nach England emigrieren. Die von<br />

ihm aus Izbica nach Gaukönigshofen gesandte<br />

Postkarte vom Sommer 1942 mit e<strong>in</strong>em Dankeschön<br />

für e<strong>in</strong>e erhaltene Postsendung ist das letzte<br />

Lebenszeichen <strong>der</strong> deportierten Gaukönigshöfer<br />

Juden. Das Dankschreiben wurde <strong>der</strong> Gestapo<br />

angezeigt – weitere Sendungen waren nicht<br />

mehr möglich.<br />

Familie Weikersheimer<br />

Der Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> levitischen Familie Weikersheimer,<br />

Ensel Ascher haLevi, wurde Mitte<br />

des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts im württenbergischen<br />

Weikersheim geboren und nahm 1817 den<br />

Namen se<strong>in</strong>er Geburtsstadt als Familienname<br />

an. Obwohl anfangs e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> ärmsten Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de, erhielt er durch die<br />

Verehelichung mit Terzle Tirza Braunschild<br />

die Möglichkeit zu prosperieren, so dass die<br />

Familie im Lauf <strong>der</strong> Generationen zu e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>flussreichsten jüdischen Familie am<br />

Ort wurde. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt<br />

als Handelsleute, Metzger, Vieh- und<br />

Pferdehändler, Garküchner, Bäcker, Schnittwaren-<br />

und Lebensmittelhändler, blieben also<br />

bis um die Jahrhun<strong>der</strong>twende zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

im beruflichen Umfeld e<strong>in</strong>er dörflichen<br />

Gesellschaft18. E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Nachkommen<br />

Ensels g<strong>in</strong>gen zwar <strong>in</strong> den Nachfolgejahren nach<br />

Amerika, doch im Vergleich zu an<strong>der</strong>en jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>den wählten diesen Weg im 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t nur wenige, wie auch Thomas Michel<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en akribischen Untersuchungen feststellt<br />

[Michel, S. 625/626].<br />

Am prom<strong>in</strong>entesten für die Gaukönigshöfer Lokalgeschichte<br />

s<strong>in</strong>d wohl die beiden Brü<strong>der</strong> Vitus<br />

und Ignaz Weikersheimer, die ab <strong>der</strong> Wende zum<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en Landmasch<strong>in</strong>enhandel mit<br />

Reparaturwerkstätte <strong>in</strong>s Leben riefen. Bis Anfang<br />

des Ersten Weltkrieges beschäftigten sie bis<br />

zu zwanzig Arbeitskräfte auf e<strong>in</strong>em Werksgelände<br />

am Dorfrand.<br />

30 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Durch den Eisenbahnanschluss Gaukönigshofens<br />

im Jahr 1907 konnten sie ihren bäuerlichen Kunden<br />

nunmehr auch landwirtschaftliche Gerätschaften<br />

wie die berühmten „Massey Harris Mähmasch<strong>in</strong>en“<br />

[Michels S. 628], die sie <strong>in</strong> den USA<br />

kauften und nur noch zusammenmontieren mussten,<br />

anbieten und eroberten somit e<strong>in</strong>e Monopolstellung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Region.<br />

Die beiden Brü<strong>der</strong>, <strong>der</strong> als weltmännisch geschil<strong>der</strong>te<br />

Vitus, <strong>der</strong> die kaufmännischen Angelegenheiten<br />

betreute, und se<strong>in</strong> eher volkstümlicher<br />

Bru<strong>der</strong> Ignaz, <strong>der</strong> die Kontakte zur bäuerlichen<br />

Kundschaft pflegte, engagierten sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

jüdischen und politischen Geme<strong>in</strong>de: Vitus wurde<br />

wegen se<strong>in</strong>es hohen Ansehens von 1912 bis<br />

zur Auswan<strong>der</strong>ung 1930 zum zweiten Kultusvorstand<br />

und Kassier <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>de und<br />

1919 neben dem Viehhändler Ensle<strong>in</strong> Weikersheimer<br />

<strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>at gewählt; Ignaz engagiert<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>defeuerwehr, <strong>in</strong> <strong>der</strong> auch<br />

er bis zur Machtergreifung durch die Nazis das<br />

Amt des Kassiers <strong>in</strong>nehatte.<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

Aus verschiedenen Gedenkbüchern ersehen<br />

wir, wie <strong>in</strong> den Jahren seit dem Edikt von<br />

1861 auch viele Gaukönigshöfer Juden mit<br />

<strong>der</strong> Freizügigkeit von Berufs- und Wohnsitzwahl<br />

ihren Heimatort verlassen haben und <strong>in</strong><br />

die aufstrebenden Städte des Deutschen Reiches<br />

übersiedelten.<br />

Dies zeigt sich an <strong>der</strong> Bevölkerungsstatistik<br />

von 1786 bis 1942 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abhandlung von Jutta<br />

Sporck-Pfitzer [Würzburg 1988, S. 56/61]<br />

über die ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />

Landkreis Würzburg: Die jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />

wuchs von 73 Personen um 1786 auf 108 im<br />

Jahr 1816, um erst zum Ende des neunzehnten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts langsam aber stetig abzunehmen.<br />

So zählte die Gaukönigshöfer Kehilla<br />

1880 noch 99 Mitglie<strong>der</strong>, um bis 1933 mit<br />

54 Personen fast bis zur Hälfte zurückzugehen.<br />

Es ist wohl e<strong>in</strong> Zeichen <strong>der</strong> engen Vertrautheit<br />

von christlichen und jüdischen E<strong>in</strong>wohnern,<br />

dass nur 22 Gaukönigshöfer Juden<br />

Das Kleemann-Sefer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lloyd Street Schul <strong>in</strong> Baltimore.<br />

rechtzeitig den Ort verließen und so viele bis<br />

zum traurigen Ende <strong>in</strong> ihrem Heimatort verblieben.<br />

So wurde etwas Gutes letztlich zu e<strong>in</strong>em<br />

Todesurteil: Die Liebe zur Heimat und<br />

das Vertrauen <strong>in</strong> den Staat. Insgesamt wurden<br />

nach <strong>der</strong> Aufstellung von alemannia.judaica<br />

im Internet 49 <strong>in</strong> Gaukönigshofen gebürtige<br />

o<strong>der</strong>/und wohnhafte jüdische Bürger Opfer<br />

<strong>der</strong> Schoa.<br />

Wenn sich an den Zerstörungen <strong>der</strong> Pogromnacht<br />

im November 1938 auch Gaukönigshöfer<br />

„Christen“ beteiligten, so demolierten<br />

wohl hauptsächlich Ochsenfurter SA- und SS-<br />

Männer die Synagoge und jüdische Wohnhäuser.<br />

Die bedeutende Viehhandelscompanie<br />

<strong>der</strong> Weikersheimers musste ebenso schließen<br />

wie die Manufakturwarenhandlung des Louis<br />

Kleemann und die kle<strong>in</strong>en Gemischwarenläden<br />

von Sali Grünebaum, Julius Katz und<br />

Leopold Vorchheimer, sowie <strong>der</strong> Kolonialwarenladen<br />

des Josef Thalheimer.<br />

Das Ende<br />

Am 21. März 1942 werden 25 Gaukönigshöfer<br />

Juden mit dem Zug nach Kitz<strong>in</strong>gen gebracht,<br />

von wo sie drei Tage später, nachdem ihnen<br />

noch e<strong>in</strong> Großteil ihres Reisegepäcks abgenommen<br />

wurde, zusammen mit 208 an<strong>der</strong>en<br />

fränkischen Juden aus <strong>der</strong> Region nach Izbica<br />

bei Lubl<strong>in</strong> deportiert werden. Außer <strong>der</strong> Postkarte<br />

des Just<strong>in</strong> Thalheimer, die doch auf e<strong>in</strong>e<br />

mögliche postalische Verb<strong>in</strong>dung nach dem<br />

Abtransport schließen lässt, gab es ke<strong>in</strong>e weiteren<br />

Spuren über das Schicksal <strong>der</strong> Juden aus<br />

Gaukönigshofen.<br />

Das „Klimensifer“<br />

Als ich <strong>in</strong> den Neunzigerjahren des letzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts öfters auf me<strong>in</strong>en Reisen <strong>in</strong> den<br />

USA auch Freunde <strong>in</strong> Baltimore und das dortige<br />

jüdische Museum und Archiv besuchte,<br />

gab mir e<strong>in</strong>e nette Dame <strong>der</strong> Archivverwaltung<br />

e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf das „Klimensifer“. Ich<br />

stand etwas verwirrt da und konnte mit dem<br />

Wort nichts anfangen. Die Dame g<strong>in</strong>g mit mir<br />

<strong>in</strong> die benachbarte „Lloyd Street Schul“, e<strong>in</strong>e<br />

<strong>der</strong> ältesten Synagogen <strong>in</strong> den USA, und zeigte<br />

mir voller Stolz e<strong>in</strong>e Torarolle: das „Klimensifer“.<br />

– Der Gaukönigshöfer Louis Kleemann<br />

hatte das Sefer bei <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung<br />

mitgenommen und es <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Heimat<br />

<strong>der</strong> Lloyd Street Shul geschenkt, wo es heute<br />

zu Anschauungszwecken dient, da es nicht<br />

mehr koscher ist und im Gottesdienst ke<strong>in</strong>e<br />

Verwendung mehr f<strong>in</strong>det.<br />

In Gaukönigshofen er<strong>in</strong>nert noch die zur Gedenkstätte<br />

umgebaute Synagoge, die Mikwe<br />

und das Schulhaus an die ehemalige Geme<strong>in</strong>de,<br />

an manchen Privathäusern lassen sich<br />

noch die Vertiefungen für die Mesusot <strong>in</strong> den<br />

Türstöcken erkennen und am Beispiel des<br />

„Kleemann – Sefer“ im fernen Baltimore wird<br />

jungen Juden Jiddischkeit erklärt.<br />

AM ISRAEL CHAI!<br />

Fußnoten:<br />

1 Michel, Thomas: Die Juden <strong>in</strong> Gaukönigshofen/<br />

Unterfranken [1550 – 1942] – Beiträge zur Wirtschafts-<br />

und Sozialgeschichte, Wiesbaden 1988,<br />

ISBN 3-515-05318-2.<br />

2 Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut: Jerusalem<br />

lag <strong>in</strong> Franken – Synagogen und jüdische Friedhöfe.<br />

Text: Rudolf Maria Bergmann, Würzburg<br />

2006, S. 54/59.<br />

3 Siehe auch: Synagogenarchiv Kitz<strong>in</strong>gen: Korrespondenz<br />

Distriktsrabb<strong>in</strong>er Imanuel Adler von<br />

1868 bis 1910, Rabb<strong>in</strong>at Kitz<strong>in</strong>gen [Auswahl<br />

Gaukönigshofen], <strong>in</strong>: Michael Schneeberger:<br />

F<strong>in</strong>dbuch G-A-G (Gaukönigshofen-Acholshausen-Gossmannsdorf),<br />

Würzburg 2013, Hoenle<strong>in</strong>-<br />

Projekt.<br />

4 Leo-Baeck-Institut, New York: Stern Collection:<br />

Magnus We<strong>in</strong>berg: Friedhofsregister Allersheim,<br />

Würzburg 1938 [Michael Schneeberger: E<strong>in</strong>zelliste<br />

Gaukönigshofen].<br />

5 Schaliach Zippur [hebr.] = Abgesandter <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de,<br />

d.h. Vorbeter; More Zedek [hebr.] =<br />

gerechter Lehrer [unterer Rang <strong>in</strong> <strong>der</strong> rabb<strong>in</strong>ischen<br />

Ausbildung].<br />

6 Michael Schneeberger: Familiendokumentation<br />

Bravmann/Unteraltertheim, Würzburg/New York<br />

2011.<br />

7 Siehe auch: Oskar Höfner: Kartei <strong>der</strong> jüdischen<br />

E<strong>in</strong>wohner, Gaukönigshofen 1987.<br />

8 Siehe auch: Dirk Rosenstock: Die unterfränkischen<br />

Judenmatrikeln von 1817, Würzburg 2008,<br />

S. 231.<br />

9 Joseph Prys: Die Familie von Hirsch auf Gereuth<br />

– erste quellenmäßige Darstellung ihrer<br />

Geschichte, München 1931.<br />

10 Erika Bosl: Die Familie von Hirsch auf Gereuth<br />

im 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>in</strong>: Treml/Weigand/<br />

Brockhoff: Geschichte und Kultur <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />

Bayern – Lebensläufe, München 1988.<br />

11 Michael Schneeberger: Stammbaum von Hirsch<br />

auf Gereuth/Gaukönigshofen, Würzburg 2012<br />

[Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />

12 Salomon W<strong>in</strong><strong>in</strong>ger: Große Jüdische National-<br />

Biographie, Cernauti 1928, S. 117/118.<br />

13 Behr, Hartwig/Rupp, Horst F.: Vom Leben und<br />

Sterben – Juden <strong>in</strong> Cregl<strong>in</strong>gen, Würzburg 1999,<br />

S. 50/53.<br />

14 Ihr Enkel Herbert Mai ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen<br />

Über<strong>leben</strong>den von Riga-Jungfernhof und lebt<br />

heute <strong>in</strong> Kew Gardens, NY.<br />

15 Menk, Lars: A Dictionary of German-Jewish<br />

Surnames, Bergenfield, NJ [Avotaynu], p. 728.<br />

16 Schneeberger, Michael: Stammbaum Thalheimer/Gaukönigshofen,<br />

Würzburg 2011 [Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />

17 Strätz, Re<strong>in</strong>er: Biographisches Handbuch Würzburger<br />

Juden 1900–1945, Würzburg 1989, S. 226.<br />

18 Schneeberger, Michael: Family Tree of the levitic<br />

Weikersheimer Family from Königshofen im<br />

Gau, Würzburg 2011 [Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 31


BUCHBESPRECHUNGEN<br />

Konversions- und Über<strong>leben</strong>sgeschichten<br />

Die Eltern von Hilde (1914–2011) und Rose<br />

Berger (1918–2005) waren bie<strong>der</strong>e, fromme<br />

Ostjuden, die <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> lebten, bis sie im Jahre<br />

1938 von <strong>der</strong> Gestapo zum Verlassen Deutschlands<br />

gezwungen wurden. Sie fuhren nach Polen,<br />

wo sie während des Weltkrieges Opfer <strong>der</strong><br />

nationalsozialistischen Judenverfolgung wurden;<br />

umgebracht haben die Na zis auch ihre<br />

Tochter Reg<strong>in</strong>a (Jahrgang 1913) und ihren<br />

Sohn Hans (Jahrgang 1916). Das vorliegende<br />

Buch lässt die zwei über<strong>leben</strong>den Schwestern,<br />

die nach dem Holocaust <strong>in</strong> Amerika lebten,<br />

ausführlich zu Wort kommen.<br />

Der Herausgeber hat fünf sich ergänzende Texte,<br />

die zwischen 1978 und 2005 entstanden s<strong>in</strong>d,<br />

zusammengetragen und <strong>in</strong>s Deutsche übersetzt.<br />

Im Anhang f<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Leser e<strong>in</strong>ige Fotos und<br />

Dokumente, die das Erzählte veranschaulichen.<br />

So ist z.B. die Seite von Sch<strong>in</strong>dlers Liste<br />

abgedruckt, auf <strong>der</strong> Hilde Bergers Name<br />

steht. Der Leser erfährt, dass es mehrere Versionen<br />

dieser durch e<strong>in</strong>en Film von Steven<br />

Spielberg berühmt gewordenen Namensliste<br />

gab. E<strong>in</strong>e Fassung hat Hilde Berger getippt;<br />

sie nutzte die Gelegenheit aus und hat sich<br />

und ihren damaligen Freund darauf gesetzt<br />

und dafür an<strong>der</strong>e Namen gestrichen. Re<strong>in</strong>hard<br />

Hesse bemerkt zu diesem Vorgang <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung: „Wohl wissend, was das<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich für die Betreffenden bedeuten<br />

würde. Ihr Leben lang hat sie das beschäftigt<br />

– verständlicherweise. Aber – hätten wir es<br />

wirklich an<strong>der</strong>s gemacht?“<br />

Ebenso <strong>in</strong>teressant wie die unterschiedlichen<br />

Über<strong>leben</strong>sgeschichten von Hilde und Rose<br />

s<strong>in</strong>d die Berichte über ihre Abwendung von<br />

den religiösen Lebensformen ihres Elternhau-<br />

ses. Bezeichnend ist, dass beide Frauen solche<br />

Männer geheiratet haben, die für ihre Eltern<br />

nicht akzeptabel waren. Im Falle von Hilde<br />

kann man davon sprechen, dass sie als Jugendliche<br />

vom Judentum zur politischen Religion<br />

des Trotzkismus konvertierte. Sie spricht<br />

von <strong>der</strong> „roten Assimilation“. Anschaulich und<br />

nachvollziehbar skizziert Hilde Berger die<br />

Zwischenschritte, die ihren weltanschaulichen<br />

Wan del markiert haben: Die religiöse Jugendgruppe<br />

ihrer Synagoge wurde von säkular ges<strong>in</strong>nten<br />

Zionisten unterwan<strong>der</strong>t; dann spaltete<br />

sich von dieser Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong>e sozialistisch-zionistische<br />

Gruppe ab; von dieser Position<br />

war <strong>der</strong> Weg nicht mehr weit zum stal<strong>in</strong>istischen<br />

Kommunismus; schließlich landete<br />

sie bei den Trotzkisten, die sich als „Avantgarde<br />

<strong>der</strong> Avantgarde“ verstanden. Im Rückblick<br />

gab die engagierte Revolutionär<strong>in</strong> zu,<br />

dass es ihrer Gruppe ke<strong>in</strong>eswegs nur um Politik<br />

und Weltverbesserung g<strong>in</strong>g: „Wir verbrachten<br />

ke<strong>in</strong> Wochenende <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, g<strong>in</strong>gen immer auf<br />

Wan<strong>der</strong>ungen, sangen deutsche Volkslie<strong>der</strong>,<br />

Wan<strong>der</strong>lie<strong>der</strong>, Lie<strong>der</strong> aus dem deutschen Bauernkrieg<br />

von 1525. Wir liebten alle Lie<strong>der</strong> aus<br />

dieser Zeit. Ironischerweise nicht nur die, welche<br />

die revolutionären Bauern gesungen haben,<br />

son<strong>der</strong>n auch die <strong>der</strong> Söldner, die für die<br />

Feudalherren gegen die Bauern gekämpft haben…<br />

Wir haben sogar auch dann noch Lie<strong>der</strong><br />

von beiden Seiten des Bauernkriegs gesungen,<br />

als wir schon politisches Bewusstse<strong>in</strong> erlangt<br />

hatten und uns die gegensätzliche Bedeutung<br />

dieser Lie<strong>der</strong> klar war.“<br />

Die traurige Geschichte <strong>der</strong> Familie Berger<br />

er<strong>in</strong>nert mich an die unter dem Titel „Der<br />

Fiedler auf dem Dach“ verfilmte Geschichte<br />

des jüdischen Milchmannes Tevje aus Anatevka.<br />

In Berl<strong>in</strong> wie im osteuropäischen Dorf war<br />

die überlieferte jüdische Lebensform sowohl<br />

von <strong>in</strong>nen als auch von außen gefährdet. Zum<br />

Über<strong>leben</strong> e<strong>in</strong>er traditionell-religiösen Kultur<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt braucht es manchmal<br />

Wun<strong>der</strong>.<br />

Yizhak Ahren<br />

Re<strong>in</strong>hard Hesse (Hg.): Ich schrieb mich selbst auf<br />

Sch<strong>in</strong>dlers Liste. Die Geschichte von Hilde und Rose<br />

Berger. Mit e<strong>in</strong>em Geleitwort von B. Beitz, 223 S., Haland<br />

& Wirth im Psychosozial-Verlag, Gießen, 2013.<br />

Musik kann Leben retten<br />

„Inter arma silent musae“ lautet <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ische<br />

Spruch, doch er stimmt nicht immer.<br />

Auch während des Krieges und Mordens wie<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schoa gab es Künstler, die es vermochten,<br />

dank <strong>der</strong> Musen ihr eigenes und manchmal<br />

auch fremdes Leben zu retten. Zwar wurde<br />

die Musik durch die NS-Schergen vielfach<br />

missbraucht, dennoch half sie <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen.<br />

Das wissen wir aus den Er<strong>in</strong>nerungen von<br />

Anita Lasker-Wallfisch und Fania Fénelon an<br />

das Mädchenorchester von Auschwitz, o<strong>der</strong><br />

vom dem „letzten Klesmer Galiziens“, Leopld<br />

Kozlowski-Kle<strong>in</strong>mann. Nun erfahren wir Ähnliches<br />

von Judith Schnei<strong>der</strong>man, die mit Hilfe<br />

ihrer Enkel<strong>in</strong> Jennifer ihre Autobiographie<br />

„Ich sang um me<strong>in</strong> Leben. Er<strong>in</strong>nerungen an<br />

Rachov, Auschwitz und den Neubeg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Amerika“<br />

nie<strong>der</strong>schrieb. In diesem Jahr brachte es<br />

die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden<br />

Europas“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übersetzung von A. Hölscher<br />

heraus.<br />

Die Autor<strong>in</strong>, 1928 <strong>in</strong> <strong>der</strong> damals ungarischen,<br />

nun ukra<strong>in</strong>ischen Karpaten-Kurstadt Rachow<br />

geboren, lebte dort mit Eltern und 7 Geschwistern<br />

bis zur Deportation nach Auschwitz<br />

1944, wo die Eltern und zwei kle<strong>in</strong>e<br />

Schwestern ermordet wurden. Trotz Hunger<br />

und Krankheit überlebte sie mit drei Schwestern<br />

als Zwangsarbeiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gelsenkirchen;<br />

bei e<strong>in</strong>em Bombenangriff <strong>der</strong> Amerikaner<br />

wurde dort jedoch ihre jüngere Schwester getötet.<br />

In <strong>der</strong> Munitionsfabrik <strong>in</strong> Sömmerda,<br />

wo sie später arbeiten mussten, hörte e<strong>in</strong>e SS-<br />

Frau Judith zufällig beim S<strong>in</strong>gen zu und<br />

brachte ihr e<strong>in</strong> deutsches Lied bei, das sie den<br />

Offizieren vorsang: „Zitternd stimmte ich das<br />

Lied über Heimweh an, und da wurden alle<br />

ganz still. Manche we<strong>in</strong>ten sogar; sie we<strong>in</strong>ten<br />

um ihre eigene Heimat.“ Ihre Stimme hat die<br />

Mör<strong>der</strong> besänftigt und rettete den vier Schwestern<br />

das Leben. Nach e<strong>in</strong>em Todesmarsch wurden<br />

sie im Mai 1945 von <strong>der</strong> Roten Armee befreit,<br />

fanden auch ihren Bru<strong>der</strong> und die älteste<br />

Schwester <strong>leben</strong>d wie<strong>der</strong>.<br />

Auf Umwegen kamen sie <strong>in</strong> das DP-Lager<br />

Landsberg am Lech. Dort sang Judith im jiddischen<br />

Theater Hazomir und lernte ihren<br />

Mann P<strong>in</strong>ek, aus Polen stammend, auch er e<strong>in</strong><br />

Über<strong>leben</strong><strong>der</strong> von Buchenwald und Mittelbau-Dora,<br />

kennen. Auch P<strong>in</strong>ek erzählt <strong>in</strong> dem<br />

Buch se<strong>in</strong>e Geschichte. Das Paar emigrierte<br />

nach <strong>der</strong> Heirat <strong>in</strong> die USA, wo sie e<strong>in</strong>e Farm<br />

hatten, vier K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekamen und wo Judith<br />

Schnei<strong>der</strong>man, <strong>in</strong>zwischen verwitwet, bis heute<br />

lebt. In Deutschland erfuhr man von ihrer<br />

Tochter Helene, Kammersänger<strong>in</strong> <strong>in</strong> Stuttgart,<br />

von diesem 2009 im Selbstverlag erschienenen<br />

Buch. Es konnte, zu den unschätzbaren<br />

Zeitzeugen-Dokumenten zählend, mit Hilfe<br />

<strong>der</strong> „Stiftung Er<strong>in</strong>nerung, Verantwortung und<br />

Zukunft“ publiziert werden. Elvira Gröz<strong>in</strong>ger<br />

Judith Schnei<strong>der</strong>man mit Jennifer Schnei<strong>der</strong>man: Ich<br />

sang um me<strong>in</strong> Leben. Er<strong>in</strong>nerungen an Rachov,<br />

Auschwitz und den Neubeg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Amerika, Zeitzeugenreihe<br />

<strong>der</strong> Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden<br />

Europas, dort auch erhältlich. www.stiftung-denkmal.<br />

de/publikationen/zeitzeugenreihe.html, Berl<strong>in</strong>, 2013.<br />

32 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Auf dem Wege zu Weiterem<br />

Kritiker<br />

„Me<strong>in</strong>e Gedichte s<strong>in</strong>d we<strong>der</strong> hermetischer geworden<br />

noch geometrischer; sie s<strong>in</strong>d nicht<br />

Chiffren, sie s<strong>in</strong>d Sprache; sie entfernen sich<br />

nicht noch weiter vom Alltag, sie stehen […]<br />

im Heute.“ So schrieb Paul Celan am 7. April<br />

1970 – kurz nach se<strong>in</strong>er letzten Dichterlesung<br />

<strong>in</strong> Stuttgart und knapp zwei Wochen vor se<strong>in</strong>em<br />

Tod aus Verzweiflung <strong>in</strong> Paris – an se<strong>in</strong>en<br />

Verleger Siegfried Unseld, von dem er sich<br />

verstanden wusste. Er wollte sich wehren<br />

gegen vore<strong>in</strong>genommene Kritiker, die ihm<br />

Sprachlosigkeit unterstellten o<strong>der</strong> ihn e<strong>in</strong>fach<br />

nur totschwiegen. „Ich glaube, ich darf sagen,<br />

dass ich mit diesem Buch e<strong>in</strong> Äußerstes an<br />

menschlicher Erfahrung <strong>in</strong> dieser unserer<br />

Welt und dieser unserer Zeit e<strong>in</strong>gebracht<br />

habe, unverstummt und auf dem Wege zu<br />

Weiterem.“<br />

Celans Er<strong>leben</strong><br />

Den schwierigen Weg Celans <strong>in</strong> die Nachkriegsgesellschaft<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik zeichnet<br />

die Tüb<strong>in</strong>ger Germanist<strong>in</strong> Barbara Wiedemann<br />

jetzt <strong>in</strong> ihrem neuen Buch „E<strong>in</strong> Faible<br />

für Tüb<strong>in</strong>gen“ nach. Zahlreiche Veröffentlichungen<br />

zu Celan weisen die Verfasser<strong>in</strong> als<br />

Spezialist<strong>in</strong> für den fe<strong>in</strong>fühligen Dichter aus,<br />

<strong>der</strong> se<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutschen KZ <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Ukra<strong>in</strong>e umgebrachten Eltern mit dem Gedicht<br />

„Todesfuge“ das „e<strong>in</strong>zig mögliche Grab“<br />

geben konnte.<br />

Die Verfasser<strong>in</strong> geht e<strong>in</strong>erseits streng chronologisch<br />

vor, an<strong>der</strong>erseits verknüpft sie umfassende<br />

Informationen über das sich än<strong>der</strong>nde<br />

Klima <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>der</strong> Fünfzigerund<br />

Sechzigerjahre mit H<strong>in</strong>weisen und Rückschlüssen<br />

auf die beschriebenen Verhaltensweisen<br />

von Lesern und Zuhörern vor allem im<br />

süddeutschen Raum. Celans Er<strong>leben</strong> wird<br />

durch Zitate aus Briefen belegt. Gedichte lassen<br />

den Leser das von Celan Erlebte unmittelbar<br />

verstehen. Man bekommt Lust, die<br />

Gedichte nachzulesen, sich noch mehr von<br />

Celan anzueignen.<br />

Das Buch beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>em kurzen Rückblick<br />

auf Celans Herkunft Czernowitz <strong>in</strong> Rumänien,<br />

wo er 1920 als Paul Antschel geboren<br />

wurde. Deutsch war im Czernowitz se<strong>in</strong>er<br />

K<strong>in</strong>dheit und Jugend noch Alltags- und Kultursprache.<br />

Die vorher österreichische Stadt<br />

wurde erst 1919 rumänisch und Celans Eltern<br />

sprachen Deutsch, nicht Rumänisch. Celan<br />

selbst überlebte die deutsche Besatzung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Nazi-Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Arbeitslager, se<strong>in</strong>e Eltern<br />

nicht. Zu diesem traumatischen Verlust kamen<br />

antisemitische Strömungen auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

sowjetischen Ukra<strong>in</strong>e nach <strong>der</strong> Befreiung<br />

durch die Rote Armee, sodass Celan über<br />

Bukarest und Wien, wo er sich <strong>in</strong> Ingeborg<br />

Bachmann verliebte, nach Paris auswan<strong>der</strong>te.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist zu verstehen, was<br />

e<strong>in</strong> halbes Jahr vor se<strong>in</strong>em Tod <strong>in</strong> <strong>der</strong> – auch<br />

von Wiedemann veröffentlichten – „Prosa aus<br />

dem Nachlaß“ steht: „Woh<strong>in</strong> gehen wir. Immer<br />

nachhause. Sie tuns. Ich nicht! Ich hause<br />

im Nach, das da geht und geht.“<br />

„Todesfuge“<br />

Dass Celan am 23. Mai 1952 <strong>in</strong> Niendorf an<br />

<strong>der</strong> Ostsee bei e<strong>in</strong>em Treffen <strong>der</strong> „Gruppe<br />

47“ vorlesen durfte, ist vor allem Ingeborg<br />

Paul Celan<br />

Bachmanns Drängen zuzuschreiben. Sie war<br />

es auch, die ihm die aus eigener Tasche bezahlte<br />

Fahrkarte zugeschickt hatte. Die Erwähnung<br />

solch kle<strong>in</strong>er Details gibt dem Buch<br />

e<strong>in</strong>e Dimension, die weit über den streng<br />

wissenschaftlichen Ansatz h<strong>in</strong>ausreicht und<br />

Persönliches sichtbar macht. Die Reaktionen<br />

<strong>der</strong> Dichterkollegen <strong>in</strong> Niendorf reichten von<br />

Unverständnis bis Ablehnung, was sich jedoch<br />

weniger auf Inhalt und Form <strong>der</strong> Gedichte<br />

bezog, son<strong>der</strong>n auf die Art des Vortrags. Walter<br />

Jens sprach von „e<strong>in</strong>em Re<strong>in</strong>fall“. Und<br />

Hans Werner Richter sagte gar: „Der liest ja<br />

wie Goebbels“ und ließ die „Todesfuge“ angeblich<br />

noch e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>em Schauspieler<br />

vortragen. „Zur aufgekommenen Unruhe<br />

sche<strong>in</strong>t allerd<strong>in</strong>gs nicht recht zu passen, dass<br />

sich Inge Jens nur an die „Todesfuge“ er<strong>in</strong>nert<br />

und daran, dass nach <strong>der</strong>en Lesung völliges<br />

Stillschweigen e<strong>in</strong>getreten sei“, ergänzt Barbara<br />

Wiedemann <strong>in</strong> ihrem Buch. Der unverfrorene<br />

Umgang mit se<strong>in</strong>em Vortrag verletzte<br />

Celan zutiefst. Se<strong>in</strong>e Art, Wirklichkeit sprachlich<br />

zu verarbeiten, wurde jedoch sowohl beim<br />

ersten Niendorfer Auftritt als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

ersten Veröffentlichung „Mohn und Gedächtnis“<br />

sofort als etwas Neues erkannt und gewürdigt.<br />

In Niendorf, erläutert die Autor<strong>in</strong>,<br />

bekam er immerh<strong>in</strong> „als Drittplatzierter und<br />

erster Lyriker 6 Stimmen“. Diese Ambivalenz,<br />

das „Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von großer Wirkung, ja,<br />

Erfolg, und Abwehr“ hat Paul Celan, wie<br />

Wiedemann herausarbeitet, se<strong>in</strong> Leben lang<br />

begleitet.<br />

„Grab <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft“<br />

Vor allem die „Todesfuge“ führte bei Lesungen,<br />

egal, ob sie <strong>in</strong> Niendorf, <strong>in</strong> Stuttgart, <strong>in</strong><br />

Essl<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Tüb<strong>in</strong>gen stattfanden, zu<br />

Betroffenheit. Und wenn dann Kritiker <strong>der</strong><br />

„Todesfuge“ „surrealistische Züge“, „sau gende[n]<br />

Rhythmus“, „romantisierende Metapher“<br />

und „lyrische Alchimie“ zuschrieben,<br />

lagen sie, wie Wiedemann nachweist, e<strong>in</strong>deutig<br />

neben <strong>der</strong> Auffassung <strong>der</strong> meisten<br />

Leser und Zuhörer. Celan g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Gedichten nicht um „potenzierte Wirklichkeit“,<br />

son<strong>der</strong>n um „e<strong>in</strong>e ansprechbare Wirklichkeit“,<br />

die sich nur im <strong>in</strong>neren Dialog mit<br />

dem Leser/Zuhörer entfalten kann. So<br />

schreibt er zur „Todesfuge“ an Walter Jens,<br />

<strong>der</strong> ihm zu e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> wichtigsten Fürsprecher<br />

werden sollte: „Das ›Grab <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft‹ – lieber<br />

Walter Jens, das ist, <strong>in</strong> diesem Gedicht, weiß<br />

Gott we<strong>der</strong> Entlehnung noch Metapher.“<br />

und: erst „Wie<strong>der</strong>begegnung [macht] Begegnung<br />

zur Begegnung.“ Damit wird Celans<br />

Anspruch an se<strong>in</strong>e Leser, <strong>in</strong> den <strong>in</strong>neren<br />

Dialog zu treten mit dem, was im Gedicht<br />

mit geteilt wird, deutlich. Auch die Form <strong>der</strong><br />

„Fuge“ hat Celan nicht vorsätzlich aus <strong>der</strong><br />

Musik entlehnt, sie ergab sich im Rahmen des<br />

poetischen Verdichtungsprozesses.<br />

„Mohn und Gedächtnis“<br />

Entgegen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schätzung mancher Kollegen<br />

<strong>in</strong> Niendorf wurde <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong><br />

Deutschen Verlagsanstalt aus Stuttgart, die<br />

als Sponsor <strong>der</strong> Gruppe 47 auftrat, sofort<br />

auf den neuen Ton <strong>in</strong> Celans Dichtung aufmerksam.<br />

Nach langen Verhandlungen begann<br />

<strong>der</strong> Verlag 1952 mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Auflage<br />

von „Mohn und Gedächtnis“. Der Erfolg<br />

des Gedicht bandes war so durchschlagend,<br />

dass 1954 bereits e<strong>in</strong>e Neuauflage gedruckt<br />

wurde.<br />

Recherchen <strong>in</strong> Archiven<br />

Anhand <strong>der</strong> Verhandlungen mit Verlagen<br />

zeichnet Wiedemann den langen Weg des<br />

Dichters <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Land nach, dessen Sprache<br />

die für ihn e<strong>in</strong>zig mögliche war. Nach vielen<br />

Versuchen fand er endlich beim Suhrkamp-<br />

Verlag e<strong>in</strong>e Bleibe als Dichter. Wie schwierig<br />

die An näherung für beide Seiten war, für die<br />

Verlage und den gebrandmarkten Dichter,<br />

zeigt Wiedemann an detaillierten Recherchen<br />

<strong>in</strong> zahlreichen Archiven. Nebenbei bekommt<br />

<strong>der</strong> Leser spannenden Geschichtsunterricht:<br />

Die Denkweise gegenüber Juden<br />

<strong>in</strong> den Dreißigerjahren wird aufgezeigt, die<br />

frühe Zweckentfremdung von Synagogen,<br />

das unsichere, oft von antisemitischer Grundhaltung<br />

geprägte Verhalten <strong>der</strong> Bundesbürger<br />

<strong>in</strong> den Fünfzigerjahren, die Verunsicherung<br />

durch die Achtundsechziger. Das schier unerschöpfliche<br />

Detailwissen wird souverän <strong>in</strong><br />

den chronologischen Ablauf e<strong>in</strong>gebaut, und<br />

wenn im Schlusskapitel Kritik an <strong>der</strong> schludrigen,<br />

nachlässigen, ja verächtlichen Berichterstattung<br />

<strong>in</strong> den Medien über Celans Tod<br />

deutlich wird, wird klar, dass mit diesem<br />

Sachbuch, das sich wie e<strong>in</strong> Krimi liest, mit<br />

Empathie und Sachverstand e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> besten<br />

Dichter <strong>der</strong> deutschen Sprache e<strong>in</strong> würdiges<br />

Denkmal gesetzt wird.<br />

Gisèle de Lestrange<br />

Die zahlreichen Fahrten nach Tüb<strong>in</strong>gen und<br />

Stuttgart von 1952 bis 1968 – verknüpft mit<br />

Lesungen vor unterschiedlichem Publikum –<br />

brachten für Celan auch den Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>iger<br />

Freunde mit sich, wie das Stuttgarter Ehepaar<br />

Hanne und Hermann Lenz. Mit se<strong>in</strong>er Frau,<br />

<strong>der</strong> französischen Maler<strong>in</strong> Gisèle de Lestrange,<br />

und dem kle<strong>in</strong>en Sohn Eric war Celan<br />

dort immer willkommen. Allerd<strong>in</strong>gs g<strong>in</strong>g diese<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 33


Freundschaft be<strong>in</strong>ahe <strong>in</strong> die Brüche. Dies ist<br />

nicht zuletzt auf die Verleumdungen durch<br />

Claire Goll, <strong>der</strong> Witwe Yvan Golls, zurückzuführen.<br />

Waren Claire und Yvan Goll <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

ersten Pariser Zeit für Celan zunächst e<strong>in</strong><br />

Anker und die e<strong>in</strong>zig wirklichen Freunde, än<strong>der</strong>te<br />

sich die Beziehung zu Claire bald nach<br />

Yvans Tod. Noch am Sterbebett hatte Yvan<br />

Goll verfügt, dass Celan freie Hand bei <strong>der</strong><br />

posthumen Veröffentlichung von Golls Manuskripten,<br />

vor allem <strong>der</strong> Übertragungen se<strong>in</strong>er<br />

Gedichte <strong>in</strong>s Deutsche hatte. Doch je länger<br />

ihr Mann tot war, umso mehr trat Claire Goll<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en eigenen „Dialog“ mit dem verstorbenen<br />

Ehepartner, verwandte Vorschläge von<br />

Celan, baute sie <strong>in</strong> Golls Gedichte e<strong>in</strong>, gab sie<br />

selbst heraus und bezichtigte Celan des Plagiats.<br />

Das Durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong> war für Außenstehende<br />

schwer zu durchschauen und wurde<br />

durch die regelrechte Verleumdung seitens<br />

Claire Golls, Celan gebe den Tod se<strong>in</strong>er Eltern<br />

im KZ nur vor, auf die Spitze getrieben.<br />

In diesem Streit war Walter Jens e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen,<br />

<strong>der</strong> sich engagiert zu Celan bekannte.<br />

„Vielleicht fühlte sich Celan nicht e<strong>in</strong>mal von<br />

se<strong>in</strong>er jüdischen Freund<strong>in</strong> Hanne Lenz ganz<br />

ernstgenommen“, vermutet Babara Wiedemann,<br />

denn wie viele an<strong>der</strong>e riet Hanne Lenz<br />

von e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>stweiligen Verfügung gegen Claire<br />

Goll ab. Mit viel H<strong>in</strong>tergrundwissen macht<br />

Wiedemann die verheerende Wirkung <strong>der</strong><br />

Goll’schen Anklagen auf Celan deutlich. Und<br />

sie entfaltet die e<strong>in</strong>zelnen Entwicklungsschritte<br />

<strong>der</strong> Verzweiflung, die Celan gegen Ende se<strong>in</strong>es<br />

Lebens sowohl <strong>in</strong> die Psychiatrie brachte, als<br />

auch zur Trennung von Frau und K<strong>in</strong>d, bis er<br />

sich endlich von niemandem mehr verstanden<br />

sah und <strong>in</strong> die Se<strong>in</strong>e stürzte.<br />

Appell<br />

Celans Satz, er sei „Auf dem Wege zu Weiterem“,<br />

kann vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Lektüre<br />

dieses Buches auch als Appell verstanden<br />

werden, den nachfolgenden Generationen<br />

Zugang zu Celans Lyrik zu ermöglichen. Für<br />

Deutschlehrer stellt dieses Buch erhellende<br />

Zusammenhänge her. Germanistikstudenten<br />

müssten es lesen. Der Liebhaber von Lyrik<br />

bekommt e<strong>in</strong>en übersichtlichen, spannend<br />

geschriebenen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Tragik dieses<br />

Lebens und <strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />

Am Schluss bleibt das für den Leser sehr<br />

praktische Werk- und Personenregister zu erwähnen,<br />

das dem beim Lesen entstehenden<br />

Bedürfnis nachzuschlagen, Aussagen zu ver-<br />

gleichen, sehr entgegenkommt. E<strong>in</strong> lesenswertes<br />

Buch! Priska Tschan-Wiegelmann<br />

Barbara Wiedemann: „E<strong>in</strong> Faible für Tüb<strong>in</strong>gen“ Paul<br />

Celan <strong>in</strong> Württemberg, Deutschland und Paul Celan,<br />

292 S., Klöpfer und Meyer Verlag, Tüb<strong>in</strong>gen, September<br />

2013.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichten<br />

N<strong>in</strong>el Revniaga trägt e<strong>in</strong>en Vornamen, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

den 1920er-Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion sehr<br />

beliebt war. Liest man ihn vom Ende, ergibt<br />

er Len<strong>in</strong>. N<strong>in</strong>el-Len<strong>in</strong>, geboren 1925, kommt<br />

aus e<strong>in</strong>er armen jüdischen Familie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e.<br />

Ihr Vater arbeitete für die Partei im<br />

Lebensmittelsektor und er war viel unterwegs,<br />

aber N<strong>in</strong>el berichtet, dass sie e<strong>in</strong>e glückliche<br />

K<strong>in</strong>dheit hatte. Das än<strong>der</strong>te sich 1937. „E<strong>in</strong>es<br />

Tages kamen die Leute <strong>in</strong> unser Haus und verhafteten<br />

me<strong>in</strong>en Vater. Er wurde zum Volksfe<strong>in</strong>d<br />

erklärt. In e<strong>in</strong>em Getreidespeicher waren<br />

Kornkäfer aufgetaucht. Man sagte, me<strong>in</strong><br />

Vater sei e<strong>in</strong> Volksfe<strong>in</strong>d, weil er das Getreide<br />

vernichten wolle.“<br />

Im Juni 1941 wurde Kiew bombardiert und<br />

Ende des Jahres musste N<strong>in</strong>els Schwester mit<br />

gerade 18 Jahren mit <strong>der</strong> Roten Armee an die<br />

Front. Nach dem Krieg g<strong>in</strong>g die Familie nach<br />

Kiew zurück und N<strong>in</strong>el wurde Geschichtslehrer<strong>in</strong>.<br />

In <strong>der</strong> Sowjetunion war das Leben nicht<br />

leicht, „<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Frauen“, erzählt sie.<br />

„Nach <strong>der</strong> Arbeit musste man Lebensmittel<br />

besorgen und Schlange stehen. Wir standen<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Stunde lang, um e<strong>in</strong> Stück<br />

Wurst zu kaufen.“<br />

Im Jahr 1995 entschlossen sich ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

nach Deutschland zu gehen und sie kümmerten<br />

sich um die notwendigen Papiere. „Nach<br />

me<strong>in</strong>er Ankunft g<strong>in</strong>g ich sofort <strong>in</strong> die Jüdische<br />

Geme<strong>in</strong>de. Woh<strong>in</strong> denn sonst? Dort s<strong>in</strong>d ja<br />

alle russischsprachig. Mir gefällt es hier und es<br />

kamen bei mir Fähigkeiten zum Vorsche<strong>in</strong>,<br />

die ich nicht geahnt hätte. Ich begann Gedichte<br />

zu schreiben.“<br />

Namen und Gesichter<br />

„Hier machen Fakten und Daten Platz für Namen<br />

und Gesichter“, schreibt NRW-M<strong>in</strong>isterpräsident<strong>in</strong><br />

Hannelore Kraft im Vorwort zu<br />

diesem Buch. Und zu diesen Namen und Gesichtern<br />

gehören auch Geschichten, Lebensgeschichten.<br />

Die Historiker Ursula Reuter<br />

und Thomas Roth haben mit 40 aus <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Sowjetunion nach Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />

zugewan<strong>der</strong>ten Juden „biografisch-narrative“<br />

Interviews geführt, sie sorgfältig redigiert<br />

und jetzt zweisprachig, <strong>in</strong> Deutsch und <strong>in</strong><br />

Russisch, publiziert.<br />

Er<strong>in</strong>nerungen<br />

Grundlage für das spannend zu lesende Buch<br />

war e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Projekt <strong>der</strong> Jüdischen<br />

NRW-Geme<strong>in</strong>den mit dem NS-Dokumentationszentrum<br />

<strong>der</strong> Stadt Köln. Dieses 2009<br />

begonnene Projekt „Lebensgeschichten jüdischer<br />

Zuwan<strong>der</strong>er aus <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion<br />

<strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen“ wollte die<br />

Men schen nicht abstrakt als soziale Gruppe<br />

beschreiben, son<strong>der</strong>n „beispielhaft auf die<br />

Lebensläufe, Er<strong>in</strong>nerungen und Erzählungen<br />

34 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


aufmerksam machen“, sagt Werner Jung, Direktor<br />

des Kölner Dokumentationszentrum.<br />

Er nennt die Ergebnisse „Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichten“,<br />

denn die Erzählungen beg<strong>in</strong>nen<br />

teilweise mit dem Ersten Weltkrieg und sie<br />

enden am Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

neuen Heimat <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Leben und Über<strong>leben</strong><br />

„Unsere GesprächspartnerInnen sollten nach<br />

eigenen Vorstellungen und ohne strenge Vorgaben<br />

von ihrem Leben erzählen, von den Ereignissen<br />

und Erfahrungen, die ihnen selbst<br />

wichtig erschienen“, erläutern die „Buch-Macher“<br />

ihr Interview-Konzept. Trotzdem behandeln<br />

alle Interwies „den familiären H<strong>in</strong>tergrund,<br />

K<strong>in</strong>dheit und Jugend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion,<br />

das Leben und Über<strong>leben</strong> im Krieg,<br />

Nachkriegszeit und Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> sowjetischen Gesellschaft, den gesellschaftlichen<br />

Umbruch vor und nach 1990, die<br />

Entscheidung zur Auswan<strong>der</strong>ung sowie Ankunft<br />

und Leben <strong>in</strong> Deutschland“.<br />

Den „Buch-Machern“, dazu zählen auch die<br />

Fotograf<strong>in</strong> Anna C. Wagner, Lew Walamas als<br />

Übersetzer und verb<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Kommunikator<br />

und e<strong>in</strong> engagierter Verlag, ist e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende<br />

Sammlung von Lebensgeschichten<br />

gelungen. Sie könnte den Blick auf die mittlerweile<br />

dom<strong>in</strong>ierende Mitglie<strong>der</strong>-Gruppe <strong>der</strong><br />

jüdischen Geme<strong>in</strong>den nachhaltig verän<strong>der</strong>n.<br />

Benno Reicher<br />

Ursula Reuter, Thomas Roth: Lebenswege und Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichten,<br />

Er<strong>in</strong>nerungen jüdischer Zuwan<strong>der</strong>er<br />

aus <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-<br />

Westfalen, 544 S., Emons Verlag, Köln, 2013.<br />

Uns kriegt ihr nicht<br />

Immer hat es Über<strong>leben</strong>de gegeben, auch <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Schoa. Manche überlebten, weil sie untergetaucht<br />

waren. Und diese Über<strong>leben</strong>den<br />

schwiegen lange, bis sie, oft erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortgeschrittenen<br />

Alter, das Schweigen nicht<br />

mehr ertragen konnten. Sie begannen zu erzählen,<br />

davon, was sie an Schrecklichem erlebt<br />

hatten und davon, wie sie über<strong>leben</strong><br />

konnten.<br />

Zwei, die nicht nur zuhörten, son<strong>der</strong>n auch<br />

notierten, waren T<strong>in</strong>a Hüttl und Alexan<strong>der</strong><br />

Me schnig. Zwei Nachgeborene: die e<strong>in</strong>e 1975<br />

<strong>in</strong> München auf die Welt gekommen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

1965 <strong>in</strong> Dornbirn <strong>in</strong> Österreich, beide als<br />

Journalisten und Autoren professionelle Schreiber.<br />

Sie sammelten die Geschichten und veröffentlichten<br />

sie <strong>in</strong> diesem Jahr als Buch.<br />

Dar<strong>in</strong> befassen sie sich mit den Untergetauchten:<br />

jenen, die sich wi<strong>der</strong>setzten, sich nicht bei<br />

den anbefohlenen Sammelstellen meldeten,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> den Untergrund g<strong>in</strong>gen und <strong>in</strong><br />

Kellern, <strong>in</strong> Schrebergärten und auf Dachböden<br />

überlebten. Mut brauchten sie und die<br />

Hilfe von Menschen guten Willens, die sie tatsächlich<br />

fanden.<br />

„Auslöser für den Schritt <strong>in</strong> die Illegalität war<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes Ereignis: die Abholung<br />

Verwandter; die schriftliche Auffor<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Gestapo, sich an e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Sammelplätze<br />

für den Transport e<strong>in</strong>zuf<strong>in</strong>den; die konkrete<br />

Angst vor e<strong>in</strong>em Denunzianten o<strong>der</strong> die<br />

rechtzeitige Warnung durch Dritte. Erst Erlebnisse<br />

wie diese machten ihnen schlagartig<br />

klar, dass sie nun e<strong>in</strong>e Entscheidung treffen<br />

mussten“, schreiben die Autoren <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>leitung<br />

und „für das Über<strong>leben</strong> im Versteck<br />

waren sie auf vielfache Unterstützung angewiesen:<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Beistand o<strong>der</strong> meistens<br />

e<strong>in</strong> Netz von Helfern; verschiedene Unterkünfte;<br />

die Möglichkeit, Nahrung zu beschaffen;<br />

gefälschte Papiere. Das Risiko, trotz aller<br />

Vorsichtsmaßnahmen dennoch entdeckt o<strong>der</strong><br />

denunziert zu werden, war zu jedem Zeitpunkt<br />

bis Kriegsende äußerst hoch. Zur falschen<br />

Zeit am falschen Ort zu se<strong>in</strong> konnte<br />

stets den eigenen Tod bedeuten.“<br />

Von den <strong>in</strong>sgesamt 15 Über<strong>leben</strong>den, die im<br />

Buch zu Wort kommen, s<strong>in</strong>d neun Frauen und<br />

sechs Männer. Die ältesten Über<strong>leben</strong>den<br />

s<strong>in</strong>d 1920 und 1921 geboren, die jüngsten<br />

1941 und 1942. Dass aber auch diese Über<strong>leben</strong>den<br />

bald nicht mehr unter uns weilen,<br />

davon zeugt die Tatsache, dass zwei <strong>der</strong> Befragten<br />

nicht mehr die Veröffentlichung des<br />

Buches erlebten.<br />

Den Autoren ist zu danken, dass sie die Schil<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Zeitzeugen, abgesehen von behutsamen<br />

Korrekturen, weitgehend übernommen<br />

haben, sodass man beim Lesen den E<strong>in</strong>druck<br />

hat, man lausche persönlich ihren Geschichten.<br />

E<strong>in</strong> wichtiger Beitrag zur Geschichte <strong>der</strong><br />

Schoa, <strong>der</strong> viele Leser verdient hat.<br />

Miriam Magall<br />

T<strong>in</strong>a Hüttl, Alexan<strong>der</strong> Meschnig: Uns kriegt ihr nicht.<br />

Als K<strong>in</strong><strong>der</strong> versteckt – jüdische Über<strong>leben</strong>de erzählen,<br />

287 S., Piper Verlag, München, 2013.<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 35


RUSSISCHE BEITRÄGE (Redaktion: Vladislav Zeev Slepoy)<br />

36 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


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38 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


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JIDDISCHER BEITRAG (Redaktion: Marion Eichelsdörfer, Hochschule für Jüdische Studien)<br />

Jiddische Dichter aus dem Ghetto Lodz:<br />

Jerachmiel Briks<br />

(1912–1974)<br />

„Die jiddische Literatur muss die Sprache und das<br />

Gewissen e<strong>in</strong>es gejagten und geschundenen Volkes<br />

se<strong>in</strong>.“1 (J. L. Perets)<br />

Jerachmiel (Rachmiel) Briks wurde am 18. April<br />

1912 <strong>in</strong> Skarżysko-Kamienna, Polen, geboren. Er<br />

wuchs <strong>in</strong> armen Verhältnissen als e<strong>in</strong>es von acht<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n auf. Se<strong>in</strong> Vater, Reb Toyve, war Chassid<br />

und e<strong>in</strong> Gelehrter, Kantor und Vorbeter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Geme<strong>in</strong>de. Jerachmiel erhielt sowohl e<strong>in</strong>e traditionelle<br />

jüdische Erziehung als auch e<strong>in</strong>e weltliche<br />

Bildung. Bereits im Alter von vierzehn Jahren<br />

musste er als Hutmacher und Anstreicher mit für<br />

den Lebensunterhalt <strong>der</strong> Familie sorgen. Als junger<br />

Mann kam Briks nach Lodz, wo er das Schauspielen<br />

lernte und mit den Gruppen Ojfgang (Aufgang)<br />

und Lodscher jidischer teater studije (Lodzer<br />

jüdische Theatergruppe) auftrat. Im Jahr 1937 erschien<br />

se<strong>in</strong> erstes Gedicht Alejn (Alle<strong>in</strong>) <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Zeitschrift Insl <strong>in</strong> Lodz und zwei Jahre später,<br />

1939, publizierte er se<strong>in</strong>en ersten Lyrikband Jung<br />

gr<strong>in</strong> maj (Junger, grüner Mai) mit Gedichten<br />

polnischer Landschaftsbil<strong>der</strong>. Als die Deutschen<br />

Polen angriffen und besetzten, g<strong>in</strong>g Briks nach<br />

Warschau, um bei <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Stadt zu<br />

helfen. Dort wurde er von den Besatzern gefangen<br />

genommen und musste acht Wochen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefangenenlager<br />

verbr<strong>in</strong>gen.2 Nach se<strong>in</strong>er Freilassung<br />

suchte er noch im Jahr 1939 Mordechai Gebirtig<br />

(1877–1942) <strong>in</strong> Krakau auf. Er beschrieb<br />

diese Begegnung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren Di antlojfers.<br />

Fun gsise tsum <strong>leben</strong> (Die Flüchtl<strong>in</strong>ge. Von<br />

Agonie zum Leben). Gebirtig trug ihm se<strong>in</strong> Gedicht<br />

S’brent vor, von dessen rascher Verbreitung<br />

<strong>in</strong> den Straßen <strong>der</strong> Ghettos und <strong>in</strong> den Lagern<br />

Briks <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen schreibt. Gebirtig<br />

habe Herz und Seele se<strong>in</strong>es Volkes <strong>in</strong> das Gedicht<br />

gelegt und daher habe es schließlich auch e<strong>in</strong>en<br />

Volksliedcharakter erhalten. Allerd<strong>in</strong>gs war Briks<br />

damals, zum Zeitpunkt ihrer Begegnung, nicht mit<br />

Gebirtigs Pessimismus e<strong>in</strong>verstanden. „1940 war<br />

ich Optimist […]. Später habe ich e<strong>in</strong> optimistisches<br />

Gedicht als Antwort geschrieben und es ihm<br />

gewidmet.“3 Das Gedicht Nischt farzwajflen entstand<br />

1940 im Ghetto von Lodz und wurde dort<br />

zum ersten Mal öffentlich vorgetragen. Damit<br />

brachte Briks se<strong>in</strong>e Hoffnung und se<strong>in</strong>en Glauben<br />

an e<strong>in</strong>e positive Zukunft zum Ausdruck.<br />

Nicht verzweifeln<br />

Es ist nur e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>dböe –<br />

Verzweifle nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d.<br />

Wir s<strong>in</strong>d alte Bäume, hoch und breit,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Erde verwurzelt<br />

mit Kronen,<br />

die die Welt schmücken;<br />

starke Stürme<br />

können uns<br />

nur die Blätter abreißen,<br />

die Zweige abbrechen,<br />

aber nicht die Kronen.<br />

Starke, tiefverwurzelte Bäume<br />

kann <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d nicht ausreißen,<br />

nicht entwurzeln!<br />

Wir s<strong>in</strong>d ewige Bäume,<br />

die <strong>der</strong> Welt nahrhafte Früchte br<strong>in</strong>gen.<br />

Wir werden ewig se<strong>in</strong>!<br />

Es ist nur e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>dböe –<br />

Verzweifle nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d … 4<br />

An Simchat Tora 1942 lösten die Deutschen das<br />

Ghetto von Skarżysko auf und brachten alle E<strong>in</strong>wohner<br />

nach Trebl<strong>in</strong>ka. Dort wurde auch Jerachmiel<br />

Briks Familie ermordet, während er sich noch<br />

immer im Lodzer Ghetto befand.5 Trotz <strong>der</strong><br />

schwierigen Umstände im Ghetto setzte er se<strong>in</strong>e<br />

schriftstellerische Arbeit fort und half bei <strong>der</strong> Organisation<br />

<strong>der</strong> Literatengruppe um die Schriftsteller<strong>in</strong><br />

Miriam Ul<strong>in</strong>ower, <strong>in</strong> <strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>em Jesaja<br />

Spiegel, Simcha Bunim Schajewitch und Chawa<br />

Rosenfarb Mitglie<strong>der</strong> waren. Briks, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Texte<br />

an den Literatur abenden selbst vortrug, wurde<br />

schließlich, vermutlich wegen se<strong>in</strong>er unbequemen<br />

Texte, auf e<strong>in</strong>e Deportationsliste gesetzt und erst<br />

durch das E<strong>in</strong>schreiten von Freunden wie<strong>der</strong> von<br />

dieser gestrichen.6<br />

Als im August 1944 das Ghetto aufgelöst wurde,<br />

kam Jerachmiel Briks mit e<strong>in</strong>em Transport nach<br />

Auschwitz. Wie aus vielen an<strong>der</strong>en autobiographischen<br />

Berichten bekannt, wurden auch ihm hier<br />

se<strong>in</strong>e aufgeschriebenen Texte und Gedichte entrissen<br />

und zerstört. Damit er sie jedoch nicht verlor,<br />

memorierte er sie immer wie<strong>der</strong>, um sie bei Gelegenheit<br />

wie<strong>der</strong> aufschreiben zu können. Während<br />

<strong>der</strong> Zeit im Lager gelang es Briks jedoch nur e<strong>in</strong>mal,<br />

e<strong>in</strong> Gedicht auf e<strong>in</strong>en Papierrest zu schreiben;<br />

es hieß Der gehongener (Der Gehängte).7<br />

Da Briks selbst noch jung und mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

bei Kräften war, wurde er als Arbeitskraft zur<br />

Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. Er kam<br />

mit e<strong>in</strong>em Transport nach Braunschweig, wo er für<br />

die Büss<strong>in</strong>g-NAG, e<strong>in</strong>en großen Kraftfahrzeughersteller,<br />

arbeiten musste. Im Lager Vechelde wurden<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen Jutesp<strong>in</strong>nerei Reifen für militärische<br />

Lastautos hergestellt.8 Später wurden die<br />

jüdischen Gefangenen mit e<strong>in</strong>em Fußmarsch zum<br />

KZ Watenstedt gebracht. Hier musste für die Stahlwerke<br />

Braunschweig, die Reichswerke Herman Gör<strong>in</strong>g,<br />

gearbeitet werden.9 Nach e<strong>in</strong>igen Wochen<br />

hieß es schließlich, man würde jüdische Zwangsarbeiter<br />

<strong>in</strong> die Schweiz br<strong>in</strong>gen, um sie gegen verwundete<br />

deutsche Soldaten auszutauschen. Doch<br />

statt <strong>in</strong> die Schweiz wurden sie <strong>in</strong> das KZ Wöbbel<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong> Außenlager von Neuengamme, gebracht.<br />

In Baracken ohne Pritschen, ohne festen Boden,<br />

mussten sie <strong>in</strong> Erdlöchern liegen. In <strong>der</strong> Nacht<br />

zum 1. Mai 1945 versuchte die SS schließlich<br />

noch, die Gefangenen per Zug wegzubr<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong><br />

amerikanischer Tiefflieger bombardierte jedoch<br />

die Lok, so dass sie im Lager Wöbbel<strong>in</strong> blieben.<br />

Noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht zum 2. Mai 1945 flüchtete das<br />

SS-Personal <strong>in</strong> ziviler Kleidung und ließ die Gefangenen<br />

zurück.10<br />

Nach <strong>der</strong> Befreiung am 2. Mai 1945 und e<strong>in</strong>em<br />

längeren Krankenhausaufenthalt <strong>in</strong> Bergen-Belsen<br />

brachte das Rote Kreuz Briks zur besseren Heilung<br />

nach Schweden. In den dortigen Krankenhäusern<br />

und Sanatorien hat er weiterh<strong>in</strong> geschrieben.<br />

Er übernahm kulturelle Aufgaben für die Über<strong>leben</strong>den<br />

und war <strong>der</strong> offizielle Korrespondent des<br />

YIVO (Jidischer wisnschaftlicher <strong>in</strong>stitut) <strong>in</strong><br />

Schweden. Das blieb er e<strong>in</strong>ige Jahre, <strong>in</strong> denen er<br />

<strong>in</strong> regem Briefkontakt stand mit dem L<strong>in</strong>guisten<br />

Max We<strong>in</strong>reich (1894–1969), dem Grün<strong>der</strong> des<br />

YIVO. Briks sandte ihm Materialien über das jüdische<br />

Leben <strong>in</strong> Schweden. Zudem hat sich Jerachmiel<br />

Briks darum bemüht das „Zonabend-Archiv“,<br />

das wichtigste Archiv zur Geschichte des Lodzer<br />

Ghetto, dem YIVO zukommen zu lassen.11 Der<br />

Namensgeber des Archivs, Nachman Zonabend,<br />

war Teil e<strong>in</strong>es im Ghetto Lodz zurückgelassenen<br />

Aufräumkommandos, das dort Spuren verwischen<br />

sollte. Stattdessen hat er aber Materialien gesammelt<br />

und vor Ort sicher versteckt, damit sie wie<strong>der</strong><br />

geborgen werden konnten. So hatte er „die Dokumente<br />

aus dem Archiv des Judenältesten“ im Januar<br />

1945 retten können […], [er entschied] die<br />

Schriften nicht nur an e<strong>in</strong>em Ort zur Aufbewahrung<br />

zu belassen. Während er den Großteil <strong>der</strong> Archivalien<br />

<strong>der</strong> Jüdischen Historischen Kommission<br />

übergab (<strong>der</strong> Vorgänger<strong>in</strong>stitution des heutigen Jüdischen<br />

Historischen Instituts <strong>in</strong> Warschau), versuchte<br />

er <strong>in</strong> den Jahren 1945 und 1946 Teile des<br />

geborgenen Materials <strong>in</strong>s Ausland zu schaffen,<br />

was aber zunächst misslang. Erst 1947 konnte<br />

Zon abend nach Schweden auswan<strong>der</strong>n und die so<br />

außer Landes gebrachten Dokumente nach New<br />

York <strong>in</strong> das dortige YIVO-Institut und auch nach<br />

Yad Vashem (Israel) weitergeben“.12<br />

Im März 1949 hat Max We<strong>in</strong>reich schließlich<br />

Briks und se<strong>in</strong>e Frau, zusammen mit ihren beiden<br />

kle<strong>in</strong>en Töchtern, nach New York gebracht. Er<br />

me<strong>in</strong>te, wenn Briks wirklich als jiddischer Autor<br />

aktiv se<strong>in</strong> wolle, dann müsse er <strong>in</strong> die USA kommen.<br />

Im November 1946 veröffentlichte Briks im<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> Journal, unter <strong>der</strong> Leitung des Literaturkritikers<br />

Schmuel Niger (1883–1955), se<strong>in</strong>e Geschichte<br />

Berele <strong>in</strong> geto (Berele im Ghetto). Se<strong>in</strong>e<br />

Novelle A kats <strong>in</strong> geto (E<strong>in</strong>e Katze im Ghetto)<br />

wollte zunächst ke<strong>in</strong> Verlag und ke<strong>in</strong>e Zeitschrift<br />

drucken. Schließlich ist es den Bemühungen des<br />

Dichters Abraham Reisen (1876–1953) zu verdanken,<br />

dass die Zeitung Tog (Tag) unter <strong>der</strong> Leitung<br />

von Ahron Zeitl<strong>in</strong> (1898–1973) im Oktober 1949<br />

die Novelle als Fortsetzungsgeschichte veröffentlichte.<br />

Die Literaturkritik lobte Briks Text als e<strong>in</strong>zigartig<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> „Churbnliteratur“. Der jiddische<br />

Autor Mani Lejb (1883–1953) schrieb am 14. September<br />

1950 an Briks: „Ihnen ist es gelungen, etwas<br />

Kunstvolles zu schaffen, das wegen <strong>der</strong> ausgezeichneten<br />

Geschichte tragikomisch ist, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

sich um e<strong>in</strong>e Katze herum <strong>der</strong> größte jüdische<br />

Schmerz und größte Tragik entwickeln. E<strong>in</strong>e Katze<br />

im Ghetto bietet sich zur Dramatisierung und<br />

Aufführung an. […] Wenn Sie sie dramatisieren,<br />

kann es e<strong>in</strong>e große Tragikomödie werden, die unser<br />

Unglück auf e<strong>in</strong>e Weise symbolisieren wird,<br />

die die gesamte dokumentarische Literatur über<br />

unseren Churbn nicht erreichen konnte.“13 Tatsächlich<br />

wird die Novelle <strong>in</strong> Auszügen auf <strong>der</strong> jiddischen<br />

Bühne szenisch umgesetzt, es entsteht e<strong>in</strong><br />

Hörspiel für das Radio und schließlich schreibt <strong>der</strong><br />

Fernsehautor Schimon W<strong>in</strong>celberger e<strong>in</strong>e Bearbeitung<br />

als Theaterstück mit dem Titel The w<strong>in</strong>dows<br />

of heaven (1962).14<br />

Im Jahr 1952 erschien e<strong>in</strong>e erste Sammlung von<br />

Briks’ Novellen unter dem Titel Ojf kidesch ha-<br />

Schem (Für die Heiligung des göttlichen Namens).<br />

Das Buch wurde e<strong>in</strong> großer Erfolg und <strong>in</strong>nerhalb<br />

kurzer Zeit kam es <strong>in</strong> <strong>der</strong> vierten Auflage heraus.<br />

Dar<strong>in</strong> enthalten ist die gleichnamige Titelgeschichte,<br />

außerdem Berele <strong>in</strong> geto und A kats <strong>in</strong> geto.<br />

1959 wurde die Sammlung unter dem Titel „A Cat<br />

<strong>in</strong> the Ghetto“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er englischen Übersetzung<br />

von S. Morris Engel veröffentlicht.15 Die Geschichte<br />

Ojf kidesch haSchem, von <strong>der</strong> Briks selbst<br />

sagte, sie hieße wohl besser Ojf kidesch ha-<br />

Mentsch (Für die Heiligung des Menschen), erzählt<br />

vom Schicksal e<strong>in</strong>er Familie, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> drei Generationen ihr Leben gaben, um das<br />

Leben an<strong>der</strong>er zu retten.16<br />

Nach se<strong>in</strong>em ersten Gedichtband Jung gr<strong>in</strong> maj<br />

schrieb Briks nur noch e<strong>in</strong>en weiteren. Im Ghetto<br />

40 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Lodz verfasste er se<strong>in</strong> Poem Geto-Fabrik 76. Dar<strong>in</strong><br />

schil<strong>der</strong>te Briks die Arbeit und Atmosphäre <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> chemischen Abfallverwertung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> zusammengekehrte<br />

Reste aus den Bäckereien und Staub<br />

und Asche zu e<strong>in</strong>em Likör für die Ghettoverwaltung<br />

vergoren wurden. Das Manuskript konnte<br />

Briks noch im Ghetto verstecken und später konnte<br />

es wie<strong>der</strong> ausgegraben werden. Heute ist es im<br />

Jüdischen Historischen Institut <strong>in</strong> Warschau archiviert.<br />

Publiziert wurde das Gedicht schließlich<br />

1976, ohne dass Briks daran e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<br />

vorgenommen hatte. Nach dem Krieg schrieb<br />

Briks ausschließlich Prosatexte über die Schoa;<br />

<strong>in</strong>sgesamt sieben Bücher. Er blieb immer e<strong>in</strong> jiddischer<br />

Autor, <strong>der</strong> auch privat großen Wert darauf<br />

legte, dass se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> Jiddisch sprachen. Se<strong>in</strong>e<br />

Tochter Bella Briks-Kle<strong>in</strong> erzählt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview<br />

des Forwerts, dass Englisch zuhause streng<br />

verboten war: „Ich er<strong>in</strong>nere mich, wie geduldig<br />

me<strong>in</strong> Vater war, wenn er mir allabendlich beibrachte<br />

Jiddisch zu lesen und zu schreiben, zu<br />

sprechen und zu s<strong>in</strong>gen. Ich verstand, wie wichtig<br />

Jiddisch für ihn war, und er<strong>in</strong>nere mich, wie er immer<br />

e<strong>in</strong> gestärktes Hemd mit Krawatte und Weste<br />

anzog, bevor er sich zum Schreiben h<strong>in</strong>setzte, wie<br />

um se<strong>in</strong>en Helden, über die er schrieb, die gebührende<br />

Ehre zu erweisen.“17<br />

In se<strong>in</strong>em Essay Majn kredo 18 schreibt Briks über<br />

se<strong>in</strong>e literarische Arbeit und rechtfertigt se<strong>in</strong>en<br />

Schreibstil. Briks hat nach dem Über<strong>leben</strong> <strong>der</strong><br />

Schoa ausschließlich Bücher über den Churbn<br />

schlischi (Die dritte Katastrophe) geschrieben.<br />

Se<strong>in</strong> Ziel war es, aktive Er<strong>in</strong>nerungsarbeit zu leisten<br />

und zu zeigen, was die Unterdrückung und<br />

Qualen durch die Nationalsozialisten aus den<br />

Menschen machten. Dabei war es nicht se<strong>in</strong> Ziel<br />

literarische Kunst zu schaffen. Der Schlüssel lag<br />

für ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehrlichen E<strong>in</strong>fachheit <strong>der</strong> Darstellung.<br />

Wenn Briks darüber Auskunft gibt, was und wie er<br />

schreibt, nennt er zeitgenössische polnische und<br />

russische Autoren als E<strong>in</strong>flüsse, aber <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

die jiddische Literatur Scholem Aleichems und<br />

Mendele Mojcher Sforims und vor allem die Bibel.<br />

Die Megillot, Aggadot, Midraschim und nicht zuletzt<br />

die Prophetenbücher s<strong>in</strong>d Texte, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Tradition<br />

er se<strong>in</strong> eigenes Schreiben e<strong>in</strong>ordnet. So bezeichnet<br />

Briks se<strong>in</strong>e Novellen Ojf kidesch haSchem<br />

und Berele <strong>in</strong> geto als Megilla und auch A Kats <strong>in</strong><br />

geto entstand unter tanachischem E<strong>in</strong>fluss.<br />

Beson<strong>der</strong>s charakteristisch für se<strong>in</strong> Schreiben ist<br />

die Satire und se<strong>in</strong> beißen<strong>der</strong> Humor. Briks war<br />

<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, man müsse über die Schoa mit Humor<br />

schreiben: „Denn ich habe gesehen, dass es <strong>in</strong><br />

den Ghettos und Lagern Humor und Folklore gab.<br />

[…] Die Juden wollten immer die schlimmsten<br />

antisemitischen Angriffe mit e<strong>in</strong>em Witz zunichte<br />

machen. Seit die Juden gezwungen waren die Gewehre<br />

wegzulegen, war ihre e<strong>in</strong>zige Waffe <strong>der</strong> beißende<br />

Witz.“19 So erzählt e<strong>in</strong> Protagonist <strong>in</strong> A kats<br />

<strong>in</strong> geto, dass e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ohne Arme, Be<strong>in</strong>e<br />

und sogar ohne Kopf bekommen habe. Der Arzt<br />

aber beruhigt sie, es sei doch alles <strong>in</strong> Ordnung,<br />

Hauptsache das K<strong>in</strong>d habe Schultern, plejzes. Plejze<br />

hobn hieß im Sprachgebrauch <strong>der</strong> Lodzer Ghettobevölkerung,<br />

auf Grund von Beziehungen zu<br />

entscheidenden adm<strong>in</strong>istrativen Stellen <strong>der</strong> sogenannten<br />

jüdischen Selbstverwaltung Vorteile zu<br />

haben, wie e<strong>in</strong>e zusätzliche Essensration, e<strong>in</strong>e Arbeit<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Ressort und ähnliches.<br />

Die tragische Komponente dieses Witzes ist es,<br />

dass wegen <strong>der</strong> schlechten mediz<strong>in</strong>ischen Versorgung,<br />

Krankheiten, Unterernährung und an<strong>der</strong>en<br />

Faktoren oft missgebildete K<strong>in</strong><strong>der</strong> zur Welt gebracht<br />

wurden.<br />

Der Midrasch und die Aggada s<strong>in</strong>d, nach Briks,<br />

Folklore mit Moral. Er sah auch se<strong>in</strong>e eigenen<br />

Schriften als Gemisch von historischen Fakten und<br />

Volkstümlichem. Wobei die E<strong>in</strong>fachheit <strong>der</strong> Erzählung<br />

bei ihm im Vor<strong>der</strong>grund stand, denn die Sprache<br />

sollte den Menschen entsprechen, die damals<br />

dort waren. So wie Scholem Aleichems Gedicht<br />

Ojfn pripetschik brent al fajerl zum Volkslied geworden<br />

ist, so sollten auch se<strong>in</strong>e Geschichten E<strong>in</strong>gang<br />

<strong>in</strong>s Volk f<strong>in</strong>den und weitererzählt werden. Zu<br />

diesem Zweck hatte er A kats <strong>in</strong> Geto aus verschiedenen<br />

Anekdoten komb<strong>in</strong>iert. Briks gelang es<br />

auf diese Weise, um e<strong>in</strong>e Katze verschiedene Szenen<br />

zu bauen, die zusammen e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck von<br />

<strong>der</strong> gesamten Situation im Ghetto geben. Aufhänger<br />

<strong>der</strong> Geschichte ist e<strong>in</strong>e Bekanntmachung <strong>der</strong><br />

sogenannten Approvisationsabteilung im Ghetto<br />

Lodz, die da lautete: „Wer e<strong>in</strong>e Katze br<strong>in</strong>gt, <strong>der</strong><br />

bekommt e<strong>in</strong> Brot von 2 Kilogramm.“ Alle s<strong>in</strong>d<br />

nun begierig, e<strong>in</strong>e Katze zu fangen und sich dafür<br />

e<strong>in</strong>mal richtig satt essen zu können. Im Zentrum<br />

steht e<strong>in</strong> junger Mann, Schlojme Sabludowitsch,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abteilung arbeitet, die alte Kleidung<br />

und Betten <strong>der</strong> Deportierten wie<strong>der</strong> aufbereitet.<br />

Als e<strong>in</strong>e Frau dort wirklich e<strong>in</strong>e Katze fängt,<br />

macht sie ihm das Angebot mit ihm das Brot zu<br />

teilen, wenn er für sie zur Adm<strong>in</strong>istration geht und<br />

die Katze e<strong>in</strong>tauscht. Sabludowitsch willigt e<strong>in</strong><br />

und träumt davon, satt zu se<strong>in</strong>. In Erwartung und<br />

Vorfreude auf e<strong>in</strong> Kilo Brot essen er und se<strong>in</strong>e<br />

Frau an diesem Abend schon die Essensration des<br />

nächsten Tages auf. Die Nachricht von <strong>der</strong> gefangenen<br />

Katze macht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fabrik schnell die Runde<br />

und je<strong>der</strong> versucht Sabludowitsch dazu zu überreden,<br />

das versprochene Brot mit ihm zu teilen.<br />

Als er schließlich die Katze e<strong>in</strong>tauschen will, wird<br />

er jedoch von <strong>der</strong> zuständigen Person <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung<br />

ausgelacht. E<strong>in</strong>e Katze? Die brauche man<br />

nicht, im Gegenteil. Dafür gebe es höchstens zehn<br />

Mark und das bei e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>kaufspreis für Brot<br />

von mittlerweile 1800 Mark. Sabludowitsch<br />

nimmt bitter enttäuscht die Katze wie<strong>der</strong> mit, die<br />

ihm schließlich daheim unbeaufsichtigt noch fast<br />

das letzte Essen stiehlt. In <strong>der</strong> Fabrik glaubt man<br />

ihm nicht und hält ihn für e<strong>in</strong>en Betrüger, <strong>der</strong> nicht<br />

teilen will. Alle im Arbeitsressort erheben Anspruch<br />

auf die Katze bzw. das Brot. Schließlich<br />

gibt Sabludowitsch die Katze se<strong>in</strong>er ersten „Geschäftspartner<strong>in</strong>“<br />

zurück, die diese allerd<strong>in</strong>gs laufen<br />

lässt, weil sie erkennt, dass damit wohl ke<strong>in</strong><br />

Gew<strong>in</strong>n zu erzielen ist.20<br />

Die Katze wird gejagt, dann gehütet, schließlich<br />

gestohlen, wie<strong>der</strong> zurückgegeben und gefüttert.<br />

Um all diese Handlungen entstehen Begegnungen<br />

und Diskussionen, die so täglich im Ghetto vorkommen<br />

konnten. Bei Briks s<strong>in</strong>d es immer die<br />

kle<strong>in</strong>en Geschichten von E<strong>in</strong>zelpersonen o<strong>der</strong> Familien,<br />

die stellvertretend für die Leiden aller stehen.<br />

Er wusste, dass er nicht fähig wäre, die Tragödie<br />

von Millionen Menschen so zu schil<strong>der</strong>n,<br />

dass beim Leser e<strong>in</strong> emotionaler Bezug entsteht.21<br />

In se<strong>in</strong>em Nachwort zur Novelle über den Vorsitzenden<br />

des Judenrates Mordechaj Chajm Rumkowski,<br />

Der kejsser <strong>in</strong> geto (Der Kaiser im Ghetto)<br />

schreibt Briks: „Ich habe mich bemüht, das<br />

wahre Leben im Lodzer Ghetto zu zeigen: die Leiden,<br />

Schmerzen, Verzweiflung – aber auch Zuversicht<br />

und Humor von ihrer guten und schönen Seite<br />

und von den größten Helden bis h<strong>in</strong> zu den Verrätern,<br />

die nicht <strong>der</strong> Versuchung unter dem Druck<br />

<strong>der</strong> Nationalsozialisten standhalten konnten. Vom<br />

K<strong>in</strong>d – bis zum Alten, (…) von <strong>der</strong> Unterwelt – bis<br />

zum Idealisten, Künstler und Parteifunktionär.“22<br />

Für Briks ist es nicht entscheidend alles zu erzählen,<br />

was er gesehen o<strong>der</strong> erlebt hat. Er trifft e<strong>in</strong>e<br />

gezielte Auswahl von Fakten, die symbolisch auch<br />

für größere Zusammenhänge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />

Ghettos und Lager stehen können. Dieses Grundgerüst<br />

stattet er mit den Charakteren aus, die das<br />

alltägliche Leben im Ghetto nachzeichnen: „Ich<br />

male die Lebensgewohnheiten aus, beschreibe die<br />

Kleidung, die Herkunft <strong>der</strong> Menschen, ihre Sprache,<br />

ihre Psychologie.“23 In se<strong>in</strong>en Erzählungen<br />

verschweigt Briks nichts, er stellt alle Auswüchse<br />

und Abgründe des menschlichen Handelns dar,<br />

wie sie sich unter den Ghetto- und Lagerbed<strong>in</strong>gungen<br />

entwickelten. Ghettopolizei, Judenrat, Korruption<br />

und Verbrechen, alles f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Texten wie<strong>der</strong>. Dafür ist er häufig kritisiert worden,<br />

dies zeuge nicht von Liebe zum jüdischen<br />

Volk. Briks jedoch rechtfertigte sich: „Ich wollte<br />

zeigen, was <strong>der</strong> Nationalsozialismus, was jede Art<br />

von Diktatur, aus den Menschen machen kann und<br />

auf welche Art dies geschieht.“24<br />

Dabei war <strong>der</strong> Dichter Jitzchak Katzenelson<br />

(1886–1944) se<strong>in</strong> großes Vorbild. So wie <strong>der</strong> Prophet<br />

Jeremia <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Klagelie<strong>der</strong>n nicht verschweigt,<br />

dass e<strong>in</strong>e Mutter <strong>in</strong> großer Not ihr eigenes<br />

K<strong>in</strong>d aufisst, so habe auch Katzenelson <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Lied vom ermordeten jüdischen Volk nicht die<br />

Grausamkeit <strong>in</strong>nerhalb des eigenen Volkes verschwiegen.<br />

Dieses Poem war für Briks das Ejcha,<br />

das Klagelied, des dritten Churbn. So wie Jeremias<br />

Klagelie<strong>der</strong> heilig geworden s<strong>in</strong>d und ihren festen<br />

Platz am Tischa Be’aw haben, so solle auch das<br />

Poem Katzenelsons e<strong>in</strong>en ähnlichen Status erhalten.25<br />

Vor allem wandte sich Briks gegen die Autoren,<br />

die die Schoa nicht durchlebt haben und trotzdem<br />

über sie schreiben. Darüber h<strong>in</strong>aus lassen sie Vorschriften<br />

verlauten, welche Art <strong>der</strong> literarischen<br />

Darstellung dem Sachverhalt angemessen sei und<br />

welche nicht. Gerade aus diesem Kreis kamen die<br />

oben erwähnten Kritiker se<strong>in</strong>er Werke. Briks bedauerte,<br />

dass zu viele Autoren ihre Me<strong>in</strong>ung anpassen<br />

und gefallen wollen: „Die jiddische Literatur<br />

muss die Zunge und das Gewissen e<strong>in</strong>es gejagten<br />

und gepe<strong>in</strong>igten Volkes se<strong>in</strong>. (J. L. Perets) Die<br />

jiddische Literatur muss auch die Fortsetzung unserer<br />

Wurzeln se<strong>in</strong> – des Tanachs und des Talmuds.“26<br />

1 Rachmiel Briks: Ojf kidesh haSchem. Un an<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong>tsejlungen, New York 1952, S. 9.<br />

2 Rachmiel Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, New York 1961,<br />

S. I.<br />

3 Rachmiel Briks: Di antlojfers fun gsise tsum <strong>leben</strong>,<br />

New York 1975, S. 149.<br />

4 Ebd., S. 150.<br />

5 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. I.<br />

6 Krystyna Radziszewska: „Flaschenpost“ aus <strong>der</strong> Hölle.<br />

Texte aus dem Lodzer Ghetto, Frankfurt a.M. 2011,<br />

S. 135.<br />

7 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. II.<br />

8 Briks: Di antlojfers, S. 166ff.<br />

9 Ebd., S. 202.<br />

10 Ebd., S. 208.<br />

11 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. I–IV.<br />

12 Erw<strong>in</strong> Leibfried: Notizen zu den editorischen Pr<strong>in</strong>zipien<br />

<strong>der</strong> „Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“,<br />

<strong>in</strong>: Spiegel <strong>der</strong> Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagaz<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Justus-Liebig-Universität Gießen,<br />

S. 42–45.<br />

13 Rachmiel Briks: Ojf kidesch haSchem. Un an<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong>tsejlungen, New York 1952, S. 93.<br />

14 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. III.<br />

15 Ebd.<br />

16 Rachmiel Briks: Di papirene krojn, New York/Tel Aviv<br />

1969, S. 195.<br />

17 Sara-Rachel Schechter: Erscht trefn fun di k<strong>in</strong><strong>der</strong> fun<br />

jidische schreiber, <strong>in</strong>: Forwerts, 5. August 2011.<br />

18 Briks: Di papirene krojn, S. 187–199.<br />

19 Ebd., S. 191.<br />

20 Briks: Ojf kidesch haSchem, S. 94–132.<br />

21 Briks: Di papirene krojn, S. 192.<br />

22 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. 246.<br />

23 Briks: Di papirene krojn, S. 193.<br />

24 Ebd., S. 195.<br />

25 Ebd., S. 189f.<br />

26 Ebd., S. 198.<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 41


42 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013


Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 43


Ungewöhnliche Chanukka-Leuchter. Beachten Sie dazu auch die Beiträge auf den Seiten 4 und 16.<br />

Fotos: Jüdisches Museum Fürth (5) und Jüdisches Museum Berl<strong>in</strong> (2 unten).

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