jüdisches leben in bayern - Landesverband der Israelitischen ...
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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN<br />
MITTEILUNGSBLATT DES LANDESVERBANDES DER ISRAELITISCHEN KULTUSGEMEINDEN IN BAYERN<br />
28. JAHRGANG / NR. 123 ã“òùú äëåðç<br />
DEZEMBER 2013
EDITORIAL<br />
Liebe Leser<strong>in</strong>nen, liebe Leser,<br />
Während dieses<br />
CHA NUKKA-<br />
HEFT von <strong>der</strong> Redaktion<br />
produziert<br />
wird und ich me<strong>in</strong><br />
EDITORIAL dafür<br />
schreibe, laufen<br />
jetzt, Anfang November,<br />
<strong>in</strong> vielen<br />
Städten und <strong>in</strong> jüdischen<br />
Geme<strong>in</strong>den<br />
die letzten Vorbereitungen<br />
für die<br />
Gedenkfeiern zur Er<strong>in</strong>nerung an die Pogromnacht<br />
vom 9. auf den 10. November 1938. „Es<br />
war die Katastrophe vor <strong>der</strong> Katastrophe“,<br />
erklärte Professor Raphael Gross, Direktor<br />
des Jüdischen Museums <strong>in</strong> Frankfurt, <strong>in</strong> diesen<br />
Tagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitungs<strong>in</strong>terview. Neben<br />
den Brandstiftungen <strong>in</strong> unseren Synagogen<br />
und den E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>den,<br />
neben den Zerstörungen von Wohnungen,<br />
Häusern und Geschäften von Juden,<br />
neben den unzähligen Verhaftungen und Deportationen<br />
von jüdischen Menschen war <strong>der</strong><br />
9. November auch <strong>der</strong> Auftakt zu e<strong>in</strong>er gewaltigen<br />
Raubaktion von jüdischem Eigentum.<br />
Der enorme Kunstschatz, über den die Medien<br />
gerade ausführlich berichten, 1400 Bil<strong>der</strong><br />
und Kunstwerke, von den Nazis gestohlen und<br />
bis vor kurzem <strong>in</strong> München versteckt, auch<br />
dieser Kunstfund wirft e<strong>in</strong> weiteres Licht auf<br />
Enteignung und Massenraub.<br />
Vorausgegangen war die systematische Erfassung<br />
von sämtlichen Vermögenswerten. Aber<br />
nicht nur ihre Bankkonten, Immobilien, ihren<br />
Schmuck und ihr Bargeld mussten die Juden<br />
angeben, auch ihre Möbel, die Bil<strong>der</strong>, die Bücher<br />
und Haushaltsgegenstände kamen auf<br />
die „Vermögenslisten“. Die Nazis hatten also<br />
die besten Unterlagen für den Diebstahl jüdischen<br />
Eigentums. Sie wussten genau, was die<br />
dann ausgeplün<strong>der</strong>ten Menschen besaßen<br />
und wo sich ihr Eigentum befand.<br />
Auch diese Erfahrungen führten bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik zu e<strong>in</strong>em relativ guten Datenschutz,<br />
zu e<strong>in</strong>er ausgeprägten Sensibilität und<br />
zu e<strong>in</strong>er großen Skepsis von vielen Menschen<br />
gegenüber den Ausspähungen ihrer persönlichen<br />
Daten auch von Geheimdiensten.<br />
Die jüdische Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland<br />
jedenfalls zog sich nach diesen<br />
Erfahrungen eher zurück und öffnete sich<br />
nicht wirklich. Die angezündeten Kerzen im<br />
Chanukka-Leuchter <strong>in</strong> diesen Tagen <strong>in</strong>s Fenster<br />
zu stellen und damit zu zeigen: wir s<strong>in</strong>d Juden,<br />
wir feiern Chanukka, das wäre für viele<br />
Menschen damals unmöglich gewesen. Das<br />
hat sich zum Glück bis heute stark verän<strong>der</strong>t.<br />
Mittlerweile gibt es sogar auch bei uns <strong>in</strong> vielen<br />
Städten öffentliche Chanukka-Leuchter.<br />
Rabb<strong>in</strong>er Steven E. Langnas schreibt, dass die<br />
Öffnung, dass die Offenheit zum Konzept von<br />
Chanukka gehört. Lesen Sie bitte dazu se<strong>in</strong>en<br />
Beitrag auf <strong>der</strong> nächsten Seite.<br />
Das Thema Raubkunst, oben schon aus aktuellem<br />
Anlass erwähnt, beschäftigt die Museen,<br />
die Kunstwelt und die Öffentlichkeit<br />
schon seit vielen Jahren. Da geht es auch um<br />
Ansprüche von Erben, die geraubte Bil<strong>der</strong> zu-<br />
rück haben wollen, da geht es immer wie<strong>der</strong><br />
um Museen, die aus unterschiedlichen Gründen<br />
Schwierigkeiten mit diesen For<strong>der</strong>ungen<br />
haben und da geht es um Provenienzforschung<br />
als Grundlage für e<strong>in</strong>e Restitution, da<br />
geht es also auch ums große Geld. E<strong>in</strong>ig ist<br />
man sich, dass die Kunstwerke an die Erben<br />
übergeben werden sollen, wenn <strong>der</strong> Raub<br />
auch nachgewiesen werden kann.<br />
Ich möchte heute auf e<strong>in</strong> Projekt <strong>in</strong> Nürnberg<br />
aufmerksam machen, von <strong>der</strong> überregionalen<br />
Öffentlichkeit nicht so sehr beachtet, wo die<br />
Stadtbibliothek seit vielen Jahren e<strong>in</strong>en umfassenden<br />
Bestand geraubter Bücher, die sogenannte<br />
Stürmer-Bibliothek, aufarbeitet und<br />
auch Provenienzforschung betreibt mit dem<br />
Ziel, die Nachkommen <strong>der</strong> ursprünglichen<br />
Besitzer zu f<strong>in</strong>den und ihnen die Bücher zu<br />
übergeben. Lesen Sie bitte dazu die Beiträge<br />
auf den Seiten 11 bis 13. Ich würde gerne <strong>in</strong><br />
Zukunft die Berichterstattung aus diesem<br />
Raum verstärken, denn Nürnberg gehört ja zu<br />
Bayern.<br />
Raw David Spiro sel. A.<br />
Zum dritten Mal werden wir im Februar 2014<br />
den Rabb<strong>in</strong>er-Spiro-Preis vergeben. Diese<br />
Auszeichnung des <strong>Landesverband</strong>es <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultusgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern er<strong>in</strong>nert<br />
an den früheren Fürther Rabb<strong>in</strong>er David<br />
Spiro sel. A. Ursprünglich kam er aus Polen,<br />
wo er 1936 <strong>in</strong>s Warschauer Rabb<strong>in</strong>at aufgenommen<br />
wurde. Se<strong>in</strong> späterer Leidensweg<br />
führte ihn auch durch die Konzentrationslager<br />
von Flossenbürg und Dachau und durch das<br />
Lager Hersbruck. Nach se<strong>in</strong>er Befreiung<br />
durch die US-Armee g<strong>in</strong>g Rabbi Spiro nach<br />
Fürth. Dort gehörte er zu den Grün<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
neuen Nachkriegsgeme<strong>in</strong>de.<br />
Die bisherigen Preisträger waren <strong>der</strong> ehemalige<br />
Bayerische M<strong>in</strong>isterpräsident Dr. Edmund<br />
Stoiber und <strong>der</strong> ehemalige evangelische Landesbischof<br />
Dr. Johannes Friedrich. Mit dem<br />
nächsten Rabb<strong>in</strong>er-Spiro-Preis werden wir<br />
den Landtagsabgeordneten Karl Freller auszeichnen.<br />
Der ehemalige Staatssekretär ist<br />
seit Ende 2007 Direktor <strong>der</strong> Stiftung Bayerische<br />
Gedenkstätten. Mit Gründung <strong>der</strong> Stiftung<br />
übertrug <strong>der</strong> Freistaat Bayern die beiden<br />
KZ-Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg<br />
<strong>der</strong> neuen Institution. Seit se<strong>in</strong>er Wahl zum<br />
Direktor <strong>der</strong> Stiftung ist Karl Freller den<br />
Bayerischen Gedenkstätten <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er<br />
Weise verbunden. Für se<strong>in</strong> Engagement und<br />
se<strong>in</strong>e verdienstvollen Leistungen wird er von<br />
uns den Rabb<strong>in</strong>er-Spiro-Preis erhalten.<br />
Nachtrag<br />
Im letzten Editorial hatte ich über Ereignisse<br />
im Würzburger Priestersem<strong>in</strong>ar berichtet.<br />
Nach antisemitischen Vorfällen, belegt durch<br />
den Bericht e<strong>in</strong>er Untersuchungskommission,<br />
mussten zwei Priester-Anwärter das Sem<strong>in</strong>ar<br />
verlassen. Ich äußerte allerd<strong>in</strong>gs die Befürchtung,<br />
dass sie durch die H<strong>in</strong>tertür <strong>in</strong> e<strong>in</strong> wichtiges<br />
Amt kommen könnten. In e<strong>in</strong>em persönlichen<br />
Gespräch hat mir <strong>der</strong> Würzburger Bischof<br />
dann versichert, dass beide Sem<strong>in</strong>aristen<br />
nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en deutschsprachigen<br />
Priestersem<strong>in</strong>ar aufgenommen werden<br />
können.<br />
Ihnen und Ihren Familien, den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>in</strong><br />
unseren Geme<strong>in</strong>den, ihren Vorständen und<br />
Repräsentanten und allen Freunden unseres<br />
Lichterfestes wünsche ich angenehme Chanukka-Tage<br />
mit unseren traditionellen Speisen<br />
und Spielen und e<strong>in</strong>er wun<strong>der</strong>schönen<br />
und <strong>in</strong> den dunklen Abend h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>leuchtenden<br />
Chanukkia.<br />
Ihr<br />
CHAG CHANUKKA SAMEACH<br />
Dr. Josef Schuster<br />
Präsident des <strong>Landesverband</strong>es <strong>der</strong> IKG <strong>in</strong> Bayern,<br />
Vizepräsident des Zentralrates <strong>der</strong> Juden Deutschlands<br />
AUS DEM INHALT<br />
Chanukka 5774<br />
Chanukka – das Lichterfest<br />
Von Rabb<strong>in</strong>er Steven E. Langnas . . . . . . . . 3<br />
Chanukka mit <strong>der</strong> Feuerwehr . . . . . . . . . 4<br />
E<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> Tel Aviv<br />
Von Christiane Wirtz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Kultur<br />
Ausstellung „Mitten unter uns“ . . . . . . . . . 9<br />
Neue Suchliste über geraubte Bücher . . . . 11<br />
Die SchUM-Geme<strong>in</strong>den . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
Synagoge Obernbreit . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Die ganze Wahrheit<br />
Von Miriam Magall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Ausstellung „Ton <strong>in</strong> Ton“ . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
Gedenkraum Olympia-Attentat 1972 . . . . 17<br />
Israel-Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
Aus den jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />
<strong>in</strong> Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
Serie<br />
Jüdische Landgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern (35)<br />
Von Michael Schneeberger . . . . . . . . . . . . 26<br />
Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
Russische Beiträge<br />
Von Vladislav Zeev Slepoy . . . . . . . . . . . . 36<br />
Jiddischer Beitrag<br />
Von Marion Eichelsdörfer . . . . . . . . . . . . . 40<br />
Zum Titelbild<br />
Chanukkabuch aus <strong>der</strong> Stadtbibliothek Nürnberg,<br />
„Sammlung Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
(IKG)“. Foto: Stadt Nürnberg. Beachten<br />
Sie dazu auch die Beiträge auf den Seiten 11<br />
bis 13.<br />
Impressum<br />
Herausgeber: <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong> Kul tus -<br />
geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern, Effnerstraße 68, 81925 München,<br />
Telefon (0 89) 989442<br />
Redaktion: Benno Reicher, bere.journal@smartone.de<br />
Gesamtherstellung: Druckerei Edw<strong>in</strong> H. Höhn, Gottlieb-Daimler-Straße<br />
14, 69514 Laudenbach<br />
2 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
CHANUKKA 5774<br />
Chanukka – das Lichterfest<br />
Von Rabb<strong>in</strong>er Steven E. Langnas<br />
Was haben das Lächeln e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Babys,<br />
e<strong>in</strong> klarer fließen<strong>der</strong> Fluss und e<strong>in</strong> weißes<br />
Kleid geme<strong>in</strong>sam? Sie ziehen uns an, weil sie<br />
das Konzept <strong>der</strong> Re<strong>in</strong>heit darstellen. E<strong>in</strong> unschuldiges,<br />
fröhliches Baby, schönes sauberes,<br />
fließendes Wasser und e<strong>in</strong> weißes Kleid, frei<br />
von Flecken und Schmutz.<br />
Jeden Tag sagen wir im Gebet: Me<strong>in</strong> G’tt, die<br />
Seele, die Du mir gegeben hast, ist re<strong>in</strong>!<br />
Wenn wir ehrlich mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d, werden<br />
wir zugeben, dass es leichter ist, die Re<strong>in</strong>heit<br />
e<strong>in</strong>es weißen Kleides o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> unschuldiges<br />
Baby wahrzunehmen als die Re<strong>in</strong>heit unserer<br />
eigenen Seele. Warum ist es so?<br />
Schlomo Hamelach – König Salomon lehrt<br />
uns: Die Seele e<strong>in</strong>es Menschen ist mit dem<br />
Licht G’ttes vergleichbar. Wenn wir e<strong>in</strong>e brennende<br />
Kerze auf e<strong>in</strong>en Tisch stellen, ist es<br />
klar, dass wir das Licht <strong>der</strong> Kerze sehen.<br />
Wenn wir e<strong>in</strong>en Vorhang zwischen uns und<br />
den Tisch hängen, ist das Licht immer noch zu<br />
sehen, allerd<strong>in</strong>gs nicht so hell wie zuvor. Noch<br />
zwei, vier o<strong>der</strong> sechs Vorhänge dazu und das<br />
Licht ist immer noch zu sehen, aber sehr<br />
schwach. Mit 100 o<strong>der</strong> 1000 Vorhängen sehen<br />
wir ke<strong>in</strong> Licht mehr! Dennoch, es brennt trotzdem!<br />
Unsere Seele ist wie dieses Licht. Die Vorhänge<br />
stehen symbolisch für die Entscheidungen<br />
und Prioritäten, die wir im Leben treffen, die<br />
im Gegensatz zu jüdischen Prioritäten stehen,<br />
die uns h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, das Licht unserer eigenen<br />
Seele nicht nur zu sehen, son<strong>der</strong>n nach außen<br />
strahlen zu lassen.<br />
Deswegen ist es ke<strong>in</strong> Zufall, dass Kerzen die<br />
Ausübung von vier wichtigen religiösen Zeremonien<br />
beleuchten: Bedikas Chomez, die Suche<br />
und das Entfernen von allem Gesäuerten<br />
am Vorabend von Pessach, Schabbat-E<strong>in</strong>gang,<br />
Hawdala, die Trennung zwischen Schabbat<br />
und Werktag, und Chanukka.<br />
Die Mischna im Traktat Pesochim unterrichtet<br />
uns, am Vorabend des 14. Nissan den Chomez,<br />
das Gesäuerte, beim Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kerze<br />
zu suchen, damit es am nächsten Tag vernichtet<br />
werden kann. Chomez bedeutet nicht nur<br />
den physischen Prozess des Gärens, son<strong>der</strong>n<br />
ist auch e<strong>in</strong> Symbol für alles Überhebliche<br />
und Arrogante <strong>in</strong> unserem Charakter. Deswegen<br />
suchen wir auf vorsichtige Art und Weise<br />
unsere Fehler und Unzulänglichkeiten auf allen<br />
Gebieten unseres Lebens. Das Kerzenlicht<br />
beleuchtet unsere Suche <strong>in</strong> allen Löchern und<br />
Spalten unserer Existenz, um das Negative<br />
wegzuschaffen und wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Kontakt mit<br />
unserer re<strong>in</strong>en Seele zu kommen.<br />
Das Licht <strong>der</strong> Schabbat-Kerzen weiht den<br />
Schabbat zu Hause e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum von<br />
zwei Kerzen wird gezündet zur Er<strong>in</strong>nerung an<br />
die zwei Erwähnungen <strong>der</strong> Schabbat-Vorschriften<br />
<strong>in</strong> den Zehn Geboten: Sachor, gedenke<br />
des Schabbat-Tages ihn zu heiligen, und<br />
Schemor, hüte den Schabbat-Tag ihn zu heiligen.<br />
Die Schabbat-Kerzen sollen im gleichen<br />
Zimmer gezündet werden, <strong>in</strong> welchem man<br />
die Schabbat-Mahlzeiten e<strong>in</strong>nimmt und sie<br />
sollten lang genug brennen, damit die ganze<br />
Mahlzeit von ihrem Licht beleuchtet wird.<br />
Wir zünden die Schabbat-Kerzen, um e<strong>in</strong>e At-<br />
mosphäre von Licht und Freude – Ora weSimcha<br />
– und von – Schalom Bajith – von Freude<br />
und Frieden <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Familie zu kreieren.<br />
Die Heiligkeit <strong>der</strong> Schabbat-Kerzen verleiht<br />
e<strong>in</strong>e friedvolle, gesunde, fröhliche und liebevolle<br />
Ausstrahlung <strong>in</strong> jedem jüdischen Haus.<br />
Die Hawdala-Kerze, die wir zünden, um uns<br />
vom Schabbat zu verabschieden, ist mit Wissen<br />
verbunden. Damit man unterscheiden kann zwischen<br />
Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit,<br />
zwischen dem Heiligen und dem Profanen<br />
brauchen wir das Wissen! Das Hawdala-<br />
Licht steht als Symbol für die erste menschliche<br />
Begegnung mit Wissen und Technologie, als <strong>der</strong><br />
liebe G’tt selbst, nachdem <strong>der</strong> erste Schabbat<br />
vorbei war, Adam und Eva beibrachte, wie man<br />
Feuer zündet und verwendet. Das Licht <strong>der</strong><br />
Hawdala-Kerze er<strong>in</strong>nert uns daran, dass jüdisches<br />
Wissen <strong>der</strong> Schlüssel zu e<strong>in</strong>em guten<br />
Charakter, zu e<strong>in</strong>em jüdischen Haus, zu e<strong>in</strong>em<br />
Leben gefüllt mit guten Taten ist.<br />
Das Judentum verlangt von uns auch, Chanukka-Kerzen<br />
zu zünden! Die Chanukka-Kerzen<br />
dienen als Symbol von Mesirat Nefesch,<br />
unserer Bereitschaft, und wenn notwendig,<br />
unserer Opferbereitschaft, uns voll und ganz<br />
mit unserem Judentum zu identifizieren.<br />
In unserer langen Geschichte erlebten wir oft<br />
Völker, die uns vernichten wollten. Die Chanukka-Geschichte<br />
schil<strong>der</strong>t das erste Mal,<br />
dass die spirituelle Existenz des Judentums<br />
durch e<strong>in</strong>e Ideologie und Kultur bedroht wurde!<br />
Die Griechen konfrontierten unsere jüdische<br />
Weltanschauung mit e<strong>in</strong>em großen Kulturkampf.<br />
In <strong>der</strong> antiken griechischen Kultur<br />
war die Betonung auf den Körper und nicht<br />
auf die Seele. Sie stellten den s<strong>in</strong>nlichen Genuss<br />
des Hedonismus auf Kosten des Spirituellen<br />
<strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund. Ihr Liebl<strong>in</strong>gsversammlungsort<br />
Ort war die Turnhalle und nicht<br />
das Lehrhaus, das Amphitheater und nicht<br />
das G’ tteshaus.<br />
Die Historiker haben diesen Kulturkampf<br />
zwischen Judentum und Hellenismus kurz<br />
und prägnant dargestellt. Der Hellenismus<br />
predigt die Heiligkeit <strong>der</strong> Schönheit. Das Judentum<br />
predigt die Schönheit <strong>der</strong> Heiligkeit.<br />
Unsere Reaktion auf diesen Zwang, Hellenisten<br />
zu werden, zeigt sich durch die Tatsache,<br />
dass Öl, die Lichtquelle für die Menora, e<strong>in</strong>es<br />
<strong>der</strong> Hauptsymbole von Chanukka ist. Die physischen<br />
Eigenschaften von Öl s<strong>in</strong>d Symbole<br />
unserer Treue zum jüdischen Geist. Die meisten<br />
Flüssigkeiten vermischen sich mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
und verlieren ihre eigene Identität. Öl aber<br />
nicht, es behält se<strong>in</strong>en eigenen Charakter. Aus<br />
diesem Grund dient Öl als Licht-Quelle für<br />
die Menora, als passendes Symbol des jüdischen<br />
Volkes; e<strong>in</strong> Volk, das se<strong>in</strong>er Identität<br />
treu geblieben ist. Obwohl die griechische<br />
Kultur, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> damaligen Welt dom<strong>in</strong>ant<br />
war, versuchte, den jüdischen Geist, die jüdische<br />
Weltanschauung zu unterdrücken und zu<br />
elim<strong>in</strong>ieren, hat e<strong>in</strong>e Gruppe von eifrigen und<br />
frommen Juden es geschafft, nicht nur e<strong>in</strong>e<br />
Weltmacht zu besiegen, son<strong>der</strong>n dem eigenen<br />
Volk beizubr<strong>in</strong>gen, wie wichtig es ist, se<strong>in</strong>e eigene<br />
Identität zu schützen.<br />
Verbunden mit dem Gebot, die Chanukka-<br />
Lichter zu zünden, ist das Konzept, das Chanukka-Wun<strong>der</strong><br />
bekannt zu machen, die Chanukka-Lichter<br />
nach außen strahlen zu lassen,<br />
damit sie gesehen werden können. Das Judentum<br />
verlangt auch Offenheit, die Bereitschaft,<br />
unser Jüdischse<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu bekennen<br />
und es zu verteidigen, anstatt die Kritik<br />
von an<strong>der</strong>en Kreisen so weit zu ver<strong>in</strong>nerlichen,<br />
dass wir sie selbst glauben.<br />
Die Kerze von Bedikas Chomez hilft uns, <strong>in</strong><br />
unsere Seele re<strong>in</strong>zuschauen, um das Negative<br />
wegzuschaffen und das Positive wie<strong>der</strong> zu entdecken.<br />
Die Schabbat-Kerzen verbreiten Frieden<br />
und Freude im Rahmen unserer Familien.<br />
Die Hawdala-Kerze lehrt uns, wie wichtig<br />
Wissen ist, zu unterscheiden zwischen richtig<br />
und falsch. Es s<strong>in</strong>d aber die Chanukka-Kerzen,<br />
wenn wir ihre Botschaft zu Herzen nehmen,<br />
die uns ermöglichen, stolz auf unsere<br />
jüdische Identität zu se<strong>in</strong>. Das Licht, das von<br />
den Chanukka-Kerzen nach draußen strahlt,<br />
sagt uns, wie auch <strong>der</strong> ganzen Welt, es ist nicht<br />
schwer zu se<strong>in</strong> a Jid, es ist schön zu se<strong>in</strong> a Jid!<br />
In diesem S<strong>in</strong>ne wünsche ich me<strong>in</strong>en Lesern<br />
e<strong>in</strong> Chanukka voller Licht und Freude!<br />
Secharjas<br />
Menora-Vision<br />
E<strong>in</strong>e Chanukka-Betrachtung<br />
Von Yizhak Ahren<br />
Unsere Weisen haben festgelegt, dass am<br />
Schabbat von Chanukka die dem jeweiligen<br />
Wochenabschnitt zugeordnete Haftara durch<br />
e<strong>in</strong>e bestimmte an<strong>der</strong>e ersetzt wird. Man liest<br />
am Makkabäerfest e<strong>in</strong>en Abschnitt aus dem<br />
Buch des Propheten Secharja (Kap. 2, 14 bis<br />
Kap. 4, 7). Dieser Abschnitt bildet auch die<br />
Haftara zum Wochenabschnitt Behaalotcha.<br />
Was <strong>der</strong> Verknüpfungspunkt zwischen Behaalotcha<br />
und <strong>der</strong> Secharja-Passage ist, fällt bei<br />
<strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> zwei Texte gleich <strong>in</strong>s Auge.<br />
Die ersten Verse des Wochenabschnittes handeln<br />
vom Leuchter (Menora) mit den sieben<br />
Lampen (Bamidbar Kap. 8, 2–4), und Secharja<br />
berichtet, er habe e<strong>in</strong>e Menora mit sieben<br />
Lampen gesehen.<br />
In <strong>der</strong> Übersetzung von Leopold Zunz lautet<br />
<strong>der</strong> Dialog zwischen dem Engel und Secharja<br />
wie folgt: „ Und er sprach zu mir: Was siehest<br />
du? Und ich sprach: Ich sehe, und siehe, e<strong>in</strong>en<br />
Leuchter, ganz aus Gold, und e<strong>in</strong>e Schale<br />
oben darauf und die sieben Lampen darauf, je<br />
sieben Röhren zu den Lampen oben darauf.<br />
Und zwei Ölbäume daran, e<strong>in</strong>en rechts von<br />
<strong>der</strong> Schale, und e<strong>in</strong>en zur L<strong>in</strong>ken. Und ich<br />
hub an und sprach zu dem Engel, <strong>der</strong> mich<br />
anredete, also: Was s<strong>in</strong>d diese, me<strong>in</strong> Herr?<br />
Und es antwortete <strong>der</strong> Engel, <strong>der</strong> mit mir redete,<br />
und sprach zu mir: Weißt du nicht, was<br />
diese s<strong>in</strong>d? Und ich sprach: Ne<strong>in</strong>, me<strong>in</strong> Herr.<br />
Und er antwortete und sprach zu mir, also:<br />
Das ist das Wort des Ewigen an Serubabel,<br />
also: Nicht durch Macht und nicht durch Stärke,<br />
son<strong>der</strong>n durch me<strong>in</strong>en Geist; spricht <strong>der</strong><br />
Ewige <strong>der</strong> Heerscharen“ ( Kap. 4, 2–6 ).<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 3
Am achttägigen Chanukkafest er<strong>in</strong>nern wir uns<br />
an das Ölwun<strong>der</strong> im Heiligtum, von dem <strong>der</strong><br />
Talmud (Schabbat 21,b) berichtet. Vom Öl <strong>der</strong><br />
Menora ist, wie wir eben gesehen haben, auch<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Haftara die Rede. Bemerkenswert ist,<br />
dass die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge vorgelesene Secharja-<br />
Passage an e<strong>in</strong>er Stelle endet, die dem Hörer <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Synagoge e<strong>in</strong>e Erklärung vorenthält; die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> beiden Ölbäume wird nämlich<br />
erst später deutlich gemacht (siehe Verse 11–<br />
14). Der Prophet Secharja konnte das Bild nicht<br />
deuten und daher musste <strong>der</strong> mit ihm redende<br />
Engel dem Propheten das Gesehene erläutern.<br />
Wie lautet die wichtige Botschaft, die an den<br />
politischen Führer Serubabel gerichtet ist? Der<br />
bekannte Bibelkommentator Raschi erklärt<br />
den S<strong>in</strong>n des Mitgeteilten: So wie das Öl <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
prophetischen Vision ohne menschliche Bemühungen<br />
<strong>in</strong> die Lampen fließt, so wird <strong>der</strong> anstehende<br />
Neubau des Heiligtums kampflos erfolgen;<br />
Gottes Geist wird den persischen Herrscher<br />
dazu bewegen, den Wie<strong>der</strong>aufbau des<br />
Tempels zu Jerusalem zu ermöglichen.<br />
Wie Rabb<strong>in</strong>er Issachar Jacobson <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Betrachtung<br />
zu unserer Haftara (<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk<br />
„Chason HaMikra“) bemerkte, ist e<strong>in</strong> politischer<br />
Kontrast zwischen <strong>der</strong> Zeit von Serubabel<br />
und <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Chanukka-Geschichte festzustellen.<br />
Secharja riet dem führenden israelitischen<br />
Politiker von e<strong>in</strong>er Aufwiegelung des Volkes<br />
gegen die Perser ab; er sollte sich vielmehr<br />
unbed<strong>in</strong>gt auf Gottes Geist verlassen. H<strong>in</strong>gegen<br />
lehnten die Makkabäer sich gegen antijüdische<br />
Verordnungen des griechischen Reiches auf<br />
und griffen zu den Waffen. Im Gebet am Chanukka<br />
danken wir Gott „für die Kämpfe, die<br />
Du für unsere Väter vollbracht hast, <strong>in</strong> jenen<br />
Tagen, zu unserer Zeit. Du übergabst Starke <strong>in</strong><br />
die Hand <strong>der</strong> Schwachen, viele <strong>in</strong> die Hand von<br />
wenigen.“ Was lehrt uns <strong>der</strong> offensichtliche Gegensatz<br />
<strong>in</strong> den politischen Stellungnahmen?<br />
Rabb<strong>in</strong>er Jacobson hat den Schluss gezogen,<br />
dass das Volk Israel verschiedene Formen <strong>der</strong><br />
Erlösung (Geula) kennt: Manchmal hilft <strong>der</strong><br />
Ewige den Israeliten auch und gerade wenn sie<br />
ihrerseits kaum etwas zur Entwicklung beigetragen<br />
haben, und manchmal müssen die Juden<br />
militärisch aktiv werden, und erst dann greift<br />
Gott <strong>in</strong> das Geschehen e<strong>in</strong> und verhilft den wenigen<br />
zum Sieg gegen die fe<strong>in</strong>dliche Übermacht.<br />
Secharja hat über die Menora, die er sah, präzise<br />
Angaben gemacht (siehe Verse 2 und 3).<br />
Nahum HaLevi hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „The color<br />
of prophecy“ (Jerusalem 2012) Secharjas Vision<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em farbigen Bild dargestellt. Wie man auf<br />
den ersten Blick erkennen kann, hat <strong>der</strong> Künstler<br />
die Menora, die im Triumphbogen zu sehen<br />
ist, den Kaiser Titus <strong>in</strong> Rom errichten ließ, zum<br />
Vorbild für se<strong>in</strong> Gemälde genommen. Es ist allerd<strong>in</strong>gs<br />
fraglich, ob man Secharjas Menora mit<br />
<strong>der</strong> Menora des Heiligtums gleichsetzen darf.<br />
Gewiss, hier wie dort leuchteten sieben Lampen<br />
an <strong>der</strong> Menora. Die Bedeutung <strong>der</strong> Zahl<br />
sieben wird übrigens im Buch Secharja erklärt:<br />
„Diese sieben s<strong>in</strong>d die Augen des Ewigen, die<br />
auf <strong>der</strong> ganzen Welt umherschweifen“ (Kap. 4,<br />
Ende Vers 10). Aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tora heißt es, dass<br />
die Menora sechs Leuchter-Arme haben soll<br />
(Schmot 25, 32). Bei Secharja ist e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e<br />
Konstruktion des Leuchters angedeutet!<br />
Mordechai Zer-Kavod, <strong>der</strong> Ausleger des Buches<br />
Secharja <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Daat Mikra“-Ausgabe,<br />
vertritt die Ansicht, dass die Lampen, die <strong>der</strong><br />
Prophet sah, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kreis angeordnet waren!<br />
Im Heiligtum h<strong>in</strong>gegen waren sie auf e<strong>in</strong>er geraden<br />
L<strong>in</strong>ie angeordnet, wie die Menora auf<br />
dem Titusbogen beweist.<br />
Chanukka mit <strong>der</strong> Feuerwehr<br />
Neun kle<strong>in</strong>e Kerzenlichthalter auf e<strong>in</strong>em roten<br />
Feuerwehrauto aus Draht. Das soll e<strong>in</strong><br />
Leuchter zu dem traditionellen jüdischen<br />
Lichterfest se<strong>in</strong>? Warum wählte jemand e<strong>in</strong><br />
solches Motiv aus, bei dem sche<strong>in</strong>bar jeglicher<br />
Bezug zur jüdischen Religion fehlt?<br />
Um sich diesen außergewöhnlichen Leuchter<br />
anzuschauen, muss man nach Mittelfranken<br />
<strong>in</strong>s Jüdische Museum Fürth fahren.<br />
Dort stellt <strong>der</strong> Besucher dann schnell fest:<br />
Dieser Leuchter ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />
o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong> Versehen. Denn im Museum<br />
s<strong>in</strong>d weitere ausgefallene Exponate zu<br />
entdecken: Fußbälle stellen die Kerzenhalter<br />
e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Chanukka-Leuchters dar.<br />
Auch neun High Heels <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />
Farben bilden ordentlich nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
aufgereiht ebenfalls e<strong>in</strong>en Leuchter. In diesen<br />
beiden Chanukkiot spiegelt sich Sport<br />
und Mode wi<strong>der</strong>. „Je nach Interesse und<br />
Geschmack gibt es Leuchter mit den verschiedensten<br />
Motiven“, sagt Monika Berthold-Hilpert,<br />
die wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong><br />
des Museums. Entworfen werden<br />
sie sowohl von Designern als auch von Rabb<strong>in</strong>ern.<br />
Und es handelt sich bei ihnen auch<br />
ke<strong>in</strong>eswegs nur um Museumsstücke, denn<br />
sie s<strong>in</strong>d für je<strong>der</strong>mann zu kaufen.<br />
„Bei diesem Design stellt sich vermutlich<br />
je<strong>der</strong> erst e<strong>in</strong>mal die Frage, wie die Idee von<br />
extravaganten Chanukka-Leuchtern entsteht,<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e was sie bezwecken soll“,<br />
erklärt Frau Berthold-Hilpert.<br />
Nicht nur <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n und Kulturen,<br />
auch <strong>in</strong> Deutschland sollen mo<strong>der</strong>nere<br />
Gegenstände den Menschen Zugang zu alten<br />
Bräuchen f<strong>in</strong>den lassen und von Gläubigen<br />
genutzt werden können. Das jüdische<br />
Leben mit se<strong>in</strong>en Ritualen soll nicht als etwas<br />
Vergangenes angesehen, nicht als nur<br />
„traditionell“ abgestempelt werden. So entstand<br />
die Idee, etwas Zeitgenössisches <strong>in</strong>s<br />
Fürther Museum zu holen und auszustellen.<br />
Das Feuerwehrauto stammt aus dem Jüdischen<br />
Museum New York und steht nun mit<br />
weiteren ausgefallenen Leuchtern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Glasvitr<strong>in</strong>e des Museums. Außerdem gibt es<br />
noch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en metallfarbenen, leicht<br />
gekippten Chanukka-Leuchter, hergestellt<br />
von Emil Shenfeld, Designer und Silberschmied<br />
aus Israel. Er ist zusammenklappbar<br />
und dadurch für Reisen ideal geeignet.<br />
„Wir hatten im Museum e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Rabb<strong>in</strong>er,<br />
<strong>der</strong> sich darüber aufregte, dass diese<br />
Chanukkia nicht koscher sei“, erzählt Frau<br />
Berthold-Hilpert. „Besucher waren daraufh<strong>in</strong><br />
verwun<strong>der</strong>t und ließen sich von dem<br />
Rabb<strong>in</strong>er erklären, dass wohl e<strong>in</strong>ige Gläubige<br />
<strong>der</strong> Auffassung s<strong>in</strong>d, die e<strong>in</strong>zelnen Kerzenhalter<br />
würden nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geraden Reihe<br />
als koscher gelten. Durch die Möglichkeit<br />
des Zusammenklappens sei bei diesem Chanukka-Leuchter<br />
allerd<strong>in</strong>gs die gerade Reihe<br />
nicht mehr gewährleistet, fand <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er“,<br />
und lächelnd fügt sie h<strong>in</strong>zu: „Daraufh<strong>in</strong><br />
g<strong>in</strong>g er empört h<strong>in</strong>aus“. E<strong>in</strong> weiteres<br />
Exponat des Fürther Museums ist e<strong>in</strong>e<br />
Sammlung von acht Bierflaschen aus Prag.<br />
Es bildet mit se<strong>in</strong>en unterschiedlichen tschechischen<br />
Biersorten ebenfalls e<strong>in</strong>en außergewöhnlichen<br />
Chanukka-Leuchter.<br />
Was aber haben diese exotischen Chanukka-<br />
Leuchter nun überhaupt noch mit Religion<br />
zu tun? Denn das haben sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat. Sie<br />
verdeutlichen: Es handelt sich beim Judentum<br />
ke<strong>in</strong>eswegs um e<strong>in</strong>e uralte Religion mit<br />
verstaubten altertümlichen Traditionen.<br />
Auch e<strong>in</strong> Glaube, <strong>der</strong> viele Jahrhun<strong>der</strong>te alt<br />
ist, kann <strong>in</strong>teressant und mo<strong>der</strong>n se<strong>in</strong> und<br />
se<strong>in</strong> Publikum f<strong>in</strong>den. Mit den ausgefallenen<br />
Motiven durchbricht man auch Klischees,<br />
denn Judentum muss nicht nur konventionell<br />
se<strong>in</strong>.<br />
Dies wird aber nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltung<br />
<strong>der</strong> Chanukka-Leuchter deutlich. Auch an<strong>der</strong>e<br />
Gegenstände wandeln sich im Laufe<br />
<strong>der</strong> Zeit und passen sich gesellschaftlichen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen an. Im Museum liegt beispielsweise<br />
die alte Ausstattung für e<strong>in</strong>e Brit<br />
Mila neben den Utensilien aus <strong>der</strong> Gegenwart.<br />
E<strong>in</strong>e Beschneidungsserie aus Beschneidungsmesser<br />
und -klemme von damals,<br />
direkt daneben zum Vergleich e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nes<br />
Beschneidungsbesteck von heute.<br />
Die Erhaltung von Tradition erfolgt nicht<br />
e<strong>in</strong>zig alle<strong>in</strong> durch Festhalten am Alten. Sie<br />
for<strong>der</strong>t gleichzeitig auch Weiterentwicklung.<br />
Wie es eben an den aufsehenerregenden<br />
Leuchtern mit ihren kuriosen Motiven zu<br />
sehen ist. Neues anstreben und offen se<strong>in</strong><br />
für Verän<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d auch Faktoren, die<br />
helfen können, alte Bräuche zu erhalten.<br />
Wer sich nun selbst e<strong>in</strong> Bild von diesen beson<strong>der</strong>en<br />
Chanukkiot machen möchte, sollte<br />
sich die Variationen im Fürther Museum<br />
anschauen. Fest steht jedenfalls, dass das<br />
leuchtend rote Feuerwehrauto sofort e<strong>in</strong><br />
H<strong>in</strong>gucker ist.<br />
Maria Fr<strong>in</strong>gs<br />
http://www.juedische s-museum.org<br />
Foto: Jüdisches Museum Fürth<br />
4 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
In ihrem Buch „E<strong>in</strong> Jahr<br />
<strong>in</strong> Tel Aviv“ beschreibt<br />
die Kölner Redakteur<strong>in</strong><br />
Christiane Wirtz unterhaltsam<br />
und witzig die<br />
<strong>leben</strong>dige Stadt am Mittelmeer,<br />
ihre jungen israelischen<br />
Freunde und<br />
ihre typischen Redewendungen<br />
wie kacha kacha<br />
o<strong>der</strong> ayn be’a’ya. E<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e weitgehend<br />
fiktive Biografie <strong>der</strong> Erzähler<strong>in</strong>,<br />
zeichnet sie Szenen aus dem israelischen<br />
Alltag, aus den Cafés und den Straßen von<br />
Tel Aviv. Sie verliebt sich <strong>in</strong> Land und Leute<br />
und natürlich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en jungen Israeli.<br />
Und sie erlebt die jüdischen Feiertage, sie<br />
beschreibt die typischen Bräuche und die<br />
kul<strong>in</strong>arischen Spezialitäten.<br />
In unserem letzten Pessach-Heft hatten wir<br />
das entsprechende Kapitel aus dem Buch<br />
nachgedruckt. Heute stellen wir, mit freundlicher<br />
Genehmigung des Her<strong>der</strong>-Verlages,<br />
das Kapitel „Dezember“ vor und dazu gehören<br />
auch amüsante Chanukka-Geschichten.<br />
bere.<br />
E<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> Tel Aviv<br />
Reise <strong>in</strong> den Alltag<br />
Von Christiane Wirtz<br />
Dezember<br />
Fünfter Monat, <strong>in</strong> dem ich zur Schwiegertochter<br />
werde, Weihnachten naht und ich am Ende<br />
die Hosen runter lasse.<br />
Wir waren den Berg nach Jerusalem h<strong>in</strong>aufgefahren<br />
und ich hatte an me<strong>in</strong>e ersten<br />
Stunden im Ulpan denken müssen. „Ata ole<br />
chadash?“, „At ola chadasha?“ – „Bist du<br />
neuer E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er?“, „Bist du neue E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong><strong>in</strong>?“,<br />
hatten Ryan und ich uns gegenseitig<br />
gefragt, immer wie<strong>der</strong>, bis die Vokabeln<br />
<strong>in</strong> unseren Köpfen festsaßen. Wörtlich<br />
übersetzt bedeutete „ole chadash“ – „neuer<br />
Aufsteiger“. Und die Idee dah<strong>in</strong>ter war, dass<br />
das Leben im gelobten Land e<strong>in</strong> besseres<br />
war, egal, woher man kam. Ich hatte bei diesem<br />
Aufstieg immer an den Weg nach Jerusalem<br />
denken müssen, die steilen Kurven<br />
h<strong>in</strong>auf, bis e<strong>in</strong> profanes Straßenschild den<br />
Namen <strong>der</strong> biblischen Stadt verkündete.<br />
„In Jerusalem man kann schwer atmen“,<br />
sagte Alón. „Es ist auf <strong>der</strong> Brust. Man fährt<br />
auf den Berg und es wird immer schwerer.“<br />
Tatsächlich war die Luft viel klarer als <strong>in</strong> Tel<br />
Aviv. Es war um e<strong>in</strong>ige Grad kälter, und im<br />
Sommer war es weniger schwül. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
war die Luft <strong>in</strong> Jerusalem geschwängert von<br />
Religion. Die Grabeskirche, die Klagemauer<br />
und die Al-Aqsa-Moschee standen auf wenigen<br />
Quadratmetern, mitten im Zentrum,<br />
drei Weltreligionen pilgerten zu diesem<br />
Fleckchen Erde. Die meisten jungen Menschen,<br />
die ich kannte, zog es fort von den bedeutungsschweren<br />
Ste<strong>in</strong>en, 62 Kilometer<br />
weiter westlich, nach Tel Aviv.<br />
„Bruchim harbaim … herzlich Willkommen“,<br />
sagte Alóns Mutter, als sie die Haustüre<br />
öffnete und uns strahlend begrüßte.<br />
Das ganze Haus war voll von Menschen. Die<br />
Mutter hatte Nachbarn e<strong>in</strong>geladen, Tanten<br />
und Onkel, Cous<strong>in</strong>en und Cous<strong>in</strong>s mit ihren<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und K<strong>in</strong>desk<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Zu Chanukka,<br />
dem Lichterfest, sollte niemand alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>.<br />
Eigentlich sollte überhaupt niemals jemand<br />
alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>. Die Augen aller Gäste blieben<br />
an uns hängen und ich war froh, die weiße<br />
Pappschachtel mit den Sufganiot zu halten.<br />
So hatten wenigstens me<strong>in</strong>e Hände etwas zu<br />
tun. Sufganiot waren so ziemlich dasselbe<br />
wie Berl<strong>in</strong>er Ballen. Ich hatte sie am Nachmittag<br />
im Café Judith gekauft. „Dort gibt es<br />
die Besten“, hatte mir Alón vorsorglich gesteckt,<br />
und so hatte ich mich <strong>in</strong> die Reihe<br />
<strong>der</strong>er gestellt, die nur zu Chanukka <strong>in</strong> die<br />
Konditorei <strong>der</strong> alten Damen kamen.<br />
Alón schob mich <strong>in</strong> die Küche, wo es nach<br />
Reibekuchen und geräuchertem Lachs duftete.<br />
Kaum hatte ich me<strong>in</strong>e Sufganiot auf<br />
dem Büffet abgestellt, neben das Apfelmus<br />
und die saure Sahne, kam die Mutter h<strong>in</strong>ter<br />
uns her und zog mich an ihrer Hand <strong>in</strong>s<br />
Wohnzimmer. Alón blieb mit Orí <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche<br />
zurück und aus den Augenw<strong>in</strong>keln erkannte<br />
ich ihre Ähnlichkeit, wenn sie leise<br />
lächelten.<br />
Die Tanten und Onkel saßen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen<br />
Kreis zusammen, <strong>der</strong> schwere Esstisch<br />
war zur Feier des Tages an die Seite gerückt,<br />
die Plastikstühle aus dem Garten boten zusätzliche<br />
Plätze. „Na’im me’od, na’im me’od<br />
… sehr erfreut, sehr erfreut“, sagte ich, während<br />
die Mutter mich durch die Manege<br />
führte wie e<strong>in</strong> Zirkuspferd. Ich nickte und<br />
lächelte und sagte, dass ich aus Deutschland<br />
komme, aus Berl<strong>in</strong>. Und ne<strong>in</strong>, ich lebe nicht<br />
<strong>in</strong> Jerusalem, ich lebe <strong>in</strong> Tel Aviv. Dass es<br />
mir gut gehe <strong>in</strong> Israel, sagte ich auch, die<br />
Menschen machten es mir nicht schwer, das<br />
Wetter sei schön, und das Essen? Ja, das Essen,<br />
natürlich, das Essen sei hervorragend.<br />
Dass ich e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> von Alón sei, sagte<br />
ihnen die Mutter.<br />
Chanukka<br />
Als wir die Hälfte des Kreises geschafft hatten,<br />
g<strong>in</strong>g offiziell die Sonne unter, und es<br />
war Zeit für Chanukka. Auf dem kle<strong>in</strong>en<br />
Tisch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte stand <strong>der</strong> neunarmige<br />
Leuchter. Alón setzte sich neben mich, um<br />
mir alles zu erklären, und um die Zeremonie<br />
nicht zu stören, rückten wir eng nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />
Unterm Strich war Chanukka e<strong>in</strong>e<br />
weitere Geschichte vom Kampf <strong>der</strong> Juden<br />
gegen den Rest <strong>der</strong> Welt. Die Syrer waren<br />
schon damals ihre Fe<strong>in</strong>de gewesen, das hatte<br />
sich seit 164 vor Christus bis heute nicht<br />
geän<strong>der</strong>t. Unter Führung <strong>der</strong> Makkabäer<br />
zog das jüdische Volk <strong>in</strong> die Schlacht, siegte<br />
und nahm den Tempel wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Besitz.<br />
Dort wurde die Menora entzündet, <strong>der</strong><br />
neunarmige Leuchter, <strong>der</strong> im Tempel niemals<br />
erlöschen durfte. Das geweihte Öl aber<br />
reichte nur für e<strong>in</strong>en Tag, und doch leuchteten<br />
die Kerzen, leuchteten und leuchteten.<br />
Am Ende des achten Tages gab es neues Öl<br />
für die Menora. Acht Kerzen also kamen<br />
dem Wun<strong>der</strong> zugute. Die neunte, die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Mitte thronte, war <strong>der</strong> Schamasch, <strong>der</strong> Diener,<br />
alle<strong>in</strong> mit ihr durften die an<strong>der</strong>en Kerzen<br />
entzündet werden.<br />
Dann war <strong>der</strong> Segen gesprochen, die erste<br />
Kerze brannte und alle sangen Lie<strong>der</strong>, die<br />
sie seit ihrer K<strong>in</strong>dheit kannten. Schließlich<br />
erhoben sie ihre Gläser, chag sameach …<br />
glückliche Feiertage, lecha’im … auf das Leben.<br />
Wie<strong>der</strong> g<strong>in</strong>gen die Gläser <strong>in</strong> die Höhe,<br />
<strong>der</strong> Rotwe<strong>in</strong> schwappte. „Auf unseren<br />
Gast“, sagte die Mutter, „e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> von<br />
Alón, aus Berl<strong>in</strong>“. Ich spürte, wie die heiße<br />
Farbe von me<strong>in</strong>em Hals über die Nase bis<br />
zur Stirn stieg, und ich war mir sicher, dass<br />
alle Kerzen gleichzeitig <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Gesicht<br />
leuchteten.<br />
Später, zum Essen, setzte sich die Mutter<br />
neben mich, tastete sich vorsichtig an die<br />
Grenzen me<strong>in</strong>es hebräischen Wortschatzes<br />
und darüber h<strong>in</strong>aus.<br />
„Hast du Familie <strong>in</strong> Israel?“, fragte sie.<br />
Diese Frage hatte ich <strong>in</strong> den vergangenen<br />
Monaten häufig gehört, ich hielt sie für die<br />
klassische Gretchenfrage, <strong>in</strong> Watte gepackt<br />
natürlich, um möglichst schonend herauszuf<strong>in</strong>den:<br />
Sag, wie hältst du’s mit <strong>der</strong> Religion?<br />
Hatte ich Familie <strong>in</strong> Israel, bestand<br />
schließlich Hoffnung. Mir blieb nichts an<strong>der</strong>es,<br />
als sie mit me<strong>in</strong>er Antwort zu enttäuschen,<br />
schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em so frühen Stadium<br />
unserer Bekanntschaft. Doch das schien<br />
mich nicht gleich für me<strong>in</strong>e Rolle zu disqualifizieren,<br />
jedenfalls setzte sie ihr Cast<strong>in</strong>g<br />
mit unverm<strong>in</strong><strong>der</strong>tem Eifer fort.<br />
„Aber Zuhause hast du Familie, e<strong>in</strong>e große<br />
Familie?“ Ich dachte an Deutschland, Weihnachten,<br />
me<strong>in</strong>e Schwestern und nickte. Orí<br />
kam mit e<strong>in</strong>em Zwanzig-Schekel-Sche<strong>in</strong> zu<br />
mir, den ihm e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Tanten zugesteckt<br />
hatte, und ließ ihn <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Handtasche<br />
verschw<strong>in</strong>den.<br />
„Eize motek …was für e<strong>in</strong> süßer Kerl“, sagte<br />
die Mutter verzückt, während sie mir gefillte<br />
Fisch und Hähnchenspieße auf den Teller<br />
legte. „Die Menschen bekommen viel zu wenig<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>“, sagte die Mutter, was ich für<br />
reichlich übertrieben hielt, schließlich lag<br />
die Geburtenrate <strong>in</strong> Israel mit fast drei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
pro Frau beneidenswert hoch. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
musste man dazu sagen, dass die Araber<br />
noch mehr K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekamen als die Israelis,<br />
und wenn es so weitergehen würde,<br />
übernahmen sie e<strong>in</strong>es Tages, <strong>der</strong> nicht mehr<br />
so fern lag, die Mehrheit im gelobten Land.<br />
Yassir Arafat soll e<strong>in</strong>mal gesagt haben, <strong>der</strong><br />
Uterus <strong>der</strong> arabischen Frau sei se<strong>in</strong>e stärkste<br />
Waffe. In Israel sprach man <strong>in</strong>zwischen<br />
von e<strong>in</strong>em ernsthaften demographischen<br />
Problem. Zu den Großmutterhormonen gesellten<br />
sich hier also offenbar die Vaterlandspflichten.<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 5
Nachdem sie mehrfach Falafel, Reibekuchen<br />
und kle<strong>in</strong>e Frikadellen auf me<strong>in</strong>en Teller<br />
nachgeschoben hatte, war sie zum Nachtisch<br />
übergegangen. Sie reichte mir e<strong>in</strong>en<br />
Teller mit Apfelstrudel und Obstsalat, <strong>in</strong><br />
dem die roten Kerne <strong>der</strong> Granatäpfel steckten.<br />
Inzwischen hatte sie vergessen, dass<br />
me<strong>in</strong>e Muttersprache e<strong>in</strong>e fremde war, ihr<br />
Mund bewegte sich nicht länger g-a-n-z<br />
l-a-n-g-s-a-m und d-e-u-t-l-i-c-h, son<strong>der</strong>n<br />
ohnepunktundkomma. „Ani lo mev<strong>in</strong>a, ani<br />
lo mev<strong>in</strong>a … ich verstehe nicht, ich verstehe<br />
nicht“, sagte ich e<strong>in</strong> ums an<strong>der</strong>e Mal. Nur<br />
ihre Botschaft, die hatte ich längst verstanden.<br />
Nach <strong>der</strong> zweiten Portion Strudel fühlte ich<br />
mich wie im dritten Monat. Alón tauchte auf<br />
und fragte, wie es mir g<strong>in</strong>ge. „Ich kann nicht<br />
mehr.“ – „Ah, das ist gar nichts. Me<strong>in</strong>e<br />
Großmutter war viel schlimmer. Sie dachte,<br />
dass du bist auf <strong>der</strong> Stelle tot, wenn du de<strong>in</strong>en<br />
Teller nicht isst. Eigentlich me<strong>in</strong>e Mutter<br />
ist schon mo<strong>der</strong>n.“<br />
Inzwischen war ich sicher, dass ich schneller<br />
e<strong>in</strong>e jüdische Schwiegermutter haben würde<br />
als e<strong>in</strong>en israelischen Freund. Für den Augenblick<br />
fand ich die Rolle gar nicht so übel.<br />
Es gab Schlimmeres als mit offenen Armen<br />
empfangen zu werden; mir schwappte e<strong>in</strong>e<br />
warme Welle von Herzlichkeit entgegen,<br />
und am Sabbat würde ich wissen, wo ich h<strong>in</strong>gehörte.<br />
Der Zustand „alles <strong>in</strong> Ordnung“<br />
schien auf e<strong>in</strong>mal zum Greifen nah. Alón<br />
und ich würden nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> im Wagen<br />
sitzen, auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem,<br />
auf me<strong>in</strong>en Knien e<strong>in</strong>e Pappschachtel<br />
mit Gebäck, auf dem Rücksitz Orí und daneben<br />
all die an<strong>der</strong>en Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong>, die wir<br />
<strong>der</strong> Mutter später schenken würden.<br />
Als wir g<strong>in</strong>gen, sagte uns die Mutter, wir<br />
müssten bald wie<strong>der</strong> kommen.<br />
„Und, was denkst du?“, fragte Alón, als wir<br />
im Auto saßen. „Sie ist viel netter als du immer<br />
sagst.“ – „Sie ist nicht de<strong>in</strong>e Mutter.“<br />
Wäre es nach mir gegangen, hätten wir es<br />
dabei bewenden lassen können. Alón war<br />
Architektur <strong>in</strong> Tel Aviv.<br />
mir im Laufe des Abends zu ernst geworden.<br />
Se<strong>in</strong>e bissige Ironie, ohne die er niemals<br />
das Haus verließ, hatte sich auf leisen<br />
Sohlen davon geschlichen. Das machte mich<br />
unsicher.<br />
„Ich habe schon gesehen, die blonden Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> ihren Augen“, sagte er, ganz<br />
sachlich, als hätte das alles überhaupt nichts<br />
mit uns zu tun. „Dabei dachte ich immer, jüdische<br />
Mütter…“ – „…aahh, was denkst du,<br />
irgendwann ist es ihnen egal“, sagte er und<br />
sah mich herausfor<strong>der</strong>nd an, „irgendwann<br />
nehmen sie sogar e<strong>in</strong>e Christen-Frau“.<br />
Ich tat e<strong>in</strong> bisschen beleidigt, aber <strong>in</strong> Wahrheit<br />
entspannte ich mich langsam, während<br />
wir den Berg h<strong>in</strong>unterfuhren, zurück nach<br />
Tel Aviv. Spätestens dort würden wir zu unserem<br />
vertrauten Ton zurückf<strong>in</strong>den.<br />
Draußen war es stockdunkel. Es waren<br />
kaum Autos unterwegs. Kurz bevor wir auf<br />
die Autobahn fuhren, hielten wir an e<strong>in</strong>em<br />
Grenzposten, e<strong>in</strong>e weiße Pförtnerloge, aus<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e nackte Glühbirne leuchtete, umgeben<br />
von Betonhürden und Stacheldraht.<br />
Durch die Dunkelheit sah ich schemenhaft<br />
e<strong>in</strong>en kräftigen Mann, <strong>der</strong> auf uns zukam,<br />
das Sturmgewehr über <strong>der</strong> Schulter. Se<strong>in</strong><br />
junges Gesicht erschien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fahrertür, die<br />
grüne Uniform, <strong>der</strong> Kolben se<strong>in</strong>es Gewehres,<br />
und kurz darauf e<strong>in</strong>e offene Schachtel<br />
mit Sufganiot, die er lächelnd durchs Fenster<br />
schob.<br />
„Chag sameach“, sagte er. Ich schüttelte nur<br />
müde den Kopf. „Fürs Vaterland … o<strong>der</strong><br />
sollen eure Soldaten dick werden?“<br />
Chanukka, die vielen Kerzen und Lie<strong>der</strong>,<br />
ließen mich an me<strong>in</strong>en Plänen zweifeln. Ich<br />
hatte mir fest vorgenommen, Weihnachten<br />
<strong>in</strong> Bethlehem zu verbr<strong>in</strong>gen. Die Geburtskirche<br />
schien mir <strong>der</strong> beste Ort für die Heilige<br />
Nacht, hier ward e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d geboren, ich<br />
würde die Engel jubilieren hören und <strong>in</strong> die<br />
Fußstapfen <strong>der</strong> drei Könige treten. Jetzt<br />
aber mischte sich ungeahntes Heimweh <strong>in</strong><br />
me<strong>in</strong>en biblischen Eifer. Zu Hause leuchtete<br />
Foto: MBR<br />
mittlerweile die dritte Kerze und me<strong>in</strong>e<br />
Mutter hatte mir am Telefon erzählt, dass<br />
sie die Gans schon bestellt habe.<br />
„Du wirst uns hier fehlen“, sagte sie. „Willst<br />
du es dir nicht noch e<strong>in</strong>mal überlegen?“ –<br />
„Ne, ne.“ In <strong>der</strong> Leitung Tel Aviv–Köln<br />
herrschte Schweigen. „Wirklich nicht?“, fragte<br />
me<strong>in</strong>e Mutter. – „Ne, ne.“ – „Nun, wie du<br />
me<strong>in</strong>st.“<br />
„Jetzt habe ich auch schon e<strong>in</strong>e Karte für<br />
Bethlehem. War gar nicht so e<strong>in</strong>fach.“ – „Ja,<br />
das kl<strong>in</strong>gt <strong>in</strong>teressant, habe ich auch de<strong>in</strong>em<br />
Vater erzählt, dass du Heiligabend <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Geburtskirche verbr<strong>in</strong>gst … Übrigens, er<br />
lässt dich herzlich grüßen.“ – „Wirklich?“ –<br />
„Ach, K<strong>in</strong>d.“<br />
Damit legten wir auf.<br />
In Tel Aviv fehlte von Weihnachten jede<br />
Spur. Der 24. Dezember würde e<strong>in</strong> ganz<br />
normaler Arbeitstag se<strong>in</strong>. Den Menschen<br />
hier war die Geburt Christi vollkommen<br />
egal, wie auch nicht, schließlich war ihr Messias<br />
noch auf dem Weg. Für mich dagegen<br />
war e<strong>in</strong> Leben ohne Weihnachten plötzlich<br />
undenkbar, das hatte ich vorher nicht gewusst.<br />
Nur me<strong>in</strong>e Mutter hatte sich offensichtlich<br />
so etwas gedacht und e<strong>in</strong>en Adventskalen<strong>der</strong><br />
auf die Reise geschickt, so<br />
e<strong>in</strong>en hatte ich zuletzt als K<strong>in</strong>d gehabt. Mit<br />
jedem Türchen, das ich öffnete, rückte <strong>der</strong><br />
Zeiger me<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Uhr bedrohlich auf<br />
Bes<strong>in</strong>nlichkeit. In Tel Aviv dagegen roch<br />
es nach Frühl<strong>in</strong>g, die Menschen saßen im<br />
T-Shirt am Strand und ließen me<strong>in</strong>en Gott<br />
e<strong>in</strong>en guten Mann se<strong>in</strong>.<br />
Um nicht weiter <strong>in</strong> die Jahresendzeitstimmung<br />
zu schlittern, stürzte ich mich <strong>in</strong> die<br />
Rout<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>es jungen Alltags. Ich zog<br />
Wartenummern bei <strong>der</strong> Post, um me<strong>in</strong>e<br />
Rechnungen zu bezahlen, studierte die<br />
Grammatik <strong>der</strong> Vergangenheit und ließ<br />
mich beim Scrabbeln schlagen. Als mir, auf<br />
dem Weg zur alten Dame, Mayumi im Treppenhaus<br />
begegnete, verkündete sie mir, dass<br />
wir uns bis Ende Januar nicht sehen würden.<br />
Ab nächster Woche werde e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> sie<br />
vertreten, sie selbst fahre nach Hause, das<br />
erste Mal seit fünf Jahren.<br />
Strahlend zeigte sie mir den Primus-Kocher,<br />
den sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verblichenen Karton unterm<br />
Arm trug, ihr Weihnachtsgeschenk.<br />
Dann fragte sie mich, ob ich auch nach Hause<br />
fahre. Ich gab mir Mühe, me<strong>in</strong>e Antwort<br />
nicht allzu verzweifelt kl<strong>in</strong>gen zu lassen, und<br />
erzählte etwas von Christmas zu Hause,<br />
me<strong>in</strong>er Familie und dass nur e<strong>in</strong>mal im Jahr<br />
alle zusammenkämen. Schnell fügte ich h<strong>in</strong>zu,<br />
dass ich <strong>in</strong> die Geburtskirche nach Bethlehem<br />
fahren werde; das sei bestimmt auch<br />
sehr <strong>in</strong>teressant. Ihr war die ganze Tapferkeit<br />
me<strong>in</strong>er Antwort nicht entgangen. Sie<br />
wusste wohl besser als ich, wovon ich sprach.<br />
Am Samstag rief Mayumi an und fragte, ob<br />
ich sie <strong>in</strong> ihre Kirche nach Yafo begleiten<br />
wolle. Bislang war ich nicht auf die Idee gekommen,<br />
dass Mayumi und ich denselben<br />
Gott teilten. Ohne länger darüber nachzudenken,<br />
war ich davon ausgegangen, dass ich<br />
als Christen-Frau <strong>in</strong> Tel Aviv ziemlich alle<strong>in</strong>e<br />
war. Als ich aber <strong>in</strong> Sankt Anthonys ankam,<br />
hielt dort e<strong>in</strong> Bus nach dem an<strong>der</strong>en,<br />
aus denen die Filip<strong>in</strong>os <strong>in</strong> den Gottesdienst<br />
strömten. Ich musste an Charlotte Strohbach<br />
und die an<strong>der</strong>en alten Menschen denken,<br />
die jetzt alle<strong>in</strong>e zu Hause saßen. Verlassen<br />
von ihren guten Geistern.<br />
6 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Geme<strong>in</strong>sam mit Mayumi zwängte ich mich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> vollen Holzbänke. Me<strong>in</strong> Kopf<br />
ragte auffällig aus den geschlossenen Reihen,<br />
ich war größer als die meisten und die<br />
e<strong>in</strong>zige, <strong>der</strong>en Haar nicht schwarz glänzte.<br />
Sie waren jung o<strong>der</strong>, wie man sagt, im besten<br />
Alter, um Geld zu verdienen für ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
und Eltern, die zu Hause zurückgeblieben<br />
waren. Mayumi kannte fast jeden hier.<br />
Sankt Anthonys war offenbar e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />
philipp<strong>in</strong>ische Insel im gelobten Land.<br />
Die Lie<strong>der</strong> ließen mich alles vergessen. Sobald<br />
<strong>der</strong> Chor e<strong>in</strong> neues <strong>in</strong>tonierte, warf <strong>der</strong><br />
Overhead-Projektor den englischen Text an<br />
die Wand, und die Geme<strong>in</strong>de fiel <strong>in</strong> die Melodie<br />
e<strong>in</strong>. Der Jubel füllte die Kirche und<br />
bald auch me<strong>in</strong>e Lungen; er trug uns h<strong>in</strong>weg,<br />
über den Indischen Ozean o<strong>der</strong> das<br />
Mittelmeer, jeden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Richtung. Der<br />
Schatten e<strong>in</strong>er Hand schob die Textfolie immer<br />
weiter nach oben, und während wir den<br />
Herrn aus tiefster Seele lobten, drückte die<br />
junge Frau neben mir verstohlen e<strong>in</strong> paar<br />
Tränen <strong>in</strong> ihr Taschentuch. Zum „Vater unser“<br />
fasste mich Mayumi an <strong>der</strong> Hand, me<strong>in</strong>e<br />
Nachbar<strong>in</strong> zur Rechten stopfte das Taschentuch<br />
<strong>in</strong> ihre Tasche, und die ganze Kirche<br />
verwandelte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>gende Menschenkette.<br />
Danach folgte e<strong>in</strong> philipp<strong>in</strong>isches<br />
Lied, <strong>in</strong> das ich erst zögernd und dann<br />
immer lauter e<strong>in</strong>stimmte. „Nang Dioys,<br />
nang dioys…“, sang ich, Mayumi drückte<br />
fest me<strong>in</strong>e Hand, lachte mir <strong>in</strong>s Gesicht und<br />
zeigte auf den Wochenbrief, <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong><br />
für den Chor suchte. „Have a more mean<strong>in</strong>gful<br />
Saturday. Come and serve the Lord<br />
through s<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, share the talent, HE has<br />
given to you.“ Später schoben wir uns mit<br />
<strong>der</strong> Menge nach draußen, und ich sah über<br />
die an<strong>der</strong>en Köpfe h<strong>in</strong>weg me<strong>in</strong>e Banknachbar<strong>in</strong>,<br />
<strong>in</strong> den Armen e<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong>. Das<br />
alles machte me<strong>in</strong> Heimweh nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />
besser.<br />
Als ich das nächste Mal mit me<strong>in</strong>er Mutter<br />
telefonierte, waren die Risse <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />
Stimme nicht mehr zu überhören. Ohne Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zu dulden, schenkte sie mir zu<br />
Weihnachten e<strong>in</strong>en Flug nach Hause. Me<strong>in</strong>e<br />
Seele war <strong>in</strong>zwischen wund genug, um das<br />
Angebot nicht abzulehnen.<br />
Danach g<strong>in</strong>g alles verdammt schnell. Nachdem<br />
Alón mir versprochen hatte, ab und an<br />
bei <strong>der</strong> alten Dame vorbeizuschauen, g<strong>in</strong>g<br />
ich Weihnachtsgeschenke e<strong>in</strong>kaufen. Noa<br />
fand die Vorstellung wildromantisch und begleitete<br />
mich.<br />
An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Deutschland waren die Geschäfte<br />
um diese Jahreszeit so voll o<strong>der</strong> leer<br />
wie immer, die Verkäufer<strong>in</strong>nen waren entspannt,<br />
und wir hatten me<strong>in</strong>e Liste nach<br />
zwei Stunden abgearbeitet. Ich f<strong>in</strong>g allmählich<br />
an, mich auf Weihnachten zu freuen.<br />
Das e<strong>in</strong>zige Geschenk, das mir am Ende<br />
noch fehlte, war das Geschenk für me<strong>in</strong>en<br />
Vater. Noa versuchte mir auf die Sprünge zu<br />
helfen, doch wir kamen nicht zusammen.<br />
„Hat er Hobbys?“ – „Er arbeitet.“ – „Ich me<strong>in</strong>e<br />
nach <strong>der</strong> Arbeit.“ – „Isst er zu Abend.“ –<br />
„Macht er Sport?“ – „Er geht jeden Morgen<br />
um sechs Uhr schwimmen.“ – „Vor <strong>der</strong> Arbeit“,<br />
stellte Noa klar. „Und e<strong>in</strong>e Badehose<br />
hat er schon.“ – „Liest er?“ – „Se<strong>in</strong>e Akten“,<br />
sagte ich. „Die nimmt er sogar abends mit <strong>in</strong>s<br />
Bett.“ Das reichte erst e<strong>in</strong>mal. Ich beschloss,<br />
dass ich mir vorerst genug Gedanken über<br />
me<strong>in</strong>en Vater gemacht hatte.<br />
Carmel Markt <strong>in</strong> Tel Aviv.<br />
„Lass uns e<strong>in</strong>en Kaffee tr<strong>in</strong>ken“, sagte ich.<br />
„Tola’at Sfarim?“, schlug Noa vor. Der<br />
Tola’at Sfarim, also <strong>der</strong> Bücherwurm, lag<br />
auf dem Weg. Er war e<strong>in</strong> Café mit Buchhandlung<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Buchhandlung mit Café<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe des Kikar Rab<strong>in</strong>.<br />
„War de<strong>in</strong> Vater schon mal <strong>in</strong> Israel?“, fragte<br />
Noa, nachdem wir bestellt hatten. Sie<br />
konnte wirklich hartnäckig se<strong>in</strong>. „Ne<strong>in</strong>.“ –<br />
„Kommt er dich besuchen?“ – „Bist du verrückt?“<br />
– „Warum?“ – „Weiß nicht.“ Ich<br />
wusste es tatsächlich nicht so genau. Ich<br />
wusste nur: Israel war nicht das Land me<strong>in</strong>es<br />
Vaters.<br />
Vielleicht hatte er ganz e<strong>in</strong>fach Angst, hier<br />
jeden Augenblick <strong>in</strong> die Luft zu fliegen. Marietta<br />
Slomka sprach zu Hause schließlich<br />
von nichts an<strong>der</strong>em als dem Terror <strong>in</strong> Israel,<br />
und auch Caren Miosga hatte den Strand<br />
von Tel Aviv noch mit ke<strong>in</strong>em Wort erwähnt.<br />
Wie also sollte man sich vorstellen,<br />
dass hier normales Leben möglich war, man<br />
sich an den Alltag gewöhnte, viel schneller<br />
als gedacht.<br />
„Ich weiß nicht“, sagte ich noch e<strong>in</strong>mal.<br />
„Wir haben nie darüber gesprochen.“ Ich<br />
kratzte mit me<strong>in</strong>em Löffel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kaffeetasse,<br />
obwohl von Milchschaum ke<strong>in</strong>e Spur<br />
mehr. „Mal abgesehen davon, ist me<strong>in</strong> Vater<br />
nicht unbed<strong>in</strong>gt glücklich darüber, dass ich<br />
hier b<strong>in</strong>.“ – „Lama?“, fragte Noa.<br />
Ich versuchte, ihr me<strong>in</strong>e Geschichte zu erklären.<br />
Gar nicht so leicht. Der Bücherwurm<br />
hatte so gar nichts von me<strong>in</strong>em Büro <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
zehnten Etage. Die dicken, roten Gesetze.<br />
Der time sheet neben me<strong>in</strong>em Telefon. Karl,<br />
<strong>der</strong> Freund me<strong>in</strong>es Vaters. Me<strong>in</strong> Vater. Die<br />
Hoffnung auf e<strong>in</strong>e solide Karriere. O<strong>der</strong><br />
doch wenigstens e<strong>in</strong>en geraden Lebensweg.<br />
Ich hörte mich sprechen und dachte dabei,<br />
dass me<strong>in</strong>e Worte nicht zu mir gehörten. Als<br />
wären die Gefühle, die seit Jahr und Tag mit<br />
diesen Worten verbunden waren, mit <strong>der</strong> Zeit<br />
<strong>in</strong> Israel taub geworden. Berl<strong>in</strong> schien auf<br />
e<strong>in</strong>mal so unvorstellbar weit weg.<br />
„Hey, gibora …“, sagte Noa schließlich, um<br />
mich aus me<strong>in</strong>en ganzen Grübeln zu befreien.<br />
„Hey, Held<strong>in</strong>. Ich b<strong>in</strong> jedenfalls<br />
glücklich darüber, dass du hier bist.“ Ich<br />
musste lachen. „Ma?“, fragte sie. „Was?“ –<br />
„Von wegen Held<strong>in</strong>“, sagte ich. „Eigentlich<br />
b<strong>in</strong> ich hier doch die Anti-Held<strong>in</strong>. Deutsch.<br />
Christlich. K<strong>in</strong><strong>der</strong>los. Viel unterschiedlicher<br />
kann man kaum se<strong>in</strong>.“ Noa zuckte mit den<br />
Schultern. „Vielleicht bist du ja gerade deshalb<br />
hier.“ Sie schien eben so wenig zu wissen<br />
wie ich, was genau sie damit me<strong>in</strong>te.<br />
Aber es klang plausibel.<br />
Als wir das Café durch die Buchhandlung<br />
verließen, blieb Noa an e<strong>in</strong>em Büchertisch<br />
stehen. „Interessiert er sich für Architektur?“,<br />
fragte sie und drückte mir e<strong>in</strong>en Bauhaus-Führer<br />
<strong>in</strong> die Hand.<br />
Ich blätterte durch die Bil<strong>der</strong>, runde Balkone,<br />
verglaste Treppenhäuser, schlichte Formen.<br />
Das war schließlich auch Israel. O<strong>der</strong><br />
doch wenigstens Tel Aviv, die weiße Stadt,<br />
wenn auch mancherorts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em traurigen<br />
Zustand. Ich musste daran denken, dass sich<br />
me<strong>in</strong> Vater bei se<strong>in</strong>en Berl<strong>in</strong>-Besuchen für<br />
jede neue Baustelle begeisterte. Hätte ich eigentlich<br />
auch selbst drauf kommen können.<br />
„Vielleicht ke<strong>in</strong>e schlechte Idee“, sagte ich.<br />
„Hat ja auch etwas mit mir zu tun.“<br />
48 Stunden vor dem Heiligen Abend setzte<br />
mich Alón am Flughafen ab. Kaum hatte ich<br />
die Halle betreten, nahm mir die Frau von<br />
<strong>der</strong> Sicherheit auch schon me<strong>in</strong>en Pass ab.<br />
Sie ließ mich wissen, dass sie mir e<strong>in</strong> paar<br />
Fragen stellen müsse, und ich beschloss, sie<br />
geduldig zu beantworten. Schließlich war<br />
demnächst Weihnachten.<br />
„Wer hat Sie hergebracht?“<br />
„Wo wohnen Sie <strong>in</strong> Tel Aviv?“<br />
„Haben Sie Familie <strong>in</strong> Israel?“<br />
„Was machen Sie den ganzen Tag?“<br />
„Haben Sie paläst<strong>in</strong>ensische Freunde?“<br />
So g<strong>in</strong>g es endlos weiter. Bis sie sich schließlich<br />
mit e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> zurückzog und ihr<br />
anvertraute, was sie über mich herausgefunden<br />
hatte. Inzwischen fragte ich mich schon<br />
nicht mehr, was die israelische Sicherheit<br />
me<strong>in</strong> Privat<strong>leben</strong> eigentlich ang<strong>in</strong>g. Sobald<br />
Foto: MBR<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 7
sie anf<strong>in</strong>gen zu fragen, fühlte ich mich ertappt,<br />
ohne etwas getan zu haben, und<br />
bekam Angst, mich <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen zu<br />
verhed<strong>der</strong>n. Also strich ich me<strong>in</strong> Leben so<br />
glatt wie möglich und wie<strong>der</strong>holte gebetsmühlenartig:<br />
„Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> Israel, weil ich das<br />
Land mag.“ Dass ich es hasste, wie e<strong>in</strong>e<br />
Krim<strong>in</strong>elle behandelt zu werden, sagte ich<br />
nicht.<br />
Mit me<strong>in</strong>em Pass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand kam die Frau<br />
von <strong>der</strong> Sicherheit zurück zu mir. Sie bat<br />
mich, me<strong>in</strong>e Reisetasche zu öffnen und<br />
wühlte sich ohne Vorwarnung durch me<strong>in</strong>e<br />
Hosen, Bücher und Pullis. Obenauf hatte<br />
ich me<strong>in</strong> schwarzes Seidenkleid gelegt, das<br />
ich zu Heiligabend tragen wollte, bis eben<br />
war es frisch gebügelt gewesen.<br />
Am Ende lagen me<strong>in</strong>e Habseligkeiten <strong>in</strong><br />
drei großen, grauen Plastikwannen. Socken,<br />
Tagebuch, Zahnbürste, BHs, Haustürschlüssel,<br />
Jogg<strong>in</strong>gschuhe und die Weihnachtsgeschenke,<br />
die mittlerweile <strong>in</strong> trostlos verknautschten<br />
Papieren steckten. Die Frau<br />
von <strong>der</strong> Sicherheit hatte sich AIDS-Handschuhe<br />
übergezogen, so als wäre me<strong>in</strong>e Tasche<br />
e<strong>in</strong>e ansteckende Krankheit, und rührte<br />
mit e<strong>in</strong>em Plastikstab immer und immer<br />
wie<strong>der</strong> dar<strong>in</strong> herum. Nach e<strong>in</strong>er Ewigkeit<br />
stellte sie die drei grauen Wannen vor mir ab<br />
und sagte: „Das war’s. Sie können wie<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>packen.“<br />
Ich hatte mir Zeit genommen, um me<strong>in</strong>e Tasche<br />
ausnahmsweise mal <strong>in</strong> Ruhe packen zu<br />
können und schließlich den Reißverschluss<br />
kaum zubekommen. Was jetzt vor mir lag,<br />
war nicht mehr als e<strong>in</strong>e traurige Masse aus<br />
Stoff, Le<strong>der</strong> und Papier. Ich musste an die<br />
Trödler denken, die morgens mit ihren abgemagerten<br />
Pferden durch me<strong>in</strong>e Straße fuhren.<br />
„Alte Sachen, alte Sachen“, riefen sie<br />
auf jiddisch und luden Kühlschränke, Lampen<br />
und Stühle auf ihre Kutschen. Was man<br />
<strong>in</strong> Tel Aviv nicht mehr brauchte, stellte man<br />
e<strong>in</strong>fach auf die Straße, irgendjemand würde<br />
es schon mitnehmen. Mir fiel das beigefarbene<br />
Sofa wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>, das lange Zeit vor<br />
me<strong>in</strong>er Haustür gestanden hatte. Jahrelang<br />
hatten Menschen darauf gesessen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Wohnzimmer, sie hatten geredet, gestritten<br />
und ihr Leben geplant. Irgendwann stand<br />
das Sofa auf <strong>der</strong> Straße, von jetzt auf gleich<br />
ohne Nutzen, zum Abschuss freigegeben.<br />
E<strong>in</strong>e Weile hatten die Katzen <strong>in</strong> den Kissen<br />
gewohnt, die Bezüge zerrissen und <strong>in</strong> die<br />
Polster gep<strong>in</strong>kelt. Bis das Sofa e<strong>in</strong>es Tages<br />
spurlos verschwunden war. Auf dem Bürgersteig<br />
verloren die D<strong>in</strong>ge ihren Wert. In e<strong>in</strong>er<br />
grauen Plastikwanne auch. Ich wurde immer<br />
nervöser. In an<strong>der</strong>thalb Stunden g<strong>in</strong>g me<strong>in</strong><br />
Flug. In weniger als 48 Stunden war Weihnachten.<br />
Doch ich hielt es für das Klügste,<br />
mir me<strong>in</strong>e Unruhe nicht anmerken zu lassen,<br />
alles an<strong>der</strong>e würde mich erst recht<br />
verdächtig machen. Also setzte ich e<strong>in</strong><br />
Pokerface auf und gab me<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>gen ihre<br />
Ordnung wie<strong>der</strong>.<br />
„Wann geht Ihr Flug?“, fragte die Frau von<br />
<strong>der</strong> Sicherheit. – „23.30 Uhr“, sagte ich.<br />
Sie sah skeptisch auf ihre Uhr. „Ma koré“,<br />
fragte ich. „Was ist los?“ Doch sie würdigte<br />
mich ke<strong>in</strong>es Blickes. Das g<strong>in</strong>g mich überhaupt<br />
nichts an.<br />
Dann führte sie mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en abgelegenen<br />
Raum h<strong>in</strong>ter den Schaltern, <strong>der</strong> nur mit e<strong>in</strong>er<br />
Code-Karte zu betreten war, und spätestens<br />
jetzt sah ich me<strong>in</strong> Flugzeug ohne mich<br />
abfliegen. Die Frau griff nach e<strong>in</strong>er Elektrosonde<br />
und fuhr über me<strong>in</strong>en Körper. „Ziehen<br />
Sie die Hose runter“, sagte sie schließlich<br />
und versuchte ihre Stimme so selbstverständlich<br />
wie möglich kl<strong>in</strong>gen zu lassen.<br />
„Das ist nicht ihr Ernst.“ – „Ich kann me<strong>in</strong>en<br />
Supervisor holen“, beeilte sie sich zu sagen<br />
und war schon fast h<strong>in</strong>ter dem Vorhang<br />
verschwunden.<br />
E<strong>in</strong>e ohnmächtige Wut durchflutete me<strong>in</strong>en<br />
Körper. Dabei wollte ich dieses Land doch nur<br />
verlassen. Nichts lieber als das. Ums Gehen<br />
g<strong>in</strong>g es hier, nicht ums Kommen. Doch vielleicht<br />
wollten sie mir vor me<strong>in</strong>em Abschied<br />
noch schnell die Wie<strong>der</strong>kehr verleiden. An<strong>der</strong>s<br />
konnte ich mir das alles nicht erklären.<br />
„Ich kann me<strong>in</strong>en Supervisor holen“, sagte<br />
die Frau noch e<strong>in</strong>mal, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hoffnung,<br />
mich, also das Problem, gleich weiter reichen<br />
zu können. Den Gefallen aber tat ich<br />
ihr nicht. Die M<strong>in</strong>uten zerronnen. Außerdem<br />
hatte ich nicht vor, das Publikum für<br />
me<strong>in</strong>en Strip unnötig zu vergrößern. Ich<br />
wollte nur noch weg, <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Flugzeug,<br />
nach Hause. Mit gepresstem Atem ließ ich<br />
me<strong>in</strong>e Hose runter, die mir augenblicklich<br />
<strong>in</strong> die Kniekehlen rutschte. Danach vermieden<br />
wir es, uns noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> die Augen<br />
zu sehen.<br />
Schließlich begleitete sie mich bis zur letzten<br />
Kontrolle vor den Gates. Neben mir sah ich<br />
e<strong>in</strong>en Mann mit dunklerer Hautfarbe als <strong>der</strong><br />
me<strong>in</strong>en, auch er <strong>in</strong> Begleitung <strong>der</strong> Sicherheit.<br />
Ohne e<strong>in</strong> Wort gab sie mir me<strong>in</strong>en Pass<br />
zurück und ich rannte los.<br />
Tel Aviv.<br />
Foto: MBR<br />
8 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
KULTUR<br />
Mitten unter uns<br />
Neue Ausstellung über Landjuden wan<strong>der</strong>t durch Unterfranken<br />
Jakob Kohnstam lebte im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong><br />
Haßfurt mitten unter uns, erzählt die Ausstellung,<br />
die im Oktober im Landratsamt<br />
Würzburg eröffnet wurde. Der jüdische<br />
We<strong>in</strong>händler verkaufte auch Spirituosen<br />
und Bücher. Beson<strong>der</strong>s neugierig macht,<br />
dass er Gedichte schrieb und sie wohl auch<br />
veröffentlichte. Und wer war Sara, die jüdische<br />
Ärzt<strong>in</strong> im Würzburg des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />
Dieser biographische Aspekt weckt das Interesse<br />
an <strong>der</strong> historischen Präsentation, die<br />
900 Jahre Landjudentum <strong>in</strong> Unterfranken<br />
zeigen möchte. E<strong>in</strong> Ausstellungssegment<br />
widmet sich folglich den Lebensgeschichten<br />
von unterfränkischen Juden, darunter auch<br />
Lore Fleischmann, 1931 <strong>in</strong> Obbach geboren<br />
und 1942 im Raum Lubl<strong>in</strong> im Alter von 11<br />
Jahren ermordet, und Julius Frank, <strong>der</strong> um<br />
die Wende vom 19. zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t se<strong>in</strong>e<br />
K<strong>in</strong>dheit und Jugend <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>ach an <strong>der</strong><br />
Saale, Kitz<strong>in</strong>gen und Ma<strong>in</strong>stockheim verbrachte.<br />
Wan<strong>der</strong>ausstellung<br />
Als Wan<strong>der</strong>ausstellung für die neun unterfränkischen<br />
Landkreise konzipiert, greift sie<br />
neun Themen auf, die exemplarisch die Kultur<br />
des Landjudentums <strong>in</strong> Unterfranken zeigen.<br />
Dargestellt werden Lebenswelten wie<br />
„Wirtschaft und Armut <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühen Neuzeit“,<br />
„Religiöses Leben“ o<strong>der</strong> „Christlichjüdische<br />
Koexistenz“. Bis zu 200 jüdische<br />
Geme<strong>in</strong>den gab es e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Unterfranken.<br />
1932 waren es noch immer 108 jüdische Geme<strong>in</strong>den,<br />
bevor die Nazis sich an ihr Ver-<br />
Die Ausstellung „Mitten unter uns“.<br />
nichtungswerk machten. „Den Menschen<br />
und ihrer Kultur, die e<strong>in</strong> Teil Unterfrankens<br />
s<strong>in</strong>d, soll mit dieser Ausstellung e<strong>in</strong> Denkmal<br />
gesetzt werden“, betont Projektmanager<strong>in</strong><br />
Rebekka Denz.<br />
Chanukka<br />
Foto: Rebecca Denz<br />
In e<strong>in</strong>em weiteren Teil zeigt die Ausstellung<br />
E<strong>in</strong>richtungen jüdischer Geme<strong>in</strong>den, das jüdische<br />
Bildungswesen o<strong>der</strong> Frau und Mann<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> jüdischen Tradition. Den verschiedenen<br />
Sprachen, <strong>in</strong> denen unterfränkische Juden<br />
<strong>in</strong> unterschiedlichen Lebensfel<strong>der</strong>n und<br />
Epochen kommunizierten, ist e<strong>in</strong>e eigene<br />
Tafel gewidmet. Dazu gehört auch e<strong>in</strong>e Audiostation.<br />
Besucher können hier e<strong>in</strong> hebräisches<br />
Gebet und Ausschnitte e<strong>in</strong>es jiddischen<br />
Chanukkaliedes hören. Die deutschen<br />
Übersetzungen stehen zum Mitlesen zur<br />
Verfügung. Auch e<strong>in</strong> deutschsprachiges Interview,<br />
<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e christliche Frau von ihrer<br />
Arbeit als Dienstmädchen bei e<strong>in</strong>er jüdischen<br />
Geschäftsfrau berichtet, steht als Tondokument<br />
bereit.<br />
Verantwortlich erarbeitet wurde die Ausstellung,<br />
neben vielen ehrenamtlichen Beiträgern<br />
<strong>in</strong> den Landkreisen, von Dr. Rotraud<br />
Ries, Leiter<strong>in</strong> des Johanna-Stahl-Zentrums<br />
<strong>in</strong> Würzburg, und von Rebekka Denz<br />
vom Kooperationsprojekt Landjudentum <strong>in</strong><br />
Unterfranken. Ihnen allen dankte Landrat<br />
Eberhart Nuß für den Landkreis Würzburg<br />
als Projektträger auf <strong>der</strong> Eröffnungsveranstaltung,<br />
an <strong>der</strong> auch <strong>Landesverband</strong>spräsident<br />
Dr. Josef Schuster teilnahm.<br />
Die Wan<strong>der</strong>ausstellung soll bis Ende 2014<br />
<strong>in</strong> allen Landkreisen und kreisfreien Städten<br />
gezeigt werden. Nächste Stationen nach<br />
Würz burg waren bereits Bad Brückenau und<br />
Ham melburg. Bis zum 2. Dezember ist sie<br />
im Landratsamt von Bad Kiss<strong>in</strong>gen zu sehen.<br />
Benno Reicher<br />
Ausstellungseröffnung im Würzburger Landratsamt mit, v. rechts: stellv. Landrät<strong>in</strong> Elisabeth Schäfer,<br />
<strong>Landesverband</strong>spräsident Dr. Josef Schuster, Bürgermeister<strong>in</strong> Marion Schäfer-Blake, Dr. Rotraud Ries<br />
vom Johanna-Stahl-Zentrum, Rebecca Denz vom Projekt Landjuden und auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite <strong>der</strong> Ausstellungstafel<br />
<strong>der</strong> Projektträger Landrat Eberhard Nuß.<br />
Foto: Eva-Maria Schorno<br />
Weitere Informationen und Term<strong>in</strong>e:<br />
http://www.landjudentum-unterfranken.de/<br />
projekte/Wan<strong>der</strong>ausstellungen<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 9
Chuppaste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Süddeutschland<br />
Bei Exkursionen zu Stätten früheren jüdischen<br />
Lebens <strong>in</strong> Süddeutschland werden<br />
meistens ehemalige Synagogen und jüdische<br />
Friedhöfe besucht. An e<strong>in</strong>igen e<strong>in</strong>stigen Syna -<br />
gogen f<strong>in</strong>det man auch heute noch an <strong>der</strong><br />
Außenwand e<strong>in</strong>en Chuppaste<strong>in</strong>, auch Trauste<strong>in</strong><br />
o<strong>der</strong> Hochzeitsste<strong>in</strong> genannt. Die Exkursionsteilnehmer<br />
wollen dann natürlich<br />
wissen, um was es sich da handelt.<br />
Der Name des Ste<strong>in</strong>s kommt vom hebräischen<br />
Wort Chuppa, was eigentlich Baldach<strong>in</strong><br />
bedeutet. Die Chuppa ist <strong>der</strong> Baldach<strong>in</strong>,<br />
<strong>der</strong> aus Stoff besteht und an den vier Ecken<br />
durch Stangen festgehalten wird, die entwe<strong>der</strong><br />
im Boden befestigt s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> von vier<br />
jungen Männern gehalten werden. Unter<br />
diesem Baldach<strong>in</strong> f<strong>in</strong>det die Trauungszeremonie,<br />
meist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Hochzeitssaal (Olam),<br />
oft auch unter freiem Himmel vor o<strong>der</strong> neben<br />
<strong>der</strong> Synagoge statt. Eigentlich wissen nur<br />
wenige Menschen <strong>in</strong> Süddeutschland und <strong>in</strong><br />
Israel um die Bedeutung des Chuppaste<strong>in</strong>s,<br />
den meisten – Juden wie Nichtjuden – ist er<br />
relativ fremd.<br />
Um den Chuppaste<strong>in</strong> zu verstehen, muss<br />
man sich die jüdische Hochzeit e<strong>in</strong> wenig vor<br />
Augen führen. Die meisten jüdischen Trauungen<br />
(beim Konservativen und Reformjudentum<br />
kann es e<strong>in</strong>ige, wenn auch nicht sehr<br />
bedeutende Abweichungen geben) verlaufen<br />
nach e<strong>in</strong>er bestimmten Abfolge: Zu Beg<strong>in</strong>n<br />
<strong>der</strong> Hochzeitszeremonie versammeln sich die<br />
Festgäste <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Saal (Olam) o<strong>der</strong><br />
früher vor o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge. Braut und<br />
Bräutigam s<strong>in</strong>d getrennt. Die Braut sitzt auf<br />
e<strong>in</strong>em Sessel o<strong>der</strong> Stuhl <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite<br />
des Raumes, ihr Gesicht ist nicht verschleiert;<br />
neben ihr stehen die Mutter und die<br />
Schwiegermutter. Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />
Seite des Raumes wartet <strong>der</strong> Bräutigam,<br />
begleitet von Vater und Schwiegervater. Kurz<br />
vor Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Trauung setzen sich <strong>der</strong> Bräutigam,<br />
die beiden Väter, zwei Trauzeugen<br />
(Ejdim), evtl. noch an<strong>der</strong>e Persönlichkeiten<br />
und <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> die Trauung vollzieht,<br />
an e<strong>in</strong>en Tisch. Hier wird jetzt die Hochzeitsurkunde<br />
(Ketuba) ausgefüllt, e<strong>in</strong> Dokument,<br />
<strong>in</strong> dem u.a. auch festgelegt wird, welche<br />
Summe <strong>der</strong> Bräutigam im Falle e<strong>in</strong>er Scheidung<br />
zu zahlen hat. Nachdem die Ketuba,<br />
e<strong>in</strong>e schlichte Fassung für die persönlichen<br />
Unterlagen <strong>der</strong> Braut und e<strong>in</strong>e prächtige,<br />
farbige zum Vorzeigen, von den beiden Zeugen,<br />
dem Bräutigam und dem Rabb<strong>in</strong>er unterzeichnet<br />
worden s<strong>in</strong>d, beg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> eigentliche<br />
Trauungsakt. Der Bräutigam schreitet,<br />
begleitet von Vater und Schwiegervater, zur<br />
wartenden Braut. Hier erfolgt nun das „Bedecken“.<br />
Der Bräutigam bedeckt das Gesicht<br />
<strong>der</strong> Braut mit dem Schleier, damit es ihm<br />
nicht so ergeht wie e<strong>in</strong>st Jakov, <strong>der</strong> statt Rachel,<br />
um die er gearbeitete hatte, ihre<br />
Schwester Lea untergeschoben bekam. Dann<br />
schreitet er mit beiden Vätern zur Chuppa.<br />
Jetzt erhebt sich die Braut und geht, begleitet<br />
von beiden Müttern, zu dem unter <strong>der</strong><br />
Chuppa wartenden Bräutigam. Beide Zeugen<br />
und die Eltern stehen auch neben dem<br />
Brautpaar. Nun kommt <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er und<br />
s<strong>in</strong>gt drei Segenssprüche (Berachot) <strong>der</strong> biblischen<br />
Verlobungszeremonie. Das Brautpaar<br />
nimmt aus dem Becher e<strong>in</strong>en Schluck We<strong>in</strong>.<br />
Nach e<strong>in</strong>er kurzen Ansprache des Rabb<strong>in</strong>ers<br />
steckt <strong>der</strong> Bräutigam <strong>der</strong> Braut den Traur<strong>in</strong>g<br />
an den rechten Zeigef<strong>in</strong>ger und sagt dabei:<br />
„Mit diesem R<strong>in</strong>g bist Du mir angeheiligt<br />
nach den Gesetzen von Moses und Israel.“<br />
Dies bedeutet symbolisch die Aneignung <strong>der</strong><br />
Braut durch den Bräutigam und ihre Zustimmung<br />
dazu. Im Reformjudentum steckt auch<br />
die Braut dem Bräutigam e<strong>in</strong>en R<strong>in</strong>g an den<br />
F<strong>in</strong>ger. Bei orthodoxen Trauungen, sowohl<br />
bei europäischen als auch bei orientalischen<br />
Juden, wird anschließend <strong>der</strong> Ehekontrakt<br />
(Ketuba) <strong>in</strong> aramäischer Sprache laut verlesen.<br />
Danach werden weitere drei Danksprüche<br />
gesungen und erneut e<strong>in</strong> Schluck<br />
We<strong>in</strong> aus dem Becher getrunken, den jetzt<br />
aber <strong>der</strong> Bräutigam <strong>der</strong> Braut reicht (während<br />
dies beim ersten Mal die Mutter tat).<br />
Anschließend wird <strong>der</strong> Braut die Ketuba<br />
überreicht, die sie gut aufheben muss. Nun<br />
folgt <strong>der</strong> letzte Akt <strong>der</strong> Trauungszeremonie,<br />
das Zertreten des Glases. Dieses Zertreten<br />
soll symbolisieren, dass sogar im Augenblick<br />
des höchsten Glücks, <strong>der</strong> ja die Trauung se<strong>in</strong><br />
sollte, je<strong>der</strong> Jude <strong>in</strong> <strong>der</strong> ganzen Welt se<strong>in</strong>e<br />
Trauer über die Zerstörung Jerusalems zum<br />
Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Der Rabb<strong>in</strong>er (eigentlich<br />
kann je<strong>der</strong> Jude e<strong>in</strong>e Trauung durchführen)<br />
spricht daher den Satz aus Psalm 137, 5:<br />
„Wenn ich de<strong>in</strong>er vergessen sollte, Jeru salem,<br />
möge me<strong>in</strong>e rechte Hand verdorren….“, den<br />
dann <strong>der</strong> Bräutigam wie<strong>der</strong>holt. Danach zertritt<br />
er mit dem Fuß e<strong>in</strong> Glas, das verpackt<br />
ist, um Verletzungen zu vermeiden. Mit dem<br />
von allen laut gesprochenen „Masal tow“,<br />
„Gut Glück“, endet die eigentliche Trauungszeremonie<br />
und es beg<strong>in</strong>nt das Hochzeitsfest,<br />
die Chatuna.<br />
Auch <strong>in</strong> den früheren jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />
Süddeutschlands wird die Trauung und<br />
Hochzeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichen Reihenfolge abgelaufen<br />
se<strong>in</strong> – bis auf e<strong>in</strong>e wesentliche Ausnahme.<br />
Am Ende <strong>der</strong> Zeremonie zertrat <strong>der</strong><br />
Bräutigam nach dem Wie<strong>der</strong>holen des<br />
Psalms nicht das Glas, son<strong>der</strong>n er zerschmetterte<br />
es an dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Chuppa an<br />
<strong>der</strong> Synagoge bef<strong>in</strong>dlichen Chuppaste<strong>in</strong>. Die<br />
heute noch an o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen ehemaligen<br />
Synagogen bef<strong>in</strong>dlichen Chuppaste<strong>in</strong>e (die<br />
meisten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Unterfranken z.B. <strong>in</strong> Urspr<strong>in</strong>gen,<br />
Laudenbach, Obernbreit, Hüttenheim<br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Altenkunstadt) waren so e<strong>in</strong><br />
fester Bestandteil <strong>der</strong> Trauungszeremonie. In<br />
fast allen Chuppaste<strong>in</strong>en sieht man e<strong>in</strong>en<br />
Stern, im Zentrum häufig das hebräische MT<br />
(Masal Tow), manchmal (wie <strong>in</strong> Obernbreit)<br />
auch e<strong>in</strong>e hebräische Jahreszahl, die das Datum<br />
<strong>der</strong> Erbauung <strong>der</strong> Synagoge angibt und<br />
den Auszug aus Jeremias 7, 34 und 33, 1:<br />
„Kol sasson we kol simcha, kol chatan we kol<br />
kalla, Stimme des Jubels, Stimme <strong>der</strong> Freude,<br />
Stimme des Bräutigams, Stimme <strong>der</strong> Braut.“<br />
Es ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat erfreulich, dass sich solche<br />
Chuppaste<strong>in</strong>e an relativ vielen Orten Süddeutschlands,<br />
und ganz beson<strong>der</strong>s Frankens,<br />
erhalten haben. Zu verdanken ist dies oft<br />
den Besitzern des jeweiligen Synagogen -<br />
gebäudes.<br />
Israel Schwierz<br />
Datenbank „Juden <strong>in</strong><br />
Unterfranken“<br />
Früher hatte man biographische Lexika, <strong>in</strong> denen<br />
Artikel zu den wichtigen, klugen und e<strong>in</strong>flussreichen<br />
Personen zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d – die<br />
meisten von ihnen Männer. Heute bietet man<br />
solche Informationen <strong>in</strong> Datenbanken an und<br />
erhält damit die Möglichkeit, die Informationen<br />
zu vernetzen. Zielt man nicht auf Individuen<br />
ab, son<strong>der</strong>n auf Gruppen „normaler“<br />
Menschen und ihre E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> Familie<br />
und Verwandtschaft, Vere<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> Wohnorte,<br />
so bieten Datenbanken umso mehr s<strong>in</strong>nvolle<br />
Strukturen für Sammlung und -verknüpfung.<br />
In Aschaffenburg entstand bereits vor Jahren<br />
e<strong>in</strong> Projekt, das sich zunächst die Erfassung<br />
<strong>der</strong> Juden am bayerischen Unterma<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Datenbank zum Ziel setzte. Hier<strong>in</strong> wird jede<br />
Person durch die Zuordnung zu den Eltern <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Verwandtschaftsgeflecht e<strong>in</strong>geordnet. Die<br />
Darstellung mehrerer Generationen e<strong>in</strong>er Familie<br />
ist möglich. Ursprünglich vom För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong><br />
Haus Wolfsthalplatz e.V. <strong>in</strong>itiiert, hat<br />
sich <strong>der</strong> Entwickler <strong>der</strong> Datenbank, <strong>der</strong> Informatiker<br />
Oded Z<strong>in</strong>gher, <strong>in</strong>zwischen an das Kooperationsprojekt<br />
„Landjudentum <strong>in</strong> Unterfranken“<br />
angeschlossen, über dessen Homepage<br />
die Datenbank genutzt werden kann.<br />
Mittlerweile ist auch ganz Unterfranken e<strong>in</strong>bezogen.<br />
Neben den Daten zum Raum Aschaffenburg,<br />
<strong>der</strong>en Fehler noch zu den „K<strong>in</strong><strong>der</strong>krankheiten“<br />
<strong>der</strong> Datenbank zählen, s<strong>in</strong>d nun auch<br />
sämtliche Personen des Biographischen<br />
Handbuchs Würzburger Juden erfasst. Mehrere<br />
ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten daran,<br />
die Informationen des Handbuchs komplett<br />
e<strong>in</strong>zugeben und durch e<strong>in</strong>e umfangreiche<br />
Verl<strong>in</strong>kung mit Stolperste<strong>in</strong>seiten, Deportationslisten,<br />
Grabste<strong>in</strong>dokumentationen und<br />
an<strong>der</strong>en Quellen zu erweitern. Das Projekt ist<br />
e<strong>in</strong> „work <strong>in</strong> progress“, an dem ständig weiter<br />
gearbeitet wird, noch nicht perfekt, aber mit<br />
bemerkenswerten Potentialen. Rotraud Ries<br />
http://www.landjudentum-unterfranken.de/<br />
materialien<br />
http://www.johanna-stahl-zentrum.de/<br />
Dr. Rotraud Ries leitet das Johanna-Stahl-<br />
Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur<br />
<strong>in</strong> Unterfranken.<br />
10 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Neue Suchliste für geraubte Bücher<br />
Die Stadtbibliothek Nürnberg beherbergt e<strong>in</strong>e<br />
bedeutende Sammlung <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS-Zeit geraubter<br />
Bücher, bestehend aus 9000 Schriften,<br />
die vor allem verfolgten Juden und Freimaurern<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen 1933 und 1945<br />
entzogen wurden. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Inhalt, Herkunft<br />
und Zusammensetzung vergleichbare Schriftensammlung<br />
existiert unseres Wissens <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />
an<strong>der</strong>en deutschsprachigen Bibliothek.<br />
Diese Bestände, die heute unter dem Namen<br />
„Sammlung Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
(IKG)“ zusammengefasst s<strong>in</strong>d, wurden bei<br />
Kriegsende <strong>in</strong> den Redaktionsräumen des antisemitischen<br />
Hetzblattes „Der Stürmer“ sowie<br />
<strong>in</strong> Julius Streichers Landgut <strong>in</strong> Cadolzburg<br />
bei Fürth aufgefunden. Knapp 1400 Namen<br />
von Vorbesitzern aus ganz Europa lassen<br />
sich auf <strong>der</strong> umfangreichen neuen Suchliste<br />
<strong>der</strong> Nürnberger Stadtbibliothek f<strong>in</strong>den, die<br />
vor kurzem auch im Internet veröffentlicht<br />
wurde.<br />
Seit 1997 bemühen sich die Stadt und die Israelitische<br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg geme<strong>in</strong>sam<br />
um e<strong>in</strong>e Erschließung und Restitution <strong>der</strong><br />
Sammlung, bzw. e<strong>in</strong>zelner Schriften daraus.<br />
Im September 2002 unterzeichneten die Israelitische<br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de als Eigen tümer und<br />
Leihgeber und die Stadt als Leihnehmer e<strong>in</strong>en<br />
Vertrag zur dauerhaften Regelung des<br />
Verbleibs <strong>der</strong> Sammlung. Neben den juristischen<br />
Details wurden im Vertrag die Absichten<br />
bei<strong>der</strong> Seiten festgehalten. Dazu gehören<br />
die komplette Neukatalogisierung <strong>der</strong> Bestände,<br />
e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Erfassung sämtlicher<br />
Besitzh<strong>in</strong>weise, die etwaige Restaurierung beschädigter<br />
Schriften und die erklärte Absicht,<br />
sie <strong>der</strong> Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />
Bislang wurden unter den etwa 9000 Schriften<br />
<strong>in</strong>sgesamt 3690 provenienztragende Schriften<br />
festgestellt, 2200 Vorbesitzer – 1895 E<strong>in</strong>zelpersonen<br />
und 305 Körperschaften – konnten<br />
namhaft gemacht werden. Besitze<strong>in</strong>träge bzw.<br />
Provenienze<strong>in</strong>träge wurden <strong>in</strong> verschiedenster<br />
Form vorgefunden: Schriftzüge, Autorenwidmungen,<br />
Umschlags- und Rückenprägungen,<br />
Stempel und Prägestempel, Exlibris, Etiketten<br />
<strong>in</strong> Form von Buchhändler- und Buchb<strong>in</strong><strong>der</strong>zeichen,<br />
Briefe, Briefumschläge, Post- und<br />
Ansichtskarten, Briefmarken, Visitenkarten,<br />
Fotografien, Quittungen, Geldsche<strong>in</strong>e, Notizzettel,<br />
Formulare und Bibliothekskarteikärtchen.<br />
Die bisherigen Untersuchungen lassen auf die<br />
geographische Herkunft <strong>der</strong> Schriften aus 495<br />
Orten von Aachen bis Zurom<strong>in</strong> <strong>in</strong> 23 Län<strong>der</strong>n<br />
schließen, darunter Albanien, Chile, Deutschland,<br />
England, Italien, Li tauen, Polen, Russland,<br />
Schweiz, Ungarn und USA.<br />
Mit Hilfe von mehr als 500 Quellen – von<br />
Nachschlagewerken über Schriften bis h<strong>in</strong> zu<br />
Datenbanken und nicht zuletzt dem Internet<br />
– wurde aus den oft kryptischen und spärlichen<br />
H<strong>in</strong>weisen ermittelt, um welche Person<br />
o<strong>der</strong> Körperschaft es sich bei dem Vorbesitzer<br />
handelt. Der Austausch mit Zeitzeugen, Familienmitglie<strong>der</strong>n<br />
und Forschern <strong>in</strong> Archiven im<br />
In- und Ausland ergänzte diese Recherche.<br />
Die Publikation dieser Namen dient als s<strong>in</strong>nvolles<br />
Instrument für die Suche und Kontaktaufnahme<br />
<strong>der</strong> Vorbesitzer und <strong>der</strong>en Nachkommen.<br />
Seit Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Veröffentlichungen konnten<br />
knapp 200 Schriften an die ursprünglichen<br />
Vorbesitzer bzw. <strong>der</strong>en Nachkommen – Personen<br />
und Institutionen – <strong>in</strong> Canada, Deutschland,<br />
Großbritannien, Israel, Österreich, <strong>der</strong><br />
Schweiz und den USA zurückgegeben werden.<br />
Weitere Restitutionen an wenigstens 20<br />
Familien stehen unmittelbar zuvor.<br />
Die Bestände <strong>der</strong> Sammlung stammen größtenteils<br />
aus dem Besitz von Personen und Institutionen,<br />
die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit von 1933 bis 1945 zu<br />
Opfern <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verfolgung<br />
wurden: Juden, Freimaurer, Mitglie<strong>der</strong> und<br />
Funktionäre <strong>der</strong> Arbeiterbewegung und Vertreter<br />
verschiedener christlicher Glaubensrichtungen.<br />
Ihr Besitz fiel e<strong>in</strong>em gewaltigen<br />
Raubzug anheim, dessen Ausmaße wir heute<br />
nur schätzen können. Die Menge <strong>der</strong> ursprünglich<br />
aufgefundenen Schriften ist unbekannt.<br />
Die Bestände wurden 1945 von <strong>der</strong><br />
US-Armee bzw. von <strong>der</strong> gleich nach Kriegsende<br />
e<strong>in</strong>gerichteten amerikanischen Militärregierung<br />
beschlagnahmt und zunächst teilweise<br />
<strong>der</strong> Stadtbibliothek Nürnberg übergeben.<br />
Ende 1945 o<strong>der</strong> Anfang 1946 übertrug<br />
die Militärverwaltung den Besitz dieser<br />
Schriften <strong>der</strong> sich eben neu konstituierenden<br />
<strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Nürnberg.<br />
Es kann darüber h<strong>in</strong>aus nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass Teile <strong>der</strong> „Streicher-Bibliothek“,<br />
ganz ähnlich wie an<strong>der</strong>e Sammlungen von gedrucktem<br />
Raubgut, über das Central Collect<strong>in</strong>g<br />
Po<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Offenbach am Ma<strong>in</strong> – <strong>der</strong> Hauptsammelstelle<br />
geraubter jüdischer Bibliotheken,<br />
Archivdokumente und Ritualgegenstände<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> amerikanischen Besatzungszone –<br />
auch nach Israel gelangten. E<strong>in</strong>e Erforschung<br />
dieser vermutlich sehr großen Bestände auf<br />
die Feststellung ihrer Herkunft an Hand <strong>der</strong><br />
Provenienze<strong>in</strong>träge steht noch aus.<br />
Die Sammlung IKG stellt sich uns heute nicht<br />
als Ergebnis e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>deutig erkennbaren, <strong>in</strong>haltlich<br />
bestimmten Sammlungswillens dar,<br />
son<strong>der</strong>n als Anhäufung von Fragmenten verschiedenster<br />
Schriftensammlungen, die zwar<br />
manche thematischen Schwerpunkte erkennen<br />
lassen, aber <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> höchst heterogenes<br />
Gebilde ergeben, das letztlich dem räuberischen<br />
Impetus <strong>der</strong> Nazis geschuldet ist. Es<br />
werden auch nach noch so gründlichen Recherchen<br />
niemals sämtliche Geheimnisse und<br />
Rätsel dieser Schriftensammlung gelüftet werden<br />
können.<br />
Die Sammlung IKG umfasst heute Schriften <strong>in</strong><br />
28 Sprachen: Altsyrisch, Aramäisch/Chaldäisch,<br />
Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Esperanto,<br />
F<strong>in</strong>nisch, Französisch, Griechisch (alt<br />
und neu), Hebräisch (alt und neu), Italienisch,<br />
Jiddisch, Late<strong>in</strong>isch, Lettisch, Nie<strong>der</strong>ländisch,<br />
Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch,<br />
Russisch, Schwedisch, Serbokroatisch,<br />
Tschechisch, Ungarisch und Ukra<strong>in</strong>isch.<br />
Anhand von Datumse<strong>in</strong>trägen lassen sich viele<br />
Bände auch nach ihrer zeitlichen Herkunft<br />
e<strong>in</strong>ordnen. Die Angaben <strong>in</strong> den Büchern<br />
beziehen sich auf den Zeitraum von 1648 bis<br />
1944, am häufigsten s<strong>in</strong>d Bücher aus den<br />
Jahren 1860 bis 1940 vertreten, was auch<br />
durch die Ersche<strong>in</strong>ungsdaten <strong>der</strong> katalo gi sierten<br />
Schriften belegbar ist.<br />
E<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit stellen die Schriften dar,<br />
die dem Stürmer von se<strong>in</strong>en Lesern und<br />
Freunden zugesandt worden s<strong>in</strong>d. Unter diesen<br />
wie<strong>der</strong>um lassen sich auch geraubte Bücher<br />
nachweisen:<br />
„Dieses Buch fand ich am 8/VI 44 an <strong>der</strong> Adria,<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abseits gelegenen Hause. Nachdem ich<br />
es mehreremale durchblättert habe, fand ich es<br />
als e<strong>in</strong> lehrreiches, von Juden nie<strong>der</strong>geschriebenes<br />
Werk, und stelle es dem Stürmer zur Verfügung.<br />
Zur Zeit im Felde, F. P. Nr. 05011 am<br />
26//X 1944, He<strong>in</strong>rich Tiefenthaler“ (Schriftzüge<br />
<strong>in</strong>: Moses Mendelssohns sämtliche Werke).<br />
E<strong>in</strong> weiteres Beispiel:<br />
„Dir, liebe Mutter, sei dieses Werk gewidmet zur<br />
Erhebung und Erbauung <strong>in</strong> den sabbatlichen<br />
Mußestunden de<strong>in</strong>es Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong>s von de<strong>in</strong>em<br />
dich liebenden Sohn Sebald. / Marisfeld, Erew<br />
Rosch Haschana Taw Resch Aj<strong>in</strong> Daled (=<br />
5674 = 1913/14), am Tage <strong>der</strong> Beendigung <strong>der</strong><br />
Schiwa für unseren lieben Vater (dt.-hebr.<br />
Schriftzug). Am 20. Elul 5683 Samstag den 1.<br />
September 1923 starb me<strong>in</strong> lieber guter Mann.<br />
Er ruhe <strong>in</strong> Frieden! Bertha Müller “ (E<strong>in</strong>trag <strong>in</strong>:<br />
Bibel- und Talmudschatz. E<strong>in</strong> Buch für die jüdische<br />
Familie).<br />
Der Nürnberger Kantor und Lehrer Sebald<br />
Müller wurde zusammen mit se<strong>in</strong>er Familie<br />
am 29. 11. 1941 nach Riga-Jungfernhof verschleppt<br />
und ermordet. Schriften aus se<strong>in</strong>er<br />
Sammlung konnten vor kurzem se<strong>in</strong>em Sohn<br />
als e<strong>in</strong>zigem Über<strong>leben</strong>den <strong>der</strong> Familie rückerstattet<br />
werden.<br />
Alle Fotos: Stadt Nürnberg<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 11
Die Provenienze<strong>in</strong>träge gewähren immer wie<strong>der</strong><br />
aufschlussreiche und bewegende E<strong>in</strong>blicke<br />
<strong>in</strong> Lebensumstände und Schicksale von<br />
Menschen und Institutionen, die vertrieben<br />
o<strong>der</strong> vernichtet wurden. Die Sammlung birgt<br />
Er<strong>in</strong>nerungen, manchmal auch e<strong>in</strong> letztes Lebenszeichen<br />
und kann deshalb <strong>in</strong> mancherlei<br />
H<strong>in</strong>sicht als historisches Dokument gelesen<br />
werden.<br />
An die Dokumentation aller Besitze<strong>in</strong>träge<br />
schließen sich, wo immer möglich, aktive Recherchen<br />
zur Identifikation <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Eigentümer und zur E<strong>in</strong>leitung von Restitutionsverhandlungen<br />
mit den Vorbesitzern,<br />
ihren Nachkommen o<strong>der</strong> Nachfolge<strong>in</strong>stitutionen<br />
an. Diese Bemühungen stoßen lei<strong>der</strong><br />
häufig an Grenzen. Charakteristisch für die<br />
ehemalige „Bücherei <strong>der</strong> Schriftleitung bzw. <strong>der</strong><br />
Hauptschriftleitung des Stürmer“ ist die breite<br />
geographische Streuung <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Besitze<strong>in</strong>trägen<br />
genannten Orte. Dem „Stürmer“ wurden<br />
nicht nur Bücher aus Nürnberg, Franken<br />
o<strong>der</strong> dem Gebiet des Deutschen Reiches zugesandt;<br />
mit den Annektionen und Besetzungen<br />
seit 1938 fielen Bücherbestände auch aus<br />
diesen Gebieten an. Detaillierte Recherchen<br />
können aber nicht an allen Orten vorgenommen<br />
werden.<br />
Wie kamen diese Bücher nach Nürnberg? Im<br />
„Stürmer“ konnte man jahrelang lesen:<br />
„Stürmerleser! Viele unserer Stürmerleser s<strong>in</strong>d<br />
im Besitze jüdischer und antijüdischer Bücher,<br />
Dokumente, Bil<strong>der</strong>, Zeitschriften usw., die für sie<br />
wenig Bedeutung haben. Für das Stürmer-<br />
Archiv s<strong>in</strong>d diese D<strong>in</strong>ge jedoch sehr wichtig. Wir<br />
ersuchen daher un sere Stürmerfreunde, unsere<br />
Sammlung durch Zusendung solcher Gegenstände<br />
ausbauen zu helfen. Die Schriftleitung<br />
des Stürmers / Nürnberg = A, Pfannenschmiedsgasse<br />
19.“<br />
Mit diesem Aufruf warb Julius Streicher viele<br />
Jahre <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wochenblatt um Material<br />
für se<strong>in</strong>e publizistischen Zwecke. Er warb<br />
nicht vergeblich. Es lässt sich heute nicht<br />
mehr rekonstruieren, welche und wie viele<br />
Schriften, Dokumente und Archivalien <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
„Bücherei <strong>der</strong> Schriftleitung und <strong>der</strong> Hauptschriftleitung<br />
des Stürmer“ aufbewahrt wurden.<br />
Auch <strong>in</strong>wieweit diese Materialien <strong>in</strong> die<br />
Redaktionsarbeit des „Stürmers“ e<strong>in</strong>flossen,<br />
ist weitgehend unerforscht.<br />
Die „Bücherei <strong>der</strong> Schriftleitung des Stürmer“ erhielt<br />
spätestens am 1. Juli 1942 e<strong>in</strong>e bedeutende<br />
„Bereicherung“. An diesem Tag wurden alle<br />
jüdischen Schulen <strong>in</strong> Deutschland geschlossen.<br />
Die Israelitische Volksschule Nürnberg war auf<br />
Befehl <strong>der</strong> NS-Behörden im März 1934 <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Oberen Kanal Straße 25 eröffnet worden. Ihr<br />
Vorläufer war die Schule <strong>der</strong> Adas Israel gewesen,<br />
was an Hand <strong>der</strong> Buchbesitzer leicht verifiziert<br />
werden kann. Zu dieser Schule gehörte<br />
auch e<strong>in</strong>e Schulbibliothek, die durch die mitgebrachten<br />
Lehrmaterialien vieler neuer Schüler<br />
erweitert wurde. Am 10. 6. 1943, dem zweiten<br />
Tag des jüdischen Schawuot-Festes, drangen<br />
Gestapo-Beamte <strong>in</strong> die Synagoge e<strong>in</strong> und verkündeten<br />
den dort gerade Gottesdienst abhaltenden<br />
Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n die Auflösung<br />
<strong>der</strong> Reichsvere<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong> Deutschland<br />
und die Beschlagnahmung des noch vorhandenen<br />
Geme<strong>in</strong>debesitzes, e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Reste<br />
<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>debibliothek.<br />
Der Rückerstattung verfolgungsbed<strong>in</strong>gt entzogenem<br />
Kulturguts an se<strong>in</strong>e Vorbesitzer bzw.<br />
an <strong>der</strong>en Rechtsnachfolger ist weit mehr als<br />
nur e<strong>in</strong>e juristische Auflage, sie ist e<strong>in</strong>e ethischmoralische<br />
Verpflichtung, die trotz immenser<br />
sachbed<strong>in</strong>gter Hürden e<strong>in</strong>e Daueraufgabe ist<br />
und wohl auch bleiben wird. Die Feststellung<br />
<strong>der</strong> tatsächlichen Besitzverhältnisse alle<strong>in</strong>e ist<br />
schon problematisch genug, mit den jeweiligen<br />
Familien o<strong>der</strong> den Nachfolgern <strong>der</strong> zerstörten<br />
Institutionen <strong>in</strong> Kontakt zu kommen,<br />
fällt noch viel schwerer.<br />
Manche Restitutionsvorgänge können sich<br />
über Jahre h<strong>in</strong>ziehen. Das hat nicht nur mit<br />
<strong>der</strong> geographischen Distanz zu den Familien<br />
und Rechtsnachfolgern <strong>der</strong> Vorbesitzer zu<br />
tun. So manche persönliche und psychologische<br />
Bef<strong>in</strong>dlichkeiten treten zutage. Geduld<br />
und Verständnis auf beiden Seiten s<strong>in</strong>d gefragt.<br />
Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt<br />
bleiben, dass die Reaktionen <strong>der</strong> Familien<br />
auf die Funde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sammlung IKG durchwegs<br />
sehr positiv waren. Mit Dankbarkeit<br />
und Zufriedenheit wird die Arbeit <strong>der</strong> Stadt<br />
Nürnberg auf diesem Gebiet registriert.<br />
Um die enorme und komplexe Menge an Informationen<br />
nutzbar zu machen, wurde e<strong>in</strong>e<br />
Datenbank aufgebaut, die ständig ergänzt und<br />
optimiert wird. Der größte Teil <strong>der</strong> Provenienze<strong>in</strong>träge<br />
wurde e<strong>in</strong>gescannt. Diese Bilddateien<br />
stehen <strong>in</strong>teressierten Familien und<br />
Rechtsnachfolgern auf Anfrage zur Verfügung.<br />
Leibl Rosenberg<br />
Die aktuelle Suchliste <strong>der</strong> Vorbesitzer sortiert<br />
nach Namen:<br />
http://www.nuernberg.de/imperia/md/stadtbib<br />
liothek/dokumente/suchliste_name-2013.pdf<br />
Die aktuelle Suchliste <strong>der</strong> Vorbesitzer sortiert<br />
nach Orten:<br />
http://www.nuernberg.de/imperia/md/stadtbib<br />
liothek/dokumente/suchliste_ort-2013.pdf<br />
Weitere Informationen zur Sammlung <strong>der</strong><br />
<strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de unter<br />
http://www.nuernberg.de/<strong>in</strong>ternet/stadtbiblio<br />
thek/sammlungikg.html?pk_campaign=stadt<br />
bibliothek&pk_kwd=altbestaende_sammlung<br />
ikg.html<br />
12 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Provenienzforschung<br />
Die gezielte Suche nach von den Nazis geraubten<br />
Büchern und Schriften ist seit dem<br />
Herbst e<strong>in</strong> Stück leichter geworden. Angehörige<br />
<strong>der</strong> ursprünglichen Eigentümer, Rechtsnachfolger<br />
<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den und Institutionen<br />
o<strong>der</strong> auch nur Interessierte haben jetzt über<br />
das Internet Zugriff auf die Suchbereiche e<strong>in</strong>er<br />
Datenbank <strong>der</strong> Nürnberger Stadtbibliothek,<br />
die e<strong>in</strong>e Recherche nach Namen und<br />
Orten ermöglicht. Die Rückerstattung von gestohlenen<br />
Druckwerken soll dadurch weiter<br />
forciert werden.<br />
Seit mehr als 15 Jahren kümmert sich Leibl<br />
Rosenberg um die wohl e<strong>in</strong>malige Sammlung<br />
geraubter Bücher <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadtbibliothek <strong>der</strong><br />
fränkischen Metropole. Rosenberg studierte<br />
u.a. Judaistik, Germanistik und Amerikanistik<br />
<strong>in</strong> Jerusalem und <strong>in</strong> München. Bevor er als<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Bildungscampus<br />
nach Nürnberg g<strong>in</strong>g, war er viele Jahre<br />
für unterschiedliche Medien journalistisch<br />
tätig. Auch die Leser von JÜDISCHES LE-<br />
BEN IN BAYERN kennen ihn als Autoren.<br />
Se<strong>in</strong> Brot verdient er aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bibliothek<br />
(siehe Foto). „Das Schönste an dieser Arbeit<br />
<strong>in</strong> all den Jahren“, sagt Leibl Rosenberg <strong>in</strong>mitten<br />
se<strong>in</strong>er Bücher, „waren immer die Beziehungen<br />
zu den Menschen auf <strong>der</strong> ganzen<br />
Welt, denen wir etwas von ihren Familien zurückgeben<br />
konnten“. Für uns schreibt er <strong>in</strong><br />
diesem Heft über die Nürnberger Sammlung<br />
und se<strong>in</strong>e langjährige Arbeit. Benno Reicher<br />
Zum Titelbild<br />
Das Chanukka-Buch „Moaus Zur“ aus <strong>der</strong><br />
Nürnberger Sammlung <strong>der</strong> geraubten Bücher<br />
gehörte dem jüdischen Schüler Artur<br />
Goldberger, geboren am 17. 7. 1912 <strong>in</strong> Nürnberg.<br />
Die Familie lebte am Josephsplatz 20<br />
und gehörte zur Adas-Jisroel-Geme<strong>in</strong>de.<br />
Das hier abgebildete Ex Libis bef<strong>in</strong>det sich<br />
auch <strong>in</strong> dem Buch. Es wird <strong>in</strong> nächster Zukunft<br />
an die Tochter von Artur Goldberger<br />
<strong>in</strong> Jerusalem zurückerstattet.<br />
Alle Fotos zum Themenschwerpunkt „Geraubte<br />
Bücher“: Stadt Nürnberg.<br />
Die SchUM-Geme<strong>in</strong>den<br />
Dem kulturellen Profil <strong>der</strong> jüdischen<br />
„SchUM“-Geme<strong>in</strong>den Speyer, Worms und<br />
Ma<strong>in</strong>z war im Oktober e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<br />
wissenschaftliche Tagung <strong>in</strong> Worms gewidmet.<br />
Worms, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ältesten Städte<br />
Deutschlands, bemüht sich zusammen mit<br />
Speyer und Ma<strong>in</strong>z, für die „jüdischen Muttergeme<strong>in</strong>den<br />
im Rhe<strong>in</strong>land“ die Anerkennung<br />
als UNESCO-Welterbe zu erlangen.<br />
Dabei spielen die jüdischen Stätten e<strong>in</strong>e<br />
wichtige Rolle. Während aber das materielle<br />
jüdische Erbe <strong>in</strong>folge von Verfolgungen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Kreuzzüge, bei späteren antisemitischen<br />
Ereignissen und vor allem <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Schoa vielfach vernichtet wurde,<br />
ist <strong>der</strong> überlieferte immaterielle kulturelle<br />
Schatz das Eigentliche, was immer<br />
noch als e<strong>in</strong> Markste<strong>in</strong> im jüdischen Bewusstse<strong>in</strong><br />
weltweit gilt. Die Er<strong>in</strong>nerungen,<br />
Lie<strong>der</strong>, Erzählungen und Legenden zeugen<br />
von dem e<strong>in</strong>stigen Ruhm, <strong>der</strong> Größe und<br />
Bedeutung dieser aschkenasischen Geme<strong>in</strong>den,<br />
auf die ihre jüdischen Bewohner stolz<br />
waren. Der älteste Ste<strong>in</strong> auf dem jüdischen<br />
Friedhof „Heiliger Sand“ <strong>in</strong> Worms stammt<br />
von 1058/1059, <strong>der</strong> „Wormser Machsor“ enthält<br />
den ältesten bekannten jiddischen Satz,<br />
e<strong>in</strong>en Segensspruch für den Träger dieses<br />
Gebetbuches. Der mehrfache Wie<strong>der</strong>aufbau<br />
<strong>der</strong> Wormser Synagoge aus dem Jahr 1034,<br />
<strong>der</strong> ebenfalls legendenumwobenen zeitweiligen<br />
Studienstätte des berühmtesten jüdischen<br />
Exegeten Raschi aus Troyes (1040 bis<br />
1105) als e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> bedeutendsten Lehrhäuser<br />
Europas, zeugt trotz <strong>der</strong> Zerstörung von<br />
dem kont<strong>in</strong>uierlichen Bestehen <strong>der</strong> jüdischen<br />
Geme<strong>in</strong>de Worms vom Mittelalter bis<br />
<strong>in</strong> die Neuzeit.<br />
Auch <strong>der</strong> berühmte Talmudgelehrte und<br />
Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mystischen Bewegung <strong>der</strong><br />
Hasidej Aschkenas, Eleasar aus Worms,<br />
auch genannt Eleasar ben Juda ben Kalonymos<br />
o<strong>der</strong> ha-Rokeach (um 1176–1238), wirkte<br />
und starb dort. Laut e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Gründungslegenden<br />
<strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />
Worms aus Ma’asse Nissim (das Buch <strong>der</strong><br />
Wun<strong>der</strong>, Amsterdam 1693) von Juspa Schammes,<br />
heißt es sogar, dass die Juden schon zur<br />
Zeit <strong>der</strong> Zerstörung des Ersten Tempels im<br />
Jahre 587 v. d. Zt. <strong>in</strong> die Stadt gekommen<br />
waren, von wo sie nicht mehr <strong>in</strong> das Land<br />
Israel zurückkehrten. An ihre sie zur Rückkehr<br />
aufrufenden Brü<strong>der</strong> dort schrieben sie:<br />
„Liebe Brü<strong>der</strong>, ihr wohnt <strong>in</strong> Groß-Jerusalem,<br />
wir aber wollen hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> heiligen<br />
Geme<strong>in</strong>de zu Worms, <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>-Jerusalem,<br />
bleiben.“<br />
Wie <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Tagung, Prof. K. E. Gröz<strong>in</strong>ger<br />
(Potsdam/Berl<strong>in</strong>), <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>leitenden<br />
Vortrag erläuterte, s<strong>in</strong>d die jüdischen<br />
Überlieferungen zugleich das Echo e<strong>in</strong>er<br />
deutschen Bef<strong>in</strong>dlichkeit, nicht nur e<strong>in</strong>er<br />
heidnisch-germanischen Kultur wie die des<br />
Nibelungenlieds. Die SchUM-Städte s<strong>in</strong>d<br />
auch nicht nur Bischofs- o<strong>der</strong> Kaiserstädte,<br />
son<strong>der</strong>n zugleich die Heimat <strong>der</strong> aschkenasischen<br />
Juden und <strong>der</strong> Quell ihrer Kultur.<br />
Diese ist Teil <strong>der</strong> deutschen Kultur, trotz<br />
aller geschichtlichen Friktionen und Verfolgungen.<br />
Beispielhaft dafür ist die Ur-Wormser<br />
Sage von dem L<strong>in</strong>dwurm, dem die Stadt<br />
laut dieser Legende ihren Namen als Drachenstätte<br />
verdankt, welche sich aber nur <strong>in</strong><br />
dem jiddisch-deutschen Legendenbuch von<br />
Juspa Schammes f<strong>in</strong>det.<br />
Die Juden <strong>der</strong> SchUM-Städte hatten Kontakte<br />
nach Köln und B<strong>in</strong>gen, nach Würzburg<br />
und Regensburg. Ihr Erbe hat aber nicht nur<br />
<strong>in</strong> Deutschland nachgewirkt. Wie die christlichen<br />
Magier <strong>der</strong> Renaissance, so haben<br />
auch die Juden ihre eigenen Wun<strong>der</strong>män-<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 13
Im Abendprogramm <strong>der</strong> Tagung: Synagogale Gesänge mit v. l.: Eliyahu Schleifer (Leitung) und die<br />
Kantoren Aviv We<strong>in</strong>berg, Svetlana Kundish, Ido Ben-Gal und Assaf Levit<strong>in</strong>.<br />
Erst mit <strong>der</strong> Renovierung dieses Chuppaste<strong>in</strong>es,<br />
die <strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen verstorbene Pfarrer<br />
Helmut Walz anlässlich se<strong>in</strong>es 60. Geburtstages<br />
durchführen ließ, begann man<br />
sich <strong>in</strong> Obernbreit wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> früheren<br />
jüdischen Geme<strong>in</strong>de und ihrer Synagoge zu<br />
beschäftigen. Im Oktober 2005 wurde unter<br />
maßgeblicher Beteiligung des damaligen<br />
evangelischen Ortspfarrers und des Altbürgermeisters<br />
<strong>der</strong> „Träger- und För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong><br />
ehemalige Synagoge Obernbreit e.V.“ gegründet,<br />
<strong>der</strong> es sich zum Ziel setzte, das<br />
e<strong>in</strong>stige Synagogengebäude, das zu dieser<br />
Zeit immer noch als Lagerhalle genutzt wurde,<br />
als bedeutendes Denkmal <strong>der</strong> Ortsgeschichte<br />
zu erhalten. Noch im gleichen Jahr<br />
wurde <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong> Eigentümer des Gebäudes,<br />
welches ihm se<strong>in</strong>e damalige Eigentümer<strong>in</strong><br />
überlassen hatte. Danach wurden umner,<br />
die Ba’ale Schem. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> also, dass<br />
e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> aktivsten religiösen Bewegungen des<br />
gegenwärtigen Judentums, <strong>der</strong> Lubawitscher<br />
Chassidismus, se<strong>in</strong>e Herkunft direkt auf<br />
Worms zurückführt, auf den dort wirkenden<br />
Eliahu Ba’al Schem, den Rabb<strong>in</strong>er Elia Loanz<br />
(1551–1636). Und wie Prof. A. Weber (Heidelberg)<br />
<strong>in</strong> ihrem Vortrag „Auf <strong>der</strong> Spur des<br />
Drachen: Zur Darstellung <strong>der</strong> Stadt Worms<br />
mit dem L<strong>in</strong>dwurm <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge von Mogilev“<br />
darlegte, wurde <strong>der</strong> Wormser Drache<br />
als Motiv von Malereien <strong>in</strong> osteuropäischen<br />
jüdischen Gebethäusern noch im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
zur Inspiration für jüdische Künstler wie<br />
El Lissitzky und Issachar Ryback.<br />
Über die mittelalterlichen hebräischen Legenden<br />
aus Aschkenas sprach Prof. E. Yassif (Tel-<br />
Aviv). Dar<strong>in</strong> sahen sich die deutschen Juden<br />
als Gelehrte sogar den Juden Babyloniens,<br />
die den Talmud verfassten, überlegen. Sie<br />
brachten ihren Lokalpatriotismus deutlich<br />
zum Ausdruck, wobei sie zugleich die Gefahren,<br />
die ihnen durch die Christen drohten,<br />
nicht verschwiegen. Dr. E. Shoham-Ste<strong>in</strong>er<br />
(Beer Schewa) erläuterte Geschichten von jüdischen<br />
Randgestalten wie Gauner und Betrüger,<br />
die <strong>in</strong> den <strong>in</strong>nerjüdischen Kreisen wie<br />
auch im Zusammen<strong>leben</strong> mit <strong>der</strong> christlichen<br />
Bevölkerung ke<strong>in</strong>eswegs nur e<strong>in</strong>e positive<br />
Rolle spielten, während Dr. D. Rotman (Tel-<br />
Aviv/Philadelphia) über Monster, Vampire<br />
und Werwölfe referierte, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüdischen<br />
Geme<strong>in</strong>de ihr meist unmoralisches Unwesen<br />
trieben.<br />
Als Vorbereitung auf das abendliche Kan torenkonzert<br />
stellte Prof. E. Schleifer (Jerusalem/Berl<strong>in</strong>),<br />
Maharil (R. Ja’akow ha-Levi Mol<strong>in</strong>,<br />
1375 Ma<strong>in</strong>z – 1427 Worms) als den mythischen<br />
Vater des aschkenasischen synagogalen<br />
Gesangs vor. Im letzten Tagungsteil wurde die<br />
literarische Fortschreibung und Rezeption <strong>der</strong><br />
SchUM-Erzählungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen, hebräischen<br />
und jiddischen Literatur des 19. und<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts von Prof. G. von Glasenapp<br />
(Köln), Prof. A. Lipsker (Ramat Gan) und<br />
Dr. J. Bamberger (Ramat Gan/Frankfurt a.M.)<br />
thematisiert.<br />
Im Abendprogramm rezitierte K.-H. Deichelmann<br />
Erzählungen und Legenden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
szenischen Lesung. Die überragende Bedeutung<br />
<strong>der</strong> SchUM-Städte anhand <strong>der</strong> Narrative<br />
wurde übere<strong>in</strong>stimmend bestätigt, zumal sogar<br />
<strong>der</strong> Messias, laut e<strong>in</strong>er Legende, aus Worms<br />
kommen wird.<br />
Die Beiträge werden demnächst <strong>in</strong> Buchform<br />
publiziert.<br />
Ursula Weiss<br />
Synagoge Obernbreit<br />
In Obernbreit im Landkreis Kitz<strong>in</strong>gen existierte<br />
von 1528 bis 1910 e<strong>in</strong>e jüdische Geme<strong>in</strong>de.<br />
Sie besaß e<strong>in</strong>e 1748 erbaute Synagoge<br />
mit Vorbeterwohnung, e<strong>in</strong>e Schule, die<br />
1712 errichtet worden war, und e<strong>in</strong>e Mikwe<br />
unter dem Synagogengebäude. Nach dem<br />
Verkauf an Privatleute 1911 wurde die Synagoge<br />
zunächst als Wartungsbau für landwirtschaftliche<br />
Nutzfahrzeuge, später, bis<br />
Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts, als Schuppen<br />
und Lagerhalle benutzt. An die ursprüngliche<br />
Funktion des Bauwerks er<strong>in</strong>nerte lange<br />
Zeit lediglich e<strong>in</strong> sehr schöner Chuppaste<strong>in</strong><br />
an <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite des Synagogengebäudes,<br />
<strong>der</strong> aber im Laufe <strong>der</strong> Zeit nur noch schwer<br />
zu erkennen war.<br />
fangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong>en Verlauf auch die Mikwe auf<br />
<strong>der</strong> rechten Seite des Gebäudes wie<strong>der</strong> entdeckt<br />
wurde, ca. 10 Meter unter <strong>der</strong> Erde<br />
und über e<strong>in</strong>en schmalen Treppenschacht<br />
mit 44 Sandste<strong>in</strong>stufen zu erreichen. Hier<br />
f<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Besucher heute im Tauchbecken<br />
erstaunlicherweise ganz klares, re<strong>in</strong>es Wasser<br />
vor. Im Zuge <strong>der</strong> Renovierungsarbeiten<br />
konnten auch Überreste e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Genisa<br />
gefunden werden.<br />
Am 29. September 2013 wurde die ehemalige<br />
Synagoge Obernbreit e<strong>in</strong> Jahr nach dem<br />
Beg<strong>in</strong>n aufwändiger Umbauarbeiten mit e<strong>in</strong>em<br />
großen Festakt feierlich als e<strong>in</strong> „Ort<br />
des Er<strong>in</strong>nerns, des Gedenkens und <strong>der</strong> Begegnung“<br />
eröffnet. Zu diesem Ereignis hatten<br />
sich Vertreter <strong>der</strong> beiden christlichen<br />
Kirchen und <strong>der</strong> jüdischen Religionsgeme<strong>in</strong>schaft,<br />
<strong>der</strong> Politik und ganz viele Mitglie<strong>der</strong><br />
des Träger- und För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>stigen<br />
Synagogengebäude e<strong>in</strong>gefunden. Erstaunlich<br />
und gleichzeitig begrüßenswert ist<br />
die Tatsache, dass das Gebäude nicht e<strong>in</strong>heitlich<br />
renoviert wurde, son<strong>der</strong>n so, dass<br />
man Zeugnisse aller Epochen, die das Bauwerk<br />
erlebt hatte, deutlich vor Augen geführt<br />
bekommt, von <strong>der</strong> farbigen Wandmalerei<br />
aus <strong>der</strong> Entstehungszeit über dem<br />
Platz, an dem sich e<strong>in</strong>st <strong>der</strong> Toraschre<strong>in</strong> befunden<br />
hatte, bis zu Spuren aus <strong>der</strong> Zeit, als<br />
es als Lagerhalle diente. Auch die beiden<br />
großen hölzernen Schiebetüren s<strong>in</strong>d auf <strong>der</strong><br />
rechten Seite des Gebäudes erhalten geblieben,<br />
aber man betritt es durch zwei ganz<br />
mo<strong>der</strong>ne Glastüren.<br />
Die e<strong>in</strong>stige Synagoge soll auf ke<strong>in</strong>en Fall<br />
als Museum dienen, son<strong>der</strong>n vielmehr als<br />
e<strong>in</strong>e Stätte <strong>der</strong> Begegnung. Dies sche<strong>in</strong>t den<br />
Initiatoren des Projekts gelungen zu se<strong>in</strong>,<br />
denn seit <strong>der</strong> Eröffnung gab es schon e<strong>in</strong>ige<br />
Veranstaltungen, an<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Planung.<br />
Allen, die sich um die Renovierung und Restaurierung<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>stigen Synagoge Obernbreit<br />
verdient gemacht haben, gebührt für<br />
ihr verdienstvolles Tun Dank und Anerkennung.<br />
Israel Schwierz<br />
14 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Die ganze Wahrheit<br />
Von Miriam Magall<br />
„Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer<br />
über Juden wissen wollten“. Das war <strong>der</strong><br />
Name e<strong>in</strong>er Ausstellung, die bis zum 1. September<br />
im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> gezeigt<br />
wurde. Dafür hatten sich die Kuratoren etwas<br />
Beson<strong>der</strong>es e<strong>in</strong>fallen lassen. Jeden Tag<br />
saß von 14 bis 16 Uhr e<strong>in</strong>e Jüd<strong>in</strong> o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
Jude <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vitr<strong>in</strong>e und beantwortete Fragen<br />
zum Judentum, über Juden o<strong>der</strong> über<br />
alles, was mit Jüdischem zusammenhängt.<br />
Sowohl <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> Ausstellung, mehr aber<br />
noch diese Idee, e<strong>in</strong>en <strong>leben</strong>digen jüdischen<br />
Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vitr<strong>in</strong>e zu setzen, wurde<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zum Teil recht kontrovers<br />
diskutiert. Darf man? Soll man? Und<br />
wie kommt das an?<br />
Ich saß <strong>in</strong>sgesamt fünfmal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e.<br />
Damit s<strong>in</strong>d wir auch schon mittendr<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
den vielen Fragen, die e<strong>in</strong>em sozusagen als<br />
„<strong>leben</strong>des Exponat“ im Museum gestellt<br />
werden. E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Fragen, die mir persönlich<br />
oft als Erstes gestellt wurden, lauteten:<br />
„Warum sitzen Sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e?“ „Wie<br />
kommen Sie dazu, hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e zu<br />
sitzen?“ Und: „Wie fühlen Sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Vitr<strong>in</strong>e?“ Die Fragesteller waren häufig junge<br />
Menschen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe an <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e<br />
vorbeikamen. Sie kamen aus Deutschland,<br />
aus den Nie<strong>der</strong>landen, aus Mexiko, aus<br />
Korea, aus den USA und aus an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n.<br />
Ihre Reaktionen waren zum Teil sehr<br />
positiv, zeitweise waren sie erfreut, dass sie<br />
fragen durften, was sie wollten.<br />
E<strong>in</strong>e Ausnahme zu diesem allgeme<strong>in</strong> positiven<br />
Tenor ist mir ganz beson<strong>der</strong>s im Gedächtnis<br />
geblieben. E<strong>in</strong>e Frau mittleren<br />
Alters aus Wien berichtete, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wiener<br />
Museum habe man Vertreter unterschiedlicher<br />
Ethnien an e<strong>in</strong>en Tisch gesetzt und<br />
die Besucher konnten sie befragen. Hier im<br />
Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> graue es ihr angesichts<br />
e<strong>in</strong>es <strong>leben</strong>den Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Vitr<strong>in</strong>e, denn er komme ihr vor wie e<strong>in</strong> ausgestopftes<br />
Tier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Glaskasten!<br />
An<strong>der</strong>e, meistens Besucher mittleren Alters,<br />
erzählten, sie seien sehr an Jüdischem <strong>in</strong>teressiert,<br />
aus ganz verschiedenen Gründen:<br />
Bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en hatte die Tochter <strong>in</strong> Jerusalem<br />
studiert; e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Dame aus Budapest<br />
erzählte, sie habe e<strong>in</strong>e 102 Jahre alte jüdische<br />
Freund<strong>in</strong>, die sie regelmäßig besuche<br />
und <strong>der</strong> sie vorlese, weil die alte Dame bl<strong>in</strong>d<br />
sei. E<strong>in</strong>e ältere jüdische Frau, die jetzt <strong>in</strong><br />
Wien lebt, erzählte mir von ihrer Vergangenheit<br />
und wie sie gerettet wurde.<br />
E<strong>in</strong>ige Besucher erkundigten sich, was genau<br />
„koscheres Essen“ sei. Dazwischen stellten<br />
meistens deutsche Männer im höheren<br />
Alter die Frage, ob sie sich schuldig fühlen<br />
müssten wegen Hitlers Verbrechen. Sowohl<br />
junge Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe als auch<br />
oft Frauen mittleren Alters wollten viel über<br />
mich persönlich wissen: Was mit me<strong>in</strong>er Familie<br />
ist. Wie ich von Israel nach Deutschland<br />
gekommen b<strong>in</strong>. Ob mir me<strong>in</strong> Leben als<br />
Jüd<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland gefällt.<br />
E<strong>in</strong> koreanisches Ehepaar wollte wissen,<br />
was ich über Jesus weiß. Am e<strong>in</strong>em Sonntag<br />
kamen Mexikaner <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren Gruppen an<br />
<strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e vorbei und fragten, unabhängig<br />
vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, warum Juden nicht an Jesus<br />
glauben und auch, ob Juden mit Christen<br />
konkurrieren. Alle wollten mehr über Juden<br />
Leeor Englän<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausstellung „Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer über Juden wissen<br />
wollten“.<br />
Foto: L<strong>in</strong>us L<strong>in</strong>tner, Jüdisches Museum Berl<strong>in</strong><br />
und Judentum erfahren. E<strong>in</strong> jüngeres Paar<br />
aus Dänemark wollte wissen, wo <strong>der</strong> Ursprung<br />
für die Gebote <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bibel zu f<strong>in</strong>den<br />
ist. Dass sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> hebräischen Bibel stehen,<br />
wusste sie.<br />
E<strong>in</strong> Mann mittleren Alters aus Holland erkundigte<br />
sich nach dem Ursprung <strong>der</strong> Wörter<br />
Aschkenas und Sefarad und hörte erstaunt,<br />
dass es auch noch Juden gibt, die<br />
man Must’arabim, d.h. orientalische Juden,<br />
nennt. E<strong>in</strong>e junge Besucher<strong>in</strong> aus Polen, die<br />
jetzt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> lebt, wollte von mir wissen,<br />
was ich über Polen und das Leben dort wisse.<br />
Drei US-Amerikaner <strong>in</strong>teressierten sich<br />
für den Antisemitismus im heutigen<br />
Deutschland und unter Migranten.<br />
Auch Israel kam zur Sprache. Zwei junge<br />
Frauen aus Deutschland wollten von mir etwas<br />
über die aktuelle israelische Politik angesichts<br />
<strong>der</strong> Lage <strong>in</strong> Syrien hören. Zwei junge<br />
Australier wollten erfahren, wie es mit<br />
<strong>der</strong> Sicherheit dort steht und wie frei man <strong>in</strong><br />
Israel umherreisen kann.<br />
Und dann kamen auch ganz an<strong>der</strong>e Fragen.<br />
E<strong>in</strong> junger Mann aus e<strong>in</strong>er Schulklasse wollte<br />
von mir wissen, warum Juden geldgierig<br />
s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e junge Frau aus Kroatien wollte<br />
wissen, warum Hitler die Juden hasste und<br />
warum Menschen oft Juden hassen. E<strong>in</strong>e<br />
an<strong>der</strong>e junge Frau aus Nie<strong>der</strong>sachsen erklärte,<br />
sie habe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule schon so viel<br />
über Juden und die Schoa gehört und auch<br />
immer wie<strong>der</strong> KZs besichtigen müssen, dass<br />
Am Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> wird zur Zeit<br />
e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Befragung durchgeführt,<br />
die sich erstmalig an junge russischsprachige<br />
Jüd<strong>in</strong>nen und Juden wendet und wissen<br />
möchte, wie sie hier <strong>leben</strong> und was ihnen<br />
wichtig ist. Die Studie „Lebenswirklichkeiten.<br />
Jüdische Gegenwart <strong>in</strong> Deutschland“ entsteht im<br />
Rahmen des Fellowship-Programms am JMB<br />
und erforscht den Wandel jüdischen Lebens <strong>in</strong><br />
Deutschland seit den 1990er-Jahren. Die Teilnahme<br />
an <strong>der</strong> Befragung dauert ca. 15 M<strong>in</strong>uten.<br />
Alle Angaben werden selbst verständ lich streng<br />
sie davon genug habe und nichts mehr hören<br />
wolle. Durch die KZs seien schließlich alle<br />
nur noch „gelatscht“, ohne sich für etwas zu<br />
<strong>in</strong>teressieren.<br />
Nachdem ich auf die Frage, welchen Stellenwert<br />
Jesus für die Juden habe, geantwortet<br />
hatte, er sei für Juden we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Sohn Gottes<br />
noch e<strong>in</strong> Prophet, empörte sich e<strong>in</strong>e<br />
deutsche Frau, ich hätte die Christen nicht<br />
gebührend gewürdigt. E<strong>in</strong> junger Deutscher,<br />
<strong>der</strong> jetzt <strong>in</strong> Österreich lebt, empörte sich<br />
über den grassierenden Antisemitismus <strong>der</strong><br />
letzten Zeit; beson<strong>der</strong>s die Rapper hätten<br />
da ganz böse Texte. Abschließend erwähnte<br />
er noch se<strong>in</strong>e Oma, die so alt ist wie ich,<br />
1942 geboren, und dass sie, weil sie auf dem<br />
Land gelebt habe, nichts von <strong>der</strong> Judenverfolgung<br />
mitbekommen habe.<br />
Aufgrund me<strong>in</strong>er Erfahrungen aus me<strong>in</strong>er<br />
Tätigkeit im Bereich <strong>der</strong> Erwachsenenbildung<br />
waren die Fragen nicht neu für mich.<br />
Neu für mich war lediglich die Erfahrung,<br />
dass ich warten musste, bis man mich fragt.<br />
Auch die negativen Reaktionen waren nicht<br />
neu für mich. Abschließend konnte ich feststellen:<br />
Es herrscht <strong>in</strong>sgesamt großes Interesse<br />
an jüdischen und israelischen Themen.<br />
Aber viele Menschen wissen zu wenig darüber,<br />
möchten aber gerne mehr erfahren.<br />
Von Miriam Magall gibt es das Buch: „Warum<br />
Adam ke<strong>in</strong>en Apfel bekam. Grundfragen des<br />
Judentums.“ Calwer Verlag, Stuttgart 2008.<br />
vertraulich, entsprechend <strong>der</strong> gelten den Datenschutz<br />
gesetze behandelt. Die Daten werden nur<br />
anonymisiert erhoben und ausge wer tet und auf<br />
ke<strong>in</strong>en Fall an Dritte weiter gegeben.<br />
Zur Befragung geht es über diesen L<strong>in</strong>k:<br />
ww2.unipark.de/uc/juedisches-museum<br />
Weitere Informationen zum Projekt f<strong>in</strong>den<br />
Sie auf unserer Internetseite:<br />
www.jmberl<strong>in</strong>.de/ma<strong>in</strong>/DE/03-Sammlungund-Forschung/Fellowship/Fellowship.php<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 15
Ton <strong>in</strong> Ton<br />
Neue Ausstellung im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong><br />
Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Ausstellung „Ton <strong>in</strong> Ton.<br />
Jüdische Keramiker<strong>in</strong>nen aus Deutschland<br />
nach 1933“ stehen vier Frauen, die <strong>in</strong> den<br />
1920er-Jahren zur Avantgarde <strong>der</strong> deutschen<br />
Keramikkunst gehörten: Margarete Heymann-<br />
Loebenste<strong>in</strong>, <strong>in</strong> zweiter Ehe Marks (1899–<br />
1990), Hedwig Grossmann (1902–1998), Hanna<br />
Charag-Zuntz (1915–2007) und Eva Samuel<br />
(1904–1989).<br />
Im Rahmen des Berl<strong>in</strong>er Themenjahrs „2013<br />
– Zerstörte Vielfalt“ zeichnet das Jüdische<br />
Museum Berl<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> Schau die künstlerische<br />
und berufliche Entwicklung <strong>der</strong> Frauen<br />
im Exil nach: Als jüdische Künstler<strong>in</strong>nen war<br />
es ihnen mit dem Erstarken des Nationalsozialismus<br />
nicht mehr möglich, <strong>in</strong> Deutschland<br />
zu arbeiten. Zwischen 1932 und 1940<br />
emigrierten sie nach Großbritannien und<br />
Paläst<strong>in</strong>a. Im Exil gelang den Künstler<strong>in</strong>nen<br />
zwischen Aufbruchstimmung und Enttäuschung<br />
e<strong>in</strong> Neuanfang. E<strong>in</strong>e Auswahl von<br />
mehr als 60 Keramikarbeiten für den alltäglichen<br />
und rituellen Gebrauch zeigt, wie die<br />
Frauen <strong>in</strong> ihrem R<strong>in</strong>gen um ihre künstlerische<br />
Identität neue Ausdrucksformen im<br />
Keramikdesign entwickelten.<br />
„Mehrere Jahre lang habe ich mich auf die<br />
Suche begeben, um anhand unterschiedlicher<br />
Quellen die Geschichten dieser Frauen nachzuzeichnen.<br />
Die Ausstellung legt daher nicht<br />
alle<strong>in</strong> den Fokus auf die künstlerische Qualität<br />
<strong>der</strong> Arbeiten, vielmehr haben die Stücke<br />
e<strong>in</strong>en historischen Wert und sie verdeutlichen<br />
die Lebenswege <strong>der</strong> Keramiker<strong>in</strong>nen“,<br />
sagt Michal Friedlan<strong>der</strong>, Kurator<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausstellung.<br />
Neuanfang <strong>in</strong> England<br />
Die Kölner<strong>in</strong> Margarete Heymann-Loebenste<strong>in</strong>,<br />
<strong>in</strong> zweiter Ehe Marks, gründete 1923 die<br />
erfolgreichen „Haël-Werkstätten für künstlerische<br />
Keramik“ <strong>in</strong> Velten, etwa 40 Kilometer<br />
nördlich von Berl<strong>in</strong>. Ihre Entwürfe zeichnen<br />
sich durch gewagte, mo<strong>der</strong>ne Formen,<br />
abstrakte Dekorationen und leuchtende<br />
Glasuren aus. Nachdem die Nationalsozialisten<br />
Margarete Heymann-Loebenste<strong>in</strong> 1933<br />
„staats fe<strong>in</strong>dliche Umtriebe“ vorgeworfen hatten,<br />
verkaufte sie ihre Keramikwerkstatt weit<br />
unter Wert an e<strong>in</strong> NSDAP-Mitglied. Neue<br />
künstlerische Leiter<strong>in</strong> wurde die junge Hedwig<br />
Bollhagen. 1935 erschien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er antisemitischen<br />
Zeitung e<strong>in</strong> Artikel, <strong>der</strong> Entwürfe<br />
von Heymann-Loebenste<strong>in</strong> und Bollhagen<br />
verglich und die bei Haël hergestellten Formen<br />
als „entartet“ diffamierte. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Teekannen,<br />
die den Artikel illustrieren, wird <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Ausstellung gezeigt. 1936 emigrierte Margarete<br />
Heymann-Loebenste<strong>in</strong>. Die Ausstellung<br />
folgt ihr nach England. Dort versuchte<br />
sie mit neuen Keramikprodukten unter dem<br />
Namen »Greta-Pottery« wie<strong>der</strong> Fuß zu fassen.<br />
Jedoch konnte sie an ihren großen Erfolg <strong>in</strong><br />
Deutschland nicht anknüpfen.<br />
Neuanfang <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a<br />
Die Berl<strong>in</strong>er<strong>in</strong> Hedwig Grossmann, die Hamburger<strong>in</strong><br />
Hanna Charag-Zuntz und Eva Samuel<br />
aus Essen gelten als Grün<strong>der</strong><strong>in</strong>nen <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen israelischen Keramikkunst. Sie kamen<br />
zwischen 1932 und 1940 nach Paläst<strong>in</strong>a.<br />
Ausgebildet <strong>in</strong> Deutschland, brachten sie<br />
hohe technische Fertigkeiten mit. Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus verfügten sie über e<strong>in</strong>e ausgeprägte<br />
künstlerische Sensibilität, starke Durchsetzungskraft<br />
und den Willen, sich den neuen<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen zu stellen. Als Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
und Pionier<strong>in</strong>nen entwickelten die drei<br />
Künstler<strong>in</strong>nen neue Traditionen <strong>der</strong> Keramikkunst<br />
<strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a und Israel.<br />
Hedwig Grossmann zog nach Haifa und begann<br />
– auf <strong>der</strong> Suche nach Ton und an<strong>der</strong>en<br />
Rohstoffen – geologische Recherchen. Sie arbeitete<br />
ausschließlich mit Materialien aus<br />
<strong>der</strong> Umgebung und brannte ihre Stücke <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em selbst gebauten Holzofen. Dabei verzichtete<br />
sie auf Ornamente und verwendete<br />
nur selten Glasuren. Angelehnt an nahöstliche<br />
Keramikformen und archäologische<br />
Fundstücke suchte sie nach e<strong>in</strong>er neuen<br />
künstlerischen Sprache. Ihre Arbeiten bestechen<br />
durch kraftvolle Silhouetten und makelloses<br />
Handwerk.<br />
Hanna Charag-Zuntz begeisterte sich für das<br />
vergessene römische Töpferverfahren „Terra<br />
Sigillata“. Als Keramiker<strong>in</strong> von herausragendem<br />
technischem Geschick gelang es ihr, die<br />
Hanna Zuntz, 1936.<br />
Foto: Familiennachlass Hanna Charag-Zuntz<br />
Terra-Sigillata-Technik neu zu be<strong>leben</strong>. Sie<br />
verarbeitete dünne Tonschichten und brannte<br />
die Objekte bei großer Hitze. Dadurch erzielte<br />
sie ohne Glanzbrand o<strong>der</strong> Glasur<br />
schimmernde Oberflächen. Doch das genaue<br />
Geheimnis dieser Technik nahm sie mit <strong>in</strong>s<br />
Grab.<br />
Eva Samuel fand <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a zunächst e<strong>in</strong>e<br />
Anstellung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Jerusalemer Keramikmanufaktur.<br />
Dort wurde unter e<strong>in</strong>fachsten<br />
Bed<strong>in</strong>gungen gearbeitet. Die Künstler<strong>in</strong><br />
begann mit folkloristischen Figuren, angelehnt<br />
an die ethnischen Gruppen, die sie <strong>in</strong><br />
Paläst<strong>in</strong>a antraf. Diese Figuren verkauften<br />
sich gut <strong>in</strong> Jerusalemer Kunsthandwerksgeschäften.<br />
Bald eröffnete sie zusammen mit<br />
Paula Ahronson e<strong>in</strong>e eigene Werkstatt <strong>in</strong><br />
Rishon LeZion. Trotz <strong>der</strong> hohen Kosten importierten<br />
sie Glasuren aus Deutschland.<br />
Um besseren Ton zu erwerben, nahmen sie<br />
streckenweise lange Wege mit dem Pferdekarren<br />
<strong>in</strong> Kauf. In <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Werkstatt<br />
fertigten sie Haushaltskeramik wie Kannen,<br />
Vasen und Schüsseln <strong>in</strong> traditionellen<br />
europäischen Formen. Bei <strong>der</strong> Bemalung orientierte<br />
sich Eva Samuel, die ihre Laufbahn<br />
als Maler<strong>in</strong> begann, an den Motiven aus ihrer<br />
neuen Umgebung.<br />
Die Ausstellung wird bis zum 9. Februar<br />
2014 im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> gezeigt.<br />
Keramikmanufaktur Naaman, Acre.<br />
Foto: Moshe Milner.<br />
Margarete Heymann-Loebenste<strong>in</strong> <strong>in</strong> England.<br />
Foto: Familiennachlass Marks.<br />
16 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Gedenkraum Olympia-Attentat 1972<br />
Elf israelische Sportler und e<strong>in</strong>en deutschen<br />
Polizisten ermordeten arabische Terroristen<br />
am 5. September 1972 im Olympischen Dorf<br />
<strong>in</strong> München. Sie drangen <strong>in</strong> die Unterkünfte<br />
<strong>der</strong> israelischen Mannschaft e<strong>in</strong> und nahmen<br />
die Israelis, Teilnehmer <strong>der</strong> Olympischen<br />
Sommerspiele, als Geiseln. Auch dieses<br />
Ereignis zählt zu den traurigen Kapiteln<br />
<strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Olympischen Spiele.<br />
Zum 40. Jahrestag im vergangenen Jahr beteiligten<br />
sich M<strong>in</strong>isterpräsident Horst Seehofer<br />
und die bayerische Landesregierung<br />
an Gedenkfeiern <strong>in</strong> Deutschland und <strong>in</strong> Israel.<br />
Teilnehmer <strong>in</strong> Tel Aviv war auch <strong>Landesverband</strong>spräsident<br />
Josef Schuster (siehe<br />
dazu auch unser Heft Nr. 120 vom Dezember<br />
2012). Dabei wurde auch verabredet, für<br />
die israelischen Sportler e<strong>in</strong>en geeigneten<br />
Gedenkort e<strong>in</strong>zurichten. Die Fe<strong>der</strong>führung<br />
übernahm Kultusm<strong>in</strong>ister Ludwig Spaenle.<br />
E<strong>in</strong> Jahr später stellte er se<strong>in</strong> Konzept dafür<br />
jetzt <strong>in</strong> München vor.<br />
Demnach soll bis 2016 auf dem ehemaligen<br />
Olympiagelände e<strong>in</strong> pavillonartiger, gut zugänglicher<br />
Gedenkraum errichtet werden,<br />
als Ort <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung an das terroristische<br />
Attentat und die Opfer: elf israelische Sportler<br />
und e<strong>in</strong> bayerischer Polizist.<br />
„Auch heute macht diese Bluttat von Terroristen<br />
die Menschen <strong>in</strong> Bayern tief betroffen“,<br />
betonte <strong>der</strong> gebürtige Münchner Ludwig<br />
Spaenle. „Das Attentat im Umfeld <strong>der</strong><br />
friedlichen XX. Olympischen Spiele wirft<br />
Fragen zu den Ursachen, zum Ablauf und zu<br />
den Konsequenzen auf. Deshalb haben M<strong>in</strong>isterpräsident<br />
Seehofer und ich im vergangenen<br />
Jahr bei e<strong>in</strong>em Israelbesuch angeregt,<br />
e<strong>in</strong>en Gedenkraum zu errichten“, so Dr.<br />
Spaenle. Dabei geht es dem M<strong>in</strong>ister um<br />
drei Kernanliegen. Er will an das Geschehene<br />
er<strong>in</strong>nern, das Geschehene erklären und<br />
daraus den Alltag gestalten.<br />
Inhaltlich sollen folgende Aspekte im Mittelpunkt<br />
des Gedenkortes stehen: das Attentat<br />
selbst, jene schockierenden Vorfälle<br />
am 5. und 6. September 1972 <strong>in</strong> München<br />
und Fürstenfeldbruck, die 11 israelischen<br />
Sportler und <strong>der</strong> bayerische Polizist als Opfer,<br />
<strong>der</strong> Zusammenhang, <strong>in</strong> dem das Massaker<br />
<strong>der</strong> XX. Olympischen Spiele <strong>in</strong> München<br />
1972 erklärt werden kann, <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationale<br />
Terrorismus und die Attentäter des<br />
„Schwarzen September“ sowie die Frage<br />
nach den Folgen, den Nachwirkungen und<br />
dem Er<strong>in</strong>nern.<br />
Der geplante Standort am Kolehma<strong>in</strong>enweg,<br />
e<strong>in</strong>e Anhöhe südlich <strong>der</strong> Connollystraße, ist<br />
gut erreichbar und eröffnet e<strong>in</strong>en Blick auf<br />
die Connollystraße 31 als authentischem Ort<br />
des Verbrechens und zugleich auf Symbole<br />
von Olympia 1972. „Das eigentliche Gebäude<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Connollystraße ist aufgrund <strong>der</strong><br />
heutigen Nutzung als Wohnhaus ungeeignet<br />
für e<strong>in</strong>en öffentlich zugänglichen Gedenkort“,<br />
sagt <strong>der</strong> M<strong>in</strong>ister. Der Tower des Fliegerhorsts<br />
Fürstenfeldbruck soll als zweiter<br />
„Tatort“ <strong>in</strong> den kommenden Jahren <strong>in</strong> das<br />
Gedenkkonzept mit e<strong>in</strong>bezogen werden.<br />
Die Konzeption des Gedenkortes ist im engen<br />
Dialog mit Angehörigen <strong>der</strong> Opfer, mit<br />
den zuständigen Behörden, <strong>der</strong> Bayerischen<br />
Landeszentrale für politische Bildungsarbeit<br />
sowie dem Generalkonsulat des Staates Israel<br />
erstellt worden. E<strong>in</strong>e Publikation und mediale<br />
Angebote, e<strong>in</strong>e App für Smartphones<br />
und e<strong>in</strong>e Website sollen den Gedenkort ergänzen.<br />
Die Reaktion aus Israel auf das Vorhaben<br />
ist erfreulich. „Die Initiative Bayerns ist für<br />
uns außerordentlich wichtig. Das Projekt<br />
wirkt sich positiv auf die deutsch-israelischen<br />
Beziehungen aus und das werden wir<br />
auch so äußern“, sagt Ilan Ben Dov, für<br />
Westeuropa zuständiger Abteilungsleiter im<br />
Kultusm<strong>in</strong>ister Dr. Ludwig Spaenle. Foto: StMUK<br />
israelischen Außenm<strong>in</strong>isterium. „Für uns ist<br />
München 72 e<strong>in</strong> historischer Begriff; es ist<br />
e<strong>in</strong> Trauma für me<strong>in</strong>e gesamte Generation.<br />
Jede israelische Gruppe, die im Rahmen des<br />
Jugendaustausches und <strong>der</strong> Bildungskooperation<br />
nach Deutschland kommt, soll diesen<br />
Ort besuchen.“<br />
brr.<br />
Hier war die israelische Mannschaft untergebracht. Der Gedenkort soll <strong>in</strong> diesem Umfeld entstehen.<br />
Foto: StMUK<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 17
ISRAEL-NACHRICHTEN<br />
60 Jahre erste Mission des Staates Israel <strong>in</strong> Deutschland<br />
Anlässlich des 60. Jahrestages <strong>der</strong> Eröffnung<br />
<strong>der</strong> ersten Mission des Staates Israel <strong>in</strong><br />
Deutschland wurde am 15. Oktober e<strong>in</strong>e Gedenktafel<br />
am Gebäude <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ottostraße 85,<br />
dem Sitz <strong>der</strong> Synagogen-Geme<strong>in</strong>de Köln, enthüllt.<br />
Im Anschluss lud Oberbürgermeister<br />
Jürgen Roters zu e<strong>in</strong>em Empfang <strong>in</strong>s Historische<br />
Rathaus <strong>der</strong> Stadt Köln e<strong>in</strong>. Botschafter<br />
a.D. Mordechay Lewy, ehemaliger Gesandter<br />
<strong>in</strong> Deutschland, er<strong>in</strong>nerte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag an<br />
die Meilenste<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />
Köln und Israel. Er begann mit den Worten:<br />
„Wir gedachten den Anfang e<strong>in</strong>er wun<strong>der</strong>baren<br />
Freundschaft, auch wenn die ersten<br />
Schritte traumatisch belastet waren. Seitdem<br />
haben sich die Beziehungen zu e<strong>in</strong>em engen,<br />
ja <strong>in</strong>timen Verhältnis fortentwickelt.“<br />
Gedenktafel am Gebäude <strong>der</strong> Ottostraße 85.<br />
Foto: Y. Shermayahu<br />
Yakov Hadas-Handelsman, Botschafter des<br />
Staates Israel, Mordechay Lewy, Botschafter<br />
a.D., und Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied<br />
<strong>der</strong> Synagogen-Geme<strong>in</strong>de Köln, trugen sich<br />
im Rahmen des Empfangs <strong>in</strong> das Gästebuch<br />
<strong>der</strong> Stadt Köln e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> weiterer Höhepunkt<br />
des Tages war die Diskussionsrunde „Town<br />
Hall Meet<strong>in</strong>g“ mit Oberbürgermeister Jürgen<br />
Roters, dem Gesandten <strong>der</strong> Israelischen Botschaft,<br />
Emmanuel Nahshon, sowie Kölner<br />
Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern, die an e<strong>in</strong>em<br />
Austauschprogramm zwischen den Partnerstädten<br />
Köln und Tel Aviv-Yafo teilnehmen.<br />
Botschafter Hadas-Handelsman trägt sich <strong>in</strong>s Gästebuch<br />
<strong>der</strong> Stadt Köln e<strong>in</strong>. Im H<strong>in</strong>tergrund v.l.n.r. Emmanuel<br />
Nahshon, Gesandter <strong>der</strong> Botschaft; Abraham<br />
Lehrer; Oberbürgermeister Jürgen Roters;<br />
Mor dechay Lewy, Botschafter a.D. Foto: Y. Shermayahu<br />
Köln ist Sitz <strong>der</strong> ältesten, schriftlich dokumentierten<br />
jüdischen Geme<strong>in</strong>de nördlich <strong>der</strong> Alpen<br />
und war Ende des 19. und Anfang des<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Sitz wichtiger zionistischer<br />
Organisationen. Botschafter Yakov Hadas-<br />
Handelsman unterstrich an diesem Tag voller<br />
Begegnungen die E<strong>in</strong>zigartigkeit <strong>der</strong> bilateralen<br />
Beziehungen zwischen Deutschland und<br />
Israel: „Gerade <strong>in</strong> Köln manifestiert sich diese<br />
enge Beziehung zwischen unseren beiden<br />
Staaten. Es besteht e<strong>in</strong> enger Austausch im<br />
Bereich <strong>der</strong> Städtepartnerschaft zwischen<br />
Köln und Tel Aviv-Yafo, aber auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Bereichen wie Kultur und Jugendaustausch<br />
kommen viele Kölner und Israelis zusammen.“<br />
Die Städtepartnerschaft wurde 1979<br />
offiziell geschlossen, aber schon 1960 reisten<br />
unter schwierigen Bed<strong>in</strong>gungen die ersten<br />
Schüler aus Köln zu e<strong>in</strong>em Jugendaustausch<br />
nach Israel.<br />
Kölns Oberbürgermeister Roters hob hervor,<br />
dass viele Grundste<strong>in</strong>e für die heutigen guten<br />
Beziehungen <strong>in</strong> Köln gelegt wurden. Die Kölner<br />
Stadtgeschichte ist für ihn wie e<strong>in</strong> Spiegelbild<br />
<strong>der</strong> wechselvollen Historie zwischen<br />
Christen und Juden sowie Israelis und Deutschen.<br />
„Die Geschichte zwischen unseren beiden<br />
Völkern ist nicht Vergangenheit. Sie<br />
bleibt Gegenwart. Sie trennt nicht, son<strong>der</strong>n<br />
verb<strong>in</strong>det uns. Wenn wir heute mit <strong>der</strong> Ent-<br />
hüllung e<strong>in</strong>er Gedenktafel an die E<strong>in</strong>richtung<br />
<strong>der</strong> ersten Mission des wenige Jahre zuvor gegründeten<br />
Staates Israel er<strong>in</strong>nern, blicken wir<br />
nicht nur zurück, son<strong>der</strong>n verabreden uns auf<br />
die vor uns liegende geme<strong>in</strong>same Zukunft, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> das Existenzrecht des Staates Israel <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>in</strong>ternationalen Völkergeme<strong>in</strong>schaft hoffentlich<br />
bald so selbstverständlich se<strong>in</strong> wird wie<br />
das Existenzrecht jedes an<strong>der</strong>en Mitglieds <strong>der</strong><br />
Vere<strong>in</strong>ten Nationen.“ Er fuhr fort, dass es<br />
„fast an e<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> grenzt, dass Israel nach<br />
all den Schrecken die Hand als Zeichen <strong>der</strong><br />
Versöhnung ausgestreckt hat. Wir haben die<br />
Hand ergriffen, haben die Hand festgehalten<br />
und werden sie auch weiterh<strong>in</strong> festhalten.“<br />
V.l.n.r. Oberbürgermeister Jürgen Roters, Botschafter<br />
Yakov Hadas-Handelsman, Abraham Lehrer.<br />
Foto: Y. Shermayahu<br />
2015 wird sich die Aufnahme <strong>der</strong> diplomatischen<br />
Beziehungen zwischen Deutschland<br />
und Israel zum 50. Mal jähren. Doch schon<br />
wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges und <strong>der</strong> Schoa stimmten die Regierungen<br />
bei<strong>der</strong> Län<strong>der</strong> dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, dass<br />
nur die bilaterale Kooperation zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />
Zukunft führen kann. Das Resultat<br />
war die Eröffnung <strong>der</strong> Israelischen Mission<br />
<strong>in</strong> Köln im Jahr 1953 unter Leitung von Felix<br />
Sh<strong>in</strong>nar. Se<strong>in</strong>e diplomatische Mission war die<br />
Wie<strong>der</strong>aufnahme und Aufrechterhaltung e<strong>in</strong>es<br />
produktiven Dialogs mit <strong>der</strong> deutschen<br />
Regierung.<br />
Israel-Botschaft und Stadt Köln 15.10.13<br />
Zusammenarbeit <strong>der</strong> Gedenkstätte Yad Vashem<br />
mit deutschen Bildungse<strong>in</strong>richtungen<br />
Der israelische Bildungsm<strong>in</strong>ister Sha<strong>in</strong> Piron<br />
empf<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Jerusalem e<strong>in</strong>e Delegation <strong>der</strong><br />
Kultusm<strong>in</strong>isterkonferenz unter <strong>der</strong> Leitung<br />
des KMK-Präsidenten Stephan Dorgeloh. Im<br />
Mittelpunkt des Treffens stand die Unterzeichnung<br />
e<strong>in</strong>er wegweisenden Erklärung für<br />
die Zusammenarbeit <strong>der</strong> Gedenkstätte Yad<br />
Vashem mit <strong>der</strong> Kultusm<strong>in</strong>isterkonferenz<br />
und deutschen Bildungse<strong>in</strong>richtungen. Damit<br />
wurde zum ersten Mal e<strong>in</strong>e län<strong>der</strong>übergreifende<br />
Zusammenarbeit <strong>der</strong> beiden Seiten<br />
vere<strong>in</strong>bart, die über die schon bestehenden<br />
Vere<strong>in</strong>barungen zwischen Yad Vashem<br />
und e<strong>in</strong>zelnen Bundeslän<strong>der</strong>n h<strong>in</strong>aus geht<br />
und die e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Schwerpunkt auf<br />
die Fortbildung von Lehrern und die Ausbildung<br />
von Lehramtsstudenten <strong>in</strong> Deutschland<br />
legt.<br />
KMK-Präsident Dorgerloh sagte: „Es bleibt<br />
unser tiefempfundenes Anliegen, das Andenken<br />
an die Schoa gerade auch bei jungen<br />
KMK-Präsident Dorgerloh und Avner Shalev, Direktor<br />
von Yad Vashem (l<strong>in</strong>ks) vor dem Childrens<br />
Memorial <strong>in</strong> Yad Vashem.<br />
Foto: KMK<br />
Menschen und künftigen Generationen zu<br />
bewahren, um sie dafür zu sensibilisieren,<br />
dass Menschenrechte, Toleranz und Demokratie<br />
Werte s<strong>in</strong>d, die es täglich auf das Neue<br />
zu verteidigen gilt und die Denken und Handeln<br />
jedes E<strong>in</strong>zelnen prägen müssen. Die<br />
Geschichte des Holocaust muss <strong>in</strong> den deutschen<br />
Schulen weiter vertieft werden – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
vor dem H<strong>in</strong>tergrund, dass es immer<br />
weniger Zeitzeugen gibt, die e<strong>in</strong> authentisches<br />
Bild vermitteln können. Sie wird damit<br />
zu e<strong>in</strong>em selbstverständlichen Teil <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerungskultur.<br />
Zugleich ist uns sehr daran<br />
gelegen, im Schulunterricht bei<strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong> zeitgemäßes Bild von <strong>der</strong> Politik, Gesellschaft,<br />
Religion und Kultur aufzuzeigen.“<br />
Die Erklärung wurde neben den M<strong>in</strong>istern<br />
Stephan Dorgerloh und Shai Piron auch vom<br />
18 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Leiter <strong>der</strong> Gedenkstätte Yad Vashem unterzeichnet.<br />
Zu den geme<strong>in</strong>samen Zielen heißt<br />
es dar<strong>in</strong>, man wolle „e<strong>in</strong>e ständige und umfassende<br />
Zusammenarbeit mit dem Ziel för<strong>der</strong>n,<br />
Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern sowie Studierenden<br />
Unterricht über die Geschichte<br />
des jüdischen Vorkriegs<strong>leben</strong>s <strong>in</strong> Europa sowie<br />
des Holocaust <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er altersangemessenen<br />
und wirksamen Weise im Rahmen von<br />
Bildungs<strong>in</strong>stitutionen <strong>in</strong> ganz Deutschland<br />
angedeihen zu lassen.“<br />
Konkret bedeutet dies: „die Übermittlung<br />
und den Austausch von Informationen und<br />
Gedanken zwischen Yad Vashem und deutschen<br />
pädagogischen E<strong>in</strong>richtungen, Hochschulen,<br />
Holocaust-Gedenkstätten, Museen<br />
und Organisationen <strong>in</strong> allen sechzehn Län<strong>der</strong>n<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland zu<br />
för<strong>der</strong>n; die professionelle Entwicklung von<br />
Programm<strong>in</strong>halten für deutsche Pädagogen,<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aus denjenigen Län<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
KMK-Präsident Stephan Dorgerloh, M<strong>in</strong>ister Shai<br />
Piron und Avner Shalev (Yad Vashem) unterzeichnen<br />
die geme<strong>in</strong>same Erklärung.<br />
Foto: Bildungsm<strong>in</strong>isterium<br />
Bundesrepublik Deutschland, die noch ke<strong>in</strong>e<br />
professionelle Arbeitsbeziehung mit Yad<br />
Vashem pflegen, zu för<strong>der</strong>n; die Möglichkeit<br />
<strong>der</strong> koord<strong>in</strong>ierten Ausrichtung e<strong>in</strong>er Konferenz<br />
über Lehrmethoden <strong>in</strong> Bezug auf den<br />
Holocaust und jüdisches Vorkriegs<strong>leben</strong> zu<br />
prüfen; den Unterricht zum Thema Holocaust<br />
<strong>in</strong> den Lehrplänen aller sechzehn Län<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland weiter<br />
zu verankern.“<br />
An dem Gespräch mit Bildungsm<strong>in</strong>ister Shai<br />
Piron nahmen neben M<strong>in</strong>ister Dorgerloh unter<br />
an<strong>der</strong>em auch M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Dr. Mart<strong>in</strong>a<br />
Münch (Brandenburg), Senator Ties Rabe<br />
(Hamburg) und Staatsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Brunhild<br />
Kurth (Sachsen) teil. Weitere Themen waren<br />
neben <strong>der</strong> Erklärung mit Yad Vashem die<br />
Vermittlung e<strong>in</strong>es zeitgemäßen Bildes von<br />
Israel im deutschen Schulunterricht, die För<strong>der</strong>ung<br />
des deutsch-israelischen Schüler-,<br />
Jugend- und Lehreraustausches, die deutschisraelische<br />
Schulbuchkommission, die Umwelterziehung<br />
und <strong>der</strong> Austausch über geme<strong>in</strong>same<br />
Wertvorstellungen und bildungspolitische<br />
Maßnahmen für die Integration<br />
von Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund<br />
<strong>in</strong> beiden Län<strong>der</strong>n.<br />
Israel-Botschaft und KMK 23.10.13<br />
Lehrer beschäftigen sich mit Israelbild <strong>in</strong> deutschen Schulbüchern<br />
Seit 2011 analysiert die Deutsch-Israelische<br />
Schulbuchkommission Schulbücher bei<strong>der</strong><br />
Län<strong>der</strong>. Nachdem im vergangenen Jahr erste<br />
Untersuchungsergebnisse durch die Wissenschaftler<br />
vorgestellt worden waren, kamen<br />
nun Praktiker <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zusammen, um über<br />
das Thema zu diskutieren.<br />
Auf E<strong>in</strong>ladung des Berl<strong>in</strong>er Bildungssenats,<br />
des Brandenburgischen Bildungsm<strong>in</strong>isteriums,<br />
des Landes<strong>in</strong>stituts für Schule und Medien<br />
Berl<strong>in</strong>-Brandenburg (LISUM), <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />
Yad Vashem und <strong>der</strong> Botschaft<br />
des Staates Israel versammelten sich Lehr-<br />
Dr. Dirk Sadowski während se<strong>in</strong>es Vortrags.<br />
Foto: Botschaft<br />
kräfte und Multiplikatoren zur Konferenz<br />
„Israel im Schulbuch und <strong>in</strong> <strong>der</strong> schulischen<br />
Praxis“.<br />
In se<strong>in</strong>em Grußwort drückte Botschafter<br />
Yakov Hadas-Handelsman die Freude darüber<br />
aus, dass dieses Thema vertieft diskutiert<br />
wird, denn „Israel wird sehr oft verzerrt<br />
und e<strong>in</strong>seitig dargestellt – auch <strong>in</strong> Schulbüchern“.<br />
Der Berl<strong>in</strong>er Staatssekretär für<br />
Bildung, Mark Rackles, erhoffte sich für den<br />
Tag e<strong>in</strong>e Sensibilisierung bei den Lehrkräften.<br />
Der Direktor des LISUMs, Dr. Götz<br />
Bieber, zeigte sich überzeugt, dass e<strong>in</strong>e Konferenz<br />
wie diese Vorurteile abbauen könne,<br />
denn Israel würde zu häufig nur mit dem<br />
Nahost-Konflikt <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht.<br />
Für Dr. Dirk Sadowski vom Georg-Eckert-Institut<br />
für <strong>in</strong>ternationale Schulbuchforschung,<br />
<strong>der</strong> die Kommission mit se<strong>in</strong>em israelischen<br />
Kollegen Arie Kizel koord<strong>in</strong>iert, war die<br />
Konferenz e<strong>in</strong>e Gelegenheit, erste Ergebnisse<br />
mit Pädagogen zu diskutieren. Wie wirken<br />
Bil<strong>der</strong> auf Jugendliche? Wie empfänglich<br />
s<strong>in</strong>d sie für Emotionen? Wie wird man <strong>der</strong><br />
Multiperspektivität gerecht?<br />
Anwesende Pädagogen sahen durchaus<br />
Schwierigkeiten im Umgang mit deutschen<br />
Schulbüchern <strong>in</strong> Bezug auf Israel. „Manche<br />
Abbildungen s<strong>in</strong>d zu komplex für me<strong>in</strong>e<br />
Schüler“, berichtete e<strong>in</strong> Lehrer. An<strong>der</strong>e besche<strong>in</strong>igten,<br />
dass „die Kontextualisierung<br />
enorm wichtig sei“. Es stehe nichts Falsches<br />
<strong>in</strong> den Büchern, aber es stehe nicht immer<br />
alles im richtigen Kontext.<br />
In e<strong>in</strong>em zweiten Teil <strong>der</strong> Konferenz beschäftigten<br />
sich die Teilnehmenden mit den Werten,<br />
die Deutschland und Israel verb<strong>in</strong>den,<br />
sowie mit Best-Practice-Beispielen aus dem<br />
pädagogischen Bereich. Prof. Dr. Doron Kiesel<br />
legte se<strong>in</strong>e Überlegungen zur Wertegeme<strong>in</strong>schaft<br />
zwischen Deutschland und Israel<br />
dar. E<strong>in</strong> Hauptaugenmerk lag auf den Themen<br />
E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ung und Vielfalt, bei denen<br />
„Israel als Lernlabor für Deutschland“ dienen<br />
könne.<br />
E<strong>in</strong> Ansatz, <strong>der</strong> auch für Schulbuchverlage<br />
<strong>in</strong>teressant se<strong>in</strong> könnte. Denn dies wäre e<strong>in</strong>es<br />
von vielen Themen, das die israelische<br />
Realität aus an<strong>der</strong>em Blickw<strong>in</strong>kel darstellt<br />
und den Schülern e<strong>in</strong>en umfassen<strong>der</strong>en Blick<br />
auf das Land bieten würde.<br />
Israel-Botschaft 24.10.2013<br />
Digitale Revolution <strong>in</strong> Tel Aviv<br />
Die Stadtverwaltung Tel Aviv-Jaffa hat das<br />
Projekt e<strong>in</strong>es stadtweiten Wi-Fi-Netzes gestartet.<br />
Wie die Stadtverwaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> vergangenen<br />
Woche bekannt gab, s<strong>in</strong>d bereits 60 <strong>der</strong> <strong>in</strong>sgesamt<br />
80 Hotspots aktiv, die Besuchern und<br />
Bewohnern <strong>der</strong> Stadt je<strong>der</strong>zeit freien Internetzugang<br />
ermöglichen. Die Hotspots f<strong>in</strong>den<br />
sich entlang <strong>der</strong> Küste, vom Dolph<strong>in</strong>arium bis<br />
zum Hafen, entlang <strong>der</strong> Hauptstraßen Dizengoff<br />
und Ben-Gurion, ebenso an weiteren<br />
zentralen Punkten wie dem Kedumim-Platz<br />
<strong>in</strong> Jaffa, im Tel-Aviv-Museum, dem Suzanne-<br />
Dellal-Zentrum und dem Yarkon-Park.<br />
Die Reichweite <strong>der</strong> Hotspots beträgt etwa 100<br />
bis 150 Meter, wobei das Signal stark genug<br />
se<strong>in</strong> soll, um bequem Mails zu lesen und die<br />
eigene Facebookseite zu aktualisieren – nicht<br />
jedoch, um beispielsweise Filme herunterzuladen.<br />
Die Stadt Tel Aviv-Jaffa ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten<br />
Städte weltweit, die diesen Service zur Verfügung<br />
stellt. Damit verfolgt sie weiter die<br />
Strategie, Tel Aviv als Startup-City und als<br />
Zen trum von Innovation und Kreativität zu<br />
positionieren.<br />
Für den Initiatoren <strong>der</strong> Aktion, Alon Solar<br />
von <strong>der</strong> Stadtverwaltung Tel Avivs, ist das Wi-<br />
Fi-Netz daher nur e<strong>in</strong> folgerichtiger Schritt:<br />
„Die Stadt zieht kont<strong>in</strong>uierlich <strong>in</strong>novative Unternehmen<br />
an. Im Kommunika tionszeitalter<br />
ist <strong>der</strong> Zugang zu freiem Internet e<strong>in</strong> grundlegen<strong>der</strong><br />
Service.“<br />
Israel-Botschaft 16.9.13 Karte Tel Avivs mit Hotspots. Foto: Stadt Tel Aviv<br />
Nachdruck aus: Newsletter <strong>der</strong> Botschaft des Staates Israel, mit freundlicher Genehmigung.<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 19
AUS DEN JÜDISCHEN GEMEINDEN IN BAYERN<br />
„An<strong>der</strong>e jüdische Erfahrungen machen“<br />
Gespräch mit Dr. Josef Schuster über die <strong>Landesverband</strong>smitgliedschaft und über Fortbildungen für Mohalim<br />
Benno Reicher: Herr Dr. Schuster, die Israelitische<br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg ist vor<br />
über 20 Jahren aus dem <strong>Landesverband</strong> ausgetreten.<br />
Das hatte wohl auch etwas mit den<br />
damaligen Personen zu tun. Können Sie sich<br />
vorstellen, die Nürnberger Geme<strong>in</strong>de wie<strong>der</strong><br />
als Mitglied aufzunehmen?<br />
Dr. Josef Schuster: Vorstellen kann ich mir<br />
das schon.<br />
BR: Und…<br />
JS: Und…, zunächst ist das doch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne<br />
Angelegenheit <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
Nürnberg. Ich habe ke<strong>in</strong>e Ahnung,<br />
wie dort das Me<strong>in</strong>ungsbild zu dieser Frage<br />
aussieht. Ich kann mir aber vorste llen, dass<br />
man diese Frage <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de sehr ausführlich<br />
diskutieren wird. Und das ist auch<br />
richtig so, denn die Geme<strong>in</strong>de muss ja zuerst<br />
klar sagen können, ob sie das will. Aber<br />
wenn sich die Geme<strong>in</strong>de-Gremien für e<strong>in</strong>e<br />
Mitgliedschaft im <strong>Landesverband</strong> entscheiden,<br />
dann sollten sie diese bei uns beantragen.<br />
Unsere zuständigen Gremien werden<br />
den Antrag dann beraten und e<strong>in</strong>e vernünftige<br />
Entscheidung treffen.<br />
BR: Warum sollten die Nürnberger das eigentlich<br />
wollen?<br />
JS: Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn das<br />
müssen die Nürnberger Kollegen selbst herausf<strong>in</strong>den.<br />
Was ich aber sagen kann, und das<br />
ist ke<strong>in</strong>e neue Erkenntnis, Nürnberg war früher<br />
Mitglied im <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultusgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern, auch unserer<br />
Vorgängerorganisationen, und Nürnberg<br />
liegt doch immer noch <strong>in</strong> Bayern, also,<br />
historisch und geografisch betrachtet ist die<br />
Zuordnung ziemlich klar.<br />
BR: Aber was hätten die Nürnberger denn<br />
von e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft?<br />
JS: Unsere Mitglie<strong>der</strong> werden, und das kann<br />
ich ganz allgeme<strong>in</strong> sagen, durch den <strong>Landesverband</strong><br />
überregional auf allen wichtigen<br />
Ebenen vertreten, z. B. gegenüber <strong>der</strong> Bayerischen<br />
Landesregierung. Als Dach organisation<br />
hat man da wohl an<strong>der</strong>e Mög lichkeiten<br />
und Kontakte. Ich muss betonen:<br />
unsere Mitglie<strong>der</strong> verlieren nicht ihre Unabhängigkeit.<br />
Im Verband und im Verbund<br />
verstehen wir aber unsere Anliegen als geme<strong>in</strong>same<br />
Interessen. Wir s<strong>in</strong>d mit dieser<br />
Politik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz guten Situation und das<br />
wäre sicher nicht so, wenn jede Geme<strong>in</strong>de<br />
„ihre eigene Suppe kochen“ würde.<br />
BR: Das betrifft die Arbeit nach außen. Aber<br />
wo profitieren die Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> von<br />
<strong>der</strong> Verbandsarbeit?<br />
JS: Das tun sie an ganz vielen Stellen, z. B. <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Jugendarbeit. Durch unsere überregionalen<br />
Jugendaktivitäten haben die jungen<br />
Leute die Möglichkeit, Freunde aus an<strong>der</strong>en<br />
Geme<strong>in</strong>den zu treffen, mit ihnen zu lernen<br />
und neue Erfahrungen zu sammeln. Für unsere<br />
Geme<strong>in</strong>den ist es wichtig, dass gerade<br />
die jungen Menschen an<strong>der</strong>e jüdische Erfahrungen<br />
machen.<br />
BR: Sie haben als Zentralrats-Vize Anfang<br />
Oktober <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Fortbildung für Mohalim<br />
durchgeführt. Das ist das erste Mal,<br />
dass so etwas gemacht wurde. Wie kam es<br />
dazu?<br />
JS: Sie werden sich an die heftige öffentliche<br />
Diskussion im vergangenen Jahr er<strong>in</strong>nern.<br />
Nach e<strong>in</strong>em Urteil des Landgerichtes Köln<br />
wurde plötzlich die Brit Mila, e<strong>in</strong> traditionelles<br />
und sehr altes jüdisches Ritual, als Körperverletzung<br />
angesehen und mit dem Ziel<br />
diskutiert, unser Ritual zu verbieten. Für viele<br />
Menschen war damals <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskussion<br />
nicht zu verstehen, dass <strong>der</strong> E<strong>in</strong>griff erfolgt,<br />
ohne dass tatsächlich mediz<strong>in</strong>ische Probleme<br />
entstehen. Ich kann verstehen, dass man,<br />
wenn man unser Ritual und die jahrhun<strong>der</strong>tealte<br />
Praxis nicht kennt, also ke<strong>in</strong>e Ahnung<br />
hat, dass man sich dann Sorgen macht. Wir<br />
<strong>leben</strong> heute ja nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em isolierten<br />
Raum. Auch wir werden öffentlich betrachtet<br />
und nehmen die Sorgen sehr ernst. Der Gesetzgeber<br />
hat dann vor e<strong>in</strong>em Jahr wichtige<br />
Standards für die Brit Mila festgeschrieben<br />
und als Arzt kann ich die <strong>in</strong> vollem Umfang<br />
unterschreiben.<br />
BR: Was sagt das neue Gesetz und was ist da<br />
wirklich neu?<br />
JS: Das Gesetz betont das K<strong>in</strong>deswohl, es<br />
for<strong>der</strong>t vom Mohel die E<strong>in</strong>haltung von<br />
Grundsätzen <strong>der</strong> Hygiene und <strong>der</strong> Instrumentensterilität<br />
und es for<strong>der</strong>t die Elternaufklärung.<br />
Das Gesetz verbietet die Metzitzah<br />
B’peh, also das Absaugen mit dem Mund,<br />
und es sagt, dass die Brit <strong>in</strong> den ersten sechs<br />
Monaten erfolgen muss. Danach verlangt das<br />
Gesetz, dass e<strong>in</strong> Arzt dabei se<strong>in</strong> muss, <strong>der</strong><br />
bei Problemen fachlich reagieren kann. Die<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Standards s<strong>in</strong>d nicht wirklich<br />
neu. Natürlich wird e<strong>in</strong>e Brit Mila heute<br />
nicht durchgeführt wie vor 500 Jahren. Was<br />
die Sterilität <strong>der</strong> Instrumente betrifft, so gibt<br />
es ja heute E<strong>in</strong>malsets wie <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en<br />
Bereichen <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> auch und es gibt<br />
heute für die Schmerzbekämpfung die Emla-<br />
Creme. Nicht nur <strong>in</strong> diesen beiden Punkten<br />
unterscheidet sich heute e<strong>in</strong>e Brit Mila von<br />
dem historischen Szenarium.<br />
BR: Wenn das alles schon so klar ist, warum<br />
sollen dann Mohalim den Kurs machen und<br />
das Zentralrats-Zertifikat erwerben?<br />
JS: Zum ersten Mal gibt es jetzt e<strong>in</strong>e juristische<br />
Def<strong>in</strong>ition von Brit Mila. Um sich nicht<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em rechtsfreien Raum zu bewegen,<br />
sollte je<strong>der</strong> Mohel, auch je<strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Bereich<br />
tätige Arzt, das Gesetz und alle Inhalte<br />
kennen. Mit unserem Zertifikat kann <strong>der</strong><br />
Mohel nachweisen, dass er zu diesen Inhalten<br />
e<strong>in</strong>e qualifizierte Fortbildung gemacht<br />
hat. Und das gab es bisher nicht.<br />
BR: Welche Inhalte haben Sie auf dem Fortbildungssem<strong>in</strong>ar<br />
vermittelt?<br />
JS: Wir hatten e<strong>in</strong>en Programmpunkt zum<br />
neuen Gesetz. Dafür konnten wir den Würzburger<br />
Ord<strong>in</strong>arius für öffentliches Recht<br />
Prof. Dr. Kyrill-A. Schwarz gew<strong>in</strong>nen. Er hat<br />
vor allem dargestellt, was das Gesetz vom<br />
Mohel for<strong>der</strong>t und er hat die Rechtslage bewertet.<br />
Dann haben sich zwei Ärzte mit den<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Fragen beschäftigt. Prof. Dr.<br />
Hans Kristof Graf, <strong>der</strong> Chefarzt des Jüdischen<br />
Krankenhauses Berl<strong>in</strong>, hat über die<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Abläufe, die Schmerzbehandlung<br />
und die Risiken gesprochen und Dr.<br />
Mart<strong>in</strong> Müller, <strong>der</strong> Hygienebeauftragte im<br />
Jüdischen Krankenhaus, hat die Fragen <strong>der</strong><br />
Instrumentensterilität und <strong>der</strong> Hygienevorschriften<br />
bearbeitet.<br />
BR: Und was besche<strong>in</strong>igt das Zentralrats-<br />
Zertifikat dem Mohel?<br />
JS: Unser Zertifikat besche<strong>in</strong>igt die Teilnahme<br />
an e<strong>in</strong>er Fortbildung mit den genannten<br />
Inhalten. In e<strong>in</strong>er juristischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
kann das nützlich se<strong>in</strong>. Ich muss betonen,<br />
dass es so e<strong>in</strong>en Nachweis bisher nicht<br />
gab. Als Arzt und auch als Zentralratsvorstand<br />
möchte ich ergänzen, dass zertifizierte<br />
Qualifizierungsmaßnahmen absolut richtig<br />
s<strong>in</strong>d. Und den Eltern gibt das Zertifikat natürlich<br />
auch zusätzliche Sicherheit.<br />
BR: Wird es weitere Fortbildungen geben?<br />
JS: Ich gehe davon aus, dass sich e<strong>in</strong>e weitere<br />
Nachfrage entwickeln wird. In unserer<br />
Gesellschaft, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>, wird berufliche<br />
Qualifikation immer wichtiger und<br />
auch je<strong>der</strong> Arzt muss heutzutage se<strong>in</strong>e Fortbildungen<br />
machen. Bezogen auf die Beschneidung<br />
wird <strong>der</strong> Zentralrat sie also wie<strong>der</strong><br />
anbieten.<br />
20 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
at <strong>der</strong> Juden for<strong>der</strong>t bereits seit Jahren, dass<br />
diese Partei nicht nur geächtet, son<strong>der</strong>n vom<br />
Parteienprivileg ausgeschlossen und somit<br />
endlich verboten wird. Dass die Verbreitung<br />
von braunem Gift sogar auch noch mit<br />
Steuer mitteln f<strong>in</strong>anziert wird, kann schließlich<br />
ke<strong>in</strong> vernünftiger Mensch im Land jemals<br />
verstehen. E<strong>in</strong> entschlossenes und vor<br />
allem auch e<strong>in</strong> geschlossenes Handeln <strong>der</strong><br />
Verfassungsorgane würde e<strong>in</strong> wichtiges politisches<br />
Zeichen gegen den von <strong>der</strong> NPD propagierten<br />
Menschenhass setzen.<br />
Es wäre daher mehr als wünschenswert, dass<br />
sich die neue Bundesregierung, aber auch <strong>der</strong><br />
neue Bundestag dem Verbotsantrag des Bundesrats,<br />
<strong>der</strong> nun sicher kommen wird, mit Entschlossenheit<br />
anschließen. E<strong>in</strong> solcher Verbotsantrag<br />
än<strong>der</strong>t natürlich gar nichts daran,<br />
dass wir alle weiterh<strong>in</strong> auf allen Ebenen gegen<br />
die Auswüchse von Faschismus und Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
zu kämpfen haben. Je<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />
ist weiterh<strong>in</strong> gefor<strong>der</strong>t, sich gegen<br />
den braunen Hass zu stellen und für die Toleranz<br />
e<strong>in</strong>zustehen. Die neue Bundesregierung<br />
könnte und sollte durch e<strong>in</strong>en positiven Entscheid<br />
für e<strong>in</strong>en Verbotsantrag <strong>in</strong> Karlsruhe<br />
aber gleich am Anfang e<strong>in</strong> resolutes Signal<br />
setzen, das gewiss im ganzen Land gehört<br />
werden würde.“<br />
Amberg<br />
Amberg hat neuen Rabb<strong>in</strong>er<br />
Nachruf Arno Hamburger<br />
Der wichtigste Moment<br />
<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben<br />
Zu se<strong>in</strong>em 90. Geburtstag Anfang dieses Jahres<br />
schrieb Leibl Rosenberg <strong>in</strong> unserem<br />
Pessach-Heft über ihn: „Er ist <strong>der</strong> <strong>leben</strong>de Beweis<br />
dafür, dass es möglich ist, e<strong>in</strong> heimatverbundener<br />
Lokalpatriot und e<strong>in</strong> kämpferischer<br />
Jude zu se<strong>in</strong>.“ Arno Hamburger war seit 1966<br />
die dom<strong>in</strong>ierende Persönlichkeit <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg und seit<br />
1972 saß er für die SPD im Nürnberger Stadtrat.<br />
Ende September verstarb Arno Hamburger<br />
im Alter von 90 Jahren.<br />
Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly<br />
würdigte ihn als „politisch-moralische Instanz“.<br />
Er habe nach dem Zweiten Weltkrieg stets<br />
versucht, den Ruf Nürnbergs wie<strong>der</strong> herzustellen<br />
und gegen Rechtsextremismus gekämpft.<br />
„Er war e<strong>in</strong> Lokalpatriot im besten<br />
S<strong>in</strong>ne“, erklärte Maly, „e<strong>in</strong> Stadtrat im ursprünglichen<br />
S<strong>in</strong>ne, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> poltern konnte,<br />
aber immer den Kompromiss gesucht hat“.<br />
Und <strong>der</strong> ehemalige Bayerische M<strong>in</strong>isterpräsident<br />
Günther Beckste<strong>in</strong> erklärte: „Er hat dafür<br />
gesorgt, dass Nürnberg e<strong>in</strong>e Stadt des Friedens<br />
und <strong>der</strong> Versöhnung geworden ist. E<strong>in</strong><br />
wun<strong>der</strong>barer Demokrat und Brücken bauer.“<br />
Geboren 1923 <strong>in</strong> Nürnberg, erlebte Arno<br />
Hamburger, wie se<strong>in</strong>e Heimatstadt nach 1933<br />
e<strong>in</strong>e Hochburg <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />
Bewegung wurde. Nach den Pogromen vom<br />
9. November 1938, die <strong>der</strong> Junge miter<strong>leben</strong><br />
Zur aktuellen Debatte um e<strong>in</strong>e Beteiligung<br />
<strong>der</strong> neuen Bundesregierung am NPD-Verbotsantrag<br />
erklärte ZR-Präsident Dr. Dieter<br />
Graumann Ende Oktober:<br />
„Die neue Bundesregierung sollte gleich mit<br />
dem richtigen Schritt und e<strong>in</strong>em geglückten<br />
Startsignal beg<strong>in</strong>nen: Wir hoffen deshalb<br />
sehr, dass die Frage zum NPD-Verbotsantrag<br />
<strong>in</strong> den laufenden Koalitionsverhandlungen<br />
nicht nur etwa aufkommt, son<strong>der</strong>n unzweideutig<br />
zugunsten e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen Vorgehens<br />
mit dem Bundesrat entschieden wird.<br />
Die NPD ist durch und durch verfassungsfe<strong>in</strong>dlich,<br />
menschenverachtend, rassistisch,<br />
antisemitisch und gewaltbereit. Der Zentral-<br />
musste, gelang es se<strong>in</strong>en Eltern, ihn außer Landes<br />
zu schicken. Im September 1939 g<strong>in</strong>g er <strong>in</strong><br />
Tel Aviv an Land. Ab 1941 diente er <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
britischen Armee und als Mitglied <strong>der</strong> Jewish<br />
Brigade kam er nach dem Krieg schon im<br />
Frühjahr 1945 wie<strong>der</strong> nach Nürnberg zurück.<br />
„Der wichtigste Moment <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben war<br />
wohl“, erklärte er später, „als ich nach dem<br />
Krieg me<strong>in</strong>e Eltern am Leben gefunden habe.<br />
Das war <strong>der</strong> Gipfel aller Wünsche und Gedanken,<br />
die mich von August 1939 bis Mai 1945<br />
bewegt haben. Dass dieses Wun<strong>der</strong> geschehen<br />
ist, dafür b<strong>in</strong> ich bis heute unserem Schöpfer<br />
dankbar.“ Und leise ergänzte er: „Lei<strong>der</strong> hat es<br />
<strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Familie nicht geschafft.“<br />
Der junge Hamburger machte e<strong>in</strong>e Metzgerausbildung.<br />
Sehr bald nach <strong>der</strong> Befreiung gründeten<br />
Dr. Julius Nürnberger, Paul Baruch und<br />
Adolf Hamburger, Arnos Vater, e<strong>in</strong>e neue Jüdische<br />
Geme<strong>in</strong>de und Arno engagierte sich<br />
dort schon sehr früh und über 40 Jahre war er<br />
ihr Vorsitzen<strong>der</strong>.<br />
Er war wohl auch e<strong>in</strong> unbequemer Mensch,<br />
wie nach se<strong>in</strong>em Tod e<strong>in</strong>e Nürnberger Zeitung<br />
schrieb. „Das Alter ließ ihn nicht milde<br />
werden“, und auch für se<strong>in</strong>e Mitstreiter sei<br />
se<strong>in</strong>e kompromisslose Haltung manchmal<br />
durchaus anstrengend gewesen. Darauf angesprochen,<br />
war er um e<strong>in</strong>e passende Antwort<br />
nicht verlegen. In e<strong>in</strong>em Interview mit den<br />
Nürnberger Nachrichten sagte er im Mai<br />
2007: „Wenn man von allen geliebt wird,<br />
macht man was falsch.“ Benno Reicher<br />
Zentralrat wünscht NPD-Verbotsantrag<br />
Elias Dray ist <strong>der</strong> neue Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />
Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Amberg. Seit dem Ab<strong>leben</strong><br />
von Rabb<strong>in</strong>er Nathan Zanger im Jahre<br />
1971 hatte die Geme<strong>in</strong>de ke<strong>in</strong>en eigenen Rabb<strong>in</strong>er<br />
mehr. Der neue Amberger Rabb<strong>in</strong>er<br />
Elias Dray erhielt e<strong>in</strong>e zehnjährige Rabb<strong>in</strong>erausbildung<br />
<strong>in</strong> Israel und er arbeitet bereits seit<br />
sieben Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> IKG München.<br />
Die Gottesdienste an den Hohen Feiertagen<br />
leiteten <strong>der</strong> neue Rabb<strong>in</strong>er und Schmuel Kur<strong>in</strong>.<br />
Am ersten Abend von Rosch Haschana<br />
kamen über 80 Gäste zum Gebet sowie zur<br />
festlichen Jom-Tow-Mahlzeit. Almira Sultanova,<br />
Elena Shktchepanska und Lubav Gerschunowitsch<br />
gestalteten geme<strong>in</strong>sam mit Rebbez<strong>in</strong><br />
Sara Rivka Dray das festliche Abendessen.<br />
Swetlana Jolowitsch war für die Organisation<br />
zuständig. Ignaz Berger vom Geme<strong>in</strong>devorstand<br />
begrüßte die Gäste und<br />
brachte se<strong>in</strong>e Freude zum Ausdruck, dass die<br />
Geme<strong>in</strong>de nun nach langer Zeit wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Rabb<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>den konnte.<br />
Der Geme<strong>in</strong>devorstand hat für die Feiertage<br />
e<strong>in</strong> neues Machsor e<strong>in</strong>geführt. Es heißt Tefilat<br />
Amcha und ist mit deutscher o<strong>der</strong> russischer<br />
Übersetzung sowie mit phonetischem Text erhältlich.<br />
Auch Anfänger können sich <strong>in</strong> diesem<br />
Gebetbuch gut zurechtf<strong>in</strong>den.<br />
Auch das Sukkot-Fest wurde <strong>in</strong> diesem Jahr<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de Amberg gefeiert. Rabb<strong>in</strong>er<br />
Elias Dray leitete den Gottesdienst. Es war<br />
e<strong>in</strong> schönes Beisammense<strong>in</strong> von Jung und Alt<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>schönen Sukka. Zum Kiddusch<br />
gab es für alle e<strong>in</strong>en Tscholent. Die vielen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekamen Süßigkeiten.<br />
Am Donnerstag, 28. November, gibt <strong>der</strong> weltbekannte<br />
Kantor Mosche Fishel um 19 Uhr<br />
e<strong>in</strong> Chanukka-Konzert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />
Amberg. Alle s<strong>in</strong>d herzlich e<strong>in</strong>geladen.<br />
Anmeldung unter Telefon 09621–13140 o<strong>der</strong><br />
unter ikg.amberg@gmail.com<br />
Rabb<strong>in</strong>er Elias Dray<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 21
Bamberg<br />
Israel-Basar<br />
Zum zweiten Israel-Basar, angeregt durch den<br />
Geme<strong>in</strong>de-Vorsitzenden Arieh Rudolph, kamen<br />
im Juni etwa 400 Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />
und Gäste <strong>in</strong> die Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
Bamberg. Die Stuttgarter Firma Doronia bot<br />
e<strong>in</strong>en reichen Querschnitt aus ihrem Sortiment<br />
an: Bücher, CDs und DVDs, Lebensmittel,<br />
schöne Kerzen und duftende Seifen,<br />
Festtagskarten, jüdische Kultgegenstände wie<br />
Gebetsmäntel und Kippot, Leuchter und vieles<br />
mehr. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Höhepunkte war e<strong>in</strong>e<br />
We<strong>in</strong>probe von israelischen We<strong>in</strong>en. Die Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>er<strong>in</strong><br />
Dr. Yael Deusel und <strong>der</strong><br />
1. Vorsitzende boten den Gästen kostenlose<br />
Synagogen-Führungen an. Auch e<strong>in</strong> reichhaltiges<br />
Kuchenbuffet ergänzte diesen erfolgreichen<br />
Israel-Basar.<br />
Besuch <strong>in</strong> Weiden<br />
Unser sommerlicher Geme<strong>in</strong>deausflug, organisiert<br />
vom Geme<strong>in</strong>devorstand <strong>in</strong> Zusammenarbeit<br />
mit dem Seniorenclub und dem Kultur-<br />
Café, brachte uns im Juli <strong>in</strong> die Oberpfalz und<br />
nach Weiden. Ziel <strong>der</strong> Reise war die Besichtigung<br />
jüdisch-historischer Orte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oberpfalz<br />
und natürlich auch die <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de Weiden. Dort wurden wir gegen<br />
11 Uhr freundlich von <strong>der</strong> Sozialarbeiter<strong>in</strong><br />
Mar<strong>in</strong>a Jurovetskaja empfangen. Ihr großes<br />
Engagement machte unser umfangreiches<br />
Programm erst möglich. Mar<strong>in</strong>a Jurovetskaja<br />
erwies sich als erfahrene und kompetente<br />
Gästeführer<strong>in</strong>. Wir besichtigten mit ihr die<br />
über 200 Jahre alte Synagoge <strong>in</strong> Floß. In <strong>der</strong><br />
Pogromnacht 1938 wurde auch sie angezündet,<br />
doch ist sie glücklicherweise nicht Raub<br />
<strong>der</strong> Flammen geworden. Nach dem Krieg,<br />
1964, kaufte <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Bayern das verfallene<br />
und als Lagerhalle genutzte Gebäude. Geme<strong>in</strong>sam<br />
mit öffentlichen bayerischen Stellen<br />
wurde die Synagoge aufwändig saniert und<br />
restauriert. Derzeit bef<strong>in</strong>det sich dort e<strong>in</strong> jüdisches<br />
Museum, und an den Hohen Feiertagen<br />
nutzt die Weidener Geme<strong>in</strong>de die Synagoge<br />
für Gottesdienste.<br />
Danach fuhren wir zu den Ru<strong>in</strong>en des mittelalterlichen<br />
Schlosses. Floß liegt 438 Meter<br />
über dem Meeresspiegel und das Schloss auf<br />
745 Meter. Der Aufstieg war deshalb für viele<br />
Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
die nicht alle schafften. Sie konnten sich stattdessen<br />
unten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Burgschänke erholen.<br />
Dann g<strong>in</strong>g es zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg,<br />
dem ehemaligen Konzentrationslager<br />
für Juden und politische Häftl<strong>in</strong>ge. Heute ist<br />
es e<strong>in</strong> Museum und e<strong>in</strong>e Gedenkstätte für alle<br />
Opfer <strong>der</strong> nationalsozialistischen Diktatur. In<br />
diesem Lager ermordeten die Nazis den russischen<br />
General Dimitrij Karbyschev und den<br />
deutschen Admiral Wilhelm Franz Canaris.<br />
Nach <strong>der</strong> Besichtigung des früheren KZs besuchten<br />
wir die kle<strong>in</strong>e jüdische KZ-Gedenkstätte<br />
und blieben dort zu e<strong>in</strong>er Gedenkm<strong>in</strong>ute<br />
für unsere ermordeten Brü<strong>der</strong> und Schwestern<br />
und alle an<strong>der</strong>en Menschen.<br />
Die Fahrt mit dem sehr komfortablen 4-Sterne-Bus<br />
nach Weiden <strong>in</strong>s jüdische Geme<strong>in</strong>dezentrum<br />
war für den Busfahrer e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung, denn überall <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt<br />
waren Veranstaltungen, die den direkten Weg<br />
blockierten. Wir kamen jedoch sicher an,<br />
konnten uns erholen, etwas essen und über<br />
unsere geme<strong>in</strong>samen Erlebnisse reden. Nach<br />
dieser schönen Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />
Weiden fuhren wir zurück nach Bamberg.<br />
Es war sehr schön, dass bei diesem Ausflug<br />
auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> dabei waren. Sie waren begeistert<br />
von unserem Doppeldecker-Bus, hatten<br />
Spaß und versprachen, beim nächsten Mal<br />
wie<strong>der</strong> dabei zu se<strong>in</strong>.<br />
Für die Unterstützung und Organisation <strong>der</strong><br />
Reise danken wir dem 1. Vorsitzenden Herrn<br />
Rudolph, Frau Manastyrskaia und Frau Glasunova.<br />
Elisabeth Gorkurova,<br />
Kulturreferent<strong>in</strong> und Vorstandsmitglied<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>theater Chapeau Claque<br />
Unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong>theatergruppe besuchte im Juli<br />
mit zehn K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und drei Erwachsenen das<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>theater „Chapeau Claque“ auf dem<br />
früheren Gartenschaugelände <strong>in</strong> Gaustadt. Es<br />
war sehr heiß an diesem Tag und alle Zuschauer<br />
mussten sich mit kalten Getränken<br />
und Eis versorgen.<br />
Das K<strong>in</strong><strong>der</strong>theater brachte das Stück „Die<br />
rote Zora“ nach dem Roman von Kurt Held.<br />
In <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>baren und pädagogisch wertvollen<br />
Inszenierung zeigten die Schauspieler,<br />
trotz <strong>der</strong> großen Hitze von 35 Grad, e<strong>in</strong> gekonntes<br />
und humorvolles Spiel. Sie mussten<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> prallen Sonne laufen, spr<strong>in</strong>gen, s<strong>in</strong>gen<br />
und ihre Kostüme wechseln. Die Zuschauer<br />
waren begeistert und spendeten großen und<br />
langanhaltenden Applaus.<br />
Hohe Feiertage<br />
Da <strong>in</strong> diesem Jahr die Hohen Feiertage zeitlich<br />
sehr früh begannen, konnten die Veranstalter<br />
nicht e<strong>in</strong>fach die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen<br />
nach den Sommerferien entsprechend<br />
vorbereiten. Dennoch begannen die für den<br />
Religionsunterricht Zuständigen, den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
die Symbole <strong>der</strong> Hohen Feiertage (das Schofar<br />
zu Rosch Haschana und Jom Kippur, die<br />
Sukka und die Reihenfolge <strong>der</strong> Lesungen zu<br />
Simchat Tora) mit Basteln, Malen und S<strong>in</strong>gen<br />
beizubr<strong>in</strong>gen. Auch das K<strong>in</strong><strong>der</strong>s<strong>in</strong>gprojekt<br />
von Frau Becker für die Woche <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>lichkeit<br />
2014 wurde gleich nach den Sommerferien<br />
wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Angriff genommen.<br />
Zu Jom Kippur fand wie<strong>der</strong>, es ist <strong>in</strong>zwischen<br />
schon Tradition, das Gedenken an die Opfer<br />
von Babij Jar am Denkmal <strong>der</strong> Verfolgten des<br />
Naziregimes an <strong>der</strong> Unteren Brücke vor dem<br />
Alten Rathaus statt. E<strong>in</strong>en Tag davor fand<br />
zum zweiten Mal für die jungen Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />
und ihre Eltern und Großeltern e<strong>in</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>gottesdienst mit Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>er<strong>in</strong><br />
Dr. Deusel statt. Die jungen Mütter waren<br />
sehr gerührt von <strong>der</strong> Art und Weise, wie die<br />
Rabb<strong>in</strong>er<strong>in</strong> mit den schweren biblischen und<br />
talmudischen Texten entsprechend <strong>der</strong> k<strong>in</strong>dlichen<br />
Wahrnehmung umg<strong>in</strong>g.<br />
Das Sukkot-Fest brachte noch mehr Freude.<br />
Die Sukka wurde von unseren bewährten Helfern<br />
geschmückt. Sie hatten die erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Zweige im Wald geholt. Am nächsten Tag<br />
schmückten die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen unter<br />
<strong>der</strong> Leitung von Frau Manastyrskaia die<br />
Sukka und hängten Girlanden <strong>in</strong> vielen Farben,<br />
Lampions, Lichtschläuche und bunte<br />
Deko <strong>in</strong> die Zweige. Zum Sukkotfest selbst<br />
kamen trotz strömendem Regen viele Mitglie<strong>der</strong><br />
und Gäste <strong>in</strong> die Sukka.<br />
Mit dem Simchat-Tora-Fest am 27. September<br />
hatten die Hohen Feiertage zwar religiös ihren<br />
Abschluss, aber am Abend zu Kabbalat-<br />
Schabbat lief e<strong>in</strong> festlicher Zug aus K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
und Erwachsenen mit Tanz und Freude sieben<br />
Mal um die Bima. Anschließend gab es e<strong>in</strong>en<br />
leckeren Kiddusch. Lei<strong>der</strong> konnte Herr Rudolph<br />
zum ersten Mal bei <strong>der</strong> Feier nicht anwesend<br />
se<strong>in</strong>. Er lag im Krankenhaus und wurde<br />
aber während dieser Zeit von vielen Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n<br />
besucht. Hierfür möchte<br />
sich Herr Rudolph noch e<strong>in</strong>mal mit e<strong>in</strong>em<br />
herz lichen „Schkoyach“ bedanken.<br />
Reise nach Marburg<br />
Nach e<strong>in</strong>em Besuch <strong>der</strong> Marburger Geme<strong>in</strong>de<br />
bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> IKG Bamberg im Juli erfolgte im<br />
Oktober unser Gegenbesuch <strong>in</strong> Marburg. Die<br />
persönlichen Beziehungen zwischen Arieh<br />
Rudolph und Amnon Orbach boten gute Voraussetzungen<br />
für diesen Geme<strong>in</strong>de-Austausch.<br />
Nach e<strong>in</strong>em Empfang bei Kaffee und Kuchen<br />
zeigte uns Amnon Orbach e<strong>in</strong>en Film über<br />
die schulische Ausbildung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />
Jugendlichen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de sowie die feierliche<br />
E<strong>in</strong>hebung ihrer Torarolle. Anschließend<br />
führte er uns durch die wun<strong>der</strong>schöne<br />
Synagoge und er erklärte, dass die Geme<strong>in</strong>de<br />
sehr stolz ist, e<strong>in</strong>e so große und repräsentative<br />
Synagoge zu haben. Besuche zwischen den<br />
Geme<strong>in</strong>den sollten viel öfters stattf<strong>in</strong>den.<br />
22 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Erlangen<br />
Ausflug mit dem Freundeskreis<br />
Auch <strong>in</strong> diesem Jahr lud <strong>der</strong> Freundeskreis<br />
<strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de die Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />
zu e<strong>in</strong>em Ausflug e<strong>in</strong>. Erste Station<br />
war Georgensgmünd, wo bereits 1564 e<strong>in</strong><br />
Jude lebte. Jüdisches Leben existierte bis<br />
1938, als die letzten Juden ihren Heimatort<br />
verlassen mussten. Der Friedhof wurde 1550<br />
angelegt. Er diente als Verbandsfriedhof für<br />
die umliegenden Orte. Bis heute s<strong>in</strong>d immer<br />
noch 1800 alte Grabste<strong>in</strong>e erhalten. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es<br />
Denkmal ist das e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> Süddeutschland<br />
noch erhaltene Taharahaus. Die<br />
schön ausgemalte Synagoge enthält e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />
Museum und zwei Mikwen.<br />
Nächste Station bei hochsommerlichen Temperaturen<br />
war Ansbach, wo erst e<strong>in</strong>mal die<br />
Mittagsrast <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schattigen Biergarten<br />
e<strong>in</strong>gelegt wurde. Danach folgte e<strong>in</strong>e Stadtführung<br />
durch die hübsche Altstadt <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Residenz <strong>der</strong> Markgrafen von Brandenburg-Ansbach.<br />
Höhepunkt war <strong>der</strong> Besuch <strong>der</strong><br />
barocken Synagoge. Sie ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bedeutendsten<br />
<strong>in</strong> Süddeutschland, erbaut von Hofbaumeister<br />
Leopoldo Retty. Vor <strong>der</strong> Rückfahrt<br />
blieb noch Zeit für e<strong>in</strong>en Spaziergang o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>en Kaffee im Hofgarten <strong>der</strong> Orangerie.<br />
Neujahrsempfang<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
Auch <strong>in</strong> diesem Jahr organisierte die Geme<strong>in</strong>de<br />
e<strong>in</strong>en Neujahrsempfang. Unter den Gästen<br />
waren Vertreter <strong>der</strong> Stadt Erlangen, <strong>der</strong> Universität,<br />
des Landkreises Erlangen-Höchstadt<br />
und Vertreter an<strong>der</strong>er Religionsgeme<strong>in</strong>schaften.<br />
Der bayerische Innenm<strong>in</strong>ister Joachim<br />
Herrmann überbrachte die Grüße <strong>der</strong> Landesregierung,<br />
Oberbürgermeister Dr. Siegfried<br />
Balleis die <strong>der</strong> Stadt Erlangen und Grit<br />
Nickel <strong>der</strong> islamischen Geme<strong>in</strong>den. Rabb<strong>in</strong>er<br />
Dani Danieli sprach für die Geme<strong>in</strong>de und<br />
<strong>der</strong> Sänger Igor Dubovsky, vom Zentralrat<br />
<strong>der</strong> Juden gesponsert, sorgte für den musikalischen<br />
Rahmen.<br />
Sukkot und Tag <strong>der</strong> offenen Tür<br />
In diesem Jahr feierten wir den Tag <strong>der</strong> offenen<br />
Tür <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sukkotwoche. E<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>schöner<br />
Tag, e<strong>in</strong>e geschmückte Sukka, Musik,<br />
gutes Essen und e<strong>in</strong> Vortrag von Rabb<strong>in</strong>er<br />
Danieli lockten viele <strong>in</strong>teressierte Gäste <strong>in</strong><br />
unsere Geme<strong>in</strong>de.<br />
Die Friedenstaube<br />
die Taube <strong>in</strong> den Schulen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den auf<br />
die Geschichte <strong>der</strong> Synagoge und <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />
dem Ort aufmerksam machen. Landrat Ir l<strong>in</strong>ger<br />
vom Landkreis Erlangen-Höchstadt schickte<br />
die Taube nach Baiersdorf zum Bürgermeister<br />
Galster.<br />
Aus unserer Sicht e<strong>in</strong>e hervorragende Idee,<br />
um an die dunkle Geschichte zu er<strong>in</strong>nern, bei<br />
ihrer Aufarbeitung mitzuwirken und Kontakte<br />
zu den Geme<strong>in</strong>den herzustellen.<br />
Die JKG Erlangen hat Christof Eberstadt als<br />
„Beauftragten <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
Erlangen für die alte jüdische Geme<strong>in</strong>de“ bestellt.<br />
Er wird zukünftig dazu beitragen, dass<br />
das Gedächtnis an die ehemalige Geme<strong>in</strong>de<br />
bewahrt und gesichert wird. Herr Eberstadt<br />
ist 61 Jahre alt und selbstständig. Er beschäftigt<br />
sich seit 30 Jahren mit <strong>der</strong> Erforschung<br />
se<strong>in</strong>er Vorfahren aus Worms und <strong>der</strong>en Verbreitung<br />
über die Welt. In dieser Tätigkeit ist<br />
er seit 15 Jahren Mitglied von Jewish Gen <strong>in</strong><br />
den USA und er hat weltweit Kontakte zu<br />
Menschen geknüpft, die sich dem gleichen<br />
Lebensthema verschrieben haben. Als Bewohner<br />
Erlangens hat er <strong>in</strong> den vergangenen<br />
Jahren se<strong>in</strong> Augenmerk zusätzlich verstärkt<br />
auf die Erforschung <strong>der</strong> fränkisch-jüdischen<br />
Geschichte gerichtet. Wir freuen uns, ihn für<br />
unsere Belange gewonnen zu haben.<br />
Das erste Freie Jüdische Lehrhaus<br />
Erlangen (EFJLƎ)<br />
Von Rabb<strong>in</strong>er Dan Danieli<br />
Das erste Freie Jüdische Lehrhaus Erlangen<br />
(EFJLƎ) hat sich zum Ziel gesetzt, Wissen<br />
über jüdische Religion und Kultur an Juden<br />
und Nichtjuden aus <strong>der</strong> Region zu vermitteln.<br />
E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Schwerpunkte des Jüdischen Lehrhauses<br />
liegt darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frage, wie<br />
jüdische Menschen, die <strong>der</strong>zeit kaum Kontakte<br />
zur Geme<strong>in</strong>de o<strong>der</strong> zu an<strong>der</strong>en jüdischen<br />
E<strong>in</strong>richtungen pflegen, dafür gewonnen werden<br />
können, sich wie<strong>der</strong> aktiv mit ihrem Glauben<br />
bzw. ihrer Herkunft ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu setzen.<br />
Hierbei ersche<strong>in</strong>t es notwendig, bessere<br />
Kenntnisse über <strong>der</strong>en Lebensstile, Interessen<br />
und Ressourcen, aber auch eventuelle Barrieren<br />
für e<strong>in</strong>en Kontakt zu jüdischen E<strong>in</strong>richtungen<br />
zu erlangen.<br />
Der Prozess <strong>der</strong> Assimilation fand schon bei<br />
dem Auszug aus Ägypten, bei <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>ung<br />
durch die Wüste S<strong>in</strong>ai, statt. Und heute bef<strong>in</strong>den<br />
wir uns auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> jüdischen<br />
Assimilation. Im Durchschnitt <strong>leben</strong> mehr als<br />
40 Prozent <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diaspora <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Mischehe. Derzeit <strong>leben</strong> <strong>in</strong> Erlangen und<br />
Umgebung schätzungsweise mehrere tausend<br />
Personen jüdischen Glaubens sowie <strong>der</strong>en<br />
Angehörige. Davon s<strong>in</strong>d ca. 30 Prozent Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>.<br />
Studien ergaben, dass nur 50 Prozent <strong>der</strong> Zuwan<strong>der</strong>er<br />
aus den Ex-Sowjetstaaten e<strong>in</strong>e Mitgliedschaft<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er jüdischen Geme<strong>in</strong>de erwerben.<br />
Von diesen ist wie<strong>der</strong>um nur e<strong>in</strong> Teil im<br />
Geme<strong>in</strong>de<strong>leben</strong> aktiv, noch weniger Personen<br />
nutzen bisher Bildungsangebote. Zudem <strong>leben</strong><br />
auch jüdische Studierende und israelische Familien<br />
<strong>in</strong> Erlangen, die we<strong>der</strong> Gottesdienste<br />
besuchen noch Unterrichtsangebote nutzen.<br />
Wir müssen die religiösen Angebote für Menschen<br />
jüdischen Glaubens sowie <strong>der</strong>en Angehörige<br />
verbessern und die Vermittlung jüdischer<br />
Religion, Tradition und Kultur attraktiver<br />
gestalten.<br />
E<strong>in</strong> weiteres wichtiges Ziel ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>terreligiöse<br />
Dialog mit allen Religionsgeme<strong>in</strong>schaften<br />
und <strong>der</strong> Bevölkerung <strong>in</strong> unserer Region. Hier<br />
möchten wir mehr Wissen über das Judentum<br />
vermitteln und Verständnis und Toleranz erreichen.<br />
Das Bildungsangebot richtet sich an alle jüdischen<br />
und nichtjüdischen Menschen <strong>in</strong> Erlangen<br />
und im Landkreis.<br />
Unsere nächste Veranstaltung:<br />
Auge um Auge<br />
Am: 15. 12. 2013 um 11.30 Uhr, E<strong>in</strong>tritt frei<br />
Ort: Ge me<strong>in</strong>dehaus, Rathsbergerstraße 8b,<br />
91054 Erlangen<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e Phrase, die von böswilligen Menschen<br />
häufiger im Zusammenhang mit dem<br />
Judentum zitiert wurde als „Auge um Auge“?<br />
Wie kaum e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Satz aus <strong>der</strong> Tora ist<br />
dieser sprichwörtlich geworden. So sprichwörtlich,<br />
dass niemand mehr weiß, dass die<br />
Unterstellung aus antijüdischer Polemik<br />
stammt. Diese behauptet, das Judentum sei<br />
e<strong>in</strong>e Religion, die nach dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Vergeltung<br />
Recht spricht, im Gegensatz zum<br />
Christentum, dem das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Nächstenliebe<br />
zugrunde liege. Wir werden zeigen, dass<br />
es sich bei <strong>der</strong> üblichen Auslegung des Bibelwortes<br />
um e<strong>in</strong>e Verzerrung und böswillige<br />
Verdrehung se<strong>in</strong>es wahren S<strong>in</strong>nes handelt.<br />
Um auf den 60. Geburtstag <strong>der</strong> UN-Menschenrechte<br />
aufmerksam zu machen, schuf<br />
<strong>der</strong> Künstler Richard Hill<strong>in</strong>ger 2008 bronzene<br />
Tauben. Seither fliegen sie mit e<strong>in</strong>em Olivenzweig<br />
im Schnabel als Symbol für den Frieden<br />
durch die Welt. Dieser schöne Brauch erreichte<br />
nun auch die Jüdische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
Erlangen, wo sie den Namen „Yonat Hatschuwa“<br />
erhielt. Yonat heißt Taube und Hatschuwa<br />
hat die Bedeutungen: Antwort auf e<strong>in</strong>e Frage,<br />
Rückkehr, etwas Neues mitbr<strong>in</strong>gen.<br />
Von uns aus fliegt Yonat Hatschuwa <strong>in</strong> die<br />
Geme<strong>in</strong>den des Landkreises Erlangen-Höchstadt,<br />
um sich dort auf den Plätzen <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Synagogen nie<strong>der</strong>zulassen. Danach wird<br />
Übergabe <strong>der</strong> Friedenstaube, v. l<strong>in</strong>ks: Ester Klaus, Vorsitzende <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de Erlangen,<br />
Eberhard Irl<strong>in</strong>ger, Landrat des Landkreises Erlangen-Höchstadt, Rabb<strong>in</strong>er Dani Danieli und Christof Eberstadt,<br />
Beauftragter <strong>der</strong> Jüdischen Kultusgeme<strong>in</strong>de Erlangen für die alte jüdische Geme<strong>in</strong>de.<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 23
Hof<br />
Konzert mit Igor Milste<strong>in</strong><br />
In Kooperation mit dem Zentralrat <strong>der</strong> Juden<br />
<strong>in</strong> Deutschland gab Igor Milste<strong>in</strong> am 9. Juni<br />
e<strong>in</strong> Konzert <strong>in</strong> unserer Geme<strong>in</strong>de. Dazu kamen<br />
auch viele Gäste von außerhalb <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>desaal war mit fast<br />
100 Besuchern sehr gut gefüllt.<br />
Familientag<br />
E<strong>in</strong>e Woche später, am 16. Juni, feierten wir<br />
unseren jährlichen Familientag. Diese Veranstaltung<br />
ist beson<strong>der</strong>s den Familien mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
gewidmet. Das Jugendzentrum, unter<br />
<strong>der</strong> Leitung von Mar<strong>in</strong>a P<strong>in</strong>is und Lena Tykvatch,<br />
bereitete für die K<strong>in</strong><strong>der</strong> Spiele, Quiz<br />
und viele an<strong>der</strong>e Attraktionen vor. E<strong>in</strong>ige<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche führten zusammen<br />
mit unseren Chor „Shalom“ unter <strong>der</strong> Leitung<br />
von Alla Uritzkaya verschiedene Tänze und<br />
Lie<strong>der</strong> auf. Unsere Köch<strong>in</strong> Inge Schwalb bereitete<br />
leckere Salate und an<strong>der</strong>e Gerichte.<br />
Weitere Speisen wurden anschließend von Dr.<br />
Khasani und Efraim Geissler frisch auf dem<br />
Grill zubereitet. Das Programm wurden neben<br />
dem Ensemble „Shalom“ auch noch von<br />
den Gebrü<strong>der</strong>n Landsmann musikalisch untermalt.<br />
Die Hohen Feiertage<br />
Anfang September begann mit Rosc h Haschana<br />
<strong>der</strong> Feiertagsmarathon. Wie bereits im<br />
letzten Jahr luden wir zur Unterstützung unseres<br />
Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>abb<strong>in</strong>ers den jungen Kantor<br />
Moishe Kaplan <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>.<br />
Vor Jom Kippur besuchte die Hofer Geme<strong>in</strong>de<br />
den jüdischen Friedhof. Dort gedachten<br />
wir <strong>der</strong> Verstorbenen, beson<strong>der</strong>s auch <strong>der</strong><br />
142 auf dem Hofer jüdischen Friedhof begrabenen<br />
KZ-Häftl<strong>in</strong>ge.<br />
Unseren Schabbat-Gottesdienst am 21. September<br />
besuchte <strong>der</strong> „Vere<strong>in</strong> für Israel“ zusammen<br />
mit Markus Büttner, dem Inhaber<br />
des Israelladens, und wir feierten geme<strong>in</strong>sam<br />
mit den Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n den Kiddusch.<br />
An dieser Stelle möchten wir uns<br />
nochmal ganz herzlich bei unserer Köch<strong>in</strong><br />
Inge Schwalb bedanken, die uns trotz des<br />
ganzen Feiertagsstresses immer wie<strong>der</strong> mit<br />
köstlichen Speisen verwöhnte.<br />
Jugendzentrum<br />
Jeden Sonntag trifft sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
unser Jugendzentrum. Mar<strong>in</strong>a P<strong>in</strong>is, die<br />
Leiter<strong>in</strong> des Jugendzentrums, bereitet für<br />
die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen verschiedene<br />
Spiele, Bastelarbeiten o<strong>der</strong> Ausflüge vor. So<br />
besuchten die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen den<br />
Zirkus Krone und sie machten e<strong>in</strong>en Ausflug<br />
<strong>in</strong> den Europapark. Frau P<strong>in</strong>is nutzt aber auch<br />
die Zeit mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und vermittelt noch<br />
Wissen zu den Themen jüdische Tradition und<br />
Feiertage. Auf diesem Weg möchten wir uns<br />
auch nochmal ganz herzlich bei Mar<strong>in</strong>a für<br />
ihren ehrenamtlichen E<strong>in</strong>satz im Jugendzentrum<br />
bedanken.<br />
Club Injan<br />
Unser Club „Injan“ trifft sich 14-tägig <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Geme<strong>in</strong>de und richtet sich an alle Mitglie<strong>der</strong>.<br />
Der Club veranstaltet verschiedene Vorlesungen<br />
und Informationsveranstaltungen zu den<br />
Themen Judentum, Literatur, Kunst, Musik<br />
und Heimat. Es ist mit Sicherheit nicht immer<br />
e<strong>in</strong>fach für die Leiter<strong>in</strong> des Clubs Riva Lev<strong>in</strong><br />
und ihren Ehemann Evgenij Lev<strong>in</strong> alles ehrenamtlich<br />
so gut zu organisieren, aber beide machen<br />
es wirklich sehr gut und es gel<strong>in</strong>gt ihnen<br />
immer wie<strong>der</strong>, die verschiedenen Interessen<br />
und Wünsche <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> unter<br />
e<strong>in</strong>en Hut zu br<strong>in</strong>gen.<br />
Ensemble Shalom<br />
Unser Geme<strong>in</strong>dechor „Shalom“ trat auch <strong>in</strong><br />
diesem Jahr wie<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Leitung von<br />
Alla Uritzkaya bei <strong>der</strong> Hofer Kulturnacht im<br />
Juni auf und er beteiligte sich mit e<strong>in</strong>em Auftritt<br />
am 18. Oktober <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hofer Volkshochschule<br />
an <strong>der</strong> <strong>in</strong>terkulturellen Woche. Das<br />
Ensemble „Shalom“ unterstützt schon seit<br />
vielen Jahren die Geme<strong>in</strong>de bei den verschiedenen<br />
Festen und Veranstaltungen.<br />
Ausflug nach Dresden und Meißen<br />
Am Sonntag, 6. Oktober, fuhr die ganze Geme<strong>in</strong>de<br />
nach Dresden und Meißen. In Dresden<br />
besuchten wir die Jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />
und e<strong>in</strong>e Kunstausstellung und <strong>in</strong> Meißen die<br />
Porzellan-Manufaktur. E<strong>in</strong>ige Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />
nutzten die restliche Zeit und entdeckten<br />
die Stadt auf eigenen Füßen.<br />
Chanukka-Party<br />
Am Sonntag, dem 1. Dezember 2013, f<strong>in</strong>det<br />
unsere jährliche Chanukka-Party statt.<br />
Der Vorstand <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Hof<br />
wünscht allen Mitglie<strong>der</strong>n, Freunden und Bekannten<br />
Chanukka Sameach.<br />
Regensburg<br />
Die Hohen Feiertage<br />
In diesem Jahr haben die Hohen Feiertage<br />
beson<strong>der</strong>s früh begonnen. Zu den Festtagen<br />
war die Synagoge gut besucht. Viele Gäste ka-<br />
men gerne, um sich <strong>in</strong> die Augenblicke <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />
E<strong>in</strong>kehr zu vertiefen. Rabb<strong>in</strong>er Josef<br />
Chaim Bloch führte die Betenden mit viel<br />
Kawwana durch die Gebete. Se<strong>in</strong>e Schiurim<br />
über die jüdischen Feste im Monat Tischri,<br />
se<strong>in</strong>e Ansprachen nach <strong>der</strong> Lesung <strong>der</strong> Tora<br />
und beim geme<strong>in</strong>samen Kiddusch sowie <strong>der</strong><br />
Klang des Schofars gaben Impulse <strong>in</strong> den Alltag<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Oberbürgermeisterr Hans Schaid<strong>in</strong>ger<br />
war am Jom Kippur bei dem herrlichen<br />
Kiddusch <strong>der</strong> Familie Danziger dabei<br />
und überbrachte <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de zum neuen<br />
Jahr die Grüße <strong>der</strong> Stadt.<br />
Zum fünften Mal wurde die Sukka, die 1912<br />
im Innenhof des Geme<strong>in</strong>dehauses e<strong>in</strong>gebaut<br />
wurde, wie<strong>der</strong> hergerichtet. Sie bietet fast <strong>der</strong><br />
ganzen Geme<strong>in</strong>de Platz, sodass wir uns dort<br />
auch <strong>in</strong> diesem Jahr wie<strong>der</strong> oft zum Feiern<br />
versammeln konnten. Unser Rabb<strong>in</strong>er erklärte<br />
nochmals die Bedeutung des Festes und <strong>der</strong><br />
Sukka, wo wir an den Festtagen und am<br />
Schabbat Chol haMoed bei gutem Essen und<br />
Tr<strong>in</strong>ken feierten.<br />
Vor den nächsten Feiertagen hat unser Rabb<strong>in</strong>er<br />
über Hoschana Rabba und Schem<strong>in</strong>i Azeret<br />
gesprochen. An diesen Festen waren bei<br />
uns zu Gast Prof. Dr. Mosche Izchaki und<br />
Prof. Dr. Ben-Zion Rosenfeld von <strong>der</strong> Bar-<br />
Ilan-Universität <strong>in</strong> Israel. Am Simchat Tora<br />
schließlich wurden alle Tora-Rollen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
großen Prozession mit Tanz und Gesang sieben<br />
Mal um die Bima getragen. Dieses Jahr<br />
hatten alle Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> die Möglichkeit,<br />
die Mizwa des Lulaw-Schüttelns zu erfüllen.<br />
Nach den Hohen Feiertagen, am 6. Oktober,<br />
hat unser Rabb<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>e Lehrstunde<br />
unter dem Titel „Schabbat-Gebote“ durchgeführt.<br />
Herbst-Schachturnier<br />
Es ist schon e<strong>in</strong>e Tradition geworden, jährlich<br />
Turniere zwischen Schachfreunden <strong>der</strong> jüdischen<br />
Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern durchzuführen:<br />
das Turnier im Frühl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Augsburg und das<br />
Herbstturnier <strong>in</strong> Regensburg. Die Schachwettkämpfe<br />
helfen, die Integration zu verbessern<br />
und die Kontakte zu an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>den<br />
und zu Mitglie<strong>der</strong>n des deutschen<br />
Schachklubs zu verstärken. Das bestens organisierte<br />
bayerische Schachturnier, <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung<br />
an Otto Schwerdt s. A. und Anatoliy<br />
Shapiro s. A., fand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>-<br />
24 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
de Regensburg statt. Am Turnier am 20. Oktober<br />
haben zwölf Mannschaften mit 45<br />
Schachspielern aus den Jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />
Augsburg, Bamberg, Erlangen, Fürth, Hof,<br />
München, Nürnberg, Regensburg und Weiden<br />
teilgenommen. In ihrer Begrüßung er<strong>in</strong>nerte<br />
Ilse Danziger, Vizepräsident<strong>in</strong> des <strong>Landesverband</strong>es<br />
<strong>der</strong> IKG <strong>in</strong> Bayern und Vorstandsmitglied<br />
<strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Regensburg,<br />
an Otto Schwerdt s. A., Mitbegrün<strong>der</strong> des<br />
Schachklubs <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de und<br />
selbst begeisterter Schachspieler, und an Anatoliy<br />
Shapiro s. A., ehemaliger eifriger Spieler<br />
und aktiver Organisator.<br />
Die Turnier-Ergebnisse:<br />
Die Mannschaftsmeisterschaft gewann die<br />
Mannschaft München 1, den 2. Platz Regensburg<br />
1 und den 3. Platz die Mannschaft Augsburg-Hof.<br />
Die E<strong>in</strong>zelmeisterschaft: 1.Platz Roman Vidonyak<br />
aus München, gefolgt von Nellya Vidonyak<br />
aus München und Paul Gaydar aus Regensburg.<br />
Nestorenmeister: Boris Miskevicer aus München;<br />
Seniorenmeister: Nikolay Shalnev aus<br />
Nürnberg; Juniorenmeister: Noam Bergaus<br />
aus München; Frauen meister<strong>in</strong>: Olga Shalneva<br />
aus Nürnberg. Ältester Schachspieler Leonid<br />
Rybak aus München und jüngster Teilnehmer<br />
Igal Bergaus aus Bamberg.<br />
Alle Sieger erhielten Pokale, Urkunden und<br />
Preise von den Vorständen Volodymyr Barskyy<br />
und Jakov Denyssenko. Große Unterstützung<br />
bei Organisation und Durchführung<br />
des Schachturniers gab es vom städtischen<br />
Schachklub RT und se<strong>in</strong>em Leiter Mart<strong>in</strong><br />
Grasser. Schiedsrichter war Isaak Urbach aus<br />
Augsburg.<br />
Straub<strong>in</strong>g<br />
Synagogen-Renovierung<br />
Den ganzen August nutzten wir für umsichtige<br />
Instandhaltungen an <strong>der</strong> Synagoge. Feuchtigkeitsflecken<br />
im Foyer des e<strong>in</strong>zigen jüdischen<br />
Kultbaus <strong>in</strong> Nie<strong>der</strong><strong>bayern</strong> schreckten<br />
uns auf. An <strong>der</strong> Fassade hatten sich auf <strong>der</strong><br />
Balustrade und im Dachbereich undichte Stel-<br />
Familenhaus-Eröffnung mit Vorstandsmitglied Anatoli<br />
Zap.<br />
len im über 100-jährigen Gebäude gebildet.<br />
Auch die Stabilität <strong>der</strong> granitenen Freitreppe,<br />
ursprünglich nur mit Bauschutt unterfüllt, hatte<br />
beson<strong>der</strong>s durch den harten W<strong>in</strong>ter gelitten.<br />
Für die Feiertage stoppten wir die Arbeiten,<br />
die jetzt wie<strong>der</strong> aufgenommen wurden.<br />
Die Hohen Feiertage<br />
Wie jedes Jahr zu Rosch Haschana und Jom<br />
Kippur kamen viele unserer Mitglie<strong>der</strong> zur<br />
Synagoge, um zu beten und zu feiern. In se<strong>in</strong>er<br />
Ansprache wies <strong>der</strong> Vorsitzende Israel<br />
Offman daraufh<strong>in</strong>, wie sehr er sich freue, dass<br />
viele unserer Mitglie<strong>der</strong> wenigstens an den<br />
Feiertagen den Weg zur Synagoge f<strong>in</strong>den,<br />
denn e<strong>in</strong>e volle Synagoge sichert den Fortbestand<br />
<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de und des Judentums. Mit<br />
e<strong>in</strong>em Augenzw<strong>in</strong>kern erwähnte er, dass es<br />
die sogenannten „Feiertagsjuden“ immer<br />
schon <strong>in</strong> Straub<strong>in</strong>g gab. Es folgten Sukkot mit<br />
Kidduschim <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sukka, und mit e<strong>in</strong>em großen<br />
Simchat-Tora-Ball endete diese beson<strong>der</strong>e<br />
Zeit.<br />
Drei auf <strong>der</strong> Arche<br />
Am 30. September fand <strong>in</strong> den Räumen <strong>der</strong><br />
Geme<strong>in</strong>de die Mitglie<strong>der</strong>versammlung <strong>der</strong><br />
Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammen<br />
arbeit statt. Unmittelbar vorher führte<br />
das K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendtheater Raduga das<br />
Stück „Drei auf <strong>der</strong> Arche“ auf. Die h<strong>in</strong>reißende<br />
Musik, die bunten Kostüme und das<br />
prächtige Spiel <strong>der</strong> jungen Schauspieler bescherten<br />
uns e<strong>in</strong> unvergessliches Erlebnis.<br />
Familienhaus<br />
Am 6. Oktober wurde mit e<strong>in</strong>em Festakt das<br />
Familienhaus, das dem Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>der</strong> Generationen<br />
und Kulturen dienen soll und von<br />
<strong>der</strong> Evangelischen Christuskirche erbaut wurde,<br />
feierlich e<strong>in</strong>geweiht. Vorstandsmitglied<br />
Anatoli Zap vertrat die Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />
und versicherte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Grußwort,<br />
dass sich die Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de als<br />
Teil <strong>der</strong> Straub<strong>in</strong>ger Familie fühlt.<br />
Würzburg<br />
Der jüdische Friedhof am David-Schuster-<br />
Weg ist für die auf 1000 Mitglie<strong>der</strong> angewachsene<br />
Geme<strong>in</strong>de zu kle<strong>in</strong> geworden. Der Begräbnisplatz<br />
im Würzburger Stadtteil Lengfeld<br />
war am 4. Juli 1882 e<strong>in</strong>geweiht worden.<br />
Der älteste <strong>der</strong> etwa 700 Grabste<strong>in</strong>e, für<br />
Amalie Bechhöfer, trägt das Datum 1881. E<strong>in</strong><br />
Friedhofshaus mit e<strong>in</strong>er Taharahalle bef<strong>in</strong>det<br />
sich vor dem Haupte<strong>in</strong>gang.<br />
Jetzt soll dieser Friedhof erweitert werden.<br />
E<strong>in</strong> angrenzendes Grundstück bef<strong>in</strong>det sich<br />
bereits seit zehn Jahren im Besitz <strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultusgeme<strong>in</strong>de. „Wir brauchen dr<strong>in</strong>gend<br />
mehr Platz für Gräber, weil wir durch<br />
die Zuwan<strong>der</strong>ung von Mitglie<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />
ehemaligen Sowjetunion sehr stark gewachsen<br />
s<strong>in</strong>d, wie die an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>den auch“, sagt<br />
Geme<strong>in</strong>devorsitzen<strong>der</strong> Dr. Josef Schuster,<br />
„bislang fehlten uns allerd<strong>in</strong>gs die notwendigen<br />
f<strong>in</strong>anziellen Mittel“. Nun will <strong>der</strong> Würzburger<br />
Stadtrat für die neue Anlage 580.000<br />
Euro im städtischen Haushalt bereitstellen.<br />
Die notwendigen Baumaßnahmen werden<br />
wohl etwa e<strong>in</strong> Jahr dauern. Mit den ersten Belegungen<br />
kann ab Anfang 2015 gerechnet<br />
werden.<br />
bere.<br />
E<strong>in</strong>stimmung auf den Schabbat<br />
Simchat Tora-Ball mit dem Geme<strong>in</strong>devorsitzenden Israel Offman<br />
Radio Schalom des <strong>Landesverband</strong>es<br />
<strong>der</strong> <strong>Israelitischen</strong><br />
Kultus geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern<br />
sendet das 2. Hörfunkprogramm<br />
des Bayerischen Rundfunks<br />
jeden Freitag von 15.05 bis 15.20 Uhr<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 25
SERIE<br />
Jüdische Landgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern (35)<br />
Von Michael Schneeberger<br />
„Der Juden Häuser samt<br />
<strong>der</strong> umgebenden Mauern“<br />
Geschichte <strong>der</strong><br />
Juden von Gaukönigshofen<br />
In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
war Arieh Chazor aus Haifa mit se<strong>in</strong>er<br />
Gatt<strong>in</strong> Rifka Verwalter des jüdischen Altersheimes<br />
<strong>in</strong> Würzburg. Vor se<strong>in</strong>er Emigration <strong>in</strong><br />
den Dreißigerjahren war er als Ludwig Königshöfer<br />
<strong>in</strong> Köln geboren und än<strong>der</strong>te se<strong>in</strong>en<br />
Familiennamen <strong>in</strong> Israel <strong>in</strong> „CHAZOR“, <strong>der</strong><br />
hebräischen Übersetzung des Wortes „Königshof“.<br />
Arieh war e<strong>in</strong> Nachkomme des um 1800 geborenen<br />
Lehrers und Rabb<strong>in</strong>ers Mendel Löb<br />
Arieh Königshöfer aus Welbhausen bei Uffenheim,<br />
dessen Sohn Moses Jonas Direktor<br />
des jüdischen Waisenhauses <strong>in</strong> Fürth und die<br />
halachische Autorität se<strong>in</strong>er Zeit für die gesetzestreuen<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fürther Geme<strong>in</strong>de<br />
war. Er entstammte e<strong>in</strong>er großen orthodoxen<br />
Familie, die auch mit den rabb<strong>in</strong>ischen<br />
Familien Bamberger und Schönfeld eng verwandt<br />
ist.<br />
Auch wenn wir den Ursprung von Familie Königshöfer<br />
<strong>in</strong> den jüdischen Standesregistern<br />
nicht bis <strong>in</strong> den Ort Königshofen im Ochsenfurter<br />
Gau zurückverfolgen können, so ist<br />
doch anzunehmen, dass die Familie ursprünglich<br />
aus diesem Dorf auf dem halben Weg<br />
zwischen den Städten Aub und Würzburg<br />
stammt, die schon im hohen Mittelalter bekannte<br />
jüdische Geme<strong>in</strong>den beherbergten. In<br />
dem ausführlichen dreibändigen Werk von<br />
Karl He<strong>in</strong>z Müller, Simon Schwarzfuchs und<br />
Rami Re<strong>in</strong>er [Würzburg 2011] über die vor<br />
dreißig Jahren im Würzburger Stadtteil Pleich<br />
aufgefundenen mittelalterlichen jüdischen<br />
Grabste<strong>in</strong>e werden auch die ursprünglichen<br />
Heimatorte mancher <strong>der</strong> dort Bestatteten wie<br />
Grünsfeld, Tauberbischofsheim und Rött<strong>in</strong>gen<br />
erwähnt, die unweit unseres Dorfes schon<br />
vom 12. bis <strong>in</strong>s 14. Jahrhun<strong>der</strong>t jüdische Ansiedlungen<br />
kannten.<br />
Der Ort Königshofen im Gau<br />
In <strong>der</strong> Regierungszeit Karls des Großen wurde<br />
<strong>in</strong> Süddeutschland im achten Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Zeitrechnung e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />
von Königshöfen errichtet, die weiterh<strong>in</strong> diesen<br />
Namen trugen, wie zum Beispiel das badische<br />
Königshofen bei Bad Mergentheim, das<br />
im nördlichen Unterfranken bef<strong>in</strong>dliche Bad<br />
Königshofen im Grabfeld und unser Königshofen<br />
im Gau, das schon bald zur Unterscheidung<br />
zu den an<strong>der</strong>en gleich benannten Orten<br />
Gaukönigshofen genannt wurde. Bis <strong>in</strong> unsere<br />
Zeit kommt es allerd<strong>in</strong>gs trotzdem immer<br />
noch zu Verwechslungen, wie man zum Beispiel<br />
am 2004 <strong>in</strong> München erschienenen Rabb<strong>in</strong>erhandbuch<br />
von Brocke, Carlebach und<br />
Wilke sehen kann, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Geburtsort des<br />
Marktstefter Distriktsrabb<strong>in</strong>ers Faust Löw<br />
Thalheimer mit Bad Königshofen angegeben<br />
wird, obwohl er <strong>in</strong> unserem Gaukönigshofen<br />
als Mitglied e<strong>in</strong>er bedeutenden lokalen Familien<br />
das Licht <strong>der</strong> Welt erblickte.<br />
Auch wenn wir von e<strong>in</strong>er jüdischen Ansiedlung<br />
<strong>in</strong> Gaukönigshofen und dem benachbarten,<br />
heute e<strong>in</strong>geme<strong>in</strong>deten Acholshausen erst<br />
ab dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t wissen, so ist doch<br />
wie <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en bayrischen Landgeme<strong>in</strong><br />
den anzunehmen, dass die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region<br />
ansässigen Juden, die vor allem im Kle<strong>in</strong>handel<br />
und mit dem Verleih von Kle<strong>in</strong>krediten<br />
ihren Lebensunterhalt verdienten, schon sehr<br />
viel früher <strong>in</strong> <strong>der</strong> wirtschaftlichen und sozialen<br />
Landschaft des Ochsenfurter Gaus zu Hause<br />
waren.<br />
Durch die beson<strong>der</strong>en politischen Verhältnisse<br />
<strong>in</strong> Gaukönigshofen während des alten<br />
Reichs lässt sich für die Geschichte <strong>der</strong> bayrischen<br />
Juden hier manches exemplarisch aufzeigen.<br />
Vor allem die oft sehr verwickelten<br />
politischen Verhältnisse <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Herrschaften geben e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck davon,<br />
wie sich die süddeutsche jüdische Bevölkerung<br />
neben den christlichen Nachbarn zu behaupten<br />
verstand, wenn auch H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse verschiedener<br />
Art <strong>in</strong> den Weg gelegt wurden.<br />
Gaukönigshofen ist auf Grund se<strong>in</strong>er Zugehörigkeit<br />
zum Hochstift Würzburg bis zum heutigen<br />
Tag e<strong>in</strong> hauptsächlich katholischer Ort,<br />
<strong>der</strong> auf Grund se<strong>in</strong>er Lage mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
fruchtbaren Ebene immer sehr vermögend<br />
war. Körner, Schmid und Ott schreiben <strong>in</strong><br />
ihrer topographischen Abhandlung von 2006<br />
[S. 162] hierzu: „Inmitten des Ochsenfurter<br />
Gaus gelegen, steht <strong>der</strong> Ort für den Typus des<br />
wohlhabenden fränkischen Bauerndorfes.“<br />
Somit kann man also auch annehmen, dass<br />
die meisten Gaukönigshöfer Juden, die mit<br />
ihren christlichen Nachbarn Handel trieben,<br />
ebenfalls – im Vergleich zu ihren ärmeren<br />
Glaubensgenossen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rhön o<strong>der</strong> den<br />
Hassbergen – zu den Wohlhaben<strong>der</strong>en gehörten.<br />
Wir sehen dies später vor allem an <strong>der</strong><br />
Geschichte <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zigen geadelten Familie <strong>in</strong><br />
Bayern, von Hirsch auf Gereuth, die, aus<br />
Gaukönigshofen stammend, damals für das<br />
Adelsprivileg ihre Zugehörigkeit zur jüdischen<br />
Religion nicht aufgegeben hat.<br />
Der Freihof<br />
Wie schon so oft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> jüdischen<br />
Landgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Bayern, die wir <strong>in</strong><br />
den letzten Jahren betrachtet haben, s<strong>in</strong>d<br />
auch <strong>in</strong> Gaukönigshofen die ersten Juden <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Mitte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts durch die Vertreibung<br />
aus den großen Städten und den<br />
geistlichen Gebieten aufgenommen worden.<br />
Bischof Friedrich von Wirsberg begann 1559<br />
die Juden aus dem Bistum Würzburg zu vertreiben,<br />
1573 wurde diese Verfolgung <strong>der</strong> Juden<br />
durch Julius Echter, <strong>der</strong> auch den Würzburger<br />
Judenfriedhof enteignete, vollendet.<br />
Der erste Jude, <strong>der</strong> nachweislich im ritterschaftlichen<br />
Freihof aufgenommen wurde,<br />
war Samuel, <strong>der</strong> unter Umständen 1553 aus<br />
dem schwarzenbergischen Marktbreit [siehe<br />
Aufsatz Serie Nr. 30] vertrieben, ke<strong>in</strong>en Schutz<br />
im hochstiftischen Hauptort erhalten hatte,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem von <strong>der</strong> bischöflichen Dorfherrschaft<br />
unabhängigen Freihof <strong>der</strong> Herren<br />
Kottwitz von Aulenbach Aufnahme fand. In<br />
<strong>der</strong> Mitte des Dorfes gelegen, lässt sich dieses<br />
Rittergut bis zum heutigen Tag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form<br />
e<strong>in</strong>es abgeschlossenen Wohnbereichs erkennen.<br />
Im Laufe <strong>der</strong> Geschichte gehörte <strong>der</strong> Freihof<br />
verschiedenen Herrschaften des ritterschaftlichen<br />
Adels wie den Kottwitz von Aulenbach,<br />
denen wir schon <strong>in</strong> Urspr<strong>in</strong>gen begegnet s<strong>in</strong>d<br />
[Serie Landgeme<strong>in</strong>den Nr. 32], seit 1682 den<br />
Faust von Stromberg und ab 1716 <strong>der</strong> Familie<br />
von Rosenbach an. Auch <strong>der</strong> Würzburger<br />
Bürgermeister und Rechtsanwalt Dr. Haan,<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Jahre die Strombergschen Geschäfte<br />
<strong>in</strong> Gaukönigshofen erledigt hatte und später<br />
dann das Rittergut im Jahr 1688 selbst<br />
übernahm, hatte für e<strong>in</strong>ige Zeit die herrschaftliche<br />
Hoheit über den Freihof. Während<br />
se<strong>in</strong>er Zeit wurden auf dem Rittergut e<strong>in</strong>e<br />
große Anzahl von Juden aufgenommen, die<br />
zum Teil <strong>in</strong> sehr beengten Wohnverhältnissen<br />
lebten, wie sich bis heute an den kle<strong>in</strong>en<br />
„Judenhäusern“ rund um die ehemalige Synagoge<br />
sehen lässt.<br />
Da <strong>der</strong> ritterschaftliche Adel seit 1548 offiziell<br />
vom Kaiser das Judenregal erhalten hatte,<br />
d.h. das Recht, den Judenschutz zu verleihen,<br />
hatten die Vertreibungen durch die Bischöfe<br />
und den alten Adel zur selben Zeit oft nur<br />
wenig Wirkung, denn die Bereitschaft, vertriebene<br />
Juden aufzunehmen, war nicht nur aus<br />
pekuniären Gründen vorhanden, son<strong>der</strong>n gehörte<br />
nunmehr auch zum Standesstatus <strong>der</strong><br />
Ritterschaft, und da viele <strong>der</strong> Reichsritter <strong>in</strong><br />
jenen Zeiten von Reformation und Gegenreformation<br />
evangelisch-lutherisch geworden<br />
waren, hatte die Aufnahme von Juden auch<br />
e<strong>in</strong>en politisch-religiösen H<strong>in</strong>tergrund: Konnte<br />
man doch so dem verhassten Würzburger<br />
Bischof Julius Echter e<strong>in</strong>es auswischen. An<br />
an<strong>der</strong>er Stelle zeigt dies <strong>der</strong> Prozess, den die<br />
unterfränkischen Juden zusammen mit <strong>der</strong><br />
Ritterschaft gegen Julius Echter vor dem<br />
Reichskammergericht <strong>in</strong> Wetzlar wegen <strong>der</strong><br />
Beschlagnahme des jüdische Friedhofs <strong>in</strong><br />
Würzburg anstrengten, wenn auch letztlich<br />
die Macht vor dem Recht gesiegt hatte.<br />
Die ersten Juden im Ort<br />
Besagter Jude Samuel, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>e Klage<br />
über e<strong>in</strong>e beschlagnahmte o<strong>der</strong> gestohlene<br />
„thunen her<strong>in</strong>g“ vor dem Stadtgericht Ochsenfurt<br />
als erster Königshöfer Jude <strong>in</strong>s Licht<br />
<strong>der</strong> Geschichte trat, gibt uns e<strong>in</strong> Beispiel für<br />
die Streitigkeiten und gegenseitigen Wi<strong>der</strong>wärtigkeiten,<br />
die im Ort zwischen Juden und<br />
Christen, Freihof und Hochstift und zwischen<br />
Arm und Reich gang und gäbe waren.<br />
Aus <strong>der</strong> Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg<br />
s<strong>in</strong>d außer unserem Samuel ke<strong>in</strong>e weiteren<br />
Schutzjuden erwähnt, was wohl auch daran<br />
liegen mag, dass, wie im ganzen damaligen<br />
Deutschen Reich, durch die Kriegswirren auch<br />
viele <strong>der</strong> damals eher spärlichen archivalischen<br />
Unterlagen vernichtet wurden.<br />
26 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Im Jahr 1689 allerd<strong>in</strong>gs lassen sich m<strong>in</strong>destens<br />
sechs jüdische Familien im nunmehr Haanschen<br />
Freihof nachweisen: Götz und se<strong>in</strong>e<br />
Ehefrau Rachel, Nathan und Rifka, des alten<br />
Aron Söhne, <strong>der</strong>en Schutz auf e<strong>in</strong>en Schwiegersohn<br />
Arons überg<strong>in</strong>g, Mendel und se<strong>in</strong>e<br />
Frau H<strong>in</strong>del sowie Aron und se<strong>in</strong>e Gatt<strong>in</strong> Jendele,<br />
die pro Jahr „zwehn Gulden fraenkisch<br />
Gülten <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de vor wasser und weidt zahlen“.<br />
[Michel, S. 46]<br />
Die Dissertation von<br />
Thomas Michel von 1988<br />
Dass wir aus dem örtlichen Geme<strong>in</strong>dearchiv<br />
solch ausführliche Informationen besitzen, ist<br />
dem Gaukönigshöfer Thomas Michel1 zu verdanken,<br />
<strong>der</strong> als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten <strong>in</strong> Unterfranken<br />
nach dem Krieg die Geschichte e<strong>in</strong>er hiesigen<br />
Kehilla erforscht hat, dabei neben den lokalen<br />
Archiven auch noch mit über<strong>leben</strong>de Gaukönigshöfer<br />
Juden sprechen und korrespondieren konnte<br />
und als E<strong>in</strong>heimischer auch an<strong>der</strong>e persönliche<br />
Quellen zur Verfügung hatte, die e<strong>in</strong>em Auswärtigen<br />
noch vor 25 Jahren verschlossen gewesen<br />
waren.<br />
Hierzu muss allerd<strong>in</strong>gs noch gesagt werden, dass<br />
<strong>in</strong> Gaukönigshofen vor und während <strong>der</strong> Nazi-<br />
Jahre, wie wir noch sehen werden, e<strong>in</strong> gutes Verhältnisse<br />
zwischen Juden und vielen Christen bestand.<br />
Somit ist dieses 1988 <strong>in</strong> Wiesbaden publizierte,<br />
über 700 Seiten umfassende Werk, neben me<strong>in</strong>en<br />
eigenen Forschungen im Staatsarchiv Würzburg,<br />
im Synagogenarchiv Kitz<strong>in</strong>gen, <strong>der</strong> Entdeckung<br />
<strong>der</strong> Liste des jüdischen Friedhofs des benachbarten<br />
Allersheim, woh<strong>in</strong> die Gaukönigshöfer Juden<br />
beerdigten, im Leo-Baeck-Institut <strong>in</strong> New York,<br />
Forschungen zur Familie von Hirsch auf Gereuth<br />
und neueren Publikationen wie dem Rabb<strong>in</strong>erhandbuch,<br />
die hauptsächliche Grundlage dieses<br />
kle<strong>in</strong>en Aufsatzes. Ich werde also im folgenden<br />
bei Erwähnungen aus <strong>der</strong> Michelschen Dissertation<br />
den Namen „Michel“ und die zugehörige<br />
Seitenzahl angeben, wo sich weitere Angaben<br />
über die Prov<strong>in</strong>ienz des Zitierten f<strong>in</strong>den werden.<br />
Streit von Anfang an<br />
Die renovierte Synagogengedenkstätte von Gaukönighofen.<br />
Die Echterschen Behörden haben, nachdem<br />
es ihnen nicht gelang, die Juden aus den ritterschaftlichen<br />
Gütern zu vertreiben, auf e<strong>in</strong>em<br />
an<strong>der</strong>en Weg versucht, die jüdische Bevölkerung<br />
zu schädigen. Sie versuchten um<br />
das Jahr 1574 die e<strong>in</strong>heimischen Juden von<br />
<strong>der</strong> Benutzung <strong>der</strong> für sie als Viehhändler <strong>leben</strong>snotwendigen<br />
Benutzung von Wald, Wasser<br />
und Weide auszuschließen. Michel bezieht<br />
sich hierbei auf e<strong>in</strong>e fragwürdige Abhandlung<br />
aus dem Jahr 1938, die sicherlich ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />
Betrachtung <strong>der</strong> Materie zur<br />
Grundlage hatte, wobei das oben erwähnte<br />
Faktum wahrsche<strong>in</strong>lich aber <strong>der</strong> Wahrheit<br />
entspricht.<br />
Auch hun<strong>der</strong>t Jahre später gab es <strong>in</strong> den Jahren<br />
1688 und 1689 immer noch diese Probleme,<br />
die sich durch die Geschichte <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
ziehen: Sei es <strong>der</strong> Fleischverkauf des<br />
für Juden verbotenen H<strong>in</strong>terviertels am R<strong>in</strong>d<br />
an die christlichen Nachbarn o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um<br />
<strong>der</strong> Streit um „Wasser und Weydth“, wie dann<br />
nochmals 1773 den nunmehr Rosenbachschen<br />
Schutzjuden des Freihofs We<strong>in</strong>-, Ste<strong>in</strong>bruchund<br />
Brunnenwassergenuß streitig gemacht<br />
wurde. In diesem Zusammenhang schreibt<br />
J. B. Graser im Jahr 1828 über die Wohnverhältnisse<br />
<strong>der</strong> Juden auf dem Lande, die sich <strong>in</strong><br />
Gaukönigshofen – sicherlich etwas abgemil<strong>der</strong>t<br />
– heute noch nachempf<strong>in</strong>den lassen:<br />
„Dehnt erst aus den Blick auf die Wohnplätze<br />
dieser Unglücklichen <strong>in</strong> den Dörfern, schaut sie<br />
an, die erbärmlichen Hütten und Ställe, <strong>in</strong> welchen<br />
zahlreiche Haufen ihr Obdach, nur von<br />
Frost und Witterung den unbequemsten Schutz<br />
f<strong>in</strong>den.“ [Michel, S. 51]<br />
Nach <strong>der</strong> Vertreibung unter Julius Echter, die<br />
nur zum Teil die erwünschte Wirkung zeigte,<br />
ließen Echters Nachfolger wie<strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />
das Hochstift, hatten doch die <strong>in</strong> den Rittergütern<br />
<strong>der</strong> Region Ansässigen weiterh<strong>in</strong> mit<br />
hochstiftischen Untertanen ihre Geschäfte getätigt,<br />
so dass 1621, fünfzig Jahre nach <strong>der</strong><br />
Vertreibung, zu Beg<strong>in</strong>n des Großen Krieges<br />
wie<strong>der</strong> 39 jüdische Familien im Hochstift<br />
Schutz gefunden haben.<br />
Auch <strong>in</strong> Gaukönigshofen wurden wenige Jahre<br />
später im Jahr 1636 mit <strong>der</strong> Familie des<br />
Moses die ersten Juden unter hochstiftischen<br />
Schutz genommen, so dass von nun an die<br />
jüdische Geme<strong>in</strong>de aus den Familien im Freihof<br />
und denen unter hochstiftischem Schutz<br />
bestand, was die Verhältnisse nicht e<strong>in</strong>facher<br />
machte, waren doch e<strong>in</strong>erseits verschiedene<br />
Gesetze, Vorschriften und Auflagen zu beachten,<br />
an<strong>der</strong>erseits sollte sich e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />
jüdisches Geme<strong>in</strong>de<strong>leben</strong> entwickeln, das über<br />
die verschiedenen herrschaftlichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
h<strong>in</strong>aus auf e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Grundlage<br />
funktionieren sollte.<br />
Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />
Wir können davon ausgehen, dass sich erst<br />
nach dem Dreißigjährigen Krieg e<strong>in</strong>e veritable<br />
jüdische Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Gaukönigshofen etabliert<br />
hat, die aus den wenigen hochstiftischen<br />
Juden [e<strong>in</strong>e bis drei Familien], <strong>der</strong>en Anzahl<br />
sich erst zu Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, vor<br />
allem durch die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Familie Hirsch<br />
auf sieben Familien erhöhte, und den bis<br />
Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf dreizehn Familien<br />
angewachsenen Rosenbachschen Schutzjuden,<br />
die im Freihof wohnten, bestand.<br />
Die Freihofschen Juden waren nach Michel<br />
zwar nicht zu Abgaben an das Hochstift und<br />
die politische Geme<strong>in</strong>de Gaukönigshofen verpflichtet,<br />
doch mussten sie für Wasser und<br />
Weide zahlen, was, wie schon erwähnt, immer<br />
wie<strong>der</strong> zu Problemen und Streitereien führte.<br />
Von nun an besaß die Geme<strong>in</strong>de sicherlich<br />
alle notwendigen E<strong>in</strong>richtungen e<strong>in</strong>er Kehilla<br />
wie Synagoge bzw. Betsaal und Mikwe. Der<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 27
1665 e<strong>in</strong>gerichteter Begräbnisplatz im nahen<br />
Allersheim, diente neben Gaukönigshofen<br />
auch den zahlreichen jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />
<strong>der</strong> Umgebung als Grabstätte.<br />
Die Synagoge<br />
Es muss m<strong>in</strong>destes seit dem Dreißigjährigen<br />
Krieg e<strong>in</strong>e Synagoge o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />
Betsaal im Freihof gegeben haben. Die<br />
Forschungen von Thomas Michel weisen auf<br />
e<strong>in</strong> erstes jüdisches Gotteshaus im Jahr 1768<br />
h<strong>in</strong>, das allerd<strong>in</strong>gs wohl schon sehr viel früher<br />
errichtet wurde. Es besteht auch die Möglichkeit,<br />
dass <strong>in</strong> den Anfangsjahren ihrer Ansiedlung<br />
die Gaukönigshöfer Juden <strong>in</strong>s zwei Kilometer<br />
entfernte Acholshausen zum Gottesdienst<br />
g<strong>in</strong>gen, wo sich schon seit Mitte des<br />
16. Jahrhun<strong>der</strong>ts e<strong>in</strong>e verhältnismäßig große<br />
jüdische Geme<strong>in</strong>de unter dem Schutz des<br />
Würzburger Stift Haug befand.<br />
Im Jahr 1790 wird e<strong>in</strong>e neue Synagoge errichtet,<br />
da nunmehr die Geme<strong>in</strong>de auf 17 Familien<br />
angewachsen war, was zum Wi<strong>der</strong>stand<br />
des katholischen Dorfpfarrers führte. Er<br />
schreibt an den Bischof: „Die allhiesige aus 17<br />
haushaltungen /: 1774 waren nur 13 :/ bestehende<br />
Judenschaft wolle e<strong>in</strong>e ganz neue auf freyherrlichen<br />
Rosenbachischen Grund und Boden<br />
zu sezende Synagoge bauen, welche 32 schuh<br />
lang 30 breit und 15 an Gemäuer hoch und mit<br />
8 Fenstern jedes 6 schuh hoch“ werden soll und<br />
merkt an, dass „die alte schul nur 19 schuh lang<br />
13 breit 10 hoch ist und nur 4 Fenster jedes a<br />
3½ schuh hoch hat“. Der Brief an die hochstiftische<br />
Regierung hatte zur Folge, dass diese<br />
sich an den Freiherrn von Rosenbach wandte<br />
und ihre Bedenken äußerte und es auf jeden<br />
Fall geboten sei, dass e<strong>in</strong> jüdisches Gotteshaus<br />
e<strong>in</strong>em normalen Bürgerhaus gleichen müsse.<br />
Da die Herrn von Rosenbach aber im Freihof<br />
völlig unabhängig waren und bauen konnten<br />
wie sie wollten, wurde dieses Schreiben des<br />
Bischofs nicht e<strong>in</strong>mal beantwortet und letztlich<br />
gestattete <strong>der</strong> geistliche Rat dann doch<br />
am Schabbat des 1. Oktobers 1790 die feierliche<br />
Überbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> während des Baus <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Privathaus untergebrachten Torarollen<br />
<strong>in</strong> das neue Gotteshaus, was darauf schließen<br />
lässt, dass <strong>der</strong> Freihof mit e<strong>in</strong>em Eruw aus<br />
Schabbatdrähten versehen war, da man am<br />
Schabbat tragen konnte. Im Jahr 1842 wird<br />
die Synagoge wie auch nochmals 1929 renoviert.<br />
In <strong>der</strong> Pogromnacht vom 10. November<br />
1938 wurde das Inventar und e<strong>in</strong> Großteil <strong>der</strong><br />
Ritualien verbrannt, auch wenn an<strong>der</strong>e christliche<br />
Dorfbewohner ihrer Abscheu über die<br />
Zerstörungen Ausdruck gaben. 1988 wurde<br />
die teilweise renovierte ehemalige Synagoge<br />
<strong>in</strong> Gaukönigshofen zur offiziellen Gedenkstätte<br />
<strong>der</strong> ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />
Landkreis Würzburg. E<strong>in</strong>e vergleichende Bil<strong>der</strong>sequenz<br />
zeigt <strong>in</strong> dem Bildband von Liedel/<br />
Dollhopf über „Jerusalem lag <strong>in</strong> Franken“<br />
den Zustand <strong>der</strong> Synagoge vor und nach <strong>der</strong><br />
Erneuerung2.<br />
Die Mikwe<br />
Im Gegensatz zur nicht unbed<strong>in</strong>gten Notwendigkeit<br />
e<strong>in</strong>er Synagoge – e<strong>in</strong> Betsaal erfüllt<br />
ebenfalls die halachischen Notwendigkeiten<br />
für e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>dlichen Versammlungsraum<br />
– hatte die jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Gaukönigshofen<br />
sicherlich immer e<strong>in</strong>e Mikwe, wobei<br />
auch hier unter Umständen am Anfang die<br />
Acholshäuser Juden ausgeholfen haben.<br />
Nachweislich war unter dem ersten Synagogenraum<br />
vor 1790 e<strong>in</strong>e Mikwe <strong>in</strong>stalliert, die<br />
1817 von e<strong>in</strong>em eigenen Ritualbadgebäude<br />
abgelöst wurde, das heute noch besteht und<br />
im Jahr 1988 ebenfalls restauriert wurde.<br />
Näheres über die Probleme, die sich im Lauf<br />
<strong>der</strong> Zeit mit e<strong>in</strong>em Ritualbad entwickeln können,<br />
gibt e<strong>in</strong> Akt des Landratsamts Ochsenfurt<br />
Nr. 3232 [1882 bis 1923] im Staatsarchiv<br />
Würzburg.<br />
Auf 96 Seiten werden verschiedene Vorkommnisse<br />
aufgezeigt, die sich im Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> Mikwe ergeben haben: So<br />
berichtet e<strong>in</strong>e größere Korrespondenz über<br />
e<strong>in</strong>en Besuch des Ritualbades im Jahr 1882<br />
durch Distriktsrabb<strong>in</strong>er Imanuel Adler aus<br />
Kitz<strong>in</strong>gen3, <strong>der</strong> auch für Gaukönigshofen und<br />
e<strong>in</strong>e ganze Anzahl jüdischer Geme<strong>in</strong>den im heutigen<br />
südlichen Landkreis Würzburg zuständig<br />
war. 1894 ergab e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit<br />
den nichtjüdischen Nachbarn Blomeyer über<br />
e<strong>in</strong>e zu reparierende Zuleitung zur Mikwe, dass<br />
letztlich die politische und nicht die jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />
für die Reparatur <strong>der</strong>selben zuständig<br />
war.<br />
Ansonsten ist das Ritualbad e<strong>in</strong>e Grundwassermikwe,<br />
die mit glasklarem, sauberen Wasser gefüllt<br />
ist. Das Wasser für das nebenan bef<strong>in</strong>dliche<br />
Säuberungsbad kommt durch die obengenannte<br />
Rohrleitung und wird durch e<strong>in</strong>en Heizkessel bei<br />
Bedarf erwärmt. [Michel S. 394]<br />
Der Friedhof<br />
Wie schon erwähnt, hatten die Gaukönigshöfer<br />
Juden ke<strong>in</strong>en eigenen „Guten Ort“,<br />
son<strong>der</strong>n beerdigten seit 1665 im unweit gelegenen<br />
Allersheim. Vor 1665 haben die wenigen<br />
Gaukönigshöfer Juden wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
ihre Verstorbenen im südlich gelegenen Aub<br />
be erdigt, woh<strong>in</strong> immer religiöse, private und<br />
wirtschaftliche Verb<strong>in</strong>dungen bestanden.<br />
Durch die Entdeckung des von Rabb<strong>in</strong>er<br />
We<strong>in</strong>berg im Jahr 1938 transkripierten Friedhofsregisters4<br />
von Allersheim, se<strong>in</strong>em letzten <strong>in</strong><br />
Würzburg verfassten Werk vor <strong>der</strong> Deportation<br />
nach Theresienstadt im September 1942, wissen<br />
wir etwa seit 1778 von <strong>der</strong> Belegung des Gottesackers.<br />
Me<strong>in</strong>e getrennten Auflistungen für die<br />
e<strong>in</strong>zelnen Geme<strong>in</strong>den geben uns bei manchen<br />
Fehlern We<strong>in</strong>bergs, die bei e<strong>in</strong>em solchen Unterfangen<br />
unvermeidbar s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en Überblick über<br />
die Größe und die Verhältnisse <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
seit Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Auch können wir durch die E<strong>in</strong>träge erkennen,<br />
welche Kley Kodesch, d.h. welche Lehrer, Rabb<strong>in</strong>er<br />
und Vorbeter die Geme<strong>in</strong>de im Laufe dieser<br />
125 Jahre zumeist <strong>in</strong> Personalunion beschäftigte<br />
und <strong>in</strong> wie weit Orchim [= hebr. Gäste], d.h.<br />
heimatlose Schnorr- und Betteljuden, die über<br />
Schabbat und die Feiertage aufgenommen wurden,<br />
<strong>in</strong> Gaukönigshofen verstarben. Die E<strong>in</strong>träge<br />
bis 1811 geben uns auch die Möglichkeit, manche<br />
<strong>der</strong> Stammbäume <strong>der</strong> Gaukönigshöfer Juden<br />
nach unten zu erweitern.<br />
Das Memorbuch<br />
Das von Rabb<strong>in</strong>er Magnus We<strong>in</strong>berg <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
1937 erschienenen Publikation über die<br />
Me morbücher <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />
Bayern erwähnte Gaukönigshöfer Memorbuch,<br />
das neben se<strong>in</strong>er rituellen Bedeutung<br />
als schriftliche Fixierung aller Gebete und Segenssprüche,<br />
die am Almemor, <strong>der</strong> Bima, gesprochen<br />
werden, und <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung an<br />
Märtyrer, die ihr Leben für „Kiddusch ha-<br />
Schem“, für die Heiligung des göttlichen Namens,<br />
h<strong>in</strong>gegeben haben, auch an herausragende<br />
lokale Persönlichkeiten er<strong>in</strong>nert, wie<br />
den langjährigen Rabb<strong>in</strong>er Uri ben Josef ha-<br />
Kohen, zeigt e<strong>in</strong>e Verwandtschaft zum Auber<br />
Memorbuch und gibt dadurch auch hier e<strong>in</strong>en<br />
H<strong>in</strong>weis auf die enge Verb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Gaukönigshöfer<br />
Geme<strong>in</strong>de mit den südlichen Nachbarn.<br />
Die Schule<br />
Mit dem Edikt von 1813 wurden nunmehr<br />
auch die jüdischen K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> staatlichen<br />
Schulpflicht unterworfen, obwohl <strong>der</strong> jüdische<br />
Religionsunterricht <strong>in</strong> Gaukönigshofen erst<br />
nach e<strong>in</strong>iger Zeit im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> königlich bayerischen<br />
Regierung vonstatten g<strong>in</strong>g.<br />
Bisher hatte <strong>der</strong> Rabb<strong>in</strong>er und Chasan <strong>der</strong><br />
Geme<strong>in</strong>de auch die K<strong>in</strong><strong>der</strong> unterrichtet, wobei<br />
dessen Befähigung mit <strong>der</strong> Urteilskraft<br />
<strong>der</strong> Kehilla entschieden wurde; die Herren<br />
von Rosenbach und ihre Vorgänger mischten<br />
sich nicht e<strong>in</strong>. Aus dieser Zeit wissen wir über<br />
die Friedhofslisten von e<strong>in</strong>em 1784 verstorbenen<br />
Morenu haRav Lippman haCohen und<br />
von e<strong>in</strong>em Vorbeter Morenu haRav Michel<br />
[verst. 1796], <strong>der</strong> im Friedhofse<strong>in</strong>trag als<br />
SchazMaz, d.h. als Schaliach Zippur5 und als<br />
More Zedek, bezeichnet wird.<br />
Se<strong>in</strong> Nachfolger wurde haChassid Morenu ha-<br />
Rav Abraham Sandel Stern, <strong>der</strong> auch <strong>in</strong> den<br />
Standesmatrikeln als Brödl<strong>in</strong>g ersche<strong>in</strong>t und bis<br />
1831 nicht unbed<strong>in</strong>gt zur Zufriedenheit <strong>der</strong> staatlichen<br />
Behörden den althergebrachten talmudischen<br />
Unterricht lehrte und sich nicht „nach dem<br />
neu erschienenen Werkchen ,Hauptlehren <strong>der</strong><br />
mosaischen Religion für den Unterricht <strong>der</strong> Jugend‘“<br />
richtete, das immerh<strong>in</strong> von dem bekannten<br />
und akzeptierten Heid<strong>in</strong>gsfel<strong>der</strong> Oberrabb<strong>in</strong>er<br />
Abraham B<strong>in</strong>g verfasst wurde.<br />
In jener Zeit wurden die K<strong>in</strong><strong>der</strong> wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohnung Abraham Sterns o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge<br />
– <strong>der</strong> Schul – unterrichtet, da es ke<strong>in</strong> ausgesprochenes<br />
Schulhaus gab. Der schließlich von<br />
<strong>der</strong> Regierung für die beiden Geme<strong>in</strong>den Acholshausen<br />
und Gaukönigshofen bestimmte Lehrer<br />
und Rabb<strong>in</strong>atskandidat Meier Strauß aus Fuchsstadt<br />
hatte e<strong>in</strong> schweres Leben, war er doch von<br />
oben bestimmt und musste von 1849 bis 1862<br />
die Schüler bei<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen<br />
Wohnung unterrichten. Im Internetbeitrag über<br />
Gaukönigshofen <strong>in</strong> <strong>der</strong> alemannia.judaica wird<br />
dann erst aus dem Jahr 1910 das heute noch bestehendes<br />
Geme<strong>in</strong>dehaus mit Lehrerwohnung<br />
und Schullokal neben <strong>der</strong> Synagoge erwähnt.<br />
Angaben über die früheren „Unterrichtslokale“<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Quellen eher unbestimmt.<br />
Trotz <strong>der</strong> unerquicklichen Verhältnisse lehrte<br />
Meier Strauß bis zu se<strong>in</strong>em Tod im Jahr 1875 <strong>in</strong><br />
Gaukönigshofen und wurde dann vom 1836 <strong>in</strong><br />
Hirschhorn geborenen Julius Lippmann abgelöst,<br />
<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um bis etwa 1890 neben dem<br />
Vorsängeramt die jüdischen K<strong>in</strong><strong>der</strong> unterrichtete.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs musste nach <strong>der</strong> Korrespondenz Rabb<strong>in</strong>er<br />
Adlers Lippmann später auf das Schächtamt<br />
verzichten, da er öfter zu Ohnmachten neigte,<br />
an<strong>der</strong>erseits wurde ihm vom Distriktsrabb<strong>in</strong>er<br />
oft Briefe direkt zugesandt, da sie wegen Renitenz<br />
des Vorstandes nicht <strong>in</strong> die Hände <strong>der</strong> Parnassim<br />
fallen sollten.<br />
1891 kam <strong>der</strong> 1866 <strong>in</strong> Unteraltertheim geborene<br />
Julius Bravmann nach Zwischenstationen <strong>in</strong><br />
Rimbach im Odenwald und Sulzdorf an <strong>der</strong><br />
Le<strong>der</strong>hecke als neuer Lehrer, Vorbeter und Schochet<br />
nach Gaukönigshofen, wo er vierzig Jahre<br />
als „Heiliges Geschirr“ <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de dienen<br />
sollte6. Er machte sich aber auch um die politi-<br />
28 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
sche Geme<strong>in</strong>de verdient, die ihm zum 40-jährigen<br />
Jubiläum 1931 die Ehrenbürgerschaft <strong>der</strong><br />
Geme<strong>in</strong>de Gaukönigshofen verlieh. In e<strong>in</strong>em anrührenden<br />
Artikel für die „Bayerische Israelitische<br />
Geme<strong>in</strong>dezeitung“ und den „Israelit“ schil<strong>der</strong>t<br />
Lehrer Brückheimer aus Marktbreit die Abschiedsfeier<br />
Julius Bravmanns:<br />
„... Die israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de hat es sich<br />
nicht nehmen lassen, diesen Tag festlich zu begehen.<br />
In <strong>der</strong> stilvoll geschmückten Synagoge<br />
versammelten sich gegen 15 Uhr alle anwesenden<br />
Mitglie<strong>der</strong> und auswärtigen Gäste. Dazu gesellten<br />
sich auch viele christliche Bürger, sodass<br />
die Anwesenden noch den Raum vor dem Gotteshaus<br />
füllten. Erschienen war auch <strong>der</strong> vollständige<br />
Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>at mit dem Bürgermeister und<br />
<strong>der</strong> katholische Geistliche ...“ [Israelit, 4. 6. 1931,<br />
siehe auch Internet]<br />
Se<strong>in</strong> Nachfolger, <strong>der</strong> 1901 <strong>in</strong> Mittels<strong>in</strong>n geborene<br />
Leo Kahn, <strong>der</strong> vorher <strong>in</strong> Westheim bei Haßfurt<br />
unterrichtete, wurde mit se<strong>in</strong>er Gatt<strong>in</strong> M<strong>in</strong>a und<br />
<strong>der</strong> 1933 geborenen Tochter Hannelore im März<br />
1942 nach Izbica bei Lubl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ostpolen deportiert<br />
und ermordet7. AL TISCHKACH<br />
Die Standesmatrikel<br />
von Gaukönigshofen<br />
Als 1817 nach vierjähriger Vorbereitungszeit<br />
durch das Edikt von 1813 auch den Gaukönigshöfer<br />
Juden bürgerliche Familiennamen<br />
verliehen wurden, zählte die Geme<strong>in</strong>de 22 jüdische<br />
Familien und ist damit seit 1790 nochmals<br />
um fünf Haushalte angewachsen:<br />
Aron David Thalheimer,<br />
Warenhändler<br />
Sara Almanat David Sulzbacher,<br />
Spezerei- und Kle<strong>in</strong>warenhändler<br />
Aron Moses Ma<strong>in</strong>zer,<br />
Schnitt- und Spezereiwarenhändler<br />
Abraham Moses Ma<strong>in</strong>zer,<br />
Vieh- und Warenhändler<br />
Hirsch Levi Schloß,<br />
Waren- und Rohhäutehändler<br />
Isac Nathan Goldste<strong>in</strong>,<br />
Schnittwarenhändler<br />
Moses Nathan Goldste<strong>in</strong>,<br />
Schmuser<br />
Mendel Nathan Goldste<strong>in</strong>,<br />
Schnittwarenhändler<br />
Ensel Levi Weickersheimer,<br />
Schnittwarenhändler<br />
Moses Ascher Goldberger,<br />
Kurzwarenhändler<br />
Jechiel Lippmann Schles<strong>in</strong>ger,<br />
Schnittwarenhändler<br />
Seligmann Salomon Rothschild,<br />
Schnitt- und Spezereiwarenhändler<br />
Samuel David Thalheimer,<br />
Waren- und Viehhändler<br />
Esther Almanat Mendel Ste<strong>in</strong>hardt,<br />
Waren- und Viehhändler<br />
Baer Levi Ste<strong>in</strong>hardt,<br />
Waren- und Viehhändler<br />
Simon Samuel Stettheimer,<br />
Waren- und Viehhändler<br />
Ella Almanat Lazarus Wolfsheimer,<br />
Handarbeiten<br />
Jaidel Hirsch Wolfsheimer,<br />
Kurzwarenhändler<br />
Moses David Thalheimer,<br />
Vieh- und Warenhändler<br />
Seligmann Löw Braunschild,<br />
ohne Beruf –<br />
wird von se<strong>in</strong>em Sohn unterhalten<br />
Faust Seligmann Braunschild,<br />
Pferdehändler<br />
Joseph Seligmann Braunschild,<br />
Waren- und Pferdehändler<br />
Hayum Schloß,<br />
Weber [1824]<br />
Faust Weikersheimer,<br />
Metzger [1825]<br />
Abraham Sandel Stern,<br />
Rabb<strong>in</strong>er, Lehrer, Chasan8.<br />
Erstmals ersehen wir aus <strong>der</strong> Auflistung von<br />
1817 die berufliche Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Juden des Ortes,<br />
die wie auch an<strong>der</strong>norts <strong>in</strong> Süddeutschland<br />
vor allem als Händler von auf dem Lande benötigten<br />
und angebotenen Produkten und Tieren<br />
ihren Lebensunterhalt verdienten.<br />
Wir können davon ausgehen, dass e<strong>in</strong> großer Teil<br />
<strong>der</strong> ehemals Rosenbachschen Juden im Freihof<br />
verhältnismäßig vermögend war, woh<strong>in</strong>gegen die<br />
vier hochstiftischen Familien, außer den Hirschs,<br />
eher als arm zu bezeichnen s<strong>in</strong>d [Michel S. 204<br />
ff.]. Die später geadelte Familie von Hirsch, e<strong>in</strong>e<br />
<strong>der</strong> reichsten Familien Unterfrankens, hatte<br />
schon 1806 den Ort verlassen und konnte sich<br />
nach 230 Jahren als erste jüdische Familie wie<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> Würzburg ansiedeln, wobei <strong>der</strong> Unterschied<br />
zwischen dem Vermögen <strong>der</strong> Familie<br />
Hirsch [24.000 Gulden (fl.) und 18.000 fl.] und<br />
dem <strong>der</strong> nachfolgenden Glaubensgenossen Abraham<br />
David Thalheimer [950 fl.] und Faust Seligmann<br />
Braunschild [325 fl.] sehr groß war.<br />
Durch die obigen Matrikel ist es nunmehr auch<br />
möglich, für die verschiedenen Familien Stammbäume<br />
aufzustellen und ihre Familiengeschichte<br />
zu eruieren.<br />
Familie von Hirsch<br />
Als im Jahr 1817 die Standesmatrikel mit den<br />
neu verliehenen bürgerlichen Familiennamen<br />
für die Gaukönigshöfer Juden aufgestellt wurden,<br />
lebten die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> prom<strong>in</strong>enten<br />
Familie von Hirsch schon lange nicht mehr im<br />
Ort. Sie waren 1806, nach dem sie <strong>in</strong> Würzburg<br />
für 15.620 Gulden den Ebracher Hof, die<br />
ehemalige Nie<strong>der</strong>lassung des Ebracher Zisterzienser<br />
Klosters <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt, ersteigert hatten,<br />
<strong>in</strong> die Bezirkshauptstadt übergesiedelt, von<br />
wo die Familie e<strong>in</strong>en rasanten wirtschaftlichen<br />
Aufstieg erlebte und wichtigen Anteil an <strong>der</strong><br />
deutschen und <strong>der</strong> jüdischen Geschichte des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nahm9.<br />
Moses Hirsch<br />
[1740 Gaukönigshofen – 1811 Würzburg]<br />
Der Stammvater Moses Hirsch ist seit 1761<br />
als Rosenbachscher Schutzjude <strong>in</strong> Gaukönigshofen<br />
nachweisbar und verdiente im Viehhandel<br />
se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt. 1769 wurde er <strong>in</strong><br />
den hochstiftischen Schutz aufgenommen und<br />
konnte dadurch e<strong>in</strong> Haus außerhalb des Freihofs,<br />
<strong>in</strong> dem die Juden zum Teil sehr beengt<br />
<strong>leben</strong> mussten, gegen den Willen des örtlichen<br />
Geistlichen erwerben. Schon damals hatten<br />
die Hirschs durch ihren sehr umfangreichen<br />
Viehhandel e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Rolle <strong>in</strong>nerhalb<br />
des Ortes gespielt. Moses Hirsch hatte aus<br />
drei Ehen sieben K<strong>in</strong><strong>der</strong>, von denen fünf das<br />
Erwachsenenalter erreichten.<br />
Als die Familie 1806 nach Würzburg übersiedelte,<br />
hatte sie offiziell e<strong>in</strong> Vermögen von ungefähr<br />
40.000 fl. und war vor allem durch die<br />
Säkularisation, d.h. durch den Auf- und Wie<strong>der</strong>verkauf<br />
kirchlichen Vermögens, das vom<br />
bayrischen Staat enteignet worden war, sehr<br />
wohlhabend geworden.<br />
Durch den Umzug nach Würzburg ermöglichte<br />
Familie von Hirsch nach über 200 Jahren<br />
die erneute Gründung e<strong>in</strong>er jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />
<strong>in</strong> Würzburg, da nunmehr auch an<strong>der</strong>e,<br />
zumeist wohlhabende Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt<br />
Aufnahme fanden, so dass zur Zeit <strong>der</strong> Standesmatrikel<br />
von 1817 neben den fünf Familien<br />
von Hirsch noch 26 weitere jüdische Familien<br />
aus Heid<strong>in</strong>gsfeld, Höchberg, Ma<strong>in</strong>bernheim<br />
und Nie<strong>der</strong>werrn <strong>in</strong> Würzburg ansässig waren.<br />
Jakob von Hirsch auf Gereuth<br />
[1765 Gaukönigshofen – 1840 Planegg]<br />
Der zweitälteste Sohn von Moses Hirsch,<br />
Jakob, <strong>der</strong> schon <strong>in</strong> Ansbach e<strong>in</strong> Bankhaus<br />
begründet hatte, g<strong>in</strong>g 1809 zu se<strong>in</strong>em Vater<br />
nach Würzburg. Er war als Hofbankier tätig<br />
und nach se<strong>in</strong>er Nobilitierung zu Jakob von<br />
Hirsch auf Gereuth g<strong>in</strong>g er 1819 nach München,<br />
wo se<strong>in</strong> zweitältester Sohn Joseph die<br />
Münchner L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Familie begründete, die<br />
heute noch <strong>in</strong> Planegg bei München residiert.<br />
Julius Joel von Hirsch auf Gereuth<br />
[1789 Gaukönighsofen – 1876 Würzburg]<br />
Der älteste Sohn Julius Joel war viermal verheiratet<br />
und gründete <strong>in</strong> Würzburg e<strong>in</strong> Bankhaus,<br />
das vor allem den lokalen Adel mit<br />
großzügigen Krediten versorgte; er organisierte<br />
den fränkischen Holzhandel und war e<strong>in</strong>er<br />
<strong>der</strong> Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Bayerischen Hypotheken-<br />
und Wechsel-Bank.“ Se<strong>in</strong>e 23 K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
stammten von <strong>der</strong> <strong>in</strong> Höchberg geborenen<br />
Frie<strong>der</strong>ike Jeidels [sieben K<strong>in</strong><strong>der</strong>], e<strong>in</strong>er Tochter<br />
des aus Nie<strong>der</strong>werrn stammenden Juwelenhändler<br />
Samuel Jeidels, <strong>der</strong> sich ebenfalls<br />
schon bald <strong>in</strong> Würzburg nie<strong>der</strong>lassen konnte,<br />
von den beiden mit ihm nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verheirateten<br />
Schwestern des Stuttgarter Hofbankiers<br />
Rafael von Kaulla, Sara [neun K<strong>in</strong><strong>der</strong>]<br />
und Karol<strong>in</strong>e [e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d] sowie von Sara Wertheimber<br />
[sechs K<strong>in</strong><strong>der</strong>], die <strong>der</strong> Familie des<br />
berühmten Hoffaktors des Kaisers <strong>in</strong> Wien,<br />
Samson Wertheimer, entstammte.<br />
Julius von Hirsch war auch <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> zusammen<br />
mit dem Grafen von Giech se<strong>in</strong>en<br />
ganzen E<strong>in</strong>fluss dafür e<strong>in</strong>setzte, dass endlich<br />
im Jahr 1861 das reaktionäre Edikt von 1813<br />
Jakob von Hirsch auf Gereuth (1765–1840).<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 29
aufgehoben wurde und nunmehr auch <strong>in</strong><br />
Bayern Juden wohnen konnten, wo sie wollten<br />
und zum an<strong>der</strong>n weitgehend freie Berufswahl<br />
genossen.<br />
Joseph von Hirsch auf Gereuth<br />
[1805 Würzburg – 1885 Planegg]10<br />
Der jüngere Bru<strong>der</strong> Jakobs, Joseph von Hirsch,<br />
g<strong>in</strong>g 1828 nach München, wo er die Schwester<br />
se<strong>in</strong>er Schwäger<strong>in</strong> Sara, Carol<strong>in</strong>e Wertheimber<br />
heiratete, mit <strong>der</strong> er zehn K<strong>in</strong><strong>der</strong> zeugte. Joseph<br />
Prys schil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1931 erschienenen Geschichte<br />
<strong>der</strong> Familie die immensen Schwierigkeiten<br />
die Jakob und Joseph von Hirsch mit den<br />
Münchner Behörden hatten. Auch kämpfte Joseph<br />
immer wie<strong>der</strong> gegen die Beschränkungen<br />
durch das Edikt von 1813 und erhielt an<strong>der</strong>erseits<br />
auf Grund se<strong>in</strong>er engen Verb<strong>in</strong>dung mit<br />
dem württembergischen Königshaus e<strong>in</strong>e ganze<br />
Reihe verschiedener Orden. Durch se<strong>in</strong>e Hilfsbereitschaft<br />
im Hungerjahr 1846 und bei <strong>der</strong> Bekämpfung<br />
e<strong>in</strong>er Choleraepidemie im Jahr 1854<br />
wurde er 1859 mit dem „Ritterkreuz erster Klasse<br />
des Königlich Bayerischen Michaelverdienstordens“<br />
ausgezeichnet. Joseph von Hirsch starb<br />
hochgeehrt im Jahr 1885 und wurde im alten<br />
Thalkirchner Friedhof bestattet. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> und bei<br />
München geborenen heutigen Nachkommen, die<br />
zum Teil mit Angehörigen des deutschen und<br />
europäischen Adels verheiratet s<strong>in</strong>d, gehören<br />
nicht mehr <strong>der</strong> jüdischen Religion an11.<br />
Maurice de Hirsch<br />
(1831 München – 1896 O-Gyala, Ungarn]<br />
Der älteste Sohn Josephs von Hirsch wurde e<strong>in</strong>er<br />
<strong>der</strong> bedeutendsten und reichsten Magnaten des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> an vielen europäischen Versicherungsgesellschaften<br />
beteiligt war und durch<br />
die F<strong>in</strong>anzierung des Eisenbahnbaus <strong>in</strong> Belgien,<br />
Holland, Russland, Ungarn und vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Türkei als „Türkenhirsch“ bekannt war. Nach<br />
dem Tod se<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Sohnes Lu cien [1856<br />
Brüssel – 1888 Paris] widmete er sich mit se<strong>in</strong>er<br />
Frau Clara geborene Bischoffsheim philantropischen<br />
Projekten: Vor allem versuchte er das traurige<br />
Los <strong>der</strong> osteuropäischen Judenheit zu verbessern,<br />
die <strong>in</strong> vielen Län<strong>der</strong>n, vor allem <strong>in</strong><br />
Russland, unter <strong>der</strong> Verfolgung durch den Staat<br />
und die russische Landbevölkerung litten. Er bot<br />
<strong>der</strong> russischen Regierung die hohe Summe von<br />
50 Millionen Francs an, um die dortigen Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
für Juden zu verbessern, die diese<br />
aber nur unter Voraussetzungen annehmen wollte,<br />
die Hirsch ablehnte. Deshalb gründete er zusammen<br />
mit an<strong>der</strong>en jüdischen Philantropen wie<br />
Lord Rothschild, Sir Julian Goldsmid, Ernst Cassel,<br />
Friedrich D. Mocatta und Benjam<strong>in</strong> Louis<br />
Cohen aus London sowie Salomon H. Goldschmidt<br />
und Salomon Re<strong>in</strong>ach aus Paris die<br />
Jewish Colonization Association „I.C.A.“, die<br />
vor allem die Emigration osteuropäischer Juden<br />
nach Argent<strong>in</strong>ien för<strong>der</strong>te12. Außerdem ließ er<br />
<strong>in</strong> London, Paris, Wien, Krakau, Lemberg und<br />
New York Wohltätigkeitsbüros e<strong>in</strong>richten. Im<br />
Jahr 1889 rief er die „Hirsch-Stiftung“ <strong>in</strong>s Leben,<br />
die ähnlich wie die heutige „Ronald S. Lau<strong>der</strong><br />
Foundation“ sich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung jüdischer<br />
Schulen für die osteuropäische Judenheit widmete.<br />
1902 wurde zu se<strong>in</strong>em Gedenken e<strong>in</strong> Denkmal<br />
im Central Park <strong>in</strong> New York errichtet, auf dem<br />
die von Präsident Theodore Roosevelt verfasste<br />
Inschrift e<strong>in</strong>graviert ist: „Was man auch immer<br />
sagen und tun mag, das Gesetz <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>lichkeit<br />
und <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Menschenliebe wird<br />
stets die erste und unabweisbare Bed<strong>in</strong>gung im<br />
Leben <strong>der</strong> Völker bleiben.“<br />
Familie Ma<strong>in</strong>zer<br />
Auch drei an<strong>der</strong>en Gaukönigshöfer Familien,<br />
die allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en so kometenhaften Aufstieg<br />
wie die von Hirschs erlebten, können als<br />
Beispiele e<strong>in</strong>er außergewöhnlichen Laufbahn<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t gelten: die kohanitische<br />
Familie Ma<strong>in</strong>zer, die mit dem Kauf des von<br />
Hirschschen Stammhauses nach <strong>der</strong>en Übersiedlung<br />
nach Würzburg <strong>in</strong> Gaukönigshofen<br />
ansässig wurde, stammte wahrsche<strong>in</strong>lich aus<br />
Ma<strong>in</strong>z. Der 1806 im Ort geborene Maier<br />
Ma<strong>in</strong>zer war später <strong>der</strong> erste akademisch gebildete<br />
Rabb<strong>in</strong>er Württembergs [Rabb<strong>in</strong>erhandbuch<br />
I/2, S. 639/640 – 1189] und amtierte<br />
bis 1861 <strong>in</strong> Weikersheim. Vor allem e<strong>in</strong>e<br />
grundsätzliche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um das<br />
Cregl<strong>in</strong>ger Tauchbad ist <strong>in</strong> den Archivalien erhalten<br />
und zeigt die unterschiedlichen Auffassungen<br />
e<strong>in</strong>es orthodoxen Rabb<strong>in</strong>ers und e<strong>in</strong>er<br />
unverständigen Landesregierung, die den<br />
Hauptzweck e<strong>in</strong>er Mikwe als Re<strong>in</strong>igungsbad<br />
begriff 13 .<br />
Maier Ma<strong>in</strong>zer hatte neun Geschwister, von denen<br />
sechs schon sehr jung verstarben. Die Ma<strong>in</strong>zers,<br />
die nach dem Ortsvorstand, dem Parnass,<br />
die wohlhabendste jüdische Familie ihrer Zeit<br />
war, haben vor allem mit dem Viehhandel ihren<br />
Lebensunterhalt bestritten.<br />
Der Vater Aaron Moses Ma<strong>in</strong>zer, <strong>der</strong> auch als<br />
Ellenwaren- und Spezereiwarenhändler tätig war,<br />
verstarb schon 1821.<br />
Die große Familie des 1801 geborenen Falk, die<br />
weiterh<strong>in</strong> im ehemals Hirschschen Haus Nr. 44<br />
lebte, befasst sich mit den verschiedensten Handelstätigkeiten,<br />
sei es – wie gehabt – Ellenwarenund<br />
Spezereiwarenhandel im offenen Laden und<br />
durchs Hausieren, was im Laden nicht verkauft<br />
werden kann, Vieh- und Fohlenhandel und, soweit<br />
es die gesetzlichen Möglichkeiten erlaubten,<br />
auch mit Güterhandel.<br />
Da später die Tochter Sara [*1847] Simon Neuberger<br />
aus Arnste<strong>in</strong> und Babette [*1848]14 den<br />
königlichen Hoflieferant Hermann Mai aus Berkach<br />
heiratete, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Würzburg nie<strong>der</strong>gelassen<br />
hat, und e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Söhne nach Amerika auswan<strong>der</strong>n,<br />
lebten um die Jahrhun<strong>der</strong>twende ke<strong>in</strong>e<br />
Nachkommen des Falk Ma<strong>in</strong>zer mehr <strong>in</strong> Gaukönigshofen.<br />
Nachkommen des jüngeren Bru<strong>der</strong>s Moritz<br />
[*1814] <strong>leben</strong> bis zum bitteren Ende im Ort.<br />
Schon bald gehörten <strong>der</strong> Sohn Heß Ma<strong>in</strong>zer und<br />
se<strong>in</strong>e Familie zu den Honoratioren, die im Viehhandel<br />
vor allem für den lokalen Bereich tätig<br />
war.<br />
Nicht alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> des Heß Ma<strong>in</strong>zer blieben im<br />
Ort: <strong>der</strong> erstgeborene Sohn August [*1869] eröffnete<br />
e<strong>in</strong>e eigene Rechtsanwaltskanzlei <strong>in</strong> Bamberg<br />
und g<strong>in</strong>g später als Amtsgerichtsrat nach<br />
Wiesbaden. Felix Ma<strong>in</strong>zer [*1870] war von 1912<br />
bis zur Deportation im Jahr 1942 Vorstand <strong>der</strong><br />
Geme<strong>in</strong>de. Er wurde wie se<strong>in</strong>e Schwestern Laura<br />
und Sophie nach Theresienstadt bzw. nach Izbica<br />
bei Lubl<strong>in</strong> deportiert und ermordet.<br />
Nur <strong>der</strong> 1872 geborene Bru<strong>der</strong> He<strong>in</strong>rich konnte<br />
mit se<strong>in</strong>er Gatt<strong>in</strong> noch im Jahr 1941 nach New<br />
York auswan<strong>der</strong>n. Von den fünfzehn Enkeln <strong>der</strong><br />
beiden Brü<strong>der</strong> Falk und Moritz Ma<strong>in</strong>zer wurden<br />
neun Opfer des Holocaust.<br />
Familie Thalheimer<br />
Die Vorfahren <strong>der</strong> drei <strong>in</strong> den Registerlisten<br />
von 1817 erwähnten Brü<strong>der</strong> Moses, Samuel<br />
und Aron Thalheimer, die als Waren- und<br />
Viehhändler ihren Lebensunterhalt bestritten,<br />
lassen sich bis Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong><br />
Gaukönigshofen nachweisen. Der Familienname<br />
steht nach Menk15 unter Umständen mit<br />
dem <strong>in</strong> Württemberg liegenden Thalheim o<strong>der</strong><br />
auch mit Theilheim bei Schwe<strong>in</strong>furt <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung.<br />
Wie anfangs schon erwähnt, haben die<br />
Thalheimers enge familiäre B<strong>in</strong>dungen zu lokalen<br />
Rabb<strong>in</strong>erfamilien 16 :<br />
So war die erste Frau von Moses Thalheimer,<br />
dem Vaters des späteren Marktstefter Distriktsrabb<strong>in</strong>ers<br />
Faust Löw Thalheimer [1808–1871],<br />
Sila geborene Lippmann, die Tochter des Ortsrabb<strong>in</strong>ers<br />
Morenu haRav Lippmann haCohen<br />
[siehe Friedhofsliste Allersheim]; die Schwester<br />
von Faust Löw, die 1804 geborene Klara Karol<strong>in</strong>e,<br />
war mit dem Seifensie<strong>der</strong> Abraham Haas<br />
aus Fuchsstadt verheiratet, <strong>der</strong>en Sohn David<br />
Hirsch [1834–1878] Distriktsrabb<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Reckendorf,<br />
Welbhausen und Uffenheim war. Der jüngste<br />
Sohn von David Hirsch Haas, Rechtsanwalt<br />
Dr. Gerson Haas [1871–1940], war von 1918 bis<br />
1938 Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> IKG Würzburg17.<br />
Von Familie Thalheimer war nach 1933 nur noch<br />
<strong>der</strong> 1890 geborene Josef Just<strong>in</strong> Thalheimer mit<br />
se<strong>in</strong>er Familie im Ort. Der Vieh- und Kolonialwarenhändler<br />
war auch Präsident des örtlichen<br />
Fußballclubs und Kassierer des Krieger- und<br />
Schützenvere<strong>in</strong>s. Trotz se<strong>in</strong>er Verdienste um das<br />
örtliche Geme<strong>in</strong>de<strong>leben</strong> wurde er mit se<strong>in</strong>em<br />
1926 geborenen Sohn Walter im März 1942 nach<br />
Izbica bei Lubl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ostpolen verschleppt. Nur<br />
se<strong>in</strong> 1923 geborener Sohn Günther konnte noch<br />
rechtzeitig nach England emigrieren. Die von<br />
ihm aus Izbica nach Gaukönigshofen gesandte<br />
Postkarte vom Sommer 1942 mit e<strong>in</strong>em Dankeschön<br />
für e<strong>in</strong>e erhaltene Postsendung ist das letzte<br />
Lebenszeichen <strong>der</strong> deportierten Gaukönigshöfer<br />
Juden. Das Dankschreiben wurde <strong>der</strong> Gestapo<br />
angezeigt – weitere Sendungen waren nicht<br />
mehr möglich.<br />
Familie Weikersheimer<br />
Der Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> levitischen Familie Weikersheimer,<br />
Ensel Ascher haLevi, wurde Mitte<br />
des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts im württenbergischen<br />
Weikersheim geboren und nahm 1817 den<br />
Namen se<strong>in</strong>er Geburtsstadt als Familienname<br />
an. Obwohl anfangs e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> ärmsten Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de, erhielt er durch die<br />
Verehelichung mit Terzle Tirza Braunschild<br />
die Möglichkeit zu prosperieren, so dass die<br />
Familie im Lauf <strong>der</strong> Generationen zu e<strong>in</strong>er<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>flussreichsten jüdischen Familie am<br />
Ort wurde. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt<br />
als Handelsleute, Metzger, Vieh- und<br />
Pferdehändler, Garküchner, Bäcker, Schnittwaren-<br />
und Lebensmittelhändler, blieben also<br />
bis um die Jahrhun<strong>der</strong>twende zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
im beruflichen Umfeld e<strong>in</strong>er dörflichen<br />
Gesellschaft18. E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Nachkommen<br />
Ensels g<strong>in</strong>gen zwar <strong>in</strong> den Nachfolgejahren nach<br />
Amerika, doch im Vergleich zu an<strong>der</strong>en jüdischen<br />
Geme<strong>in</strong>den wählten diesen Weg im 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t nur wenige, wie auch Thomas Michel<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en akribischen Untersuchungen feststellt<br />
[Michel, S. 625/626].<br />
Am prom<strong>in</strong>entesten für die Gaukönigshöfer Lokalgeschichte<br />
s<strong>in</strong>d wohl die beiden Brü<strong>der</strong> Vitus<br />
und Ignaz Weikersheimer, die ab <strong>der</strong> Wende zum<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en Landmasch<strong>in</strong>enhandel mit<br />
Reparaturwerkstätte <strong>in</strong>s Leben riefen. Bis Anfang<br />
des Ersten Weltkrieges beschäftigten sie bis<br />
zu zwanzig Arbeitskräfte auf e<strong>in</strong>em Werksgelände<br />
am Dorfrand.<br />
30 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Durch den Eisenbahnanschluss Gaukönigshofens<br />
im Jahr 1907 konnten sie ihren bäuerlichen Kunden<br />
nunmehr auch landwirtschaftliche Gerätschaften<br />
wie die berühmten „Massey Harris Mähmasch<strong>in</strong>en“<br />
[Michels S. 628], die sie <strong>in</strong> den USA<br />
kauften und nur noch zusammenmontieren mussten,<br />
anbieten und eroberten somit e<strong>in</strong>e Monopolstellung<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Region.<br />
Die beiden Brü<strong>der</strong>, <strong>der</strong> als weltmännisch geschil<strong>der</strong>te<br />
Vitus, <strong>der</strong> die kaufmännischen Angelegenheiten<br />
betreute, und se<strong>in</strong> eher volkstümlicher<br />
Bru<strong>der</strong> Ignaz, <strong>der</strong> die Kontakte zur bäuerlichen<br />
Kundschaft pflegte, engagierten sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
jüdischen und politischen Geme<strong>in</strong>de: Vitus wurde<br />
wegen se<strong>in</strong>es hohen Ansehens von 1912 bis<br />
zur Auswan<strong>der</strong>ung 1930 zum zweiten Kultusvorstand<br />
und Kassier <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>de und<br />
1919 neben dem Viehhändler Ensle<strong>in</strong> Weikersheimer<br />
<strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>at gewählt; Ignaz engagiert<br />
sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>defeuerwehr, <strong>in</strong> <strong>der</strong> auch<br />
er bis zur Machtergreifung durch die Nazis das<br />
Amt des Kassiers <strong>in</strong>nehatte.<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Aus verschiedenen Gedenkbüchern ersehen<br />
wir, wie <strong>in</strong> den Jahren seit dem Edikt von<br />
1861 auch viele Gaukönigshöfer Juden mit<br />
<strong>der</strong> Freizügigkeit von Berufs- und Wohnsitzwahl<br />
ihren Heimatort verlassen haben und <strong>in</strong><br />
die aufstrebenden Städte des Deutschen Reiches<br />
übersiedelten.<br />
Dies zeigt sich an <strong>der</strong> Bevölkerungsstatistik<br />
von 1786 bis 1942 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abhandlung von Jutta<br />
Sporck-Pfitzer [Würzburg 1988, S. 56/61]<br />
über die ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />
Landkreis Würzburg: Die jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />
wuchs von 73 Personen um 1786 auf 108 im<br />
Jahr 1816, um erst zum Ende des neunzehnten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts langsam aber stetig abzunehmen.<br />
So zählte die Gaukönigshöfer Kehilla<br />
1880 noch 99 Mitglie<strong>der</strong>, um bis 1933 mit<br />
54 Personen fast bis zur Hälfte zurückzugehen.<br />
Es ist wohl e<strong>in</strong> Zeichen <strong>der</strong> engen Vertrautheit<br />
von christlichen und jüdischen E<strong>in</strong>wohnern,<br />
dass nur 22 Gaukönigshöfer Juden<br />
Das Kleemann-Sefer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lloyd Street Schul <strong>in</strong> Baltimore.<br />
rechtzeitig den Ort verließen und so viele bis<br />
zum traurigen Ende <strong>in</strong> ihrem Heimatort verblieben.<br />
So wurde etwas Gutes letztlich zu e<strong>in</strong>em<br />
Todesurteil: Die Liebe zur Heimat und<br />
das Vertrauen <strong>in</strong> den Staat. Insgesamt wurden<br />
nach <strong>der</strong> Aufstellung von alemannia.judaica<br />
im Internet 49 <strong>in</strong> Gaukönigshofen gebürtige<br />
o<strong>der</strong>/und wohnhafte jüdische Bürger Opfer<br />
<strong>der</strong> Schoa.<br />
Wenn sich an den Zerstörungen <strong>der</strong> Pogromnacht<br />
im November 1938 auch Gaukönigshöfer<br />
„Christen“ beteiligten, so demolierten<br />
wohl hauptsächlich Ochsenfurter SA- und SS-<br />
Männer die Synagoge und jüdische Wohnhäuser.<br />
Die bedeutende Viehhandelscompanie<br />
<strong>der</strong> Weikersheimers musste ebenso schließen<br />
wie die Manufakturwarenhandlung des Louis<br />
Kleemann und die kle<strong>in</strong>en Gemischwarenläden<br />
von Sali Grünebaum, Julius Katz und<br />
Leopold Vorchheimer, sowie <strong>der</strong> Kolonialwarenladen<br />
des Josef Thalheimer.<br />
Das Ende<br />
Am 21. März 1942 werden 25 Gaukönigshöfer<br />
Juden mit dem Zug nach Kitz<strong>in</strong>gen gebracht,<br />
von wo sie drei Tage später, nachdem ihnen<br />
noch e<strong>in</strong> Großteil ihres Reisegepäcks abgenommen<br />
wurde, zusammen mit 208 an<strong>der</strong>en<br />
fränkischen Juden aus <strong>der</strong> Region nach Izbica<br />
bei Lubl<strong>in</strong> deportiert werden. Außer <strong>der</strong> Postkarte<br />
des Just<strong>in</strong> Thalheimer, die doch auf e<strong>in</strong>e<br />
mögliche postalische Verb<strong>in</strong>dung nach dem<br />
Abtransport schließen lässt, gab es ke<strong>in</strong>e weiteren<br />
Spuren über das Schicksal <strong>der</strong> Juden aus<br />
Gaukönigshofen.<br />
Das „Klimensifer“<br />
Als ich <strong>in</strong> den Neunzigerjahren des letzten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts öfters auf me<strong>in</strong>en Reisen <strong>in</strong> den<br />
USA auch Freunde <strong>in</strong> Baltimore und das dortige<br />
jüdische Museum und Archiv besuchte,<br />
gab mir e<strong>in</strong>e nette Dame <strong>der</strong> Archivverwaltung<br />
e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf das „Klimensifer“. Ich<br />
stand etwas verwirrt da und konnte mit dem<br />
Wort nichts anfangen. Die Dame g<strong>in</strong>g mit mir<br />
<strong>in</strong> die benachbarte „Lloyd Street Schul“, e<strong>in</strong>e<br />
<strong>der</strong> ältesten Synagogen <strong>in</strong> den USA, und zeigte<br />
mir voller Stolz e<strong>in</strong>e Torarolle: das „Klimensifer“.<br />
– Der Gaukönigshöfer Louis Kleemann<br />
hatte das Sefer bei <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung<br />
mitgenommen und es <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Heimat<br />
<strong>der</strong> Lloyd Street Shul geschenkt, wo es heute<br />
zu Anschauungszwecken dient, da es nicht<br />
mehr koscher ist und im Gottesdienst ke<strong>in</strong>e<br />
Verwendung mehr f<strong>in</strong>det.<br />
In Gaukönigshofen er<strong>in</strong>nert noch die zur Gedenkstätte<br />
umgebaute Synagoge, die Mikwe<br />
und das Schulhaus an die ehemalige Geme<strong>in</strong>de,<br />
an manchen Privathäusern lassen sich<br />
noch die Vertiefungen für die Mesusot <strong>in</strong> den<br />
Türstöcken erkennen und am Beispiel des<br />
„Kleemann – Sefer“ im fernen Baltimore wird<br />
jungen Juden Jiddischkeit erklärt.<br />
AM ISRAEL CHAI!<br />
Fußnoten:<br />
1 Michel, Thomas: Die Juden <strong>in</strong> Gaukönigshofen/<br />
Unterfranken [1550 – 1942] – Beiträge zur Wirtschafts-<br />
und Sozialgeschichte, Wiesbaden 1988,<br />
ISBN 3-515-05318-2.<br />
2 Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut: Jerusalem<br />
lag <strong>in</strong> Franken – Synagogen und jüdische Friedhöfe.<br />
Text: Rudolf Maria Bergmann, Würzburg<br />
2006, S. 54/59.<br />
3 Siehe auch: Synagogenarchiv Kitz<strong>in</strong>gen: Korrespondenz<br />
Distriktsrabb<strong>in</strong>er Imanuel Adler von<br />
1868 bis 1910, Rabb<strong>in</strong>at Kitz<strong>in</strong>gen [Auswahl<br />
Gaukönigshofen], <strong>in</strong>: Michael Schneeberger:<br />
F<strong>in</strong>dbuch G-A-G (Gaukönigshofen-Acholshausen-Gossmannsdorf),<br />
Würzburg 2013, Hoenle<strong>in</strong>-<br />
Projekt.<br />
4 Leo-Baeck-Institut, New York: Stern Collection:<br />
Magnus We<strong>in</strong>berg: Friedhofsregister Allersheim,<br />
Würzburg 1938 [Michael Schneeberger: E<strong>in</strong>zelliste<br />
Gaukönigshofen].<br />
5 Schaliach Zippur [hebr.] = Abgesandter <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de,<br />
d.h. Vorbeter; More Zedek [hebr.] =<br />
gerechter Lehrer [unterer Rang <strong>in</strong> <strong>der</strong> rabb<strong>in</strong>ischen<br />
Ausbildung].<br />
6 Michael Schneeberger: Familiendokumentation<br />
Bravmann/Unteraltertheim, Würzburg/New York<br />
2011.<br />
7 Siehe auch: Oskar Höfner: Kartei <strong>der</strong> jüdischen<br />
E<strong>in</strong>wohner, Gaukönigshofen 1987.<br />
8 Siehe auch: Dirk Rosenstock: Die unterfränkischen<br />
Judenmatrikeln von 1817, Würzburg 2008,<br />
S. 231.<br />
9 Joseph Prys: Die Familie von Hirsch auf Gereuth<br />
– erste quellenmäßige Darstellung ihrer<br />
Geschichte, München 1931.<br />
10 Erika Bosl: Die Familie von Hirsch auf Gereuth<br />
im 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>in</strong>: Treml/Weigand/<br />
Brockhoff: Geschichte und Kultur <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />
Bayern – Lebensläufe, München 1988.<br />
11 Michael Schneeberger: Stammbaum von Hirsch<br />
auf Gereuth/Gaukönigshofen, Würzburg 2012<br />
[Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />
12 Salomon W<strong>in</strong><strong>in</strong>ger: Große Jüdische National-<br />
Biographie, Cernauti 1928, S. 117/118.<br />
13 Behr, Hartwig/Rupp, Horst F.: Vom Leben und<br />
Sterben – Juden <strong>in</strong> Cregl<strong>in</strong>gen, Würzburg 1999,<br />
S. 50/53.<br />
14 Ihr Enkel Herbert Mai ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen<br />
Über<strong>leben</strong>den von Riga-Jungfernhof und lebt<br />
heute <strong>in</strong> Kew Gardens, NY.<br />
15 Menk, Lars: A Dictionary of German-Jewish<br />
Surnames, Bergenfield, NJ [Avotaynu], p. 728.<br />
16 Schneeberger, Michael: Stammbaum Thalheimer/Gaukönigshofen,<br />
Würzburg 2011 [Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />
17 Strätz, Re<strong>in</strong>er: Biographisches Handbuch Würzburger<br />
Juden 1900–1945, Würzburg 1989, S. 226.<br />
18 Schneeberger, Michael: Family Tree of the levitic<br />
Weikersheimer Family from Königshofen im<br />
Gau, Würzburg 2011 [Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 31
BUCHBESPRECHUNGEN<br />
Konversions- und Über<strong>leben</strong>sgeschichten<br />
Die Eltern von Hilde (1914–2011) und Rose<br />
Berger (1918–2005) waren bie<strong>der</strong>e, fromme<br />
Ostjuden, die <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> lebten, bis sie im Jahre<br />
1938 von <strong>der</strong> Gestapo zum Verlassen Deutschlands<br />
gezwungen wurden. Sie fuhren nach Polen,<br />
wo sie während des Weltkrieges Opfer <strong>der</strong><br />
nationalsozialistischen Judenverfolgung wurden;<br />
umgebracht haben die Na zis auch ihre<br />
Tochter Reg<strong>in</strong>a (Jahrgang 1913) und ihren<br />
Sohn Hans (Jahrgang 1916). Das vorliegende<br />
Buch lässt die zwei über<strong>leben</strong>den Schwestern,<br />
die nach dem Holocaust <strong>in</strong> Amerika lebten,<br />
ausführlich zu Wort kommen.<br />
Der Herausgeber hat fünf sich ergänzende Texte,<br />
die zwischen 1978 und 2005 entstanden s<strong>in</strong>d,<br />
zusammengetragen und <strong>in</strong>s Deutsche übersetzt.<br />
Im Anhang f<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Leser e<strong>in</strong>ige Fotos und<br />
Dokumente, die das Erzählte veranschaulichen.<br />
So ist z.B. die Seite von Sch<strong>in</strong>dlers Liste<br />
abgedruckt, auf <strong>der</strong> Hilde Bergers Name<br />
steht. Der Leser erfährt, dass es mehrere Versionen<br />
dieser durch e<strong>in</strong>en Film von Steven<br />
Spielberg berühmt gewordenen Namensliste<br />
gab. E<strong>in</strong>e Fassung hat Hilde Berger getippt;<br />
sie nutzte die Gelegenheit aus und hat sich<br />
und ihren damaligen Freund darauf gesetzt<br />
und dafür an<strong>der</strong>e Namen gestrichen. Re<strong>in</strong>hard<br />
Hesse bemerkt zu diesem Vorgang <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung: „Wohl wissend, was das<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich für die Betreffenden bedeuten<br />
würde. Ihr Leben lang hat sie das beschäftigt<br />
– verständlicherweise. Aber – hätten wir es<br />
wirklich an<strong>der</strong>s gemacht?“<br />
Ebenso <strong>in</strong>teressant wie die unterschiedlichen<br />
Über<strong>leben</strong>sgeschichten von Hilde und Rose<br />
s<strong>in</strong>d die Berichte über ihre Abwendung von<br />
den religiösen Lebensformen ihres Elternhau-<br />
ses. Bezeichnend ist, dass beide Frauen solche<br />
Männer geheiratet haben, die für ihre Eltern<br />
nicht akzeptabel waren. Im Falle von Hilde<br />
kann man davon sprechen, dass sie als Jugendliche<br />
vom Judentum zur politischen Religion<br />
des Trotzkismus konvertierte. Sie spricht<br />
von <strong>der</strong> „roten Assimilation“. Anschaulich und<br />
nachvollziehbar skizziert Hilde Berger die<br />
Zwischenschritte, die ihren weltanschaulichen<br />
Wan del markiert haben: Die religiöse Jugendgruppe<br />
ihrer Synagoge wurde von säkular ges<strong>in</strong>nten<br />
Zionisten unterwan<strong>der</strong>t; dann spaltete<br />
sich von dieser Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong>e sozialistisch-zionistische<br />
Gruppe ab; von dieser Position<br />
war <strong>der</strong> Weg nicht mehr weit zum stal<strong>in</strong>istischen<br />
Kommunismus; schließlich landete<br />
sie bei den Trotzkisten, die sich als „Avantgarde<br />
<strong>der</strong> Avantgarde“ verstanden. Im Rückblick<br />
gab die engagierte Revolutionär<strong>in</strong> zu,<br />
dass es ihrer Gruppe ke<strong>in</strong>eswegs nur um Politik<br />
und Weltverbesserung g<strong>in</strong>g: „Wir verbrachten<br />
ke<strong>in</strong> Wochenende <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, g<strong>in</strong>gen immer auf<br />
Wan<strong>der</strong>ungen, sangen deutsche Volkslie<strong>der</strong>,<br />
Wan<strong>der</strong>lie<strong>der</strong>, Lie<strong>der</strong> aus dem deutschen Bauernkrieg<br />
von 1525. Wir liebten alle Lie<strong>der</strong> aus<br />
dieser Zeit. Ironischerweise nicht nur die, welche<br />
die revolutionären Bauern gesungen haben,<br />
son<strong>der</strong>n auch die <strong>der</strong> Söldner, die für die<br />
Feudalherren gegen die Bauern gekämpft haben…<br />
Wir haben sogar auch dann noch Lie<strong>der</strong><br />
von beiden Seiten des Bauernkriegs gesungen,<br />
als wir schon politisches Bewusstse<strong>in</strong> erlangt<br />
hatten und uns die gegensätzliche Bedeutung<br />
dieser Lie<strong>der</strong> klar war.“<br />
Die traurige Geschichte <strong>der</strong> Familie Berger<br />
er<strong>in</strong>nert mich an die unter dem Titel „Der<br />
Fiedler auf dem Dach“ verfilmte Geschichte<br />
des jüdischen Milchmannes Tevje aus Anatevka.<br />
In Berl<strong>in</strong> wie im osteuropäischen Dorf war<br />
die überlieferte jüdische Lebensform sowohl<br />
von <strong>in</strong>nen als auch von außen gefährdet. Zum<br />
Über<strong>leben</strong> e<strong>in</strong>er traditionell-religiösen Kultur<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt braucht es manchmal<br />
Wun<strong>der</strong>.<br />
Yizhak Ahren<br />
Re<strong>in</strong>hard Hesse (Hg.): Ich schrieb mich selbst auf<br />
Sch<strong>in</strong>dlers Liste. Die Geschichte von Hilde und Rose<br />
Berger. Mit e<strong>in</strong>em Geleitwort von B. Beitz, 223 S., Haland<br />
& Wirth im Psychosozial-Verlag, Gießen, 2013.<br />
Musik kann Leben retten<br />
„Inter arma silent musae“ lautet <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ische<br />
Spruch, doch er stimmt nicht immer.<br />
Auch während des Krieges und Mordens wie<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schoa gab es Künstler, die es vermochten,<br />
dank <strong>der</strong> Musen ihr eigenes und manchmal<br />
auch fremdes Leben zu retten. Zwar wurde<br />
die Musik durch die NS-Schergen vielfach<br />
missbraucht, dennoch half sie <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen.<br />
Das wissen wir aus den Er<strong>in</strong>nerungen von<br />
Anita Lasker-Wallfisch und Fania Fénelon an<br />
das Mädchenorchester von Auschwitz, o<strong>der</strong><br />
vom dem „letzten Klesmer Galiziens“, Leopld<br />
Kozlowski-Kle<strong>in</strong>mann. Nun erfahren wir Ähnliches<br />
von Judith Schnei<strong>der</strong>man, die mit Hilfe<br />
ihrer Enkel<strong>in</strong> Jennifer ihre Autobiographie<br />
„Ich sang um me<strong>in</strong> Leben. Er<strong>in</strong>nerungen an<br />
Rachov, Auschwitz und den Neubeg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Amerika“<br />
nie<strong>der</strong>schrieb. In diesem Jahr brachte es<br />
die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden<br />
Europas“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übersetzung von A. Hölscher<br />
heraus.<br />
Die Autor<strong>in</strong>, 1928 <strong>in</strong> <strong>der</strong> damals ungarischen,<br />
nun ukra<strong>in</strong>ischen Karpaten-Kurstadt Rachow<br />
geboren, lebte dort mit Eltern und 7 Geschwistern<br />
bis zur Deportation nach Auschwitz<br />
1944, wo die Eltern und zwei kle<strong>in</strong>e<br />
Schwestern ermordet wurden. Trotz Hunger<br />
und Krankheit überlebte sie mit drei Schwestern<br />
als Zwangsarbeiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gelsenkirchen;<br />
bei e<strong>in</strong>em Bombenangriff <strong>der</strong> Amerikaner<br />
wurde dort jedoch ihre jüngere Schwester getötet.<br />
In <strong>der</strong> Munitionsfabrik <strong>in</strong> Sömmerda,<br />
wo sie später arbeiten mussten, hörte e<strong>in</strong>e SS-<br />
Frau Judith zufällig beim S<strong>in</strong>gen zu und<br />
brachte ihr e<strong>in</strong> deutsches Lied bei, das sie den<br />
Offizieren vorsang: „Zitternd stimmte ich das<br />
Lied über Heimweh an, und da wurden alle<br />
ganz still. Manche we<strong>in</strong>ten sogar; sie we<strong>in</strong>ten<br />
um ihre eigene Heimat.“ Ihre Stimme hat die<br />
Mör<strong>der</strong> besänftigt und rettete den vier Schwestern<br />
das Leben. Nach e<strong>in</strong>em Todesmarsch wurden<br />
sie im Mai 1945 von <strong>der</strong> Roten Armee befreit,<br />
fanden auch ihren Bru<strong>der</strong> und die älteste<br />
Schwester <strong>leben</strong>d wie<strong>der</strong>.<br />
Auf Umwegen kamen sie <strong>in</strong> das DP-Lager<br />
Landsberg am Lech. Dort sang Judith im jiddischen<br />
Theater Hazomir und lernte ihren<br />
Mann P<strong>in</strong>ek, aus Polen stammend, auch er e<strong>in</strong><br />
Über<strong>leben</strong><strong>der</strong> von Buchenwald und Mittelbau-Dora,<br />
kennen. Auch P<strong>in</strong>ek erzählt <strong>in</strong> dem<br />
Buch se<strong>in</strong>e Geschichte. Das Paar emigrierte<br />
nach <strong>der</strong> Heirat <strong>in</strong> die USA, wo sie e<strong>in</strong>e Farm<br />
hatten, vier K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekamen und wo Judith<br />
Schnei<strong>der</strong>man, <strong>in</strong>zwischen verwitwet, bis heute<br />
lebt. In Deutschland erfuhr man von ihrer<br />
Tochter Helene, Kammersänger<strong>in</strong> <strong>in</strong> Stuttgart,<br />
von diesem 2009 im Selbstverlag erschienenen<br />
Buch. Es konnte, zu den unschätzbaren<br />
Zeitzeugen-Dokumenten zählend, mit Hilfe<br />
<strong>der</strong> „Stiftung Er<strong>in</strong>nerung, Verantwortung und<br />
Zukunft“ publiziert werden. Elvira Gröz<strong>in</strong>ger<br />
Judith Schnei<strong>der</strong>man mit Jennifer Schnei<strong>der</strong>man: Ich<br />
sang um me<strong>in</strong> Leben. Er<strong>in</strong>nerungen an Rachov,<br />
Auschwitz und den Neubeg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Amerika, Zeitzeugenreihe<br />
<strong>der</strong> Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden<br />
Europas, dort auch erhältlich. www.stiftung-denkmal.<br />
de/publikationen/zeitzeugenreihe.html, Berl<strong>in</strong>, 2013.<br />
32 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Auf dem Wege zu Weiterem<br />
Kritiker<br />
„Me<strong>in</strong>e Gedichte s<strong>in</strong>d we<strong>der</strong> hermetischer geworden<br />
noch geometrischer; sie s<strong>in</strong>d nicht<br />
Chiffren, sie s<strong>in</strong>d Sprache; sie entfernen sich<br />
nicht noch weiter vom Alltag, sie stehen […]<br />
im Heute.“ So schrieb Paul Celan am 7. April<br />
1970 – kurz nach se<strong>in</strong>er letzten Dichterlesung<br />
<strong>in</strong> Stuttgart und knapp zwei Wochen vor se<strong>in</strong>em<br />
Tod aus Verzweiflung <strong>in</strong> Paris – an se<strong>in</strong>en<br />
Verleger Siegfried Unseld, von dem er sich<br />
verstanden wusste. Er wollte sich wehren<br />
gegen vore<strong>in</strong>genommene Kritiker, die ihm<br />
Sprachlosigkeit unterstellten o<strong>der</strong> ihn e<strong>in</strong>fach<br />
nur totschwiegen. „Ich glaube, ich darf sagen,<br />
dass ich mit diesem Buch e<strong>in</strong> Äußerstes an<br />
menschlicher Erfahrung <strong>in</strong> dieser unserer<br />
Welt und dieser unserer Zeit e<strong>in</strong>gebracht<br />
habe, unverstummt und auf dem Wege zu<br />
Weiterem.“<br />
Celans Er<strong>leben</strong><br />
Den schwierigen Weg Celans <strong>in</strong> die Nachkriegsgesellschaft<br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik zeichnet<br />
die Tüb<strong>in</strong>ger Germanist<strong>in</strong> Barbara Wiedemann<br />
jetzt <strong>in</strong> ihrem neuen Buch „E<strong>in</strong> Faible<br />
für Tüb<strong>in</strong>gen“ nach. Zahlreiche Veröffentlichungen<br />
zu Celan weisen die Verfasser<strong>in</strong> als<br />
Spezialist<strong>in</strong> für den fe<strong>in</strong>fühligen Dichter aus,<br />
<strong>der</strong> se<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutschen KZ <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Ukra<strong>in</strong>e umgebrachten Eltern mit dem Gedicht<br />
„Todesfuge“ das „e<strong>in</strong>zig mögliche Grab“<br />
geben konnte.<br />
Die Verfasser<strong>in</strong> geht e<strong>in</strong>erseits streng chronologisch<br />
vor, an<strong>der</strong>erseits verknüpft sie umfassende<br />
Informationen über das sich än<strong>der</strong>nde<br />
Klima <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>der</strong> Fünfzigerund<br />
Sechzigerjahre mit H<strong>in</strong>weisen und Rückschlüssen<br />
auf die beschriebenen Verhaltensweisen<br />
von Lesern und Zuhörern vor allem im<br />
süddeutschen Raum. Celans Er<strong>leben</strong> wird<br />
durch Zitate aus Briefen belegt. Gedichte lassen<br />
den Leser das von Celan Erlebte unmittelbar<br />
verstehen. Man bekommt Lust, die<br />
Gedichte nachzulesen, sich noch mehr von<br />
Celan anzueignen.<br />
Das Buch beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>em kurzen Rückblick<br />
auf Celans Herkunft Czernowitz <strong>in</strong> Rumänien,<br />
wo er 1920 als Paul Antschel geboren<br />
wurde. Deutsch war im Czernowitz se<strong>in</strong>er<br />
K<strong>in</strong>dheit und Jugend noch Alltags- und Kultursprache.<br />
Die vorher österreichische Stadt<br />
wurde erst 1919 rumänisch und Celans Eltern<br />
sprachen Deutsch, nicht Rumänisch. Celan<br />
selbst überlebte die deutsche Besatzung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Nazi-Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Arbeitslager, se<strong>in</strong>e Eltern<br />
nicht. Zu diesem traumatischen Verlust kamen<br />
antisemitische Strömungen auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
sowjetischen Ukra<strong>in</strong>e nach <strong>der</strong> Befreiung<br />
durch die Rote Armee, sodass Celan über<br />
Bukarest und Wien, wo er sich <strong>in</strong> Ingeborg<br />
Bachmann verliebte, nach Paris auswan<strong>der</strong>te.<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist zu verstehen, was<br />
e<strong>in</strong> halbes Jahr vor se<strong>in</strong>em Tod <strong>in</strong> <strong>der</strong> – auch<br />
von Wiedemann veröffentlichten – „Prosa aus<br />
dem Nachlaß“ steht: „Woh<strong>in</strong> gehen wir. Immer<br />
nachhause. Sie tuns. Ich nicht! Ich hause<br />
im Nach, das da geht und geht.“<br />
„Todesfuge“<br />
Dass Celan am 23. Mai 1952 <strong>in</strong> Niendorf an<br />
<strong>der</strong> Ostsee bei e<strong>in</strong>em Treffen <strong>der</strong> „Gruppe<br />
47“ vorlesen durfte, ist vor allem Ingeborg<br />
Paul Celan<br />
Bachmanns Drängen zuzuschreiben. Sie war<br />
es auch, die ihm die aus eigener Tasche bezahlte<br />
Fahrkarte zugeschickt hatte. Die Erwähnung<br />
solch kle<strong>in</strong>er Details gibt dem Buch<br />
e<strong>in</strong>e Dimension, die weit über den streng<br />
wissenschaftlichen Ansatz h<strong>in</strong>ausreicht und<br />
Persönliches sichtbar macht. Die Reaktionen<br />
<strong>der</strong> Dichterkollegen <strong>in</strong> Niendorf reichten von<br />
Unverständnis bis Ablehnung, was sich jedoch<br />
weniger auf Inhalt und Form <strong>der</strong> Gedichte<br />
bezog, son<strong>der</strong>n auf die Art des Vortrags. Walter<br />
Jens sprach von „e<strong>in</strong>em Re<strong>in</strong>fall“. Und<br />
Hans Werner Richter sagte gar: „Der liest ja<br />
wie Goebbels“ und ließ die „Todesfuge“ angeblich<br />
noch e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>em Schauspieler<br />
vortragen. „Zur aufgekommenen Unruhe<br />
sche<strong>in</strong>t allerd<strong>in</strong>gs nicht recht zu passen, dass<br />
sich Inge Jens nur an die „Todesfuge“ er<strong>in</strong>nert<br />
und daran, dass nach <strong>der</strong>en Lesung völliges<br />
Stillschweigen e<strong>in</strong>getreten sei“, ergänzt Barbara<br />
Wiedemann <strong>in</strong> ihrem Buch. Der unverfrorene<br />
Umgang mit se<strong>in</strong>em Vortrag verletzte<br />
Celan zutiefst. Se<strong>in</strong>e Art, Wirklichkeit sprachlich<br />
zu verarbeiten, wurde jedoch sowohl beim<br />
ersten Niendorfer Auftritt als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
ersten Veröffentlichung „Mohn und Gedächtnis“<br />
sofort als etwas Neues erkannt und gewürdigt.<br />
In Niendorf, erläutert die Autor<strong>in</strong>,<br />
bekam er immerh<strong>in</strong> „als Drittplatzierter und<br />
erster Lyriker 6 Stimmen“. Diese Ambivalenz,<br />
das „Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von großer Wirkung, ja,<br />
Erfolg, und Abwehr“ hat Paul Celan, wie<br />
Wiedemann herausarbeitet, se<strong>in</strong> Leben lang<br />
begleitet.<br />
„Grab <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft“<br />
Vor allem die „Todesfuge“ führte bei Lesungen,<br />
egal, ob sie <strong>in</strong> Niendorf, <strong>in</strong> Stuttgart, <strong>in</strong><br />
Essl<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Tüb<strong>in</strong>gen stattfanden, zu<br />
Betroffenheit. Und wenn dann Kritiker <strong>der</strong><br />
„Todesfuge“ „surrealistische Züge“, „sau gende[n]<br />
Rhythmus“, „romantisierende Metapher“<br />
und „lyrische Alchimie“ zuschrieben,<br />
lagen sie, wie Wiedemann nachweist, e<strong>in</strong>deutig<br />
neben <strong>der</strong> Auffassung <strong>der</strong> meisten<br />
Leser und Zuhörer. Celan g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Gedichten nicht um „potenzierte Wirklichkeit“,<br />
son<strong>der</strong>n um „e<strong>in</strong>e ansprechbare Wirklichkeit“,<br />
die sich nur im <strong>in</strong>neren Dialog mit<br />
dem Leser/Zuhörer entfalten kann. So<br />
schreibt er zur „Todesfuge“ an Walter Jens,<br />
<strong>der</strong> ihm zu e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> wichtigsten Fürsprecher<br />
werden sollte: „Das ›Grab <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft‹ – lieber<br />
Walter Jens, das ist, <strong>in</strong> diesem Gedicht, weiß<br />
Gott we<strong>der</strong> Entlehnung noch Metapher.“<br />
und: erst „Wie<strong>der</strong>begegnung [macht] Begegnung<br />
zur Begegnung.“ Damit wird Celans<br />
Anspruch an se<strong>in</strong>e Leser, <strong>in</strong> den <strong>in</strong>neren<br />
Dialog zu treten mit dem, was im Gedicht<br />
mit geteilt wird, deutlich. Auch die Form <strong>der</strong><br />
„Fuge“ hat Celan nicht vorsätzlich aus <strong>der</strong><br />
Musik entlehnt, sie ergab sich im Rahmen des<br />
poetischen Verdichtungsprozesses.<br />
„Mohn und Gedächtnis“<br />
Entgegen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schätzung mancher Kollegen<br />
<strong>in</strong> Niendorf wurde <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong><br />
Deutschen Verlagsanstalt aus Stuttgart, die<br />
als Sponsor <strong>der</strong> Gruppe 47 auftrat, sofort<br />
auf den neuen Ton <strong>in</strong> Celans Dichtung aufmerksam.<br />
Nach langen Verhandlungen begann<br />
<strong>der</strong> Verlag 1952 mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Auflage<br />
von „Mohn und Gedächtnis“. Der Erfolg<br />
des Gedicht bandes war so durchschlagend,<br />
dass 1954 bereits e<strong>in</strong>e Neuauflage gedruckt<br />
wurde.<br />
Recherchen <strong>in</strong> Archiven<br />
Anhand <strong>der</strong> Verhandlungen mit Verlagen<br />
zeichnet Wiedemann den langen Weg des<br />
Dichters <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Land nach, dessen Sprache<br />
die für ihn e<strong>in</strong>zig mögliche war. Nach vielen<br />
Versuchen fand er endlich beim Suhrkamp-<br />
Verlag e<strong>in</strong>e Bleibe als Dichter. Wie schwierig<br />
die An näherung für beide Seiten war, für die<br />
Verlage und den gebrandmarkten Dichter,<br />
zeigt Wiedemann an detaillierten Recherchen<br />
<strong>in</strong> zahlreichen Archiven. Nebenbei bekommt<br />
<strong>der</strong> Leser spannenden Geschichtsunterricht:<br />
Die Denkweise gegenüber Juden<br />
<strong>in</strong> den Dreißigerjahren wird aufgezeigt, die<br />
frühe Zweckentfremdung von Synagogen,<br />
das unsichere, oft von antisemitischer Grundhaltung<br />
geprägte Verhalten <strong>der</strong> Bundesbürger<br />
<strong>in</strong> den Fünfzigerjahren, die Verunsicherung<br />
durch die Achtundsechziger. Das schier unerschöpfliche<br />
Detailwissen wird souverän <strong>in</strong><br />
den chronologischen Ablauf e<strong>in</strong>gebaut, und<br />
wenn im Schlusskapitel Kritik an <strong>der</strong> schludrigen,<br />
nachlässigen, ja verächtlichen Berichterstattung<br />
<strong>in</strong> den Medien über Celans Tod<br />
deutlich wird, wird klar, dass mit diesem<br />
Sachbuch, das sich wie e<strong>in</strong> Krimi liest, mit<br />
Empathie und Sachverstand e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> besten<br />
Dichter <strong>der</strong> deutschen Sprache e<strong>in</strong> würdiges<br />
Denkmal gesetzt wird.<br />
Gisèle de Lestrange<br />
Die zahlreichen Fahrten nach Tüb<strong>in</strong>gen und<br />
Stuttgart von 1952 bis 1968 – verknüpft mit<br />
Lesungen vor unterschiedlichem Publikum –<br />
brachten für Celan auch den Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>iger<br />
Freunde mit sich, wie das Stuttgarter Ehepaar<br />
Hanne und Hermann Lenz. Mit se<strong>in</strong>er Frau,<br />
<strong>der</strong> französischen Maler<strong>in</strong> Gisèle de Lestrange,<br />
und dem kle<strong>in</strong>en Sohn Eric war Celan<br />
dort immer willkommen. Allerd<strong>in</strong>gs g<strong>in</strong>g diese<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 33
Freundschaft be<strong>in</strong>ahe <strong>in</strong> die Brüche. Dies ist<br />
nicht zuletzt auf die Verleumdungen durch<br />
Claire Goll, <strong>der</strong> Witwe Yvan Golls, zurückzuführen.<br />
Waren Claire und Yvan Goll <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
ersten Pariser Zeit für Celan zunächst e<strong>in</strong><br />
Anker und die e<strong>in</strong>zig wirklichen Freunde, än<strong>der</strong>te<br />
sich die Beziehung zu Claire bald nach<br />
Yvans Tod. Noch am Sterbebett hatte Yvan<br />
Goll verfügt, dass Celan freie Hand bei <strong>der</strong><br />
posthumen Veröffentlichung von Golls Manuskripten,<br />
vor allem <strong>der</strong> Übertragungen se<strong>in</strong>er<br />
Gedichte <strong>in</strong>s Deutsche hatte. Doch je länger<br />
ihr Mann tot war, umso mehr trat Claire Goll<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en eigenen „Dialog“ mit dem verstorbenen<br />
Ehepartner, verwandte Vorschläge von<br />
Celan, baute sie <strong>in</strong> Golls Gedichte e<strong>in</strong>, gab sie<br />
selbst heraus und bezichtigte Celan des Plagiats.<br />
Das Durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong> war für Außenstehende<br />
schwer zu durchschauen und wurde<br />
durch die regelrechte Verleumdung seitens<br />
Claire Golls, Celan gebe den Tod se<strong>in</strong>er Eltern<br />
im KZ nur vor, auf die Spitze getrieben.<br />
In diesem Streit war Walter Jens e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen,<br />
<strong>der</strong> sich engagiert zu Celan bekannte.<br />
„Vielleicht fühlte sich Celan nicht e<strong>in</strong>mal von<br />
se<strong>in</strong>er jüdischen Freund<strong>in</strong> Hanne Lenz ganz<br />
ernstgenommen“, vermutet Babara Wiedemann,<br />
denn wie viele an<strong>der</strong>e riet Hanne Lenz<br />
von e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>stweiligen Verfügung gegen Claire<br />
Goll ab. Mit viel H<strong>in</strong>tergrundwissen macht<br />
Wiedemann die verheerende Wirkung <strong>der</strong><br />
Goll’schen Anklagen auf Celan deutlich. Und<br />
sie entfaltet die e<strong>in</strong>zelnen Entwicklungsschritte<br />
<strong>der</strong> Verzweiflung, die Celan gegen Ende se<strong>in</strong>es<br />
Lebens sowohl <strong>in</strong> die Psychiatrie brachte, als<br />
auch zur Trennung von Frau und K<strong>in</strong>d, bis er<br />
sich endlich von niemandem mehr verstanden<br />
sah und <strong>in</strong> die Se<strong>in</strong>e stürzte.<br />
Appell<br />
Celans Satz, er sei „Auf dem Wege zu Weiterem“,<br />
kann vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Lektüre<br />
dieses Buches auch als Appell verstanden<br />
werden, den nachfolgenden Generationen<br />
Zugang zu Celans Lyrik zu ermöglichen. Für<br />
Deutschlehrer stellt dieses Buch erhellende<br />
Zusammenhänge her. Germanistikstudenten<br />
müssten es lesen. Der Liebhaber von Lyrik<br />
bekommt e<strong>in</strong>en übersichtlichen, spannend<br />
geschriebenen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Tragik dieses<br />
Lebens und <strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />
Am Schluss bleibt das für den Leser sehr<br />
praktische Werk- und Personenregister zu erwähnen,<br />
das dem beim Lesen entstehenden<br />
Bedürfnis nachzuschlagen, Aussagen zu ver-<br />
gleichen, sehr entgegenkommt. E<strong>in</strong> lesenswertes<br />
Buch! Priska Tschan-Wiegelmann<br />
Barbara Wiedemann: „E<strong>in</strong> Faible für Tüb<strong>in</strong>gen“ Paul<br />
Celan <strong>in</strong> Württemberg, Deutschland und Paul Celan,<br />
292 S., Klöpfer und Meyer Verlag, Tüb<strong>in</strong>gen, September<br />
2013.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichten<br />
N<strong>in</strong>el Revniaga trägt e<strong>in</strong>en Vornamen, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
den 1920er-Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion sehr<br />
beliebt war. Liest man ihn vom Ende, ergibt<br />
er Len<strong>in</strong>. N<strong>in</strong>el-Len<strong>in</strong>, geboren 1925, kommt<br />
aus e<strong>in</strong>er armen jüdischen Familie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e.<br />
Ihr Vater arbeitete für die Partei im<br />
Lebensmittelsektor und er war viel unterwegs,<br />
aber N<strong>in</strong>el berichtet, dass sie e<strong>in</strong>e glückliche<br />
K<strong>in</strong>dheit hatte. Das än<strong>der</strong>te sich 1937. „E<strong>in</strong>es<br />
Tages kamen die Leute <strong>in</strong> unser Haus und verhafteten<br />
me<strong>in</strong>en Vater. Er wurde zum Volksfe<strong>in</strong>d<br />
erklärt. In e<strong>in</strong>em Getreidespeicher waren<br />
Kornkäfer aufgetaucht. Man sagte, me<strong>in</strong><br />
Vater sei e<strong>in</strong> Volksfe<strong>in</strong>d, weil er das Getreide<br />
vernichten wolle.“<br />
Im Juni 1941 wurde Kiew bombardiert und<br />
Ende des Jahres musste N<strong>in</strong>els Schwester mit<br />
gerade 18 Jahren mit <strong>der</strong> Roten Armee an die<br />
Front. Nach dem Krieg g<strong>in</strong>g die Familie nach<br />
Kiew zurück und N<strong>in</strong>el wurde Geschichtslehrer<strong>in</strong>.<br />
In <strong>der</strong> Sowjetunion war das Leben nicht<br />
leicht, „<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Frauen“, erzählt sie.<br />
„Nach <strong>der</strong> Arbeit musste man Lebensmittel<br />
besorgen und Schlange stehen. Wir standen<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Stunde lang, um e<strong>in</strong> Stück<br />
Wurst zu kaufen.“<br />
Im Jahr 1995 entschlossen sich ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />
nach Deutschland zu gehen und sie kümmerten<br />
sich um die notwendigen Papiere. „Nach<br />
me<strong>in</strong>er Ankunft g<strong>in</strong>g ich sofort <strong>in</strong> die Jüdische<br />
Geme<strong>in</strong>de. Woh<strong>in</strong> denn sonst? Dort s<strong>in</strong>d ja<br />
alle russischsprachig. Mir gefällt es hier und es<br />
kamen bei mir Fähigkeiten zum Vorsche<strong>in</strong>,<br />
die ich nicht geahnt hätte. Ich begann Gedichte<br />
zu schreiben.“<br />
Namen und Gesichter<br />
„Hier machen Fakten und Daten Platz für Namen<br />
und Gesichter“, schreibt NRW-M<strong>in</strong>isterpräsident<strong>in</strong><br />
Hannelore Kraft im Vorwort zu<br />
diesem Buch. Und zu diesen Namen und Gesichtern<br />
gehören auch Geschichten, Lebensgeschichten.<br />
Die Historiker Ursula Reuter<br />
und Thomas Roth haben mit 40 aus <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Sowjetunion nach Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />
zugewan<strong>der</strong>ten Juden „biografisch-narrative“<br />
Interviews geführt, sie sorgfältig redigiert<br />
und jetzt zweisprachig, <strong>in</strong> Deutsch und <strong>in</strong><br />
Russisch, publiziert.<br />
Er<strong>in</strong>nerungen<br />
Grundlage für das spannend zu lesende Buch<br />
war e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Projekt <strong>der</strong> Jüdischen<br />
NRW-Geme<strong>in</strong>den mit dem NS-Dokumentationszentrum<br />
<strong>der</strong> Stadt Köln. Dieses 2009<br />
begonnene Projekt „Lebensgeschichten jüdischer<br />
Zuwan<strong>der</strong>er aus <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion<br />
<strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen“ wollte die<br />
Men schen nicht abstrakt als soziale Gruppe<br />
beschreiben, son<strong>der</strong>n „beispielhaft auf die<br />
Lebensläufe, Er<strong>in</strong>nerungen und Erzählungen<br />
34 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
aufmerksam machen“, sagt Werner Jung, Direktor<br />
des Kölner Dokumentationszentrum.<br />
Er nennt die Ergebnisse „Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichten“,<br />
denn die Erzählungen beg<strong>in</strong>nen<br />
teilweise mit dem Ersten Weltkrieg und sie<br />
enden am Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
neuen Heimat <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Leben und Über<strong>leben</strong><br />
„Unsere GesprächspartnerInnen sollten nach<br />
eigenen Vorstellungen und ohne strenge Vorgaben<br />
von ihrem Leben erzählen, von den Ereignissen<br />
und Erfahrungen, die ihnen selbst<br />
wichtig erschienen“, erläutern die „Buch-Macher“<br />
ihr Interview-Konzept. Trotzdem behandeln<br />
alle Interwies „den familiären H<strong>in</strong>tergrund,<br />
K<strong>in</strong>dheit und Jugend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion,<br />
das Leben und Über<strong>leben</strong> im Krieg,<br />
Nachkriegszeit und Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> sowjetischen Gesellschaft, den gesellschaftlichen<br />
Umbruch vor und nach 1990, die<br />
Entscheidung zur Auswan<strong>der</strong>ung sowie Ankunft<br />
und Leben <strong>in</strong> Deutschland“.<br />
Den „Buch-Machern“, dazu zählen auch die<br />
Fotograf<strong>in</strong> Anna C. Wagner, Lew Walamas als<br />
Übersetzer und verb<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Kommunikator<br />
und e<strong>in</strong> engagierter Verlag, ist e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende<br />
Sammlung von Lebensgeschichten<br />
gelungen. Sie könnte den Blick auf die mittlerweile<br />
dom<strong>in</strong>ierende Mitglie<strong>der</strong>-Gruppe <strong>der</strong><br />
jüdischen Geme<strong>in</strong>den nachhaltig verän<strong>der</strong>n.<br />
Benno Reicher<br />
Ursula Reuter, Thomas Roth: Lebenswege und Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichten,<br />
Er<strong>in</strong>nerungen jüdischer Zuwan<strong>der</strong>er<br />
aus <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-<br />
Westfalen, 544 S., Emons Verlag, Köln, 2013.<br />
Uns kriegt ihr nicht<br />
Immer hat es Über<strong>leben</strong>de gegeben, auch <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Schoa. Manche überlebten, weil sie untergetaucht<br />
waren. Und diese Über<strong>leben</strong>den<br />
schwiegen lange, bis sie, oft erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortgeschrittenen<br />
Alter, das Schweigen nicht<br />
mehr ertragen konnten. Sie begannen zu erzählen,<br />
davon, was sie an Schrecklichem erlebt<br />
hatten und davon, wie sie über<strong>leben</strong><br />
konnten.<br />
Zwei, die nicht nur zuhörten, son<strong>der</strong>n auch<br />
notierten, waren T<strong>in</strong>a Hüttl und Alexan<strong>der</strong><br />
Me schnig. Zwei Nachgeborene: die e<strong>in</strong>e 1975<br />
<strong>in</strong> München auf die Welt gekommen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
1965 <strong>in</strong> Dornbirn <strong>in</strong> Österreich, beide als<br />
Journalisten und Autoren professionelle Schreiber.<br />
Sie sammelten die Geschichten und veröffentlichten<br />
sie <strong>in</strong> diesem Jahr als Buch.<br />
Dar<strong>in</strong> befassen sie sich mit den Untergetauchten:<br />
jenen, die sich wi<strong>der</strong>setzten, sich nicht bei<br />
den anbefohlenen Sammelstellen meldeten,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> den Untergrund g<strong>in</strong>gen und <strong>in</strong><br />
Kellern, <strong>in</strong> Schrebergärten und auf Dachböden<br />
überlebten. Mut brauchten sie und die<br />
Hilfe von Menschen guten Willens, die sie tatsächlich<br />
fanden.<br />
„Auslöser für den Schritt <strong>in</strong> die Illegalität war<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes Ereignis: die Abholung<br />
Verwandter; die schriftliche Auffor<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Gestapo, sich an e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Sammelplätze<br />
für den Transport e<strong>in</strong>zuf<strong>in</strong>den; die konkrete<br />
Angst vor e<strong>in</strong>em Denunzianten o<strong>der</strong> die<br />
rechtzeitige Warnung durch Dritte. Erst Erlebnisse<br />
wie diese machten ihnen schlagartig<br />
klar, dass sie nun e<strong>in</strong>e Entscheidung treffen<br />
mussten“, schreiben die Autoren <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>leitung<br />
und „für das Über<strong>leben</strong> im Versteck<br />
waren sie auf vielfache Unterstützung angewiesen:<br />
e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Beistand o<strong>der</strong> meistens<br />
e<strong>in</strong> Netz von Helfern; verschiedene Unterkünfte;<br />
die Möglichkeit, Nahrung zu beschaffen;<br />
gefälschte Papiere. Das Risiko, trotz aller<br />
Vorsichtsmaßnahmen dennoch entdeckt o<strong>der</strong><br />
denunziert zu werden, war zu jedem Zeitpunkt<br />
bis Kriegsende äußerst hoch. Zur falschen<br />
Zeit am falschen Ort zu se<strong>in</strong> konnte<br />
stets den eigenen Tod bedeuten.“<br />
Von den <strong>in</strong>sgesamt 15 Über<strong>leben</strong>den, die im<br />
Buch zu Wort kommen, s<strong>in</strong>d neun Frauen und<br />
sechs Männer. Die ältesten Über<strong>leben</strong>den<br />
s<strong>in</strong>d 1920 und 1921 geboren, die jüngsten<br />
1941 und 1942. Dass aber auch diese Über<strong>leben</strong>den<br />
bald nicht mehr unter uns weilen,<br />
davon zeugt die Tatsache, dass zwei <strong>der</strong> Befragten<br />
nicht mehr die Veröffentlichung des<br />
Buches erlebten.<br />
Den Autoren ist zu danken, dass sie die Schil<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Zeitzeugen, abgesehen von behutsamen<br />
Korrekturen, weitgehend übernommen<br />
haben, sodass man beim Lesen den E<strong>in</strong>druck<br />
hat, man lausche persönlich ihren Geschichten.<br />
E<strong>in</strong> wichtiger Beitrag zur Geschichte <strong>der</strong><br />
Schoa, <strong>der</strong> viele Leser verdient hat.<br />
Miriam Magall<br />
T<strong>in</strong>a Hüttl, Alexan<strong>der</strong> Meschnig: Uns kriegt ihr nicht.<br />
Als K<strong>in</strong><strong>der</strong> versteckt – jüdische Über<strong>leben</strong>de erzählen,<br />
287 S., Piper Verlag, München, 2013.<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 35
RUSSISCHE BEITRÄGE (Redaktion: Vladislav Zeev Slepoy)<br />
36 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 37
38 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
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JIDDISCHER BEITRAG (Redaktion: Marion Eichelsdörfer, Hochschule für Jüdische Studien)<br />
Jiddische Dichter aus dem Ghetto Lodz:<br />
Jerachmiel Briks<br />
(1912–1974)<br />
„Die jiddische Literatur muss die Sprache und das<br />
Gewissen e<strong>in</strong>es gejagten und geschundenen Volkes<br />
se<strong>in</strong>.“1 (J. L. Perets)<br />
Jerachmiel (Rachmiel) Briks wurde am 18. April<br />
1912 <strong>in</strong> Skarżysko-Kamienna, Polen, geboren. Er<br />
wuchs <strong>in</strong> armen Verhältnissen als e<strong>in</strong>es von acht<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n auf. Se<strong>in</strong> Vater, Reb Toyve, war Chassid<br />
und e<strong>in</strong> Gelehrter, Kantor und Vorbeter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Geme<strong>in</strong>de. Jerachmiel erhielt sowohl e<strong>in</strong>e traditionelle<br />
jüdische Erziehung als auch e<strong>in</strong>e weltliche<br />
Bildung. Bereits im Alter von vierzehn Jahren<br />
musste er als Hutmacher und Anstreicher mit für<br />
den Lebensunterhalt <strong>der</strong> Familie sorgen. Als junger<br />
Mann kam Briks nach Lodz, wo er das Schauspielen<br />
lernte und mit den Gruppen Ojfgang (Aufgang)<br />
und Lodscher jidischer teater studije (Lodzer<br />
jüdische Theatergruppe) auftrat. Im Jahr 1937 erschien<br />
se<strong>in</strong> erstes Gedicht Alejn (Alle<strong>in</strong>) <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Zeitschrift Insl <strong>in</strong> Lodz und zwei Jahre später,<br />
1939, publizierte er se<strong>in</strong>en ersten Lyrikband Jung<br />
gr<strong>in</strong> maj (Junger, grüner Mai) mit Gedichten<br />
polnischer Landschaftsbil<strong>der</strong>. Als die Deutschen<br />
Polen angriffen und besetzten, g<strong>in</strong>g Briks nach<br />
Warschau, um bei <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Stadt zu<br />
helfen. Dort wurde er von den Besatzern gefangen<br />
genommen und musste acht Wochen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefangenenlager<br />
verbr<strong>in</strong>gen.2 Nach se<strong>in</strong>er Freilassung<br />
suchte er noch im Jahr 1939 Mordechai Gebirtig<br />
(1877–1942) <strong>in</strong> Krakau auf. Er beschrieb<br />
diese Begegnung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren Di antlojfers.<br />
Fun gsise tsum <strong>leben</strong> (Die Flüchtl<strong>in</strong>ge. Von<br />
Agonie zum Leben). Gebirtig trug ihm se<strong>in</strong> Gedicht<br />
S’brent vor, von dessen rascher Verbreitung<br />
<strong>in</strong> den Straßen <strong>der</strong> Ghettos und <strong>in</strong> den Lagern<br />
Briks <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen schreibt. Gebirtig<br />
habe Herz und Seele se<strong>in</strong>es Volkes <strong>in</strong> das Gedicht<br />
gelegt und daher habe es schließlich auch e<strong>in</strong>en<br />
Volksliedcharakter erhalten. Allerd<strong>in</strong>gs war Briks<br />
damals, zum Zeitpunkt ihrer Begegnung, nicht mit<br />
Gebirtigs Pessimismus e<strong>in</strong>verstanden. „1940 war<br />
ich Optimist […]. Später habe ich e<strong>in</strong> optimistisches<br />
Gedicht als Antwort geschrieben und es ihm<br />
gewidmet.“3 Das Gedicht Nischt farzwajflen entstand<br />
1940 im Ghetto von Lodz und wurde dort<br />
zum ersten Mal öffentlich vorgetragen. Damit<br />
brachte Briks se<strong>in</strong>e Hoffnung und se<strong>in</strong>en Glauben<br />
an e<strong>in</strong>e positive Zukunft zum Ausdruck.<br />
Nicht verzweifeln<br />
Es ist nur e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>dböe –<br />
Verzweifle nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d.<br />
Wir s<strong>in</strong>d alte Bäume, hoch und breit,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Erde verwurzelt<br />
mit Kronen,<br />
die die Welt schmücken;<br />
starke Stürme<br />
können uns<br />
nur die Blätter abreißen,<br />
die Zweige abbrechen,<br />
aber nicht die Kronen.<br />
Starke, tiefverwurzelte Bäume<br />
kann <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d nicht ausreißen,<br />
nicht entwurzeln!<br />
Wir s<strong>in</strong>d ewige Bäume,<br />
die <strong>der</strong> Welt nahrhafte Früchte br<strong>in</strong>gen.<br />
Wir werden ewig se<strong>in</strong>!<br />
Es ist nur e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>dböe –<br />
Verzweifle nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d … 4<br />
An Simchat Tora 1942 lösten die Deutschen das<br />
Ghetto von Skarżysko auf und brachten alle E<strong>in</strong>wohner<br />
nach Trebl<strong>in</strong>ka. Dort wurde auch Jerachmiel<br />
Briks Familie ermordet, während er sich noch<br />
immer im Lodzer Ghetto befand.5 Trotz <strong>der</strong><br />
schwierigen Umstände im Ghetto setzte er se<strong>in</strong>e<br />
schriftstellerische Arbeit fort und half bei <strong>der</strong> Organisation<br />
<strong>der</strong> Literatengruppe um die Schriftsteller<strong>in</strong><br />
Miriam Ul<strong>in</strong>ower, <strong>in</strong> <strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>em Jesaja<br />
Spiegel, Simcha Bunim Schajewitch und Chawa<br />
Rosenfarb Mitglie<strong>der</strong> waren. Briks, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Texte<br />
an den Literatur abenden selbst vortrug, wurde<br />
schließlich, vermutlich wegen se<strong>in</strong>er unbequemen<br />
Texte, auf e<strong>in</strong>e Deportationsliste gesetzt und erst<br />
durch das E<strong>in</strong>schreiten von Freunden wie<strong>der</strong> von<br />
dieser gestrichen.6<br />
Als im August 1944 das Ghetto aufgelöst wurde,<br />
kam Jerachmiel Briks mit e<strong>in</strong>em Transport nach<br />
Auschwitz. Wie aus vielen an<strong>der</strong>en autobiographischen<br />
Berichten bekannt, wurden auch ihm hier<br />
se<strong>in</strong>e aufgeschriebenen Texte und Gedichte entrissen<br />
und zerstört. Damit er sie jedoch nicht verlor,<br />
memorierte er sie immer wie<strong>der</strong>, um sie bei Gelegenheit<br />
wie<strong>der</strong> aufschreiben zu können. Während<br />
<strong>der</strong> Zeit im Lager gelang es Briks jedoch nur e<strong>in</strong>mal,<br />
e<strong>in</strong> Gedicht auf e<strong>in</strong>en Papierrest zu schreiben;<br />
es hieß Der gehongener (Der Gehängte).7<br />
Da Briks selbst noch jung und mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
bei Kräften war, wurde er als Arbeitskraft zur<br />
Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. Er kam<br />
mit e<strong>in</strong>em Transport nach Braunschweig, wo er für<br />
die Büss<strong>in</strong>g-NAG, e<strong>in</strong>en großen Kraftfahrzeughersteller,<br />
arbeiten musste. Im Lager Vechelde wurden<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen Jutesp<strong>in</strong>nerei Reifen für militärische<br />
Lastautos hergestellt.8 Später wurden die<br />
jüdischen Gefangenen mit e<strong>in</strong>em Fußmarsch zum<br />
KZ Watenstedt gebracht. Hier musste für die Stahlwerke<br />
Braunschweig, die Reichswerke Herman Gör<strong>in</strong>g,<br />
gearbeitet werden.9 Nach e<strong>in</strong>igen Wochen<br />
hieß es schließlich, man würde jüdische Zwangsarbeiter<br />
<strong>in</strong> die Schweiz br<strong>in</strong>gen, um sie gegen verwundete<br />
deutsche Soldaten auszutauschen. Doch<br />
statt <strong>in</strong> die Schweiz wurden sie <strong>in</strong> das KZ Wöbbel<strong>in</strong>,<br />
e<strong>in</strong> Außenlager von Neuengamme, gebracht.<br />
In Baracken ohne Pritschen, ohne festen Boden,<br />
mussten sie <strong>in</strong> Erdlöchern liegen. In <strong>der</strong> Nacht<br />
zum 1. Mai 1945 versuchte die SS schließlich<br />
noch, die Gefangenen per Zug wegzubr<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong><br />
amerikanischer Tiefflieger bombardierte jedoch<br />
die Lok, so dass sie im Lager Wöbbel<strong>in</strong> blieben.<br />
Noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht zum 2. Mai 1945 flüchtete das<br />
SS-Personal <strong>in</strong> ziviler Kleidung und ließ die Gefangenen<br />
zurück.10<br />
Nach <strong>der</strong> Befreiung am 2. Mai 1945 und e<strong>in</strong>em<br />
längeren Krankenhausaufenthalt <strong>in</strong> Bergen-Belsen<br />
brachte das Rote Kreuz Briks zur besseren Heilung<br />
nach Schweden. In den dortigen Krankenhäusern<br />
und Sanatorien hat er weiterh<strong>in</strong> geschrieben.<br />
Er übernahm kulturelle Aufgaben für die Über<strong>leben</strong>den<br />
und war <strong>der</strong> offizielle Korrespondent des<br />
YIVO (Jidischer wisnschaftlicher <strong>in</strong>stitut) <strong>in</strong><br />
Schweden. Das blieb er e<strong>in</strong>ige Jahre, <strong>in</strong> denen er<br />
<strong>in</strong> regem Briefkontakt stand mit dem L<strong>in</strong>guisten<br />
Max We<strong>in</strong>reich (1894–1969), dem Grün<strong>der</strong> des<br />
YIVO. Briks sandte ihm Materialien über das jüdische<br />
Leben <strong>in</strong> Schweden. Zudem hat sich Jerachmiel<br />
Briks darum bemüht das „Zonabend-Archiv“,<br />
das wichtigste Archiv zur Geschichte des Lodzer<br />
Ghetto, dem YIVO zukommen zu lassen.11 Der<br />
Namensgeber des Archivs, Nachman Zonabend,<br />
war Teil e<strong>in</strong>es im Ghetto Lodz zurückgelassenen<br />
Aufräumkommandos, das dort Spuren verwischen<br />
sollte. Stattdessen hat er aber Materialien gesammelt<br />
und vor Ort sicher versteckt, damit sie wie<strong>der</strong><br />
geborgen werden konnten. So hatte er „die Dokumente<br />
aus dem Archiv des Judenältesten“ im Januar<br />
1945 retten können […], [er entschied] die<br />
Schriften nicht nur an e<strong>in</strong>em Ort zur Aufbewahrung<br />
zu belassen. Während er den Großteil <strong>der</strong> Archivalien<br />
<strong>der</strong> Jüdischen Historischen Kommission<br />
übergab (<strong>der</strong> Vorgänger<strong>in</strong>stitution des heutigen Jüdischen<br />
Historischen Instituts <strong>in</strong> Warschau), versuchte<br />
er <strong>in</strong> den Jahren 1945 und 1946 Teile des<br />
geborgenen Materials <strong>in</strong>s Ausland zu schaffen,<br />
was aber zunächst misslang. Erst 1947 konnte<br />
Zon abend nach Schweden auswan<strong>der</strong>n und die so<br />
außer Landes gebrachten Dokumente nach New<br />
York <strong>in</strong> das dortige YIVO-Institut und auch nach<br />
Yad Vashem (Israel) weitergeben“.12<br />
Im März 1949 hat Max We<strong>in</strong>reich schließlich<br />
Briks und se<strong>in</strong>e Frau, zusammen mit ihren beiden<br />
kle<strong>in</strong>en Töchtern, nach New York gebracht. Er<br />
me<strong>in</strong>te, wenn Briks wirklich als jiddischer Autor<br />
aktiv se<strong>in</strong> wolle, dann müsse er <strong>in</strong> die USA kommen.<br />
Im November 1946 veröffentlichte Briks im<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> Journal, unter <strong>der</strong> Leitung des Literaturkritikers<br />
Schmuel Niger (1883–1955), se<strong>in</strong>e Geschichte<br />
Berele <strong>in</strong> geto (Berele im Ghetto). Se<strong>in</strong>e<br />
Novelle A kats <strong>in</strong> geto (E<strong>in</strong>e Katze im Ghetto)<br />
wollte zunächst ke<strong>in</strong> Verlag und ke<strong>in</strong>e Zeitschrift<br />
drucken. Schließlich ist es den Bemühungen des<br />
Dichters Abraham Reisen (1876–1953) zu verdanken,<br />
dass die Zeitung Tog (Tag) unter <strong>der</strong> Leitung<br />
von Ahron Zeitl<strong>in</strong> (1898–1973) im Oktober 1949<br />
die Novelle als Fortsetzungsgeschichte veröffentlichte.<br />
Die Literaturkritik lobte Briks Text als e<strong>in</strong>zigartig<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> „Churbnliteratur“. Der jiddische<br />
Autor Mani Lejb (1883–1953) schrieb am 14. September<br />
1950 an Briks: „Ihnen ist es gelungen, etwas<br />
Kunstvolles zu schaffen, das wegen <strong>der</strong> ausgezeichneten<br />
Geschichte tragikomisch ist, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
sich um e<strong>in</strong>e Katze herum <strong>der</strong> größte jüdische<br />
Schmerz und größte Tragik entwickeln. E<strong>in</strong>e Katze<br />
im Ghetto bietet sich zur Dramatisierung und<br />
Aufführung an. […] Wenn Sie sie dramatisieren,<br />
kann es e<strong>in</strong>e große Tragikomödie werden, die unser<br />
Unglück auf e<strong>in</strong>e Weise symbolisieren wird,<br />
die die gesamte dokumentarische Literatur über<br />
unseren Churbn nicht erreichen konnte.“13 Tatsächlich<br />
wird die Novelle <strong>in</strong> Auszügen auf <strong>der</strong> jiddischen<br />
Bühne szenisch umgesetzt, es entsteht e<strong>in</strong><br />
Hörspiel für das Radio und schließlich schreibt <strong>der</strong><br />
Fernsehautor Schimon W<strong>in</strong>celberger e<strong>in</strong>e Bearbeitung<br />
als Theaterstück mit dem Titel The w<strong>in</strong>dows<br />
of heaven (1962).14<br />
Im Jahr 1952 erschien e<strong>in</strong>e erste Sammlung von<br />
Briks’ Novellen unter dem Titel Ojf kidesch ha-<br />
Schem (Für die Heiligung des göttlichen Namens).<br />
Das Buch wurde e<strong>in</strong> großer Erfolg und <strong>in</strong>nerhalb<br />
kurzer Zeit kam es <strong>in</strong> <strong>der</strong> vierten Auflage heraus.<br />
Dar<strong>in</strong> enthalten ist die gleichnamige Titelgeschichte,<br />
außerdem Berele <strong>in</strong> geto und A kats <strong>in</strong> geto.<br />
1959 wurde die Sammlung unter dem Titel „A Cat<br />
<strong>in</strong> the Ghetto“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er englischen Übersetzung<br />
von S. Morris Engel veröffentlicht.15 Die Geschichte<br />
Ojf kidesch haSchem, von <strong>der</strong> Briks selbst<br />
sagte, sie hieße wohl besser Ojf kidesch ha-<br />
Mentsch (Für die Heiligung des Menschen), erzählt<br />
vom Schicksal e<strong>in</strong>er Familie, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> drei Generationen ihr Leben gaben, um das<br />
Leben an<strong>der</strong>er zu retten.16<br />
Nach se<strong>in</strong>em ersten Gedichtband Jung gr<strong>in</strong> maj<br />
schrieb Briks nur noch e<strong>in</strong>en weiteren. Im Ghetto<br />
40 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Lodz verfasste er se<strong>in</strong> Poem Geto-Fabrik 76. Dar<strong>in</strong><br />
schil<strong>der</strong>te Briks die Arbeit und Atmosphäre <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> chemischen Abfallverwertung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> zusammengekehrte<br />
Reste aus den Bäckereien und Staub<br />
und Asche zu e<strong>in</strong>em Likör für die Ghettoverwaltung<br />
vergoren wurden. Das Manuskript konnte<br />
Briks noch im Ghetto verstecken und später konnte<br />
es wie<strong>der</strong> ausgegraben werden. Heute ist es im<br />
Jüdischen Historischen Institut <strong>in</strong> Warschau archiviert.<br />
Publiziert wurde das Gedicht schließlich<br />
1976, ohne dass Briks daran e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<br />
vorgenommen hatte. Nach dem Krieg schrieb<br />
Briks ausschließlich Prosatexte über die Schoa;<br />
<strong>in</strong>sgesamt sieben Bücher. Er blieb immer e<strong>in</strong> jiddischer<br />
Autor, <strong>der</strong> auch privat großen Wert darauf<br />
legte, dass se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> Jiddisch sprachen. Se<strong>in</strong>e<br />
Tochter Bella Briks-Kle<strong>in</strong> erzählt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview<br />
des Forwerts, dass Englisch zuhause streng<br />
verboten war: „Ich er<strong>in</strong>nere mich, wie geduldig<br />
me<strong>in</strong> Vater war, wenn er mir allabendlich beibrachte<br />
Jiddisch zu lesen und zu schreiben, zu<br />
sprechen und zu s<strong>in</strong>gen. Ich verstand, wie wichtig<br />
Jiddisch für ihn war, und er<strong>in</strong>nere mich, wie er immer<br />
e<strong>in</strong> gestärktes Hemd mit Krawatte und Weste<br />
anzog, bevor er sich zum Schreiben h<strong>in</strong>setzte, wie<br />
um se<strong>in</strong>en Helden, über die er schrieb, die gebührende<br />
Ehre zu erweisen.“17<br />
In se<strong>in</strong>em Essay Majn kredo 18 schreibt Briks über<br />
se<strong>in</strong>e literarische Arbeit und rechtfertigt se<strong>in</strong>en<br />
Schreibstil. Briks hat nach dem Über<strong>leben</strong> <strong>der</strong><br />
Schoa ausschließlich Bücher über den Churbn<br />
schlischi (Die dritte Katastrophe) geschrieben.<br />
Se<strong>in</strong> Ziel war es, aktive Er<strong>in</strong>nerungsarbeit zu leisten<br />
und zu zeigen, was die Unterdrückung und<br />
Qualen durch die Nationalsozialisten aus den<br />
Menschen machten. Dabei war es nicht se<strong>in</strong> Ziel<br />
literarische Kunst zu schaffen. Der Schlüssel lag<br />
für ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehrlichen E<strong>in</strong>fachheit <strong>der</strong> Darstellung.<br />
Wenn Briks darüber Auskunft gibt, was und wie er<br />
schreibt, nennt er zeitgenössische polnische und<br />
russische Autoren als E<strong>in</strong>flüsse, aber <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
die jiddische Literatur Scholem Aleichems und<br />
Mendele Mojcher Sforims und vor allem die Bibel.<br />
Die Megillot, Aggadot, Midraschim und nicht zuletzt<br />
die Prophetenbücher s<strong>in</strong>d Texte, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Tradition<br />
er se<strong>in</strong> eigenes Schreiben e<strong>in</strong>ordnet. So bezeichnet<br />
Briks se<strong>in</strong>e Novellen Ojf kidesch haSchem<br />
und Berele <strong>in</strong> geto als Megilla und auch A Kats <strong>in</strong><br />
geto entstand unter tanachischem E<strong>in</strong>fluss.<br />
Beson<strong>der</strong>s charakteristisch für se<strong>in</strong> Schreiben ist<br />
die Satire und se<strong>in</strong> beißen<strong>der</strong> Humor. Briks war<br />
<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, man müsse über die Schoa mit Humor<br />
schreiben: „Denn ich habe gesehen, dass es <strong>in</strong><br />
den Ghettos und Lagern Humor und Folklore gab.<br />
[…] Die Juden wollten immer die schlimmsten<br />
antisemitischen Angriffe mit e<strong>in</strong>em Witz zunichte<br />
machen. Seit die Juden gezwungen waren die Gewehre<br />
wegzulegen, war ihre e<strong>in</strong>zige Waffe <strong>der</strong> beißende<br />
Witz.“19 So erzählt e<strong>in</strong> Protagonist <strong>in</strong> A kats<br />
<strong>in</strong> geto, dass e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ohne Arme, Be<strong>in</strong>e<br />
und sogar ohne Kopf bekommen habe. Der Arzt<br />
aber beruhigt sie, es sei doch alles <strong>in</strong> Ordnung,<br />
Hauptsache das K<strong>in</strong>d habe Schultern, plejzes. Plejze<br />
hobn hieß im Sprachgebrauch <strong>der</strong> Lodzer Ghettobevölkerung,<br />
auf Grund von Beziehungen zu<br />
entscheidenden adm<strong>in</strong>istrativen Stellen <strong>der</strong> sogenannten<br />
jüdischen Selbstverwaltung Vorteile zu<br />
haben, wie e<strong>in</strong>e zusätzliche Essensration, e<strong>in</strong>e Arbeit<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Ressort und ähnliches.<br />
Die tragische Komponente dieses Witzes ist es,<br />
dass wegen <strong>der</strong> schlechten mediz<strong>in</strong>ischen Versorgung,<br />
Krankheiten, Unterernährung und an<strong>der</strong>en<br />
Faktoren oft missgebildete K<strong>in</strong><strong>der</strong> zur Welt gebracht<br />
wurden.<br />
Der Midrasch und die Aggada s<strong>in</strong>d, nach Briks,<br />
Folklore mit Moral. Er sah auch se<strong>in</strong>e eigenen<br />
Schriften als Gemisch von historischen Fakten und<br />
Volkstümlichem. Wobei die E<strong>in</strong>fachheit <strong>der</strong> Erzählung<br />
bei ihm im Vor<strong>der</strong>grund stand, denn die Sprache<br />
sollte den Menschen entsprechen, die damals<br />
dort waren. So wie Scholem Aleichems Gedicht<br />
Ojfn pripetschik brent al fajerl zum Volkslied geworden<br />
ist, so sollten auch se<strong>in</strong>e Geschichten E<strong>in</strong>gang<br />
<strong>in</strong>s Volk f<strong>in</strong>den und weitererzählt werden. Zu<br />
diesem Zweck hatte er A kats <strong>in</strong> Geto aus verschiedenen<br />
Anekdoten komb<strong>in</strong>iert. Briks gelang es<br />
auf diese Weise, um e<strong>in</strong>e Katze verschiedene Szenen<br />
zu bauen, die zusammen e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck von<br />
<strong>der</strong> gesamten Situation im Ghetto geben. Aufhänger<br />
<strong>der</strong> Geschichte ist e<strong>in</strong>e Bekanntmachung <strong>der</strong><br />
sogenannten Approvisationsabteilung im Ghetto<br />
Lodz, die da lautete: „Wer e<strong>in</strong>e Katze br<strong>in</strong>gt, <strong>der</strong><br />
bekommt e<strong>in</strong> Brot von 2 Kilogramm.“ Alle s<strong>in</strong>d<br />
nun begierig, e<strong>in</strong>e Katze zu fangen und sich dafür<br />
e<strong>in</strong>mal richtig satt essen zu können. Im Zentrum<br />
steht e<strong>in</strong> junger Mann, Schlojme Sabludowitsch,<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abteilung arbeitet, die alte Kleidung<br />
und Betten <strong>der</strong> Deportierten wie<strong>der</strong> aufbereitet.<br />
Als e<strong>in</strong>e Frau dort wirklich e<strong>in</strong>e Katze fängt,<br />
macht sie ihm das Angebot mit ihm das Brot zu<br />
teilen, wenn er für sie zur Adm<strong>in</strong>istration geht und<br />
die Katze e<strong>in</strong>tauscht. Sabludowitsch willigt e<strong>in</strong><br />
und träumt davon, satt zu se<strong>in</strong>. In Erwartung und<br />
Vorfreude auf e<strong>in</strong> Kilo Brot essen er und se<strong>in</strong>e<br />
Frau an diesem Abend schon die Essensration des<br />
nächsten Tages auf. Die Nachricht von <strong>der</strong> gefangenen<br />
Katze macht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fabrik schnell die Runde<br />
und je<strong>der</strong> versucht Sabludowitsch dazu zu überreden,<br />
das versprochene Brot mit ihm zu teilen.<br />
Als er schließlich die Katze e<strong>in</strong>tauschen will, wird<br />
er jedoch von <strong>der</strong> zuständigen Person <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung<br />
ausgelacht. E<strong>in</strong>e Katze? Die brauche man<br />
nicht, im Gegenteil. Dafür gebe es höchstens zehn<br />
Mark und das bei e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>kaufspreis für Brot<br />
von mittlerweile 1800 Mark. Sabludowitsch<br />
nimmt bitter enttäuscht die Katze wie<strong>der</strong> mit, die<br />
ihm schließlich daheim unbeaufsichtigt noch fast<br />
das letzte Essen stiehlt. In <strong>der</strong> Fabrik glaubt man<br />
ihm nicht und hält ihn für e<strong>in</strong>en Betrüger, <strong>der</strong> nicht<br />
teilen will. Alle im Arbeitsressort erheben Anspruch<br />
auf die Katze bzw. das Brot. Schließlich<br />
gibt Sabludowitsch die Katze se<strong>in</strong>er ersten „Geschäftspartner<strong>in</strong>“<br />
zurück, die diese allerd<strong>in</strong>gs laufen<br />
lässt, weil sie erkennt, dass damit wohl ke<strong>in</strong><br />
Gew<strong>in</strong>n zu erzielen ist.20<br />
Die Katze wird gejagt, dann gehütet, schließlich<br />
gestohlen, wie<strong>der</strong> zurückgegeben und gefüttert.<br />
Um all diese Handlungen entstehen Begegnungen<br />
und Diskussionen, die so täglich im Ghetto vorkommen<br />
konnten. Bei Briks s<strong>in</strong>d es immer die<br />
kle<strong>in</strong>en Geschichten von E<strong>in</strong>zelpersonen o<strong>der</strong> Familien,<br />
die stellvertretend für die Leiden aller stehen.<br />
Er wusste, dass er nicht fähig wäre, die Tragödie<br />
von Millionen Menschen so zu schil<strong>der</strong>n,<br />
dass beim Leser e<strong>in</strong> emotionaler Bezug entsteht.21<br />
In se<strong>in</strong>em Nachwort zur Novelle über den Vorsitzenden<br />
des Judenrates Mordechaj Chajm Rumkowski,<br />
Der kejsser <strong>in</strong> geto (Der Kaiser im Ghetto)<br />
schreibt Briks: „Ich habe mich bemüht, das<br />
wahre Leben im Lodzer Ghetto zu zeigen: die Leiden,<br />
Schmerzen, Verzweiflung – aber auch Zuversicht<br />
und Humor von ihrer guten und schönen Seite<br />
und von den größten Helden bis h<strong>in</strong> zu den Verrätern,<br />
die nicht <strong>der</strong> Versuchung unter dem Druck<br />
<strong>der</strong> Nationalsozialisten standhalten konnten. Vom<br />
K<strong>in</strong>d – bis zum Alten, (…) von <strong>der</strong> Unterwelt – bis<br />
zum Idealisten, Künstler und Parteifunktionär.“22<br />
Für Briks ist es nicht entscheidend alles zu erzählen,<br />
was er gesehen o<strong>der</strong> erlebt hat. Er trifft e<strong>in</strong>e<br />
gezielte Auswahl von Fakten, die symbolisch auch<br />
für größere Zusammenhänge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />
Ghettos und Lager stehen können. Dieses Grundgerüst<br />
stattet er mit den Charakteren aus, die das<br />
alltägliche Leben im Ghetto nachzeichnen: „Ich<br />
male die Lebensgewohnheiten aus, beschreibe die<br />
Kleidung, die Herkunft <strong>der</strong> Menschen, ihre Sprache,<br />
ihre Psychologie.“23 In se<strong>in</strong>en Erzählungen<br />
verschweigt Briks nichts, er stellt alle Auswüchse<br />
und Abgründe des menschlichen Handelns dar,<br />
wie sie sich unter den Ghetto- und Lagerbed<strong>in</strong>gungen<br />
entwickelten. Ghettopolizei, Judenrat, Korruption<br />
und Verbrechen, alles f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Texten wie<strong>der</strong>. Dafür ist er häufig kritisiert worden,<br />
dies zeuge nicht von Liebe zum jüdischen<br />
Volk. Briks jedoch rechtfertigte sich: „Ich wollte<br />
zeigen, was <strong>der</strong> Nationalsozialismus, was jede Art<br />
von Diktatur, aus den Menschen machen kann und<br />
auf welche Art dies geschieht.“24<br />
Dabei war <strong>der</strong> Dichter Jitzchak Katzenelson<br />
(1886–1944) se<strong>in</strong> großes Vorbild. So wie <strong>der</strong> Prophet<br />
Jeremia <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Klagelie<strong>der</strong>n nicht verschweigt,<br />
dass e<strong>in</strong>e Mutter <strong>in</strong> großer Not ihr eigenes<br />
K<strong>in</strong>d aufisst, so habe auch Katzenelson <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Lied vom ermordeten jüdischen Volk nicht die<br />
Grausamkeit <strong>in</strong>nerhalb des eigenen Volkes verschwiegen.<br />
Dieses Poem war für Briks das Ejcha,<br />
das Klagelied, des dritten Churbn. So wie Jeremias<br />
Klagelie<strong>der</strong> heilig geworden s<strong>in</strong>d und ihren festen<br />
Platz am Tischa Be’aw haben, so solle auch das<br />
Poem Katzenelsons e<strong>in</strong>en ähnlichen Status erhalten.25<br />
Vor allem wandte sich Briks gegen die Autoren,<br />
die die Schoa nicht durchlebt haben und trotzdem<br />
über sie schreiben. Darüber h<strong>in</strong>aus lassen sie Vorschriften<br />
verlauten, welche Art <strong>der</strong> literarischen<br />
Darstellung dem Sachverhalt angemessen sei und<br />
welche nicht. Gerade aus diesem Kreis kamen die<br />
oben erwähnten Kritiker se<strong>in</strong>er Werke. Briks bedauerte,<br />
dass zu viele Autoren ihre Me<strong>in</strong>ung anpassen<br />
und gefallen wollen: „Die jiddische Literatur<br />
muss die Zunge und das Gewissen e<strong>in</strong>es gejagten<br />
und gepe<strong>in</strong>igten Volkes se<strong>in</strong>. (J. L. Perets) Die<br />
jiddische Literatur muss auch die Fortsetzung unserer<br />
Wurzeln se<strong>in</strong> – des Tanachs und des Talmuds.“26<br />
1 Rachmiel Briks: Ojf kidesh haSchem. Un an<strong>der</strong>e<br />
<strong>der</strong>tsejlungen, New York 1952, S. 9.<br />
2 Rachmiel Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, New York 1961,<br />
S. I.<br />
3 Rachmiel Briks: Di antlojfers fun gsise tsum <strong>leben</strong>,<br />
New York 1975, S. 149.<br />
4 Ebd., S. 150.<br />
5 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. I.<br />
6 Krystyna Radziszewska: „Flaschenpost“ aus <strong>der</strong> Hölle.<br />
Texte aus dem Lodzer Ghetto, Frankfurt a.M. 2011,<br />
S. 135.<br />
7 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. II.<br />
8 Briks: Di antlojfers, S. 166ff.<br />
9 Ebd., S. 202.<br />
10 Ebd., S. 208.<br />
11 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. I–IV.<br />
12 Erw<strong>in</strong> Leibfried: Notizen zu den editorischen Pr<strong>in</strong>zipien<br />
<strong>der</strong> „Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“,<br />
<strong>in</strong>: Spiegel <strong>der</strong> Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagaz<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Justus-Liebig-Universität Gießen,<br />
S. 42–45.<br />
13 Rachmiel Briks: Ojf kidesch haSchem. Un an<strong>der</strong>e<br />
<strong>der</strong>tsejlungen, New York 1952, S. 93.<br />
14 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. III.<br />
15 Ebd.<br />
16 Rachmiel Briks: Di papirene krojn, New York/Tel Aviv<br />
1969, S. 195.<br />
17 Sara-Rachel Schechter: Erscht trefn fun di k<strong>in</strong><strong>der</strong> fun<br />
jidische schreiber, <strong>in</strong>: Forwerts, 5. August 2011.<br />
18 Briks: Di papirene krojn, S. 187–199.<br />
19 Ebd., S. 191.<br />
20 Briks: Ojf kidesch haSchem, S. 94–132.<br />
21 Briks: Di papirene krojn, S. 192.<br />
22 Briks: Der kejsser <strong>in</strong> geto, S. 246.<br />
23 Briks: Di papirene krojn, S. 193.<br />
24 Ebd., S. 195.<br />
25 Ebd., S. 189f.<br />
26 Ebd., S. 198.<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 41
42 Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 43
Ungewöhnliche Chanukka-Leuchter. Beachten Sie dazu auch die Beiträge auf den Seiten 4 und 16.<br />
Fotos: Jüdisches Museum Fürth (5) und Jüdisches Museum Berl<strong>in</strong> (2 unten).