Wolfgang Hilbig, Ich - IDF
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G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert II – VL 11: <strong>Ich</strong> 2<br />
bleibt schwachbrüstig, schmal tuberkulös“, „wollte nicht wachsen“ ). Seine Berichte<br />
schreibt er zwar, gibt sie aber nicht ab; Feuerbach bemängelt ihre Aussagekraft: „Die Unzufriedenheit<br />
ließ nicht mehr nach, seitdem sich W. mit dem Vorgang Reader beschäftigte.“<br />
(S. 262; ebenso S. 33, 257f., 335)<br />
Diese zur realistischen Darstellung gegenläufigen Elemente verhindern, daß man den<br />
Roman als realistische Darstellung der Tätigkeit der XX. Hauptabteilung des Ministeriums<br />
für Staatssicherheit interpretieren kann, weil sonst die Vermutung naheläge, die Spitzeltätigkeit<br />
von Autoren sowie ein Großteil der Stasi-Aktivitäten sei harmlos oder folgenlos<br />
gewesen. Ein derartiger Einwand trifft auf die Darstellung der Stasi in Thomas Brussigs<br />
‚Helden wie wir‘ zu, wird aber dort auch unangemessen vorgeführt.<br />
2. Die Spitzelexistenz und ihre verschiedenen Funktionen<br />
2. 1. Figuration von Autorschaft<br />
Die angebliche Spitzeltätigkeit ist in zweifacher Hinsicht die Voraussetzung für seine literarische<br />
Produktion. Zum einen erhält er Gelegenheit zum Schreiben und Zugang zu Publikationsmöglichkeiten.<br />
Mit ironischen Seitenhieben wird die Arbeiterliteratur des ‚Bitterfelder<br />
Wegs‘ (114) charakterisiert, aber ebenso der westdeutsche Literaturbetrieb (172) und<br />
seine bereitwillige Rezeption der DDR-Literatur (200f.). Somit entwirft der Roman auf der<br />
Figurenebene (Feuerbach) das Modell eines gesteuerten Literaturbetriebs (284).<br />
Zum zweiten veranlaßt sie ihn, in seinen Berichten eine fiktionale Realität zu entwerfen.<br />
Betont wird über die Tätigkeit des Protagonisten als Informeller Mitarbeiter (IM), daß seine<br />
Berichte literarisch überformt sind oder er sie gänzlich erfindet:<br />
Vielleicht waren es nur ein paar Sätze, die ihn gehindert hatten, die Dossiers abzugeben.<br />
[...] aber dann hatte er unter der Rubrik Besondere Verhaltensweisen geschildert,<br />
wie sie trotz der noch vom Nachmittag her spürbaren Wärme bei Einbruch<br />
der Dunkelheit im Garten zu frösteln begann. (261)<br />
2. 2. Ort für verkümmerte Emotionalität und Ersatz für eine Familie<br />
Die psychologische Funktion der Stasi ist die einer Ersatzfamilie; als solche wird sie im<br />
Roman konzipiert (der Protagonist wird auf dem Weg einer zweifelhaften Vaterschaft zur<br />
Mitarbeit gebracht, 65) und mit der angedeuteten kriminalistischen Handlungsebene um<br />
Harry Falbe verbunden. Er ist angeblich das Kind von Frau Falbe und ihrem geflüchteten<br />
Mann (303), damit selbst ein vaterloses Kind. Ebensowenig wird die Vaterschaft von Cindys<br />
Kind aufgeklärt.<br />
Unklar bleibt Harrys Homosexualität (217); auf der Figurenperspektive (Frau Falbe) wird<br />
das Interesse der Stasi an seiner Person damit erklärt, daß er interne Tatsachen über die<br />
hochrangigen Stasi-Mitarbeiter weiß (386). Der gewaltsam-sexuelle Gefühlsausbruch<br />
Feuerbachs, der Cambert mit der Pistole vergewaltigt, legt nahe, daß der Major ein erotisches<br />
wie politisches Interesse an Falbe hatte und bestätigt die zwanghafte Verbindung<br />
von Emotion und Politik in der Institution der Staatssicherheit.<br />
Feuerbach hätte es weit von sich gewiesen, [....] jedenfalls hatte W. einen Vater, der<br />
dafür sorgte, daß sein Konto nicht ins Bodenlose abstürzte, soviel er auch davon abhob.<br />
(70)