Wolfgang Hilbig, Ich - IDF
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G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert II – VL 11: <strong>Ich</strong> 1<br />
ICH (1993)<br />
Wenn wir die Sache so sehen, sind die Verstrickungen einiger<br />
Schriftsteller in Stasi-Angelegenheiten vielleicht das geringste<br />
Problem, und sie sind nur ein Symptom. Das Hauptproblem<br />
scheint darin zu liegen, daß die Literatur seit einiger<br />
Zeit in dem Glauben verharrt, ihre Möglichkeiten, sich Gehör<br />
zu verschaffen, hätten sich erschöpft.<br />
<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>, Abriß der Kritik.<br />
Frankfurter Poetikvorlesungen.<br />
Frankfurt 1995, hier 83.<br />
<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>, <strong>Ich</strong>. Roman. Frankfurt 1995 [zuerst: 1993].<br />
1. Fragwürdige Referentialität<br />
Nach 1989 wurde bekannt, wie die Staatssicherheit alternative Gruppen von Literaten und<br />
Intellektuellen (die z.B. im Stadtviertel Prenzlauer Berg wohnten und sich zusammengehörig<br />
verstanden) beobachtete, etwa über eingeschleuste Mittelsmänner. Der bekannteste<br />
Fall verbindet sich mit dem Schriftsteller Sascha Anderson, der selbst Gedichte und Dramen<br />
schrieb und dieser Literaturgruppe angehörte. Von ihm wurde bekannt, daß er unter<br />
den Decknamen ‚David Menzer‘, ‚Fritz Müller‘ und ‚Peters‘ Informationen über diese<br />
Gruppen an die Staatssicherheit weitergab.<br />
Anderson, Sascha: Sascha Anderson. Köln 2002.<br />
Sehr gut dokumentiert sind die Beobachtungsvorgänge etwa um den Lyriker Reiner Kunze,<br />
der 1977 die DDR verließ, nachdem er seit 1967 beobachtet worden war. In seiner<br />
wieder aufgefundenen Akte finden sich Aktionen belegt, die auch in <strong>Hilbig</strong>s Roman zum<br />
Arbeitsauftrag des Protagonisten gehören (z.B. gezielter Kontakt zum Freundeskreis, um<br />
Informationen zu sammeln; Manipulation von Texten; Verhinderung oder versteckte<br />
Überwachung von öffentlichen Auftritten). Die wenigen Hinweise im Text verankern die<br />
Handlung in die 80 er Jahre, nach der Ausweisung von Biermann (234).<br />
Deckname ‚Lyrik‘. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. Frankfurt 1990.<br />
Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in<br />
der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996.<br />
Damit erhält die Konstellation des Buches eine gewisse Plausibilität, indem W. bzw. M:W.<br />
bzw. Cambert bzw. C. als erfolgloser Autor in der Provinz lebt und sich von der Stasi mit<br />
dem Versprechen anwerben läßt, sich literarisch etablieren zu können, wenn er dafür Informationen<br />
über einzelne Literatenzirkel liefert.<br />
Diese auf authentische Vorbilder beziehbare Konstellation wird durch die dargestellten<br />
Verhaltensweisen des Informanten und seines Führungsoffiziers Feuerbach in Zweifel<br />
gezogen. In seiner Spionagetätigkeit ist der Protagonist wenig erfolgreich (vgl. S. 15: „Akte
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bleibt schwachbrüstig, schmal tuberkulös“, „wollte nicht wachsen“ ). Seine Berichte<br />
schreibt er zwar, gibt sie aber nicht ab; Feuerbach bemängelt ihre Aussagekraft: „Die Unzufriedenheit<br />
ließ nicht mehr nach, seitdem sich W. mit dem Vorgang Reader beschäftigte.“<br />
(S. 262; ebenso S. 33, 257f., 335)<br />
Diese zur realistischen Darstellung gegenläufigen Elemente verhindern, daß man den<br />
Roman als realistische Darstellung der Tätigkeit der XX. Hauptabteilung des Ministeriums<br />
für Staatssicherheit interpretieren kann, weil sonst die Vermutung naheläge, die Spitzeltätigkeit<br />
von Autoren sowie ein Großteil der Stasi-Aktivitäten sei harmlos oder folgenlos<br />
gewesen. Ein derartiger Einwand trifft auf die Darstellung der Stasi in Thomas Brussigs<br />
‚Helden wie wir‘ zu, wird aber dort auch unangemessen vorgeführt.<br />
2. Die Spitzelexistenz und ihre verschiedenen Funktionen<br />
2. 1. Figuration von Autorschaft<br />
Die angebliche Spitzeltätigkeit ist in zweifacher Hinsicht die Voraussetzung für seine literarische<br />
Produktion. Zum einen erhält er Gelegenheit zum Schreiben und Zugang zu Publikationsmöglichkeiten.<br />
Mit ironischen Seitenhieben wird die Arbeiterliteratur des ‚Bitterfelder<br />
Wegs‘ (114) charakterisiert, aber ebenso der westdeutsche Literaturbetrieb (172) und<br />
seine bereitwillige Rezeption der DDR-Literatur (200f.). Somit entwirft der Roman auf der<br />
Figurenebene (Feuerbach) das Modell eines gesteuerten Literaturbetriebs (284).<br />
Zum zweiten veranlaßt sie ihn, in seinen Berichten eine fiktionale Realität zu entwerfen.<br />
Betont wird über die Tätigkeit des Protagonisten als Informeller Mitarbeiter (IM), daß seine<br />
Berichte literarisch überformt sind oder er sie gänzlich erfindet:<br />
Vielleicht waren es nur ein paar Sätze, die ihn gehindert hatten, die Dossiers abzugeben.<br />
[...] aber dann hatte er unter der Rubrik Besondere Verhaltensweisen geschildert,<br />
wie sie trotz der noch vom Nachmittag her spürbaren Wärme bei Einbruch<br />
der Dunkelheit im Garten zu frösteln begann. (261)<br />
2. 2. Ort für verkümmerte Emotionalität und Ersatz für eine Familie<br />
Die psychologische Funktion der Stasi ist die einer Ersatzfamilie; als solche wird sie im<br />
Roman konzipiert (der Protagonist wird auf dem Weg einer zweifelhaften Vaterschaft zur<br />
Mitarbeit gebracht, 65) und mit der angedeuteten kriminalistischen Handlungsebene um<br />
Harry Falbe verbunden. Er ist angeblich das Kind von Frau Falbe und ihrem geflüchteten<br />
Mann (303), damit selbst ein vaterloses Kind. Ebensowenig wird die Vaterschaft von Cindys<br />
Kind aufgeklärt.<br />
Unklar bleibt Harrys Homosexualität (217); auf der Figurenperspektive (Frau Falbe) wird<br />
das Interesse der Stasi an seiner Person damit erklärt, daß er interne Tatsachen über die<br />
hochrangigen Stasi-Mitarbeiter weiß (386). Der gewaltsam-sexuelle Gefühlsausbruch<br />
Feuerbachs, der Cambert mit der Pistole vergewaltigt, legt nahe, daß der Major ein erotisches<br />
wie politisches Interesse an Falbe hatte und bestätigt die zwanghafte Verbindung<br />
von Emotion und Politik in der Institution der Staatssicherheit.<br />
Feuerbach hätte es weit von sich gewiesen, [....] jedenfalls hatte W. einen Vater, der<br />
dafür sorgte, daß sein Konto nicht ins Bodenlose abstürzte, soviel er auch davon abhob.<br />
(70)
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Vage dachte W. daran, daß er in seiner Kindheit stets auf der Flucht vor seiner Mutter<br />
gewesen war .. und damit vielleicht unbewußt auf der Suche nach einem Vater?<br />
(107)<br />
3. Narrative Strategien<br />
2. 1. Konstitution und Dissoziation der Persönlichkeit<br />
Der Leser kann den erzählten Lebenslauf nicht chronologisch gesichert nachvollziehen<br />
(369). Die Erzählebene wechselt zwischen der Innen- (<strong>Ich</strong>-Erzählung) und der Außensicht.<br />
Indem Ereignisse aus beiden Perspektiven erzählt werden, aber ihre Position im Erzählverlauf<br />
fragwürdig bleibt, erzeugt der Text eine unsichere, schwankende Realität: Die Erzählinstanz<br />
bleibt unzuverlässig. So wird die Begegnung mit Cindy, Harry und Herta aus<br />
der Außenperspektive geschildert (90-95), dann aber in der Innenperspektive der Figuren<br />
erneut wiederholt.<br />
<strong>Ich</strong> war also der einzige – oder fast der einzige – , der konkret von dem Kind wußte.<br />
[...] wenn ich von dem blassen, gesichtslosen Mädchen absah, das Harry in jener<br />
Nacht vor drei Jahren (oder waren es schon vier Jahre?) mit in die Wohnung seiner<br />
Freundin geschleppt hatte. (369; ebenso 243: „Das Problem für W. war, daß er sich<br />
nicht genau erinnern konnte, – “)<br />
3. 2. Prätexte und intertextuelle Verweisungen<br />
Feuerbach<br />
Mit dem Decknamen Feuerbach (der sich an anderer Stelle auch Kesselstein nennt) wird<br />
eine Polemik von Karl Marx gegen den Philosophen Ludwig Feuerbach aufgerufen. <strong>Hilbig</strong><br />
zitiert den zentralen Satz bereits in seiner Erzählung ‚Die Arbeit an den Öfen‘, die damit zu<br />
einem der Prätexte des Romans wird: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden<br />
interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“<br />
Angesprochen ist aber auch der Vater des Philosophen, Paul Johann Anselm Ritter von<br />
Feuerbach, der sich um das Findelkind Kaspar Hauser kümmerte, als der Junge 1828 in<br />
Nürnberg auftauchte. Damit erhält das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem W. / Cambert<br />
eine weitere literarische Dimension. Zudem vergleicht er sich explizit mit dem elternlosen<br />
Hauser (58).<br />
Das Motto<br />
Das Motto des Romans stammt aus der Erzählung ‚Der Runenberg‘ von Ludwig Tieck,<br />
dessen Protagonist Christian ebenfalls Wirklichkeit und Wahn zu vermischen beginnt. Die<br />
phantastisch-märchenhafte und zugleich ins Ekelhafte verzerrte Szene mit dem Brei in<br />
Cindys Wohnung gehört zusammen mit der konsequenten Dichotomie von Realität und<br />
Wahn, die den Text strukturell bestimmt, zu denjenigen Elementen des Textes, die auf<br />
den romantischen Prätext verweisen.<br />
Die Kellergänge unter den Häusern von Berlin sind in der Regel sauber, und die<br />
Mehrzahl von ihnen ist ausreichend beleuchtet. Und sie waren in diesem Winter<br />
warm, [...] (20)
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Ausführlich wird der rote Sessel beschrieben (373), der zum Charakter der Kellergänge<br />
als Unterleib und Uterus paßt, ebenso die Phallus-Zeichnung an der Wand (33). Die Unter-<br />
bzw. Innenwelt ist wie im Text von Tieck sexuell aufgeladen als der Ort des unerfüllten<br />
Begehrens Jedoch wird sie nicht mehr aus Elementen des Wunderbaren und Kostbaren<br />
zusammengesetzt, sondern mit Fäkalien und Verfall verbunden. Wie bei Tieck signalisiert<br />
der Gegensatz von Ober- und Unterwelt ein wahnhaftes Bewußtsein.<br />
Bei uns ist es ruhig, wir haben da draußen ein paar Jungs, die sorgen für Ordnung.<br />
[...]<br />
Berlin, Leipzig, Rostock, da fängts jetzt bald an zu kochen, da will man gar nicht so<br />
hinsehen. Denken Sie daran, wir haben viel Zeit hier unten, wir lassen uns was einfallen...<br />
(377f)<br />
Literatur<br />
Costazza, Alesssandro: „Die Stasi als Metapher in <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>s Prosawerk“. In: Zehn Jahre<br />
Nachher. Poetische Identität und Geschichte in der deutschen Literatur nach der Vereinigung.<br />
Hrsg. von Fabrizio Cambi und Alessandro Fambrini. Trento 2002.<br />
Faktor, Jan: „<strong>Hilbig</strong>s ‚<strong>Ich</strong>‘. Das Rätsel des Buches blieb von der Kritik unberührt“. In: Text und Kritik<br />
123. München 1994.<br />
Haase, Michael: Eine Frage der Aufklärung: Literatur und Staatssicherheit in Romanen von Fritz<br />
Rudolf Fries, Günter Grass und <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2000 [Diss.<br />
Duisburg 2000].<br />
Halverson, Rachel J.: <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>'s '<strong>Ich</strong>': Narrating loss of voice, identity and self. In: Seminar<br />
37, 2001, N.3, 244-254.<br />
Heising, Bärbel: Briefe voller Zitate aus dem Vergessen. Intertextualität im Werk <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>s.<br />
Frankfurt am Main 1996.<br />
Mechtenberg, Theo: Simulierte Identität und Wirklichkeit: <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>s Roman '<strong>Ich</strong>' vom Ende<br />
des Stasistaats. In: Deutsche Studien Lüneburg 31, 1994, H.123/124, 217-226.<br />
Parr, Rolf; Disselnkötter, Andreas: "Das Wesen aber läßt man besser aus dem Spiel": Metamorphosen<br />
in <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>s Roman '<strong>Ich</strong>'. In: Diagonal 1995, H.2, 99-111.<br />
Pfeiffer, Joachim: Die Subjektproblematik im deutschen Gegenwartsroman: <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>s Roman<br />
'<strong>Ich</strong>' und der Künstlerroman der Romantik. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen<br />
Subjektivität / hrsg. von Reto Luzius Fetz. Berlin u.a. 1998. Bd 2, 1198-1212. [auch<br />
unter: http://home.ph-freiburg.de/pfeiffer/hilbig.htm]<br />
Wittstock, Uwe (Hrsg.): <strong>Wolfgang</strong> <strong>Hilbig</strong>: Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1994.