21.01.2014 Aufrufe

Perspektive LiLi-wk.pdf - IDF

Perspektive LiLi-wk.pdf - IDF

Perspektive LiLi-wk.pdf - IDF

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Christiane von Stutterheim und Mary Carroll<br />

Durch die Grammatik fokussiert<br />

Sprachen unterscheiden sich nicht<br />

danach,was man in ihnen ausdrücken<br />

kann, sondern danach, was man in<br />

ihnen ausdrücken muss.<br />

R. Jakobson<br />

1 Einführung<br />

Die Debatte über das Verhältnis zwischen Sprache und Denken ist über lange Zeit stark<br />

polarisiert geführt worden. Hie Universalisten – dort Relativisten, diese Diskussion wird auch<br />

gegenwärtig in neuer Diktion, aber mit alten Positionen geführt (siehe dazu den Beitrag von<br />

Wolfgang Klein in diesem Band). Dabei bieten neue präzise Methoden die Möglichkeit, die<br />

Zusammenhänge differenzierter aufzuschlüsseln. Erste Schritte sind auf diesem Weg<br />

gemacht, und das Bild, was sich ergibt, deutet daraufhin, dass die Frage, so wie sie über lange<br />

Zeit diskussionsleitend war, falsch gestellt ist. So zeigen beispielsweise neuere<br />

Untersuchungen zur Farbwahrnehmung und deren neurologischen Korrelaten, dass die<br />

kognitiven Strukturen, die die diesen konzeptuellen Bereich betreffen, als Resultat einer<br />

Entwicklung anzusehen sind, in die sowohl universale, physiologisch bedingte<br />

Beschränkungen als auch sprachlich induzierte Muster eingehen.<br />

“The debate over color naming and cognition can be clarified by discarding the<br />

traditional “universals versus relativity” framing, which collapses important<br />

distinctions. There are universal constraints on color naming, but at the same time,<br />

differences in color naming across languages cause differences in color cognition<br />

and/or perception. The source of the universal constraints is not firmly established.”<br />

(Kay/Rieger 2005)<br />

Diese Position, die von Paul Kay in einem kurzen Diskussionspapier zur Frage der<br />

Universalität von Farbwahrnehmung eingenommen wird, wird auch durch Befunde und<br />

Untersuchungen gestützt, die sich mit anderen Aspekten des sprachlichen Systems befassen<br />

(vgl. Rieger 1996).<br />

Auch die Position, die den Projektarbeiten zu Grunde liegt, über die wir im folgenden<br />

berichten, ist nicht einer der beiden Seiten der Debatte Universalismus – Relativismus<br />

verpflichtet. Vielmehr gehen wir davon aus, dass es Universalien der kognitiven Verarbeitung<br />

gibt, die in der biologischen Natur des Menschen verankert sind. Dazu gehören Eigenschaften<br />

unseres Perzeptionsapparates, der beispielsweise Dynamisches gegenüber Statischem oder<br />

Lebendiges gegenüber Dinglichem zu unterscheiden erlaubt und der in bestimmten<br />

Zeiteinheiten äußere Reize, visuelle, auditive, taktile, verarbeiten kann. Diese Bedingungen,<br />

unter denen sich der Mensch mit der äußeren Welt auseinandersetzt, finden sich auch in einer<br />

Reihe sehr grundlegender Gemeinsamkeiten aller Sprachen gespiegelt. Allerdings ist die Art<br />

und Weise der Auseinandersetzung im Laufe der kulturellen Entwicklung in ungeheurer<br />

Weise verfeinert worden. Das, was an äußeren Eindrücken durch die verschiedenen Kanäle<br />

auf den Menschen einströmt, wird in vielfältiger Weise gefiltert, strukturiert und mit bereits


2<br />

Vorhandenem verknüpft. Diese Prozesse sind zu jedem Zeitpunkt selektiv – sei es willkürlich<br />

oder unwillkürlich - und damit perspektivisch gebunden. Eine wesentliche Aufgabe der<br />

menschlichen Kognition besteht in ihrer Filterfunktion. Aus der Fülle der äußeren Reize, die<br />

potentiell als Informationen, die aufgenommen, gespeichert und weiterverarbeitet werden<br />

können, muss jeweils ausgewählt werden. Dies kann nur mit der gegebenen Geschwindigkeit<br />

und Kohärenz erfolgen, wenn diese Prozesse prinzipien-gesteuert und hochgradig<br />

automatisiert ablaufen. Ein System, das dem Menschen solche Prinzipien bietet, ist die<br />

Sprache, so wie sie in ihrer besonderen Struktur von jedem Individuum erworben wird.<br />

Sprache stattet den Menschen mit einem System der Aufmerksamkeitslenkung, der<br />

Informationsselektion und der Informationsverknüpfung aus – und dies in je spezifischer<br />

Weise. Diese Position zu belegen ist das Ziel der hier in Ausschnitten vorgetragenen Arbeiten.<br />

2 Aufbau der Untersuchungen<br />

Wie bereits oben kurz angedeutet, nehmen wir an, dass grammatikalisierte begriffliche<br />

Kategorien insofern einen herausragenden Status für die Steuerung von<br />

Konzeptualisierungsprozessen haben, als sie obligatorisch für jede darzustellende Situation zu<br />

belegen sind. Grammatikalisierte Strukturen lassen sich unter kognitionswissenschaftlicher<br />

Sicht als Filter der Aufmerksamkeitsteuerung verstehen. Wenn eine Sprache eine<br />

Entscheidung zum Beispiel bezüglich des sozialen Status des jeweiligen Gesprächspartners<br />

im Bereich der Verbalmorphologie erfordert – wie das Deutsche –, so muss der Sprecher<br />

diese Wahl treffen: kommst du - kommen Sie? Fordert eine andere Sprache dies nicht – wie<br />

das Englische –, so kann der Sprecher die Entscheidung offen lassen, er muss sich nicht damit<br />

befassen. Inwieweit diese Kontraste lediglich ein Phänomen der Oberfläche sind, die keinerlei<br />

Rückschlüsse auf der Rede vorausgesetzte Konzeptualisierungsprozesse zulassen, oder<br />

inwieweit die Entscheidung für die sprachliche Form bereits Beschränkungen auf der Ebene<br />

der Informationsverarbeitung impliziert, ist die Frage, die im folgenden behandelt werden<br />

soll. Um den Stellenwert grammatikalisierter Kategorien für die konzeptuelle Planung zu<br />

bestimmen, ist eine Methode gefordert, die die Prinzipien der Informationsselektion und –<br />

organisation in Abhängigkeit von variierenden grammatischen Systemen prüft.<br />

In einem breitangelegten sprachvergleichenden Projekt wurde der Zusammenhang zwischen<br />

sprachlicher Struktur und Informationsgliederung, allgemeiner gesagt, zwischen<br />

einzelsprachlicher Struktur und Aufmerksamkeitslenkung, auf zwei Ebenen untersucht. Zum<br />

einen wurde ein visuell gegebener Input von Sprechern unterschiedlicher Sprachen mit<br />

derselben Aufgabenstellung versprachlicht. Die Frage war, ob die Sprecher der<br />

unterschiedlichen Sprachgruppen jeweils spezifische Muster der Informationsselektion und –<br />

organisation aufweisen und ob diese in Relation zu den einzelsprachlichen grammatischen<br />

Strukturen zu setzen sind. In einem weiteren Schritt wurde geprüft, ob bei einer identischen<br />

Versprachlichungsaufgabe, die in diesem Fall aus methodischen Gründen nur eine kurze<br />

Ereignissequenz zum Gegenstand hatte, unterschiedliche Muster der visuellen<br />

Aufmerksamkeit zu beobachten sind. Dies wurde mit einem Blickbewegungsmesser erfasst. 1<br />

Frühere umfassende sprachvergleichende Studien haben nahegelegt, dass die<br />

Grammatikalisierung temporaler Kategorien Implikationen für den Informationsaufbau in<br />

komplexen sprachlichen Äußerungen mit sich bringt (vgl. Carroll & Lambert 2003). Dabei<br />

wurden flektierende Sprachen verglichen, die sich im Hinblick auf die Grammatikalisierung<br />

1 Über die Ergebnisse ist im einzelnen an anderer Stelle berichtet. Wir fassen im Folgenden die Befunde<br />

zusammen, um zu einer übergreifenden Interpretation zu gelangen.


3<br />

aspektueller Kategorien unterscheiden. Es konnte gezeigt werden, dass nicht nur der generelle<br />

Kontrast zwischen Sprachen mit und ohne Aspekt zu Unterschieden in der<br />

Informationsorganisation führte, sondern dass der jeweilige Grad der Grammatikalisierung<br />

einer Aspektkategorie für diese Funktion maßgeblich ist.<br />

In der folgenden Untersuchung geht es um die Verknüpfung mehrerer grammatischer<br />

Vorgaben in Bezug auf die Versprachlichung komplexer Sachverhalte. Ausgangspunkt ist die<br />

schlichte empirische Beobachtung, dass französische, englische und deutsche Sprecher sehr<br />

unterschiedliche Strategien bei der Nacherzählung eines Filmes befolgen.<br />

3 Informationsorganisation in Texten<br />

Um den Inhalt der Verbalisierungen so weit wie möglich für alle Sprecher einheitlich<br />

vorzugeben, wurde den Probanden ein kurzer Stummfilm gezeigt, in dem ein kleiner<br />

Lehmmann gegen zahlreiche Widrigkeiten sein Leben zu behaupten versucht. Der Film<br />

gliedert sich in fünf parallel strukturierte Szenen. Die Probanden sahen zunächst den ganzen<br />

Film und wurden dann Szene für Szene aufgefordert, das Gesehene nachzuerzählen. Die<br />

Leitfrage - die "quaestio", die sie zu beantworten hatten, war also Was ist passiert? bzw. What<br />

happened? oder Qu’est-ce que s’est passé? Es handelt sich um mündliche Texte, in denen die<br />

Informationswiedergabe, nicht die literarische Leistung im Vordergrund stand. Die<br />

Audiodaten wurden transkribiert und in Äußerungeinheiten, die jeweils einer Proposition mit<br />

verbalem Element entsprechen, segmentiert. Pro Sprache wurden 15 Sprecher aufgenommen<br />

und analysiert.<br />

Betrachten wir zunächst die Anforderungen, die eine solche Aufgabe an einen Sprecher stellt.<br />

Die Sprecher haben in einem ersten Schritt Wissen über die im Film dargestellte Geschichte<br />

gespeichert. Dies stellt die Wissensbasis dar, auf die für die Planung der Rede zugegriffen<br />

wird. Für die vorliegende Untersuchung nehmen wir an, dass diese Wissensbasis sich für die<br />

Sprecher unterschiedlicher Sprachen nicht systematisch unterscheidet. Dies ist sicherlich eine<br />

gewisse Vereinfachung, aber individuelle Unterschiede, die beispielsweise durch<br />

Eigenschaften des Gedächtnisses oder spezifische Interessen bedingt sein können, sind hier –<br />

wie das folgende zeigen wird - nicht von Bedeutung. Ist der Sprecher nun vor die Aufgabe<br />

gestellt, den Inhalt des Gesehenen nachzuerzählen, so muss er eine Reihe unterschiedlicher<br />

Entscheidungen treffen. Dabei muss er selegieren und er muss konstruieren:<br />

- Der Sprecher wählt aus der Menge der gespeicherten Informationen nur einen kleinen<br />

Teil zur Versprachlichung aus.<br />

- Er hat Optionen bezüglich der Perspektivierung des dargestellten Sachverhaltes und<br />

muss auch hier wählen. Diese Optionen beziehen sich auf verschiedene Aspekte einer<br />

Situationsdarstellung: zeitliche Perspektivierung, Einstellungsbezug, Granularität, um<br />

einige wesentliche zu nennen.<br />

- Konstruieren muss der Sprecher die Kohärenzrelationen zwischen den einzelnen<br />

dargestellten Sachverhalten.<br />

Diese Entscheidungen münden nur dann in die Produktion eines kohärenten Textes, wenn der<br />

Sprecher übergreifenden Planungsprinzipien folgt. Die Konstruktion jeder Äußerung muss<br />

den Bedingungen globaler, d.h. textübergreifender Prinzipien unterliegen. Gewisse Aspekte<br />

dieser globalen Struktur sind durch den Typ der Aufgabenstellung, die quaestio, festgelegt. 2<br />

So legt eine Erzählquaestio fest, dass eine raumzeitlich verankerte, singuläre Geschehenskette<br />

darzustellen ist. Temporale Sequentialität ist die für den gesamten Text unterstellte<br />

2 Vgl. die Arbeiten zur Funktion der Quaestio für die Textplanung (Klein/v.Stutterheim 1987, v.Stutterheim<br />

1997)


4<br />

unmarkierte Relation zwischen den einzelnen Ereignissen. Die Teile eines Texte, die die<br />

Ereigniskette darstellen, werden im folgenden als Hauptstruktur bezeichnet. Diese kann durch<br />

Nebenstrukturen unterschiedlicher Art angereichert werden (wie beschreibende Passagen,<br />

Kommentare), die jedoch grundsätzlich lokal an Komponenten der Hauptstruktur angebunden<br />

und durch sie motiviert sein müssen. Unsere Analysen konzentrieren sich im folgenden auf<br />

Merkmale der Hauptstruktur, da diese für die jeweilige Makrostruktur konstitutiv sind.<br />

Was als Ereignis und damit als Inhalte einer Hauptstrukturäußerung gelten kann, begründet<br />

sich aus der substantiellen und temporalen Qualität der jeweiligen Situation. Ereignisse<br />

nehmen begrenzte Zeitintervalle ein, wobei die Situation selbst aus zwei oder mehr qualitativ<br />

unterschiedlichen Zuständen konstituiert sein kann, z.B. die Figur steht auf, oder aus einem<br />

qualitativ homogenen, dynamischen Sachverhalt, der Geltung für ein zeitlich begrenztes<br />

Intervall beansprucht, z.B. das Männchen gräbt, bis ein Krater entsteht (vgl. Klein 1994). Die<br />

Identifikation von Ereignissen liefert zunächst das Material, auf dem dann makrostrukturelle<br />

Planung operiert. Für die Konzeptualisierung von Ereignissequenzen umfaßt dies u.a. die<br />

folgenden Aspekte.<br />

Perspektivierung<br />

Perspektivierung, d.h. eine blickpunktbezogene Verarbeitung kognitiven Materials, bezieht<br />

sich auf eine Reihe von inhaltlichen und strukturellen Eigenschaften eines Textes (vgl. von<br />

Stutterheim/Klein 2005 für eine ausführliche Diskussion). Hierzu zählt – was für eine<br />

Erzählung wesentlich ist – die perspektivische Einbindung in einen temporalen Referenzrahmen,<br />

die sowohl die temporale Verankerung des jeweiligen Einzelereignisses als auch das<br />

Muster der referentiellen Bewegung im Bereich der temporalen Beziehungen zwischen Zeitintervallen<br />

vorgibt. In Abhängigkeit davon ergibt sich eine Perspektivierung des Einzelereignisses<br />

im Hinblick darauf, welche Phasen des Ereignisses versprachlicht werden. Die<br />

Optionen, ein Ereignis holistisch, in Phasen gegliedert oder nur selektiv in einzelnen Phasen<br />

zu repräsentieren, fordern eine globale Entscheidung, wie für eine Ereignissequenz bei<br />

gegebener kommunikativer Aufgabe vorzugehen ist.<br />

Auch für die Selektion von Raumkonzepten, die Bestandteile von Ereignisrepräsentationen<br />

sein können, gilt, daß sie in einem kohärenten Text einer übergreifenden <strong>Perspektive</strong> folgt.<br />

Untersuchungen zu Bewegungsereignissen haben gezeigt (Carroll 2000, Slobin 1996), daß<br />

Sprecher hinsichtlich der raumreferentiellen Komponenten der Ereignisse in zweierlei Weise<br />

globalen <strong>Perspektive</strong>nsetzungen folgen: zum einen bei der Selektion der jeweiligen Rauminformation,<br />

z.B. die Spezifizierung von Ausgangspunkten, Endpunkten oder Wegen; zum<br />

anderen bei der Etablierung einer origo und einem damit verbundenen Referenzrahmen, die<br />

als Verankerung von relationalen Raumkonzepten herangezogen werden. So kann der<br />

Sprecher zum Beispiel bei der Darstellung von Bewegungsereignissen die origo bei der sich<br />

bewegenden Entität oder bei den jeweils erreichten Wegpunkten verankern. Wie<br />

sprachvergleichende Untersuchungen zeigen, hängt die Entscheidung für die eine oder andere<br />

<strong>Perspektive</strong> von der morphosyntaktischen Struktur von Lokalisationen in der einzelnen<br />

Sprache ab (vgl. Carroll & von Stutterheim 1993).<br />

Ein weiterer Bereich, der Perspektivierungsprozessen unterliegt, ist die Wahl der Entitäten,<br />

die als Agenten in Ereignissen auftreten, sowie deren informationsstrukturelle Einordnung.<br />

Analysen hierzu finden sich in der Literatur im Zusammenhang mit dem Begriff der<br />

thematischen Organisation (thematische Progression Daneš 1976, topic continuity Givón<br />

1984, thematic management Tomlin 1997). Bei der sprachlichen Repräsentation eines<br />

Ereignisses muß sich der Sprecher unter Berücksichtigung der syntaktischen Gegebenheiten<br />

entscheiden, wie er die an einem Ereignis beteiligten Entitäten auf die unterschiedlichen<br />

syntaktischen Positionen verteilt. Hat er sich für eine Gewichtung auf der konzeptuellen<br />

Ebene entschieden, so steht ihm in der Regel eine Reihe unterschiedlicher sprachlicher Mittel


5<br />

zur Verfügung, um die gewählte <strong>Perspektive</strong> umzusetzen. Hierzu zählen spezifische<br />

lexikalische (kaufen/verkaufen) ebenso wie grammatische Mittel (z. B. Wortstellung und<br />

Genus verbi, vgl. Murcia-Serra 1999).<br />

Perspektivierung als Festlegung von Kriterien für die Informationsselektion und -<br />

strukturierung findet ihren Niederschlag in bestimmten Mustern der<br />

Informationsstrukturierung. Die Wahl einer <strong>Perspektive</strong> lässt sich auf der Ebene der<br />

Informationsorganisation als eine Festlegung von "Topikelementen" beschreiben, die für den<br />

gesamten Text als default - Normallfall-Besetzungen - in den einzelnen<br />

Hauptstrukturäußerungen erhalten bleiben. Sie werden als referentieller Rahmen für die zu<br />

spezifizierende Fokusinformation wirksam. Wir bezeichnen daher in den folgenden<br />

Textanalysen diejenigen Festlegungen, die für den gesamten Text gültig sind als<br />

Topikvorgaben, die spezifischen Belegungen dieser Positionen als globale Topik.<br />

Wenn wir bisher davon gesprochen haben, daß Texte einer konsistenten Perspektivierung in<br />

den genannten Bereichen unterliegen, so bedeutet dies nicht, daß in einem als kohärent verstandenen<br />

Text keine Abweichungen von einer global gesetzten <strong>Perspektive</strong> vorkommen.<br />

Vielmehr wirkt sich eine global gesetzte <strong>Perspektive</strong> funktional als eine default-Kategorie<br />

aus. <strong>Perspektive</strong>nwechsel können vom Sprecher zur Kennzeichnung bestimmter makrostruktureller<br />

Eigenschaften von Texten oder auch zur lokalen Informationsgliederung herangezogen<br />

werden. Sprachliche Mittel werden entsprechend funktional eingesetzt (vgl. zur Rolle<br />

der Subordination als Integrationsform für <strong>Perspektive</strong>nabweichungen Carroll & Lambert<br />

(2003), von Stutterheim 1997).<br />

Hierarchisierung<br />

Eine weitere Dimension, auf der eine textübergreifende Organisation wirksam wird, ist mit<br />

dem Grad der Segmentierung eines komplexen Geschehens gegeben. Gehen wir von einer<br />

gegebenen kommunikativen Aufgabe aus, die einen bestimmten Ausschnitt des beim Sprecher<br />

vorhandenen Sachverhaltswissens aufruft, so kann der Sprecher dieses Sachverhaltswissen in<br />

unterschiedlichem Detailliertheitsgrad sprachlich darstellen. Im Extremfall kann er eine<br />

Situation, über die er im Prinzip sehr viel Detailwissen besitzt, in einem Satz zusammenfassen<br />

(vgl. die Einheit der Makroproposition bei van Dijk 1980). In der Regel aber stellt er einzelne<br />

Komponenten der Situation dar und entscheidet sich für ein Granularitätsniveau, auf dem er<br />

den Gesamtsachverhalt segmentiert (vgl. bereits Wegener 1885:156ff. zum Zusammenhang<br />

von Handlungssegmentierung und sprachlicher Darstellung).<br />

In unmittelbarem Zusammenhang mit der Planungsdimension der Granularität steht die<br />

Hierarchisierung von Informationseinheiten, die zu Segmentbildung in Texten führt. Auch<br />

hierin finden wir einen Indikator für makrostrukturelle Planung 3 . Die Kennzeichnung von<br />

Textsegmentgrenzen sowie des Relationstyps zwischen den einzelnen Segmenten verlangt<br />

zwingend eine äußerungsübergreifende Planung.<br />

Fassen wir zusammen: Es müssen globale Festlegungen getroffen werden, um komplexe<br />

Wissensstrukturen in Sprache zum Ausdruck zu bringen. Diese lassen sich in den Kategorien<br />

der Informationsgliederung fassen. Topikbedingungen und Topikelemente sind diejenigen,<br />

die den referentiellen Rahmen für den Aufbau und die Organisation der Informationen auf<br />

Textebene festlegen. Sie gelten für die Planung der einzelnen Äußerung und ermöglichen so<br />

den schnellen und kohärenten Abruf der Informationen.<br />

3 Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang kindersprachliche Texte. Es zeigt sich, daß Kinder im<br />

Spracherwerb eine Phase durchlaufen, in der sie zwar einen Text, wie z.B. eine Erzählung oder Beschreibung,<br />

produzieren können, dabei jedoch eine intern nicht weiter strukturierte Kette von Einzelinformationen geben. Es<br />

erfolgt zu diesem Zeitpunkt noch keine makrostrukturelle Planung (vgl. Berman/Slobin 1994).


6<br />

Die Topikvorgaben sind zu einem Teil quaestio-bedingt. Jedoch sind die mit der jeweiligen<br />

Aufgabenstellung verbundenen Vorgaben oftmals nicht hinreichend beschränkend, sodass die<br />

Notwendigkeit besteht, weitergehende globale Beschränkungen zu setzen. Inwieweit in der<br />

Konkretisierung dieser sehr generellen Beschränkungen jenseits individueller Variation<br />

sprachstrukturelle Faktoren von Bedeutung sind, soll im folgenden für die Texte der drei<br />

Sprechergruppen geprüft werden.<br />

4 Sprachspezifische Textstrukturen: Deutsche, englische und französische Sprecher 4<br />

Wie bereits gesagt, kommt den Informationen, die die zeitliche Verankerung sowie die<br />

zeitlichen Relationen betreffen, für den Texttyp der Erzählungen eine zentrale Funktion zu.<br />

Erzählungen bestehen im Kern aus Ereignissequenzen, die temporal geordnet und als Teile<br />

eines übergreifenden Makroereignisses zu interpretieren sind. Neben den temporalen bestehen<br />

daher auch im weitesten Sinne kausale bzw. finale Beziehungen zwischen den Ereignissen.<br />

Wie die einzelnen Ereignisse referentiell verankert sind und welche Relationen zwischen<br />

ihnen für die sequentielle Anordnung im resultierenden Text maßgeblich sind, ist in gewissen<br />

Grenzen ins Ermessen des Sprechers gestellt. Die Erzählungen der drei Sprechergruppen<br />

unterscheiden sich hinsichtlich der Wahl eines temporalen Referenzrahmens sowie der<br />

dominanten Kohärenzrelation. Zu betonen ist, dass es sich hierbei um Präferenzen handelt,<br />

nicht um absolut gültige Prinzipien. Wir wollen argumentieren, dass diese Präferenzen in<br />

Bezug auf die Informationsorganisation dadurch bedingt sind, dass bestimmte<br />

Informationsstrukturen besser an die Anforderungen des einzelsprachlichen System angepasst<br />

sind als andere. Sie sind unter dem Gesichtspunkt der Sprachverarbeitung einfacher,<br />

automatisierbar und dadurch schneller zu produzieren als andere, und deshalb werden sie<br />

bevorzugt.<br />

4.1 Protagonisten–zentrierte <strong>Perspektive</strong><br />

Die globale Struktur, die mit dieser <strong>Perspektive</strong>nwahl verbunden ist, ist durch die zentrale<br />

Funktion eines Protagonisten gekennzeichnet. Der Protagonist wird als globale Topik auf der<br />

obersten Hierarchieebene der Informationsstruktur gesetzt. Er liefert damit auch den Anker<br />

für referentielle Einordnung in der temporalen wie in der lokalen Domäne. Dies bedeutet, dass<br />

die folgenden Topikbedingungen für die Informationsorganisation auf Textebene gelten. Die<br />

zentrale Entität, der Protagonist, bleibt als diejenige Größe über die einzelnen<br />

Äußerungseinheiten hinweg erhalten, an der die Ereignisse festgemacht werden. Damit ergibt<br />

sich als Selektionskriterium für die einzelnen Ereignisse der Grad der Involviertheit des<br />

Protagonisten. Entweder er ist derjenige, der durch sein Handeln, als Agens, die Geschichte<br />

voranbringt oder derjenige, über den als Betroffenen von Handlungen in einer Patiensrolle<br />

Dynamik und Kohärenz zu gewinnen sind. Situationen, in denen der Protagonist nicht<br />

involviert ist, werden unter dieser <strong>Perspektive</strong> nicht für die Versprachlichung ausgewählt.<br />

Der Protagonist stellt damit auch den Ankerpunkt für die temporale <strong>Perspektive</strong>. Temporale<br />

Referenz ist innerhalb der Erzählwelt etabliert. Das Zeitintervall, das am Beginn der<br />

temporalen Kette steht, ist unspezifisch als das erste einer Folge eingeführt. Die folgenden<br />

Ereignisse sind einem anaphorisch in der später-Relation angebundenen Zeitintervall<br />

zugeordnet. Das Topikzeitintervall TT der einzelnen Äußerung ist bestimmt als in der<br />

Nachzeit des vorgehenden Ereignisses (T sit bezeichnet das Zeitintervall, für die das Ereignis<br />

der Fall ist) liegend. Dies impliziert, dass die Ereignisse als abgeschlossene präsentiert<br />

4 Die Corpora haben folgenden Umfang in Äußerungseinheiten: Deutsch 1.970, Englisch 2206, Französisch 966.


7<br />

werden, denn nur dann kann TT 2 als nach T sit1 liegend, hinreichend identifizierbar sein. Die<br />

Vorgaben für diesen Textaufbaus, die die Hauptstruktur des Textes festlegen, sehen somit<br />

folgendermaßen aus.<br />

a) Topikentität: Protagonist, beibehalten<br />

b) Topikrelation: TT 1 , T sit1 vor TT 2 enthält T sit2 vor TT 3 enthält Tsit 3 …<br />

c) Beschränkung für Situationen: dynamisch, zeitlich begrenzt<br />

Situationen, die diesen Bedingungen nicht entsprechen, zählen zur Nebenstruktur. Sie werden<br />

hierarchisch zugeordnet und sind lokal an Informationseinheiten der Hauptstruktur<br />

angebunden. Dazu zählen beispielsweise Zustandsbeschreibungen (Verstoß gegen Bedingung<br />

b) und c)), oder Ereignisse, in denen der Protagonist nicht involviert ist (Verstoß gegen<br />

Bedingung a)).<br />

Die hier genannten Vorgaben sind als Planungsprinzipien zu verstehen, die den Sprecher in<br />

die Lage versetzen, schnell und zielführend aus der Gesamtmenge der nicht linear<br />

strukturierten Wissensbasis zu dem Gesamtsachverhalt Informationen abzurufen, die in eine<br />

Folge von Sätzen umgesetzt werden können. Die Vorgaben bereiten so auch den Zugriff auf<br />

bestimmte sprachliche Formen vor.<br />

Wie diese Ebenen zusammenspielen, zeigen die deutschen Texte, in denen die Sprecher sich<br />

grundsätzlich einer Protagonisten-basierten Strategie bedienen. Sie sind – was die<br />

Globalstruktur betrifft – sehr homogen. Die folgenden Ausschnitte illustrieren die genannten<br />

makrostrukturellen Muster:<br />

Beispiel 1<br />

(12) das männchen fällt runter in eine papierwüste mit lauter einzelnen<br />

quadratischen blättern<br />

(13) und in diesem Raum weht ein starker wind<br />

(14) und wirbelt die papierblätter durch die gegend<br />

(15) und das männchen muss dauernd ausweichen<br />

(16) und Ǿ wird dann schließlich von einem blatt getroffen<br />

(17) und Ǿ fällt zu boden<br />

(18) dann steht es wieder auf<br />

(19) und Ǿ findet eine nasse stelle im papierboden<br />

(20) Ǿ fängt an nach dem wasser zu graben<br />

Betrachten wir zunächst Topikvorgabe a). Die deutschen Sprecher enkodieren den<br />

Protagonisten in 75,5% der singulären Ereignisreferenzen als Subjekt (vgl. hierzu<br />

v.Stutterheim/Carroll 2005). Der Anteil von 54,2% elliptischen Äußerungen, in denen ein<br />

Nullsubjekt den Erhalt der Referenz auf den Protagonisten anzeigt, bestätigt die konzeptuelle<br />

Dominanz dieser Entität als Aufmerksamkeitszentrum der Geschehenskette. Deutlich wird<br />

dies besonders dort, wo elliptische Konstruktionen grammatische Beschränkungen ignorieren<br />

und das Verstehen auf Prinzipien der konzeptuellen Relevanz basiert:<br />

Beispiel 2<br />

(90) und Ǿ fällt wieder in die nächste ebene rein<br />

(91) und der himmel ist ganz schwarz<br />

(92) und aber irgendwie doch hell erleuchtet<br />

(93) wie bei ner art sonnenuntergang.....


8<br />

(97) und du hörst noch diesmal ganz viele geräusche vom äh maschinen<br />

(98) die äh da arbeiten<br />

(99) also Ǿ fällt in diese ebene<br />

(100) und ist irgendwie noch deformierter<br />

Der Antezedens für das Nullsubjekt in 99 ist das Nullsubjekt in 90. Es liegen mehrere<br />

Subjekte dazwischen, sodass die grammatische Lizensierung einer Nullanaphora keinesfalls<br />

gegeben ist.<br />

Der unterschiedliche informationsstrukturelle Status der am Geschehen beteiligten Mitspieler<br />

wird des weiteren dadurch deutlich, dass für die Besetzung der Subjektstelle in<br />

Ereignisdarstellungen in der Regel keine andere Entität als der Topikkandidat gewählt wird.<br />

Ist der Protagonist nicht selbst Agens, so erlaubt die Verwendung einer Passivkonstruktion die<br />

Situation dennoch aus ‚seiner Sicht’ zu präsentieren (vgl. Bsp. 1/16). Ein weiteres formales<br />

Mittel, um die Herabstufung von Mitspielern in der Informationshierarchie zu erreichen, liegt<br />

in der Subordination. Auch diese syntaktische Konstruktion findet sich ganz konsequent in<br />

den deutschen Texten dort eingesetzt, wo andere Entitäten als der Protagonist Geschehnisse<br />

vorantreiben.<br />

Beispiel 3<br />

er wird dann quasi erhoben von diesem steinhaufen<br />

der so aus der erde heraus sich türmt<br />

und äh muß jetzt also zusätzlich versuchen da runterzuklettern<br />

Die Zentrierung der Informationen um den Protagonisten als globaler Topikentität hat nicht<br />

nur die bereits angesprochenen Folgen für die Informationsstrukturierung, sondern bietet auch<br />

Kritierien für die Informationsauswahl. Relevant sind diejenige Teile der Wissensbasis, die<br />

das Handeln des Protagonisten betreffen. Geschehnisse, die keine unmittelbaren<br />

Auswirkungen auf den Protagonisten haben, werden nicht thematisiert. So unterscheiden sich<br />

die Texte der drei Sprechergruppen auch signifikant darin, welche Ereignisse für die<br />

Versprachlichung ausgewählt werden (vgl. für eine genauere Untersuchung Carroll et al., im<br />

Druck).<br />

Zusammenfassend lässt sich zunächst festhalten, dass die Nacherzählungen der deutschen<br />

Sprecher einer Globalstruktur folgen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Protagonist als<br />

diejenige Adresse gilt, an die neue Informationen angebunden werden, durch die sie verknüpft<br />

werden und durch die sie damit auch motiviert werden. Diese Bedingung, die wir als globale<br />

Topikbedingung bezeichnet haben, liefert das in der Entscheidungshierarchie höchststehende<br />

Kriterium für die Informationsorganisation im Text. Ergänzt wird es durch die<br />

Topikbedingung im Bereich der Temporalität. Hier ist die anaphorische Verschiebung der<br />

jeweiligen Topikzeit die entscheidende Bedingung für die Sequenzierung der Information.<br />

Situationen, die diesen Vorgaben nicht angepasst werden können, benötigen einen ‚Anker’ in<br />

der Hauptstruktur, sind also lokal zu verknüpfen.<br />

Diese Protagonisten-zentrierte <strong>Perspektive</strong> ist das für die deutschen Sprecher charakteristisch;<br />

sie könnten auch auch anders vorgehen - sie tun es aber nicht. Umgekehrt findet sich diese<br />

<strong>Perspektive</strong> auch gelegentlich bei englischen Sprechern. Die große Mehrzahl von ihnen<br />

konstruiert die Texte jedoch nach einem in den wesentlichen Zügen verschiedenen Muster.<br />

4.2 Erzähler-basierte <strong>Perspektive</strong>


9<br />

Englische Sprecher bevorzugen ein Muster, das in seinen Vorgaben weniger eng ist.<br />

Festgelegt ist im wesentlichen ein referentieller Rahmen. Dies geschieht dadurch, dass der<br />

Erzähler mit seinem deiktischen Feld die oberste Ebene der Informationshierarchie definiert.<br />

Die erzählte Welt des Filmgeschehens wird durch die Augen des Erzählers präsentiert. Dies<br />

hat zur Folge, dass die Filmereignisse gleichsam gegenwärtig vor dem Auge des Betrachter<br />

erscheinen als Vorgänge, die gerade im Verlauf sind. Die zentrale Topikvorgabe liegt damit<br />

im Bereich der Zeit und besteht in der Festlegung eines deiktischen, durch den Text hindurch<br />

erhaltenen Jetzt-Zeitpunktes. Die jeweilige Topikzeit der einzelnen Geschehnisse enthält<br />

diesen deiktischen Punkt, über ihn wird Kohärenz hergestellt. Die damit verbundenen<br />

Implikationen für die Auswahl der einzelnen Informationen sind gering. Im Prinzip kann jeder<br />

Typ von Geschehen an dieses deiktische Jetzt angebunden werden. Es muss sich nicht um ein<br />

abgeschlossenes Geschehen handeln, wie dies im Deutschen für die anaphorische<br />

Verschiebung erforderlich ist. Auch die Wahl der Entität, die als Topik im Subjekt des Satzes<br />

kodiert wird, ist durch den deiktischen Rahmen nicht beschränkt. Die Tatsache, dass die<br />

Menge der dargestellten Geschehnisse im Wahrnehmungsrahmen des Erzählers verankert<br />

sind, liefert bereits einen Zusammenhang. Allerdings muss der Sprecher darüber hinaus<br />

Kriterien für die Auswahl und Sequenzierung der Information haben. Die Sequenzierung wird<br />

auch in diesen Texten über die Temporalität geleistet, jedoch wird das zeitliche<br />

Voranschreiten über die Bewegung des deiktischen Zentrums geleistet. ‚now you see’, ‚then<br />

you see’ folgen einer zeitlichen Struktur, die den Wahrnehmungsfluss zur Grundlage hat.<br />

Darin sind im Prinzip alle Geschehnisse ‚erzählbar’. Die Topikvorgabe läßt sich wie folgt<br />

formulieren:<br />

a) Topikzeit: TU des Sprechers<br />

b) Topikrelation: TU als TT beibehalten, TU=TT 1 vor TU=TT 2 …<br />

Für die Wahl der Entitäten in Subjektrolle und für die Auswahl der versprachlichten<br />

Situationen bestehen keine globalen Vorgaben.<br />

Das Kriterium, nach dem die Situationen ausgewählt werden, liegt in ihrer Funktion im<br />

Rahmen der übergreifenden Kausalkette. Entsprechend finden sich als verknüpfende<br />

Konjunktionen auch nicht temporale Ausdrücke, sondern das kausale so (vgl. Bsp. 4/48 und<br />

56). Geschehnisse, die andere zur Folge haben, und die als Voraussetzung für das Resultat am<br />

Ende der Geschichte anzusehen sind, werden versprachlicht. Damit verbunden ist die<br />

Tatsache, dass alle Entitäten, die die Handlung in diesem Sinne vorantreiben, mögliche<br />

Kandidaten für die Subjektstelle darstellen. In den englischen Texten gibt es daher keine<br />

informationsstrukturelle Notwendigkeit, Entitäten zu hierarchisieren und sie durch<br />

syntaktische Mittel wie Passiv und Subordination ‚herabzustufen’.<br />

Die folgenden Textbeispiele zeigen diese Organisation der Information und den<br />

ensprechenden Einsatz bestimmter sprachlicher Ausdrucksmittel. Beispiel 4 beginnt die<br />

Erzählung der zweiten Szene mit der Setzung des deiktischen Referenzrahmens now you see.<br />

Die Situationen, die sprachlich dargestellt werden, umfassen sowohl Ereignisse im engeren<br />

Sinne (40, 41, 49, 50) als auch Zustände, die durch Verben im present progressive<br />

ausgedrückt werden. Sie können auch Elemente der Erzählkette darstellen (44). Kandidaten<br />

für die Subjektstelle sind im Prinzip alle Entitäten, die agentivisch an Geschehnissen beteiligt<br />

sind. Es gibt keine zentrale Topikentität, wie dies in den deutschen Texten der Fall ist. Die<br />

Äußerungen 44, 52/53, 56 weisen eine Informationsgliederung auf, die in dieser Form in den<br />

deutschen Texten nicht zu beobachten ist. Dies hat auch zur Folge, dass Nullanaphora für das<br />

Subjekt sehr viel weniger eingesetzt wird als im Deutschen (16,4% im Gegensatz zu 54% im<br />

Deutschen, vgl. Bsp. 5, 18-24).<br />

Beispiel 4


10<br />

(34) okay eh now you see<br />

(35) that the man has fallen onto another like really bleak landscape<br />

(36) and it looks<br />

(37) as if it as all made out of paper<br />

(38) and there are like sheets of paper<br />

(39) lying on the floor<br />

(40) and he falls down onto this ground<br />

(41) and eh gradually he stands up again<br />

(42) and he can hear a wind<br />

(43) blowing a little bit<br />

(44) and these pieces of paper keep flying past him<br />

(45) and he can still hear the sound of eh water<br />

(46) falling<br />

(47) and dropping onto the ground<br />

(48) so he gets up<br />

(49) and goes towards the sound<br />

(50) and as he does this<br />

(51) you see like<br />

(52) it’s a paper<br />

(53) flying past him<br />

(54) and they’re quite big<br />

(55)) they’re like the size of him<br />

(56) so one knocks him over<br />

Beispiel 5<br />

(10) and you see<br />

(11) he is eh like a clay man<br />

(12 he’s made out of brown clay<br />

(1) and he’s just got eyes<br />

(14)== and that’s all really<br />

(15) you can see like big hands<br />

(16) like a sort of plasticene man<br />

(17) or something<br />

(18) and he wakes up<br />

(19) and he reaches out<br />

(20) and he can feel a bottle<br />

(21) and he picks it up<br />

(22) but there’s nothing in there<br />

(23) and he stands up<br />

(24) and he can hear thunder<br />

Die flache Hierarchie in den Texten zeigt sich auch in den geringen Vorkommen von<br />

Subordination. Ein systematisches Herunterstufen bestimmter Geschehnisse im Rahmen einer<br />

globalen Informationsgliederung ist nicht gefordert (vgl Beispiel 6 /12 ff)<br />

Beispiel 6<br />

(10) so he takes a very sharp rock this time


11<br />

(11) and Ø starts to hit the ground with the sharp end of this rock<br />

(12) and the rocks on the ground splinter<br />

(13) and Ø begin to fall through<br />

(14) like the sand did<br />

(15) through a / almost through a hole<br />

(16) and they’re just kind of sucked down<br />

(17) and he is again sucked down with them<br />

Betrachten wir zusammenfassend die Beobachtungen für die englischen Texte, so läßt sich<br />

festhalten, dass in diesen Texten eine deiktische Verankerung als globale Beschränkung<br />

etabliert wird, an die die Geschehnisse informationsstrukturell gleichwertig angebunden<br />

werden. Die Auswahl der Ereignisse folgt dem Kriterium der kausalen Verknüpfung, d.h.<br />

diejenigen Geschehnisse, die weitere zur Folge haben, werden verbalisiert – unabhängig<br />

davon, wer als Agent fungiert und damit als Subjekt enkodiert wird. Neben der temporal<br />

deiktischen Verankerung gibt es keine weiteren globalen Topikvorgaben. Dies führt zu<br />

unterschiedlichen Mustern der Informationsorganisation und -selektion sowie<br />

unterschiedlicher Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel, die in beiden Sprachen im<br />

Prinzip zur Verfügung stehen (wie Passiv, Subordination, Ellipse).<br />

Bevor wir versuchen, eine Erklärung für die beobachteten Kontraste zu geben, soll als dritte<br />

Sprache das Französische untersucht werden.<br />

4.3 Erzähler und Protagonist als Einstellungsträger<br />

In den französischen Texten findet sich wie im Englischen eine globale Struktur, die an<br />

höchster Stelle eine Verankerung in der Erzählwelt aufweist. Anders als in den englischen<br />

Texten wird dabei allerdings nicht die temporale Geltung im Jetzt zum zentralen Kriterium<br />

der Kohärenzstiftung, sondern vielmehr der Einstellungskontext des Sprechers mit allen<br />

wesentlichen Eigenschaften. Er ist der Ankerpunkt für Wahrnehmung, Intention und<br />

Interpretation (Modalisierung). Die folgenden Beispiele illustrieren den Bezug auf den<br />

interpretierenden Erzähler (die entsprechenden Stellen sind fett gesetzt).<br />

Beispiel 7(2) et la caméra s’arrète sur un tas de rocher<br />

(3) et quand la caméra s’approche<br />

(4) on se rend compte que ce rocher<br />

(5) c’était en fait un bonhomme de sable mouillé<br />

(6) avec une bouteille à côté<br />

(7) et donc le bonhomme se relève<br />

(8) secoue la bouteille<br />

(9) et après cela on entend en fond sonore comme une goutte d’eau<br />

(10) qui tombe<br />

(11) et à ce moment là le bonhomme se met à creuser dans le sable<br />

à la recherche de cette eau<br />

(12) mais donc le sol se dérobe sous lui<br />

Beispiel 8<br />

(5) ensuite il se relève<br />

(6) donc est-ce que c'est symbolique<br />

(7) on a l'impression<br />

(8) d'avoir affaire à un homme


12<br />

(10) qui ne respire pas<br />

Beispiel 9<br />

(3) c'est un bonhomme, une espèce de bonhomme<br />

(4) fait de terre, comme modelé dans la terre<br />

(5) qui qu'on aperçoit<br />

(6) il est couché sur le sable<br />

(7) un peu enfoui dans le sable<br />

(8) on s'aperçoit<br />

() que c'est un être vivant<br />

(10) parce qu'on le voit<br />

(11) et qu'on l'entend respirer<br />

Die Integration der Geschehnisse in eine globale Informationsstruktur erfolgt über eine<br />

kausale Verknüpfung. Die Geschehnisse werden vermittelt über einen Einstellungsträger<br />

aufeinander bezogen: als Ereignisfolgen auf Grund von Absicht, Zweck- und Zielorientierung<br />

sowie Relationen vom Typ Voraussetzung, Folge und Implikation. Die dominierende Relation<br />

zwischen den einzelnen Situationen ist in den französischen Texten daher die kausale. Ein<br />

Vergleich der empirischen Fakten für das Deutsche und Französische macht den Unterschied<br />

deutlich: In den französischen Texten werden in 12,6% der Äußerungen explizite<br />

Verknüpfungen über einen Kausalkonnektor hergestellt (donc in den meisten Fällen), nur in<br />

3,8% der Äußerungen finden sich temporale Konnektoren (wie et puis, après). In den<br />

deutschen Texten dagegen werden 28,2% der Äußerungen explizit temporal verknüpft (dann<br />

in den meisten Fällen), dagegen nur 3,8% kausal.Temporale Relationen sind zwar implizit mit<br />

kausalen verbunden – wie eine Kausal- oder Finalverknüpfung klarerweise ein Chronologie<br />

der relationierten Ereignisse impliziert – werden aber nicht im Sinne einer topikalischen<br />

Intervallstruktur TT 1 vor TT 2 vor TT 3 ...zur Kohärenzstiftung herangezogen. Die dargestellten<br />

Ereignisse sind daher auch nicht unbedingt in ihrem temporalen Endpunkt bestimmt. In<br />

vielen Fällen wird die temporale Verschiebung in Bezug auf den Anfangspunkt des<br />

Geschehens inferiert, wie das folgende Beispiel illustriert:<br />

1) et à ce moment là le bonhomme se met à creuser dans le sable à la recherche de cette eau<br />

2) mais donc le sol se dérobe sous lui<br />

Was wir hier über die temporale Relation erfahren, ist, dass das Einbrechen des Sandes nach<br />

dem Beginn des Grabens liegt. Expliziert ist die kausale Relation, insofern das Graben zum<br />

Einbrechen des Sandes geführt hat.<br />

Um kausale Relationen zuschreiben zu können, bedarf es eines Intentionsträger, also eines<br />

menschlichen Subjektes. Diese Rolle kann – wie ausgeführt – der Erzähler übernehmen, sie<br />

kann aber auch auf einen (oder mehrere) Geschehensmitspieler übertragen werden. In der<br />

vorliegende Geschichte ist der Protagonist für diese Rolle hervorragend geeignet. Ebenso wie<br />

der Erzähler kann er als Zentrum eines Einstellungskontextes gesetzt werden, von dem aus<br />

Kohärenz zwischen den einzelnen Geschehnissen motiviert wird. So ist in den französischen<br />

Texten neben dem Erzähler der Protagonist als globale Topik gesetzt. Damit sind die<br />

folgenden Vorgaben für die Informationsorganisation in den Texten verbunden:<br />

a) Die Subjektposition wird mit einer intentional handelnden Entität besetzt.


13<br />

b) Andere Entitäten, die Agenseigenschaften besitzen, aber nicht Intentionsträger sind,<br />

werden informationsstrukturell herabgestuft (entweder durch Passivkonstruktionen<br />

oder Subordination)<br />

c) Kausale Verknüpfung (im weiteren Sinne unter Einschluss von Finalität,<br />

Konditionalität etc.) stellt die sequenzierende Relation zwischen den einzelnen<br />

Geschehnissen dar.<br />

Was die Selektion der Ereignisse für die Versprachlichung betrifft, so besteht ein wesentliches<br />

Kriterium darin, Situationen auszuwählen, die Einstellungkontexte einführen. Prädikate, die<br />

Wahrnehmung, Absichten, Wünsche, Deutungen zum Ausdruck bringen, überwiegen in den<br />

Texten. Vergleichen wir hier die empirischen Befunde für das Deutsche und Französische, so<br />

ergibt sich, dass im Französischen 40.2% der Äußerungen Einstellungsverben der genannten<br />

Typen enthalten, im Deutschen sind dies 18.1%. Der folgende Textausschnitt illustriert noch<br />

einmal, wie die Geschehnisse durch den mentalen Filter des Protagonisten dargestellt werden.<br />

Beispiel 10 ef08<br />

(61) il s’aperçoit<br />

(62) que c’est mouillé partout<br />

(63) donc là aussi il est un petit peu perplexe, on peut dire<br />

(64) d’abord il essaie de récupérer l’eau par terre<br />

(65) il s’aperçoit<br />

(66) que c’est pas possible<br />

(67) donc il essaie plutôt de l’attraper vers le haut<br />

(68) comme s’il est en attente d’une offrande ou quelque chose comme ça<br />

(69) et il essaie à nouveau de retrouver cette goutte d’eau<br />

(70) et il s’engouffre à nouveau<br />

(71) oui, il creuse en fait<br />

(72) pour essayer de trouver<br />

(73) où va cette eau<br />

Zusammenfassend läßt sich festhalten, dass die französischen Texte ein wiederum eigenes<br />

Muster makrostruktureller Organisation aufweisen. Im Zentrum der globalen Organisation<br />

steht der Einstellungsträger als Ankerpunkt für Wahrnehmungs- und Deutungsereignisse.<br />

Faktisches Geschehen wird diesem Rahmen zugeordnet. Das Potential für die Funktion hat in<br />

jedem Fall der Erzähler, aber auch Handlungsträger der erzählten Welt. In den französischen<br />

Texten ist daher der Erzähler sowie der Protagonist Topikkandidat und erste Wahl für die<br />

Besetzung der Subjektstelle. Kohärenzstiftende sowie sequenzierende Funktion kommt der<br />

Kausalität zu. Die Auswahl der zu explizierenden Geschehnisse folgt dieser<br />

<strong>Perspektive</strong>nwahl, insofern Einstellungsprädikate überwiegen, faktische Prädikate stehen im<br />

Skopus von Einstellungskontexten. Temporaler Referenz und temporalen Relationen kommt<br />

keine globale textkonstitutive Funktion zu.<br />

4.4 Gründe für die Unterschiede<br />

Wie wir gesehen haben, bedienen sich deutsche, englische und französische Sprecher, vor<br />

dieselbe sprachliche Aufgabe gestellt, dreier ganz verschiedener <strong>Perspektive</strong>n - aus der Warte<br />

des Protagonisten, aus der Warte des Erzählers, aus der Warte des Einstellungsträgers. Dies<br />

gilt nicht zwingend; einige weniger Sprecher gehen andere Wege als die, die für die jeweilige<br />

Sprache typisch sind; dies sind aber Ausnahmen. Dies zeigt, daß die Sprecher nicht durch ihre


14<br />

Sprache gezwungen werden, in bestimmter Weise vorzugehen. Im typischen Fall tun sie es<br />

aber.Wie kommt es zu den beobachteten, systematische Unterschieden zwischen den<br />

Sprechergruppen? Sind es kulturell bedingte Unterschiede? Werden die heranwachsenden<br />

Sprecher in der Schule in unterschiedlicher Weise ausgebildet? Vergleiche mit Textcorpora,<br />

die aus anderen Kulturkreisen kommen, zeigen, dass diese Spur für die Erklärung der hier<br />

beobachteten Kontraste kaum erfolgversprechend ist. Parallele Untersuchungen zum<br />

Hocharabischen haben ergeben, dass deren Texte in ihrer Makrostruktur den englischen<br />

entsprechen (vgl. Carroll et al 2004, von Stutterheim & Carroll 2006) 5 . Gemeinsamkeiten im<br />

Bereich grammatikalisierter temporaler Kategorien zwischen den beiden Sprachen bestärken<br />

die Hypothese, dass es sprachspezifische Strukturen sind, die die <strong>Perspektive</strong>nwahl in<br />

komplexen sprachlichen Aufgaben bestimmen. Welche Strukturmerkmale können in dieser<br />

Funktion in den Erzähltexten bestimmend sein?<br />

Wie eingangs ausgeführt, ist bei einer Erzählquaestio die temporale Struktur von<br />

maßgeblicher Bedeutung ebenso wie alle diejenigen Komponenten, die Ankerpunkte für die<br />

Dynamik des Geschehens sind, in der Regel Agenten von Handlungen. Im Spektrum<br />

derjenigen Kategorien, die in den hier betrachteten Sprachen grammatikalisiert sind, können<br />

den Folgenden Implikationen für die genannten Vorgaben zugesprochen werden:<br />

(a) Für den Bereich der temporalen Kohärenz sind die verbalmorphologischen Kategorien<br />

wesentlich.<br />

(b) Für die Komponente, die den Handlungsträger betrifft, bildet die Subjektkategorie mit<br />

ihren grammatischen Eigenschaften das strukturelle Korrelat,<br />

(c) für die Frage globaler Topikkomponenten sind funktionale Belegungen topologischer<br />

Positionen von entscheidendem Einfluß.<br />

Die drei hier betrachteten Sprachen weisen im Hinblick auf diese drei Bereiche<br />

unterschiedliche grammatische Merkmale auf. Im Verbalparadigma des Präsens unterscheidet<br />

sich das Englische vom Deutschen und Französischen durch die Grammatikalisierung des<br />

Aspektes. Das deutsche und das französische Präsens sind in gleicher Weise unterspezifiziert,<br />

insofern in beiden Sprachen sowohl spezifische als auch habituell/generische Referenzen<br />

damit ausgedrückt werden können.<br />

Subjekt und Topologie sind für sprachvergleichende Betrachtungen nicht von einander zu<br />

trennen. Das grammatische Subjekt nimmt im Englischen und Französischen eine feste<br />

Position vor dem Finitum ein, beides sind SVO–Sprachen, während das Deutsche die Position<br />

im Vorfeld nicht mit einer bestimmten syntaktischen Funktion verknüpft. Subjekte stehen<br />

zwar häufig im Vorfeld, aber nicht auf Grund von syntaktischen Beschränkungen, sondern<br />

aus Gründen der Informationsstruktur. Das Deutsche weist eine ausgezeichnete Position am<br />

Satzanfang vor dem Finitum auf, die – im unmarkierten Fall – mit einer Topikkonstituente<br />

besetzt wird. Der Unterschied zwischen den drei Sprachen lässt sich damit als SV (Englisch<br />

und Französisch) und TopikV (Deutsch) formulieren.<br />

Inwiefern können nun diese Unterschiede in den grammatischen Systemen die<br />

unterschiedlichen Strategien der Informationsgliederung und <strong>Perspektive</strong>nwahl<br />

hervorbringen? Betrachten wir jeweils die formalen Beschränkungen und ihre Implikationen<br />

für die drei Sprachen.<br />

Die in den englischen Texten dominierende Strategie der Erzähler-basierten <strong>Perspektive</strong> stellt<br />

Kohärenz über das deiktische Jetzt her. Der grammatikalisierte progressive Aspekt bietet eine<br />

Form, durch die im Prinzip jede Situation, unabhängig von ihren inhärenten temporalen<br />

Eigenschaften, an dieses Jetzt angebunden werden kann. In Anwendung dieser Form assertiert<br />

5 Weitere Untersuchungen zum Japanischen und Chinesischen, die mit demselben Stimulusmaterial arbeiteten,<br />

haben bestätigt, dass Gemeinsamkeiten in Informationsselektion und <strong>Perspektive</strong>nwahl dort bestehen, wo<br />

vergleichbare strukturelle Optionen vorliegen. (vgl. Naoko 2006)


15<br />

der Sprecher, dass ein Teilintervall eines Geschehens zur Topikzeit Jetzt der Fall ist. Das<br />

Vorhandensein eines grammatikalisierten progressiven Aspektes bedingt die Einführung einer<br />

deiktischer origo als temporalen Anker. Mit dieser Form verbindet sich die Tatsache, dass<br />

keine Selektionsanforderungen an den Ereignistyp gestellt werden. Jede Situation kann an den<br />

deiktischen Anker angebunden werden, der deiktische Referenzrahmen des now I see ist<br />

makrostruktuell kohärenzstiftend. Was die Enkodierung der Subjektentität angeht, so sind im<br />

Englischen keine grammatischen Optionen gegeben. Das Subjekt steht in fester Position, es<br />

sind keine informationsstrukturellen Bedingungen obligatorisch zu berücksichtigen. Dadurch<br />

sind im Prinzip alle Entitäten subjektfähig. Ein Selektionskriterium für potentielle<br />

Subjektkandidaten wird allerdings durch die Erzählaufgabe gesetzt. Erzählungaufforderungen<br />

fragen nach Ereignissen, nach dynamischen Geschehen und deren kausaler Verknüpfung.<br />

Dynamik entsteht durch handelnde Entitäten. So ergibt sich als wesentliches Merkmal von<br />

Entitäten, die als Subjekt enkodiert werden, Agentivität. Besonderheiten der englischen Texte<br />

im Vergleich mit den deutschen und französischen über die genannten hinaus spiegeln diese<br />

relativ geringen Beschränkungen: es werden kaum sprachliche Formen verwendet, die eine<br />

Hierarchisierung der Information zum Ausdruck bringen. Passivkonstruktionen oder<br />

Subordination werden in den englischen Nacherzählungen kaum verwendet (vgl. Carroll &<br />

Lambert 2003). In den hocharabischen Texten findet sich eine vergleichbare<br />

makrostrukturelle Organisation. Vergleichbarkeit besteht im Hinblick auf die<br />

Grammatikalisierung der hier relevanten temporalen Kategorien. Subjekteigenschaften<br />

unterscheiden sich dagegen. Das Hocharabische weist VS für Handlungsprädikate auf und<br />

erlaubt Nullsubjekt. Obwohl Nullsubjekt die Wahl einer globalen Topikentität unterstützen<br />

sollte, ist dies im Hocharabischen nicht der Fall. Dies interpretieren wir als Indiz für eine<br />

hierarchische Gewichtung der relevanten Faktoren, insofern der Wahl der temporalen<br />

<strong>Perspektive</strong> der höchste Stellenwert für die makrostrukturelle Planung zukommt.<br />

Auf struktureller Ebene weisen Englisch und Französisch gemeinsame Merkmale in Bezug<br />

auf die Subjektkategorie auf, unterscheiden sich aber im Hinblick auf die<br />

Grammatikalisierung temporaler Kategorien. Der Vergleich zwischen den beiden<br />

Sprechergruppen hat Kontraste und Gemeinsames in der makrostrukturellen Organisation<br />

ergeben. Unterschiede liegen nicht nur im Bereich der temporalen Verankerung – wie man<br />

erwarten würde -, sondern auch im Bereich der Subjektselektion. Dies führt uns zu der<br />

These, dass im Französischen, gerade weil Kohärenzstiftung nicht auf der Grundlage<br />

temporaler Relationen durch das System gestützt wird, die Funktionen anderer<br />

Informationskomponenten anders belegt werden. Die Beschränkungen, die für die Besetzung<br />

der Subjektstelle im Französischen zu beobachten sind, ergeben sich aus der Tatsache, dass<br />

Temporalität keinen Beitrag zur Kohärenz leisten kann. Der temporale Referenzrahmen wird<br />

im Französischen nicht – wie im Englischen - durch ein deiktisches Jetzt gesetzt. Das<br />

Französische kann diese Option nicht über das Verbalsystem zum Ausdruck bringen, es<br />

müssten immer wieder adverbiale deiktische Verankerungen gegeben werden. Temporale<br />

Kohärenzstiftung wird daher in den französischen Texten nicht über eine deiktische<br />

Verankerung geleistet. Globale Kohärenzstiftung wird vielmehr über die Rolle eines<br />

Erzählers bzw. Protagonisten erreicht. Andere Entitäten, die agentivische Merkmale besitzen,<br />

werden syntaktisch herabgestuft, über die Mittel Passiv oder Subordination. Im Französischen<br />

ist mit der festen SV-Folge keine alternative Besetzung der Topikposition möglich. Hier<br />

besteht ein wesentlicher Unterschied zum Deutschen, das temporale Referenzen in zentraler<br />

Topikposition zulässt. Temporale Verschiebung gewinnt dadurch nicht den globalen<br />

kohärenzstiftenden Status wie in den deutschen Texten. Erzählungen, die im Kern durch eine<br />

Kette von Ereignissen konstituiert werden, sind durch temporale und kausale Relationen<br />

gekennzeichnet. Da für die temporale Verknüpfung weder im Sinne eines deiktischen<br />

Bezugsrahmens wie im Englischen noch nach dem Muster der temporalen Verschiebung wie<br />

im Deutschen grammatikalisierte Mittel bzw. Positionen zur Verfügung stehen, findet sich in


16<br />

den französischen Texten Kausalität als die kohärenzstiftende Relation. Dies impliziert ein<br />

Selektionsmerkmal für die Subjektbesetzung, insofern diejenigen Kandidaten präferiert<br />

werden, die als Intentionsträger die Quelle für Kausalität darstellen können – anders als in den<br />

englischen Texten, in denen die kausale Verknüpfung innerhalb des temporal deiktischen<br />

Rahmens die Progression der Ereignisse unterstützt. Der globale Rahmen, der in den<br />

französischen Erzähltexten Informationsselektion und –organisation steuert, ist damit<br />

einerseits durch den geringen Grammatikalisierungsgrad im Bereich temporaler Kategorien,<br />

andererseits durch den hohen Grammatikalisierungsgrad der Subjektkategorie bedingt.<br />

Das Deutsche entspricht – wie bereits gesagt – im Bereich der temporalen Verbalmorphologie<br />

dem Französischen. Es besitzt ein unterspezifiziertes Präsens, das keine eindeutige temporale<br />

Verankerung leisten kann. Es unterscheidet sich von den beiden anderen Sprachen durch die<br />

Verbzweit-Regel. Diese Struktur zeichnet die Vorfeldposition aus, aber nicht im Hinblick auf<br />

eine bestimmte grammatische Besetzung. Das Vorfeld ist funktional auf eine<br />

Topikkomponente festgelegt 6 . In den deutschen Texten konkurrieren Zeitausdrücke – in der<br />

Form des temporalen Sequenzierungsadverbs dann – und die Subjektentität um diese<br />

Position. Die Option, die im Deutschen, anders als in den beiden anderen Sprachen, in Bezug<br />

auf die Topikstelle besteht, läßt es zu, dass die temporale Relation als in der quaestio gesetzter<br />

potentieller globaler Kohärenzfaktor etabliert wird. Zentrales Kriterium für die Reihung der<br />

Informationen ist daher in den deutschen Texten die temporale Folge mit weiteren<br />

Implikationen für die Informationsselektion. Folge impliziert geschlossene Intervalle. Die<br />

Informationen sind daher so ausgewählt, dass die dargestellten Situationen einen Abschluss<br />

aufweisen, entweder durch Zielangaben von Bewegungen oder affizierte bzw. effizierte<br />

Objekte von kausativen Handlungen. Dieser Vorgabe entspricht die Wahl einer intentional<br />

handelnden Entität als globaler Topikentität, insofern sie den Ausgangspunkt für zeitlich<br />

abgeschlossene Ereignisse bildet. Der Protagonist wird als globale Topikentität gesetzt,<br />

andere Beteiligte werden durch grammatische Mittel wie Passiv und Subordination<br />

konsequent herabgestuft. Subjektellipsis über weite Textpassagen hinweg sind als sprachliche<br />

Form einer globalen Topikkategorie anzusehen.<br />

Um die These zu prüfen, dass der Verbzweit-Regel entscheidende Funktion für die<br />

Informationsorganisation zukommt, wurden Parallelstudien mit niederländischen Sprechern<br />

durchgeführt (vgl. Carroll & Lambert 2003, van Ierland 2006). In den hier als relevant<br />

identifizierten grammatischen Merkmalen (Verbzweit und Semantik des Präsens) weisen das<br />

Niederländische und das Deutsche gleiche Belegungen auf. Die Filmnacherzählungen der<br />

niederländischen Sprecher zeigen hinsichtlich der globalen Informationsorganisation in der<br />

Tat das gleiche Muster wie die deutschen Texte. Niederländisch und Deutsch sind - in dieser<br />

Hinsicht - gleich strukturiert, und so erklärt sich, dass Niederländer und Deutsche die gleiche<br />

Art der Perspektierung wählen.<br />

Zusammenhänge der hier erläuterten Art verlieren ihren auf Anhieb vielleicht etwas<br />

konstruiert wirkenden Charakter, wenn man sich vor Augen führt, wie Menschen im Laufe<br />

ihrer kognitiven und sprachlichen Entwicklung das Handwerkszeug erwerben, mit dem sie<br />

dann komplexe sprachliche Aufgaben bewältigen. Im Verlauf des Erstspracherwerbs wird<br />

durch die grammatikalisierten Kategorien die Aufmerksamkeit der Sprecher bzw. der Lerner<br />

auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit gelenkt. So erwerben beispielsweise englische<br />

Kinder das progressive als erste morphologisch markierte Verbalkategorie, deutsche Kinder<br />

dagegen das Partizip Perfekt (oder Varianten davon). Dies resultiert in charakteristischen<br />

Mustern der Aufmerksamkeitsverteilung derart, dass es einerseits ausgezeichnete Bereiche<br />

6 Wir diskutieren hier nicht die aktuelle Fragen um den Topikbegriff. Auch ist klar, dass im Vorfeld nicht nur<br />

Topikelemente stehen können. Für die Frage des Einflusses grammatikalisierter Strukturen auf die globale<br />

Informationsorganisation sind jedoch diejenigen Strukturen massgeblich, die als unmarkiert und damit mit dem<br />

geringsten Aufwand aufrufbar gelten können.


17<br />

gibt, die automatisch Aufmerksamkeit an sich ziehen, während andere nur auf den zweiten<br />

Blick berücksichtigt werden. Die Herabstufung in einem Feld hat andererseits die<br />

Ausdifferenzierung in einem anderen zur Folge, um letzten Endes auf verschiedenen Wegen<br />

zur Erfassung einer Situation zu kommen. Für die unglaublich schnelle<br />

Informationsverarbeitung im Prozess des Sprechens sind hochgradig automatisierte Abläufe<br />

notwendig. Die Präferenzen im Informationsaufbau, die wir bei den Sprechern der<br />

unterschiedlichen Sprachen beobachten können, spiegeln eben diese automatisierten<br />

Verarbeitungsstrategien.<br />

Um diese These, die sich über die Sprache hinaus auf vorsprachliche Prozesse bezieht, zu<br />

überprüfen, wurden Untersuchungen zur visuellen Aufmerksamkeit von Sprechern<br />

unterschiedlicher Sprachen durchgeführt. Als Methode wurde die Blickbewegungsmessung<br />

eingesetzt. Die im folgenden kurz dargestellte Studie ist als Pilotuntersuchung anzusehen.<br />

5 Visuelle Aufmerksamkeit beim Sprechen: Blickbewegungsmuster<br />

In der Studie wurde den Versuchspersonen eine Abfolge von 40 kurzen Filmszenen auf einem<br />

Monitor vorgespielt. Die Szenen sind im Schnitt 7 Sekunden lang und stellen alltagsweltliche<br />

Situationen dar wie: ein Junge springt ins Wasser, ein Auto fährt auf ein Haus zu, eine Frau<br />

rührt Kuchenteig, ein Mann angelt an einem Fluss. Diese Szenen wurden je 15 Sprechern des<br />

Deutschen, Niederländischen und Englischen gezeigt und sie wurden gebeten, die Ereignisse<br />

zu versprachlichen. Während der gesamten Aufnahme wurden die Blickbewegungen der<br />

Probanden am Stimulusmaterial dokumentiert.<br />

Vorangehende Analysen von Ereignisverbalisierungen deutscher, englischer und<br />

niederländischer Sprecher hatten gezeigt, dass bedingt durch die im Aspektsystem<br />

grammatikalisierten Konzepte unterschiedliche Komponenten von Situationen sprachlich<br />

dargestellt wurden. 7 Erhellend sind hier Ereignistypen, bei denen Bewegung einer Entität auf<br />

ein potentielles Ziel hin vorliegt. Während die Sprecher des Englischen in Bezug auf diese<br />

kritischen Szenen häufig den potentiellen Endpunkt unerwähnt ließen (genannt in 25,2%),<br />

nannten die deutschen Sprecher diese Endpunkte in der Regel (genannt in 76,4%). Die<br />

Deutschen folgen zwar keineswegs zwingend, aber doch mit starker Präferenz der alten Regel<br />

"respice finem", die Engländer nicht - zumindest sagen sie es nicht. Wie ist es nun mit den<br />

holländischen Sprecher, die ja, wie wir oben gesehen habe, bei der Perspektivierung mit den<br />

Deutschen gehen?<br />

Das Ergebnis ist zunächst einmal sehr überraschend: sie erwähnen nämlich auch kaum<br />

Endpunkte (genannt in 15,0%). Eine eingehende Analyse zeigt nun, dass die holländischen<br />

Sprecher in dieser Situation, in der es ja nicht um die Konstruktion eines ganzes Textes geht,<br />

sondern nur um die Darstellung eines Einzelereignisses, eine Form benutzten, die in Bezug<br />

auf die darin zum Ausdruck gebrachte <strong>Perspektive</strong> der im Englischen präferierten Form<br />

entspricht: een man is aan het pottenbakken (ein Mann ist an dem Töpfern); een man is de straat<br />

aan het vegen (ein Mann ist die Straße an dem Fegen). Auch die englischen Sprecher wählten<br />

das present progressive als die in diesem Kontext angemessene Verbform: there is a man<br />

fishing, two men are surfing.<br />

In diesen Daten bestätigte sich, was sich bereits in den Filmnacherzählungen gezeigt hatte.<br />

Englische Sprecher haben die Möglichkeit, eine deiktische <strong>Perspektive</strong> zu wählen, die für das<br />

betrachtete Geschehen ein Teilintervall herausschneidet, für das die Gültigkeit behauptet<br />

wird. Das Holländische besitzt eine grammatikalisierte Verbform mit gleicher Funktion. Das<br />

Deutsche hat diese <strong>Perspektive</strong> nicht im Verbalparadigma grammatikalisiert. Deutsche<br />

7 Vgl. hierzu ausführlich v.Stutterheim & Carroll 2006 und Carroll/v.Stutterheim/Nüse 2004


18<br />

Sprecher sprechen über das jeweilige Ereignis als Ganzes, Abschlüsse und Endpunkte sind<br />

daher von entscheidender Bedeutung.<br />

Für die Blickbewegungsmessung wurden Stimuli gewählt, die Bewegungsereignisse<br />

darstellten, die ein potentielles Ziel aufwiesen, z.B. ein Auto fährt auf einer Landstraße, im<br />

Hintergrund sieht man ein Haus. Die Versprachlichung der deutschen Sprecher lautet in den<br />

meisten Fällen: ein auto fährt auf ein Haus zu. Englische Sprecher erwähnen dagegen den<br />

möglichen Zielort nicht: a car is driving along a country road. Die Frage war nun, wie ‚tief’<br />

greift dieser Unterschied in Prozesse der konzeptuellen Verarbeitung.<br />

Die ersten Befunde zu den Blickbewegungen zeigen, dass tatsächlich Unterschiede auf der<br />

Ebene der visuellen Aufmerksamkeitssteuerung bestehen. Tabelle 1 gibt die Ergebnisse zur<br />

Fixierung von potentiellen Endpunkten in den Szenen, getrennt gemessen vor und nach<br />

Sprechbeginn.<br />

Tabelle1<br />

Unterschied in der Anzahl der Fixationshäufigkeit vor und nach Sprechbeginn (= SOT)<br />

15 Sprecher, 9 Szenen<br />

Sprache Fixation vor SOT Fixation nach SOT Differenz<br />

Niederländisch 4.06 5.59 1.53<br />

Deutsch 8.7 9.5 0.8<br />

Englisch 2.9 8.04 5.57<br />

Die Werte für das Deutsche und Niederländische entsprechen den Befunden in den<br />

Produktionsdaten. Die deutschen Probanden betrachten die Region bzw. das Objekt, das als<br />

potentielles Ziel der Bewegung angesehen werden kann, signifikant häufiger als die<br />

niederländischen Sprecher und zwar vor und im Verlauf der Rede. Bezieht man die<br />

englischen Sprecher mit ein, so ist zunächst interessant, dass diese vor Sprechbeginn den<br />

niedrigsten Wert aufweisen, also sich die Aufmerksamkeit nicht auf einen möglichen<br />

Endpunkt richtet, nach Sprechbeginn steigt der Wert dann allerdings enorm an. Wir sehen hier<br />

wiederum einen Unterschied zwischen den Sprachsystemen gespiegelt.<br />

Die englische und die niederländische Verlaufsform sind unterschiedlich weit<br />

grammatikalisiert. Das bedeutet, sie sind in ihren Anwendungskontexten unterschiedlich stark<br />

beschränkt. Dies zeigt sich auch daran, dass in den niederländischen Filmnacherzählungen im<br />

Unterschied zu den englischen niemals Verlaufsformen verwendet werden. Während das<br />

englische progressive kaum Beschränkungen unterworfen ist (lediglich Situationen, die als 0-<br />

Zustand charakterisiert werden können, lassen diese grammatische Operation nicht zu, vgl.<br />

Klein 1994), auch mit Endpunkterwähnungen durchaus kompatibel ist (we are walking to the<br />

station, a car is driving to a house), ist die niederländische Verlaufsform in der Regel nicht<br />

mit Endpunkten zu verbinden *de trein is naar de station aan het fahren. 8 Ein Sprecher des<br />

Englischen kann daher die Verbform des progressive wählen, ohne dass er bereits die<br />

gesamten Informationskomponenten für die Verbalisierung geplant haben muss. Er kann sich<br />

im Verlauf der Rede noch entscheiden, einen Endpunkt zu erwähnen oder nicht. A car is<br />

driving along a country road ist ebenso ein möglicher Satz wie a car is driving along a<br />

country road to a house. Das Muster der visuellen Aufmerksamkeit spiegelt diese strukturelle<br />

Option, insofern als der Blick auf den potentiellen Endpunkt nicht zu Beginn der<br />

Redeplanung erfolgen muss, sondern im Verlauf noch erfolgen kann. Die Information kann<br />

dann immer noch syntaktisch integriert werden. Der Sprecher des Niederländischen dagegen<br />

8 Allerdings zeigen neueste Studien (Natale et al.2006), dass das Niederländische derzeit einen rasanten<br />

Grammatikalisierungsprozess durchläuft. Gegenwärtig unterscheiden sich die Grammatikalitätsurteile in bezug<br />

auf diese Konstruktion erheblich zwischen den Generationen.


19<br />

entscheidet sich mit der Wahl der Verlaufsform gewissermaßen bereits gegen die Erwähnung<br />

eines Endpunkts. Die visuelle Aufmerksamkeit wird daher nicht mehr auf eine Komponente<br />

der Situation gerichtet, die strukturell nicht mehr zu integrieren ist.<br />

Für Sprecher des Deutschen besteht im Verbalparadigma nicht die Option ein Teilintervall<br />

des Geschehens zu selegieren. Wie auch die Analysen der Erzähltexte gezeigt haben, werden<br />

Situationen holistisch dargestellt. Dem entspricht die visuelle Suche nach einem<br />

Endpunktbereits, bevor die Versprachlichung einsetzt.<br />

Diese ersten Befunde zur Überprüfung sprachstrukturell motivierter<br />

Aufmerksamkeitsprozesse lassen sich dahingehend interpretieren, dass diejenigen kognitiven<br />

Prozesse, die den Redeinhalt formen, bereits auf der Stufe der Informationsverarbeitung von<br />

visuellem Input an die grammatischen Strukturen der Einzelsprache angepaßt sind. Wir sehen<br />

durch diese Ergebnisse die These über den Zusammenhang zwischen Sprachstuktur und<br />

Informationsorganisation, die sich aus den Textanalysen ergeben hat, bestätigt. Allerdings<br />

bedarf es weiterer Studien auf breiterer Basis, um den Einfluss sprachstruktureller Vorgaben<br />

auf vorsprachliche Konzeptualisierungsprozesse zu prüfen.<br />

6 Sprache und Kognition – Sprache für Kognition<br />

Sprache, wenn zur Lösung einer bestimmten kognitiven und kommunikativen Aufgabe<br />

eingesetzt, lenkt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der außersprachlichen Welt.<br />

Solange das kognitive System im Aufbau ist, im Verlauf des Erstsprachwerbs, werden<br />

Verbindungen geknüpft, die durch Wiederholung immer weiter verfestigt werden. Wie uns<br />

die neurophysiologische Forschung zeigt, kommt der Mensch mit einem Vernetzungspotential<br />

im Gehirn auf die Welt, wie die Vernetzungen dann aufgebaut werden, ist keinesfalls<br />

deterministisch. Die Annahme, dass sprachliche Strukturen, insbesondere diejenigen, die<br />

obligatorisch zu kodieren sind, daher zur Ausprägung bestimmter konzeptueller<br />

Verarbeitungsprinzipien führen, ist daher durchaus mit bisherigen neurologischen Modellen<br />

vereinbar.<br />

Dabei zeigen gerade die Ergebnisse der Neurowissenschaften, dass die Neuronen<br />

einen Menschen genauso wenig determinieren, wie es seine Gene tun. Die<br />

Gensequenz eines Menschen mag unveränderlich hoch sein, doch die Aktivität der<br />

Gene wird fortlaufend durch von außen kommende Signale gesteuert. Auch das<br />

Denkorgan ist von diesem Wechselspiel abhängig: Umwelt und Erfahrung<br />

entscheiden darüber, welche Nervenzellen wachsen oder verkümmern, welche<br />

Nervenverbindungen angeregt werden und wie die Architektur unseres Gehirns<br />

beschaffen ist, die am Ende so einzigartig ist wie unser Fingerabdruck. (Ulrich<br />

Schnabel 2005 in DIE ZEIT)<br />

Die Anforderungen, die die Sprachproduktion an die Verarbeitungsprozesse stellt, sind von<br />

enormer kognitiver Komplexität. Aber sie müssen auch sehr schnell bewältigt werden. Um<br />

diesem Erfordernis zu genügen, müssen die Prozesse hochgradig automatisiert werden. Die<br />

Wege der Informationsselektion und Reorganisation gemäß der jeweils spezifischen Intention<br />

müssen vorstrukturiert sein, d.h. die unendliche Menge der Optionen muss beschränkt sein.<br />

Eben darin liegt die Leistung grammatikalisierter Kategorien.


20<br />

Literatur<br />

Berman, R. & Slobin, D. I. (1994). Relating Events in Narrative: A Crosslinguistic<br />

Developmental Study. Hillsdale: Erlbaum.<br />

Carroll, Mary (2000). Representing path in language production in English and German:<br />

Alternative perspectives on Figure and Ground. In: Christopher Habel & Christiane von<br />

Stutterheim (Hrsg.). Räumliche Konzepte und sprachliche Strukturen (S. 97-118). Tübingen:<br />

Niemeyer.<br />

Carroll, Mary und Christiane von Stutterheim (1993). The representation of spatial<br />

configurations in English and German and the grammatical structure of locative and<br />

anaphoric expressions. Linguistics 31: 1011-1042.<br />

Carroll, Mary, und Monique Lambert (2003): “Information structure in narratives and the role<br />

of grammaticised knowledge: A study of adult French and German learners of English”, in:<br />

Christine Dimroth , und Marianne Starren, Hrsg.: Information Structure and the Dynamics of<br />

Language Acquisition, Amsterdam/Philadelpha , S. 267-287.<br />

Carroll, Mary, Antje Roßdeutscher, und Christiane von Stutterheim (im Druck). Wiebke<br />

Ramm & Cathrine Fabricius-Hansen (Eds.) SLCS Studies in Language Companion Series<br />

‘Subordination vs. coordination’. Amsterdam: Benjamins.<br />

Carroll, Mary , und Christiane von Stutterheim (2003): “Typology and information<br />

organisation: perspective taking and language-specific effects in the construal of events”, in:<br />

Anna Ramat, Hrsg.: Typology and Second Language Acquisition, Berlin, S.365-402.<br />

Carroll, Mary, Christiane von Stutterheim, und Ralf Nüse (2003): “The language and thought<br />

debate: a psycholinguistic approach”, in: Christopher Habel , und Thomas Pechmann, Hrsg., :<br />

Approaches to LanguageProduction, Berlin, S. 183-218.<br />

Danes, F. (1976). „Zur semantischen und thematischen Struktur des Kommunikats“. In: F.<br />

Danes & D. Viehweger (Hrsg.). Probleme der Textgrammatik (Studia grammatica XI). Berlin.<br />

S. 29-40.<br />

Givón, T. (1984). „Universals of discourse structure and second language acquisition.“ In:<br />

W.E. Rutherford (Ed.). Language Universals and Second Language Acquisition. Amsterdam:<br />

Benjamins. S. 109-136.<br />

Kay, Paul, (2005). Paul Kay* Terry Regier* . International Computer Science Institute<br />

University of Chicago University of California, Berkeley regier@uchicago.edu.<br />

Rieger, Terry (1996). The Human Semantic Potential. MIT-Presse. Cambridge, Mass.<br />

Klein, Wolfgang, und Christiane von Stutterheim (1987): “Quaestio und referentielle<br />

Bewegung in Erzählungen.” Linguistische Berichte 108. S. 163-183.<br />

Murcia-Serra, Jorge (1999). Subject, topic, and agent: accounting for the addressee in<br />

instructions in English, German, and Spanish. In Linguistics, 37 (1). 13-40.<br />

Natale, Silvia, Starren, Marianne, Carroll, Mary und Bouhaous Abbassia (2006). “Universals<br />

in the genesis of the aspectual distinction ‘ongoing’: a cross-linguistic study of Italian, Dutch,


21<br />

and Modern Standard Arabic”. Paper given at the 39 th Annual Meeting of the Societas<br />

Linguistica Europea on Relativism and Universalism in Linguistics, University of Bremen.<br />

Roßdeutscher, Antje , und Christiane von Stutterheim (2005): “Semantische und pragmatische<br />

Prinzipien bei der Positionierung von dann.” In: Linguistische Berichte. 205. 29-60.<br />

Slobin, Dan I. (1996). From ‘thought and language’ to ‘thinking for speaking’. In Rethinking<br />

linguistic relativity, John J. Gumperz, and Stephen C. Levinson (eds.), 70–96. Cambridge:<br />

Cambridge University Press.<br />

Stutterheim, Christiane von (1997): Einige Prinzipien der Textproduktion: Empirische<br />

Untersuchungen zur Produktion mündlicher Texte. Tübingen 1997.<br />

Stutterheim, Christiane von, Mary Carroll (2005). Subjektwahl und Topikkontinuität im<br />

Deutschen und Englischen. In Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2005.<br />

Stutterheim, Christiane von, Mary Carroll (2006) “The impact of grammaticalised temporal<br />

categories on ultimate attainment in advanced L2-acquisition.” H. Byrnes (ed.) Educating for<br />

advanced foreign language capacities: constructs, curriculum, instruction, assessment.<br />

Georgetown University Press. 40-53<br />

Stutterheim, Christiane von Wolfgang Klein (2002). Quaestio und l-perspectivation.” C. F.<br />

Graumann & W. Kallmeyer (eds.). Perspectivity and perspectivation in discourse.<br />

Amsterdam: Benjamins. S. 59-88.<br />

Stutterheim, Christiane von, Nüse, Ralf , und Jorge Murcia Serra (2002): “Crosslinguistic<br />

differences in the conceptualisation of events”, in: In Hilde Hasselgård, Stig Johansson,<br />

Cathrine Fabricius-Hansen, und Bergljot Behrens, Hrsg., Information Structure in a Crosslinguistic<br />

Perspective Amsterdam, S. 179-198.<br />

Tomita, Naoko (2006). Dissertation eingereicht an der Universität Heidelberg.<br />

Tomlin, Russ (1997) “Mapping conceptual representations into linguistic representations: the<br />

role of attention in grammar.” J. Nuyts & E. Pederson (Eds.) Language and<br />

conceptualization. S. 162-188.<br />

Wegener, P. (1885). Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens. Halle:<br />

Niemeyer.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!