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Theorie der Komödie; Interpretatorische Begriffe - IDF

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Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 1<br />

THEORIE DER KOMÖDIE<br />

INTERPRETATORISCHE BEGRIFFE<br />

Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel will nur<br />

zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren;<br />

die wahre Komödie will beides. Man glaube nicht, daß ich dadurch<br />

die beiden erstern in eine Klasse setzen will; es ist noch<br />

immer <strong>der</strong> Unterscheid zwischen beiden, <strong>der</strong> zwischen dem<br />

Pöbel und Leuten von Stande ist. Der Pöbel wird ewig <strong>der</strong> Beschützer<br />

<strong>der</strong> Possenspiele bleiben, und unter Leuten von Stande<br />

wird es immer gezwungene Zärtlinge geben, die den Ruhm<br />

empfindlicher Seelen auch da zu behaupten suchen, wo andre<br />

ehrliche Leute gähnen. Die wahre Komödie allein ist für das<br />

Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen,<br />

und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften.<br />

Gotthold Ephraim Lessing, Theatralische Bibliothek. Abhandlungen<br />

von dem weinerlichen o<strong>der</strong> rührenden Lustspiele. In:<br />

Werke IV: Dramaturgische Schriften. Hrsg. Herbert G. Göpfert.<br />

München 1973, hier 56.<br />

1. Anthropologische Grundlagen: Lachen und Komik<br />

Die Herleitungen aus dem Lachen und dem Wesen <strong>der</strong> Komik gehen einer <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> Komödie<br />

voraus; einer durchweg anthropologischen Perspektive verpflichtet, sagen sie noch<br />

nichts aus über die Handlungsstruktur und die Figuren, die eine komische Situation ausmachen.<br />

Bernhard Greiner unterscheidet zwei Tendenzen von Komik: eine solche <strong>der</strong> Herabsetzung,<br />

in <strong>der</strong> u.a. die Satire Platz hat, und eine <strong>der</strong> Heraufsetzung, in <strong>der</strong> die Kreatürlichkeit<br />

des Menschen sowie das Groteske und Karnevalistische zu Tage treten. Darin folgt er Hans<br />

Robert Jauß, „Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden“, in: Das Komische,<br />

hier 104.<br />

(1) In <strong>der</strong> herabsetzenden Komik geht es darum, zu vergleichen und zu erkennen, wie<br />

Normen in destruktiver o<strong>der</strong> affirmativer Weise zur Debatte gestellt werden, darin liegt die<br />

kognitive Funktion, Gegenbildlichkeit zu sehen. Der Betrachter identifiziert sich nicht mehr mit<br />

dem Helden, son<strong>der</strong>n ist <strong>der</strong> ‚lachende Dritte‘. Herabsetzende Komik erweist sich in einem<br />

‚Lachen über etwas‘ (vs. ‚Lachen mit jemandem‘).<br />

Ihre zentrale Konstellation ist <strong>der</strong> Kontrast bzw. die Inkongruenz, in vielerlei Hinsicht: Erwartung<br />

und Erfüllung, Gegenstand und Begriff, Selbsteinschätzung und Außensicht. Konjunktur<br />

hat sie im 18.Jh. als Weg <strong>der</strong> Erkenntnis und Kritik, wenngleich immer begleitet von Unbehagen<br />

an ihren elementar-somatischen Aspekten, durch die sie sich geregelten Formen entzieht.<br />

Immanuel Kant<br />

Es muß in allem, was ein lebhaftes erschütterndes Lachen erregen soll, etwas Wi<strong>der</strong>sinniges<br />

sein (woran also <strong>der</strong> Verstand an sich kein Wohlgefallen finden kann). Das<br />

Lachen ist ein Affekt aus <strong>der</strong> plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 2<br />

nichts. Eben diese Verwandlung, die für den Verstand gewiß nicht erfreulich ist, erfreuet<br />

doch indirekt auf einen Augenblick sehr lebhaft.<br />

Immanuel Kant, Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Hrsg. v. Wilhelm<br />

Weischedel. Frankfurt 1957, § 53 (Anmerkung), 437.<br />

Herabsetzende Komik verlangt die überlegene Position des Betrachters, wie ihn Georg Wilhelm<br />

Friedrich Hegel charakterisiert.<br />

Zum Komischen dagegen gehört überhaupt die unendliche Wohlgemutheit und Zuversicht,<br />

durchaus erhaben über seinen eigenen Wi<strong>der</strong>spruch und nicht etwa bitter und<br />

unglücklich darin zu sein, die Seligkeit und Wohligkeit <strong>der</strong> Subjektivität, die, ihrer selbst<br />

gewiß, die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen ertragen kann.<br />

G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Werke 15. Frankfurt 1986, 527f.<br />

Die Zuschauer, aber auch die Figuren müssen sich selbst komisch werden, damit Verlachen<br />

zum Humor transformiert werden kann.<br />

Durch herabsetzende Komik, die bis zur Satire geht, erhält die Komödie – wie übrigens auch<br />

die Karikatur – historische und soziale Funktion, indem sie veraltete Gesellschaftsordnungen<br />

<strong>der</strong> Lächerlichkeit überantwortet und damit verabschieden hilft. Eine solche geschichtsphilosophische<br />

Bestimmung äußert Karl Marx in seiner Abhandlung, die er Ende 1843 bis Januar<br />

1844 schrieb und die 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern in Paris erschien:<br />

Das mo<strong>der</strong>ne ancien régime ist nur mehr <strong>der</strong> Komödiant einer Weltordnung, <strong>der</strong>en<br />

wirkliche Helden gestorben sind. Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen<br />

durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen<br />

Gestalt ist ihre Komödie. [...] Warum dieser Gang <strong>der</strong> Geschichte? Damit die<br />

Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide. Diese heitere geschichtliche Bestimmung<br />

vindizieren wir den politischen Mächten Deutschlands.<br />

Karl Marx, Einleitung zur Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Werke. Hrsg. v.<br />

Institut für Marxismus-Leninismus. Bd. 1. Berlin 1964, 382.<br />

(2) Bei <strong>der</strong> heraufsetzenden o<strong>der</strong> grotesken Komik geht <strong>der</strong> Abstand zwischen Rezipienten<br />

und Held im lachenden Einvernehmen unter; sie umfaßt das Lustprinzip, die Befreiung<br />

des Sinnlichen, den Triumph über die normative Welt. Sie hat elementar unbewußten<br />

Charakter und hebt die Grenzen auf, manifestiert sich am Körper und seiner Entfesselung<br />

von <strong>der</strong> Sitte (Greiner 98).<br />

Der hierarchischen und normierenden Kultur <strong>der</strong> Herrschenden steht dem russischen Literaturtheoretiker<br />

Michail Bachtin zufolge eine Kultur des Lachens und <strong>der</strong> Polyphonie / Mehrstimmigkeit<br />

entgegen. Sie manifestiert sich in einer Kultur des Karnevals, in dem <strong>der</strong> exzentrische,<br />

groteske Körper zu seinem Recht kommt. Alle Formen von Mesalliance (Vermischen<br />

des Nicht-Passenden, Aufhebung von Grenzen zwischen Mensch und Tier und den Geschlechtern),<br />

<strong>der</strong> Profanation (Heiliges wird erniedrigt, Häßliches erhöht) und <strong>der</strong> Verdoppelung<br />

kommen vor. Damit wird <strong>der</strong> Tod depotenziert.<br />

Der Karneval ist ein transliterarisches Ereignis, so daß sich die Frage erneut stellt, wie diese<br />

groteske Komik sich mit <strong>der</strong> Praxis des Schreibens, <strong>der</strong> literarischen Form verbindet. Bachtin<br />

weist hier als Äquivalent auf die offene, dialogische, ambivalente Schreibweise hin, in <strong>der</strong> die<br />

Metamorphose vorherrscht, das Wort keinen eindeutigen Sinn behaupten kann.<br />

(3) Wie läßt sich Lachen in Literatur überführen und auf dem Theater umsetzen?<br />

Nach Joachim Ritter stoßen im Komischen zwei Bereiche aufeinan<strong>der</strong>, das Gültige und das<br />

ausgeschlossene An<strong>der</strong>e; damit hat es eine Struktur wie eine Metapher. Die ausschließende<br />

Ordnung muß das ausgeschlossene Chaotische formulieren und bringt es damit zu Gehör.<br />

Was Ritter ausgesprochen hat, findet sich bei Sigmund Freud triebdynamisch konkretisiert:


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 3<br />

Etwas Ausgegrenztes (Triebwünsche des Es) bringt sich in Erinnerung angesichts <strong>der</strong> Ordnung<br />

des Über-Ich.<br />

„Der Witz setzt also die Verdrängungsarbeit unserer Kultur partiell außer Kraft, aber – das ist<br />

gegenüber Bachtins Ansatz zu betonen – so, daß in den Ordnungen <strong>der</strong> Kultur selbst das<br />

Verdrängte Gegenwart erhält“ (Greiner, Komödie, 119). Der psychische Aufwand zur Bewahrung<br />

dieser Kulturschranken wird im Witz ‚erspart‘, diese Übertretung kann aber innerhalb<br />

<strong>der</strong> Kultur stattfinden, sie braucht nicht den karnevalistischen Ausbruch wie Bachtin glaubt.<br />

Karlheinz Stierle stellt die Dialogizität und Ambiguität des Komischen in den Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Der Protagonist verfügt nicht über die Situation o<strong>der</strong> die Objekte (Tücke des Objekts) o<strong>der</strong><br />

nicht über sich (etwa in <strong>der</strong> Verkleidung o<strong>der</strong> weil ein Körperteil ihn dominiert). Das Subjekt<br />

einer Handlung wird zu <strong>der</strong>en Objekt; Komik realisiert sich erst in <strong>der</strong> Rezeption eines beobachtenden<br />

Dritten, <strong>der</strong> dann sich selbst überführt sieht. Stierle zeigt dies an Sternheims<br />

Komödie Bürger Schippel (Schippel kann sich nicht als Bürger präsentieren, weil seine Verhaltensweisen<br />

ihn als Proletarier überführen bzw. bloßstellen; an<strong>der</strong>erseits überführt die Bühnenfigur<br />

Schippel die Bürger im Publikum).<br />

Ausführlich dazu Greiner, Komödie, 95-125; beson<strong>der</strong>s bezieht er sich auf die Texte <strong>der</strong> folgenden<br />

Autoren:<br />

Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969.<br />

Bergson, Henri: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Zürich 1972<br />

(Zuerst: Le Rire, erschienen 1900).<br />

Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). In: Psychologische<br />

Schriften. Hrsg. v. Alexan<strong>der</strong> Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. 4. Aufl.<br />

Frankfurt 1970 (Studienausgabe 4).<br />

Das Komische. Hrsg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik<br />

und Hermeneutik 7).<br />

Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung <strong>der</strong> Grenzen menschlichen Verhaltens<br />

(1941). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Günter Dux, Odo Marquard und E-<br />

lisabeth Stöcker. Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt 1982, 201-387.<br />

Ritter, Joachim: Über das Lachen. In: Subjektivität. Frankfurt/M. 1974, 62-92.<br />

Stierle, Karlheinz: Komik <strong>der</strong> Handlung, Komik <strong>der</strong> Sprachhandlung, Komik <strong>der</strong> Komödie. In:<br />

Das Komische.<br />

2. Der Kern des Dramatischen: Szenisches Spiel<br />

Das Drama wird beinahe immer auf den Dramentext reduziert, um daran seine Regelhaftigkeit<br />

und die Positionierung innerhalb <strong>der</strong> Gattung zu erweisen (Tragödie / Komödie; offene /<br />

geschlossene Form), wie das <strong>der</strong> historischen Entwicklung seit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t entspricht.<br />

Seitdem versucht die Aufführungspraxis (auch wenn diese immer nur epochenbezogen<br />

beschrieben werden kann), eine enge Relation zwischen dem dramatischen Text und<br />

<strong>der</strong> Inszenierung mit ihren plurimedialen Codes durchzusetzen. Die Poetiken zielen darauf,<br />

das Drama als Text zu charakterisieren. Insgesamt ist die Entwicklung und damit auch die<br />

literarhistorische Beschreibung / Konstitution <strong>der</strong> Gattung geprägt von einer Bewegung vom<br />

Körper / Spiel zur Stimme / Dramentext<br />

„Hier liegt <strong>der</strong> Ansatzpunkt für Literaturwissenschaft, die ihre Aufgabe nicht darin sehen sollte,<br />

das Nebeneinan<strong>der</strong> von Kopf, Bühne und Papier von einer Seite her aufzulösen o<strong>der</strong> zu<br />

beherrschen, son<strong>der</strong>n mit ihrer speziellen Lektürenkompetenz an diesem Wechselspiel teilzunehmen.“<br />

(81)


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 4<br />

Struck, Wolfgang: Exkurs: Drama und Theater. In: Einführung in die Literaturwissenschaft.<br />

Hrsg. v. Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Weitz.<br />

Stuttgart, Weimar 1995, 78-81.<br />

Ein großer Bereich des Ereignisses ‚Drama‘, hier verstanden als „virtueller Text, <strong>der</strong> das<br />

Stück und die Menge aller tatsächlichen und möglichen Aufführungen umfaßt“ (Hamacher,<br />

132), ist <strong>der</strong> literaturwissenschaftlichen Interpretation zugänglich zu machen.<br />

Kommunikationsstruktur – Raumstruktur – Charakterisierung <strong>der</strong> Figuren – Rede – Zeitstruktur<br />

– Handlung .<br />

Das interpretatorische Instrumentarium, das hier vorgestellt wird und in den Einzelinterpretationen<br />

wie<strong>der</strong>kehren wird, stützt sich auf:<br />

Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart, Weimar 5. Aufl. 1997<br />

(SM 188).<br />

Hamacher, Bernd: Aspekte <strong>der</strong> Dramenanalyse. In: Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft.<br />

Hrsg. v. Thomas Eicher und Volker Wiemann. 2., durchges. Aufl. Pa<strong>der</strong>born, München<br />

u.a. 1997, hier 129-166.<br />

3. Abgrenzung Tragödie – Komödie<br />

Nach sechs Kriterien unterschied Aristoteles Tragödie und Komödie: sozialer Stand – Redestil<br />

- Stoff – Ausgang – moralische Qualität – Historizität (vgl. Asmuth, Dramenanalyse, 24-<br />

27).<br />

(1) Sozialer Stand<br />

Da die Fallhöhe als dramatisches Prinzip nicht erfor<strong>der</strong>lich ist, müssen auch keine hohen<br />

Personen auftreten. Privatpersonen, Personen bürgerlicher Herkunft.<br />

(2) Redestil<br />

Da alltägliche Gegenstände von gewöhnlichen Figuren verhandelt werden, ist <strong>der</strong> Vers entbehrlich<br />

und Prosa möglich (bei Shakespeare und im Musiktheater auch Mischformen aus<br />

Prosa und Versen).<br />

Kommunikation kann stattfinden (a) zwischen dem Autor und dem Publikum, (b) zwischen<br />

den aus ihren Rollen heraustretenden Darstellern und dem Publikum, dann (c) zwischen den<br />

Figuren in ihrer Rolle und dem Publikum und schließlich (d) allein zwischen den Figuren (vgl.<br />

Asmuth, Dramenanalyse, 58-61).<br />

Die Formen (a) bis (c) verlangen, daß die Wahrscheinlichkeit suspendiert wird, indem das<br />

Spielgeschehen unterbrochen wird und das Publikum durch diese Intervention auf Distanz<br />

zur Handlung geht. Dies geschieht meist durch eine Figur wie den Spielleiter o<strong>der</strong> den Autor<br />

(z.B. im Gestiefelten Kater) o<strong>der</strong> auch durch das Beiseite-Sprechen, das eine Figur an das<br />

Publikum richtet (z.B. in Goethes Die Mitschuldigen).<br />

(3) Stoff<br />

Greiner (Komödie, 25-31) interpretiert es als Wesensmerkmal <strong>der</strong> Komödie, daß sie einen<br />

Akzent auf das Orgiastische, Karnevalistische setzt, durch das Unterschiede (z.B. zwischen<br />

Geschlechtern) aufgehoben würden (Michail Bachtin). Dieses orgiastische Element ist mit <strong>der</strong><br />

literarischen Gesetzlichkeit des Dramas (verlangt die Ordnung einer bestimmbaren Handlung,<br />

orientiert am Mimesisgebot, konsistente Figuren, geformte Rede) unsicher verbunden,<br />

die dramatische Zeichenordnung wird vom theatralischen Ereignis unterminiert, daher macht<br />

sie etwa so häufig das Spiel im Spiel zum Thema.


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 5<br />

Die Intrige ist, wie das Spiel im Spiel, ambivalent, weil sie auch ein Element <strong>der</strong> Tragödie<br />

sein kann; sie gewinnt ihre positive o<strong>der</strong> negative Qualität erst durch das Ziel, das ihre Protagonisten<br />

verfolgen (vgl. Asmuth, Dramenanalyse, 123-129).<br />

(4) Ausgang<br />

Nach Aristoteles muß die Tragödie eine einheitliche Handlung aufweisen, einem zwingenden<br />

Ende zustreben. Die Komödie hingegen kann Handlungsteile ohne Wahrscheinlichkeit o<strong>der</strong><br />

Notwendigkeit, d.h. episodisch, darbieten. Die lächerliche Fehlhandlung = hamartema verursacht<br />

kein Ver<strong>der</strong>ben, ist konsequenzlos. Dieses Prinzip <strong>der</strong> Reihung kann nur schwer zur<br />

Tragödie in Analogie gebracht werden: Umschwung vom Unglück zum Glück, aber komische<br />

Handlungen bleiben punktuell. Auch von Figuren kann eine Gegentendenz zum spielerischen<br />

Unernst ausgehen, z.B. wenn sich ein Konflikt unmittelbar vor <strong>der</strong> glücklichen Lösung zuspitzt,<br />

<strong>der</strong> Gegenspieler erst vertrieben werden muß (Mitleidsaffekte).<br />

Handlung spielt mit <strong>der</strong> Katastrophe, die in einen theatralischen und damit spielerischen Prozeß<br />

eingebettet ist, <strong>der</strong> die Umkehrbarkeit <strong>der</strong> Entwicklung zeigt. Mittel <strong>der</strong> Umkehrung ‚verfestigter<br />

Realität‘: Schwank, Burleske, Groteske, Karikatur, Satire, Witz.<br />

(5) Moralische Qualität<br />

Die Tragödie muß vorbildliche Protagonisten zeigen, die Komödie darf Laster vorführen und<br />

lächerliche Personen vorstellen.<br />

(6) Historizität<br />

Es dürfen keine historisch belegten Personen auftreten, wie sie in <strong>der</strong> Tragödie die Glaubwürdigkeit<br />

erhöhen, son<strong>der</strong>n anonyme Personen.<br />

<strong>Begriffe</strong> zur Beschreibung <strong>der</strong> Handlungsstruktur wie <strong>der</strong> Wirkungsintention sind häufig aus<br />

<strong>der</strong> Tragödientheorie gespiegelt und zu dieser komplementär gedacht:<br />

Freund, Winfried: Einleitung. „Eine Komödie? Was ist das für ein Ding?„ In: Deutsche<br />

Komödien, 7-15; ebenso Warning, Rainer: Komik/Komödie, 910-916.<br />

4. Begriffliches Feld<br />

Konkurrierende Benennungen ergaben sich v.a. aus dem Bedürfnis, neue Formen abzugrenzen<br />

und vorhandene einzuordnen (Hein, Überblick, hier 296ff).<br />

Commedia dell‘ arte<br />

Stegreifkomödie, entstand in Italien im<br />

16. Jh. Beson<strong>der</strong>s ausführlich dazu Greiner,<br />

Komödie, 69-81, ebenso: Fischer-<br />

Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen<br />

Theaters. 2. unveränd. Aufl. Tübingen,<br />

Basel 1999, 60-80.<br />

Komödie / Lustspiel: bei Opitz (1624)<br />

und Harsdörffer (1648)<br />

Lustspiel: Gottsched (1730), setzt sich daher im 18. Jh. für<br />

die komische Produktion durch, z.B. Pro comoedia commovente<br />

(Leipzig 1751) / Für das rührende Lustspiel (1754), in:<br />

G. E. Lessing, Theatralische Bibliothek. Abhandlungen von<br />

dem weinerlichen o<strong>der</strong> rührenden Lustspiele. In: Werke IV:<br />

Dramaturgische Schriften. Hrsg. Herbert G. Göpfert. München<br />

1973, hier 37-53.<br />

Nimmt lehrhafte und moralisierende Tendenzen auf, grenzt<br />

sich gegen ‚nie<strong>der</strong>e‘ Komik ab, repräsentiert in seinem Plot die


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 6<br />

Entwicklung zum<br />

ernsthaften Lustspiel,<br />

das ohne satirisches<br />

Gelächter<br />

o<strong>der</strong> rein komische<br />

Effekte auskommt<br />

Bedeutung des neuen Bürgertums<br />

F. Schiller<br />

Komödie sei epischdistanzierend:<br />

„ruhig, klar,<br />

frei, heiter, wir fühlen uns<br />

we<strong>der</strong> tätig noch leidend,<br />

wir schauen an, und alles<br />

bleibt außer uns.„<br />

Schwank, Burleske, Groteske<br />

Comédie larmoyante / bürgerliches<br />

Rührstück, vertreten durch Gellert.<br />

Wird genrebildend (noch im ganzen 19.<br />

Jh.) für die sog. Familiengemälde, ohne<br />

o<strong>der</strong> mit geringem gesellschaftskritischen<br />

Potential, z.B. August Wilhelm<br />

Iffland, Die Jäger (1785) August von<br />

Kotzebue, Menschenhaß und Reue<br />

(1788, UA Berlin 3.6.1789), Die deutschen<br />

Kleinstädter (1803).<br />

J.M.R. Lenz: soziales Moment, Komödie kann heterogene<br />

Elemente aufnehmen: „Komödie ist Gemälde <strong>der</strong> menschlichen<br />

Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das<br />

Gemälde nicht lachend werden. [...] Daher müssen unsere<br />

deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich<br />

schreiben, weil das Volk, für das sie schreiben, o<strong>der</strong> doch<br />

wenigstens schreiben sollten, ein solcher Mischmasch von<br />

Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist.“<br />

J.M.R. Lenz, Rezension des Neuen Menoza. In: Werke.<br />

Hrsg. v. Friedrich Voit. Stuttgart 1992, hier 420.<br />

Romantik: Komödie soll<br />

von sozialer Funktion frei<br />

sein, stellt die Ordnung in<br />

Frage und legitimiert den<br />

Störenfried.<br />

Trauerspiel und Lustspiel<br />

nähern sich einan<strong>der</strong><br />

an, vgl. G. E. Lessing,<br />

Gotthold Ephraim Lessing,<br />

Theatralische Bibliothek.<br />

Abhandlungen von dem<br />

weinerlichen o<strong>der</strong> rührenden<br />

Lustspiele. In: Werke<br />

IV: Dramaturgische Schriften.<br />

Hrsg. Herbert G. Göpfert.<br />

München 1973, hier<br />

12-14.<br />

A.W. Schlegel<br />

Lustspiel: mo<strong>der</strong>ne, existierende<br />

Form; häusliche private Sphäre,<br />

„local und national„ bestimmt,<br />

soll das Prosaische aber hinter<br />

sich lassen.<br />

Komödie: ‚höhere Form des komischen<br />

Dramas, ungebundenes<br />

Spiel im gesamten Kosmos.<br />

Lesedrama<br />

Um einen Überblick zu gewinnen,<br />

wie sich die besprochenen Komödien in die historische Herausbildung <strong>der</strong> Gattung einfügen,<br />

welche Traditionen in <strong>der</strong> Entwicklung von <strong>der</strong> Antike zum Barock maßgeblich sind und hier<br />

eher knapp gestreift werden (wie die Commedia dell’arte),<br />

welche Autoren aus dem nicht-deutschen Sprachraum dank ihrer Rezeption bedeutsam sind<br />

(v. a. Shakespeare, Moliere) und<br />

welche Formen auch zu behandel wären (v.a. Wiener Volkstheater / Posse und damit Johann<br />

Nestroy sowie die Verbindungen hin zum Musiktheater, z.B. das Singspiel und<br />

damit etwa Emanuel Schikane<strong>der</strong>),<br />

eignen sich etwa<br />

Freund, Winfried: Deutsche Komödien. Vom Barock bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München<br />

1995 (UTB 1583).<br />

Greiner, Bernhard: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen.<br />

Tübingen 1992 (UTB 1665).<br />

Hein, Jürgen: Die deutsche Komödie im Überblick. In: Freund, Deutsche Komödien, 295-307.


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. <strong>Theorie</strong> und Geschichte – VL 1: <strong>Theorie</strong> / <strong>Interpretatorische</strong> <strong>Begriffe</strong> 7<br />

Holl, Karl: Geschichte des deutschen Lustspiels. Leipzig 1923, unveränd. Nachdr. Darmstadt<br />

1964. Die Monographie ist eine Fundgrube für heute kaum mehr bekannte o<strong>der</strong> gespielte<br />

Autoren und daher lesenswert. Beim Lesen wird unvermeidlich offenbar, daß die<br />

Wertungen <strong>der</strong> Autoren ganz im Sinne <strong>der</strong> Geistesgeschichte ausfallen. Um sich einen<br />

Eindruck von den Vor- und Nachteilen zu verschaffen, ist z.B. das kurze Kapitel über<br />

die Klassik gut geeignet.<br />

Profitlich, Ulrich / Stucke, Frank: Artikel ‚Komödie’. In: Reallexikon <strong>der</strong> deutschen Literaturwissenschaft.<br />

Hrsg. v. Harald Fricke mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk<br />

Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar. Bd. 2. Berlin, New York 2000, 309-313.<br />

Schweikle, Irmgard: Komödie. In: Metzler Literatur Lexikon. <strong>Begriffe</strong> und Definitionen. Hrsg.<br />

v. Günther und Irmgard Schweikle. 2. überarb. Aufl. Stuttgart 1990, 245-248.<br />

Warning, Rainer: Komik/Komödie. In: Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2: G-M. Hrsg. v. Ulfert<br />

Ricklefs. Frankfurt 1996, 897-936.

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