FABRIK RUND BRIEF - Fabrik e.V.
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Figurentheatertage <strong>FABRIK</strong>-Rundbrief | Sommer 2013<br />
Siebzig singende Chinesen<br />
Im Vorderhaus fanden zum vierten Mal die Figurentheatertage<br />
statt / Stücke für Kinder und Erwachsene<br />
Eine leuchtend rote Gummischnur durchschneidet<br />
die ansonsten schwarze Bühne –<br />
und während ein kleiner Totenkopf in kariertem<br />
Kittelchen auftaucht, ertönt von links<br />
solch ulkiges Schnarchen, dass einem sofort<br />
das Herz aufgeht. Ist diese Ente im preisgekrönten<br />
Stück „Ente, Tod und Tulpe“ nach<br />
dem gleichnamigen Bilderbuch von Wolf<br />
Erlbruch doch ein hinreißend eigenwilliges<br />
Federvieh, wie sie so jeden Morgen nach<br />
wildem Schimpfgeschnatter<br />
mit ihrem Handtuch zum Teich<br />
watschelt, um sich dann prustend,<br />
quiekend und gurgelnd<br />
in die Fluten zu stürzen. Doch<br />
der Tod, der ist immer dabei.<br />
Fantastisch, wie die Berliner<br />
Martina Couturier und<br />
Heiki Ikkola diesen Bilderbuchklassiker<br />
auf die Bühne zaubern<br />
und dabei nicht nur ganz<br />
nah an der Vorlage bleiben,<br />
sondern auch mit aller künstlerischen<br />
Eigenständigkeit neue<br />
Bilder schaffen. Da gibt es in<br />
blaues Licht getauchte Unterwasserszenen,<br />
Lieder und<br />
Schattenspiel - und am Ende<br />
sogar eine Diashow: Ente am Eiffelturm,<br />
Ente in den Bergen und schließlich, Ente<br />
am endlosen Meer. Dabei sind die Mittel so<br />
reduziert wie raffiniert: Wird hier doch mit<br />
zwei Handpuppen, einer Mischung aus Figuren-<br />
und Schauspiel und viel Livemusik (Marie<br />
Elsa Drelon) erst umwerfend komisch,<br />
dann zunehmend poetisch und schließlich<br />
zum Heulen schön erzählt, dass der Tod<br />
zum Leben gehört. Eine beeindruckende Inszenierung,<br />
die auf ganz unterschiedlichen<br />
Spiel- und Denkebenen agiert und trotz Themenschwere<br />
ihre kleinen Zuschauer in den<br />
Bann schlägt (Regie: Jörg Lehmann).<br />
Grandiose und verstörende Bilder<br />
„Ente, Tod und Tulpe“ war einer der vielen<br />
Höhepunkte der jetzt zu Ende gegangenen<br />
Figurentheatertage im Freiburger Vorderhaus.<br />
Auch für die vierte Ausgabe hatte<br />
Organisatorin Ute Lingg ein spannendes<br />
Programm für Kinder und Erwachsene zusammengestellt,<br />
bei dem fünf Tage lang<br />
bekannte Ensembles aus Deutschland ihre<br />
Produktionen zeigten und dabei nicht nur<br />
ganz unterschiedliche Stoffe auf die Bühne<br />
brachten, sondern auch eine ungeheure<br />
Vielfalt an Darstellungsformen. Einen<br />
„Ente, Tod und Tulpe“ behandelt einfühlsam und poetisch das Tabu-Thema<br />
Sterben und Tod (für Kinder ab 5 Jahre).<br />
ebenso düsteren wie fesselnden Kosmos<br />
entwarf Detlef Heinichen vom Theatrium<br />
Dresden in seinem opulenten Ein-Mann-<br />
Stück „Schlafes Bruder“ nach dem Bestseller<br />
von Robert Schneider (Regie: Pit<br />
Holzwarth, Renato Grüning).<br />
Auf der Bühne steht das Fragment eines<br />
mittelalterlichen Beinhauses, darüber<br />
eine Art Triptychon aus klapprigen Holzkästen,<br />
das in den folgenden zwei Stunden<br />
Schauplatz dramatischer Szenen wird. Erzählt<br />
wird das Leben des Musikgenies Elias<br />
in einer klaustrophobisch engen Dorfwelt,<br />
beherrscht von Inzucht, Gewalt und Aberglaube.<br />
Heinichen rollt als weißgeschminkter<br />
Nachfahre die Geschichte von hinten auf<br />
und erweckt sie mit rund zwanzig schauerlich-expressiven<br />
Tischfiguren (Matthias<br />
Hänsel) in rasanten Wechseln zum Leben.<br />
Das ist streckenweise von so beklemmender<br />
Dichte, dass man sich bei aller Bewunderung<br />
für die handwerkliche Präzision doch<br />
zunehmend von Tempo, Textfülle und Atmosphäre<br />
erschlagen fühlt, zumal der Lichtblick<br />
Musik fast außen vor bleibt. Und doch<br />
schwingt diese Inszenierung noch lange<br />
nachtschwarz in einem nach, so grandios<br />
und verstörend sind ihre Bilder.<br />
Weil aufgrund von Krankheit das zweite<br />
Erwachsenenstück „Kuckucksheim“ ausfallen<br />
musste, zeigte das Erfreuliche Theater<br />
Erfurt noch einmal seine „Reise zum Mittelpunkt<br />
der Welt“ frei nach Jules Verne. Und<br />
damit eine turbulente Odysee in Sachen<br />
Objekttheater, energiegeladen und virtuos<br />
von Roland Mernitz und Tilo<br />
Müller in Szene gesetzt. So ist<br />
das klapprige Metallbett der<br />
beiden schrulligen Forscher<br />
Lindenbroock und Saggnusson<br />
mal unbekannter Planet, mal<br />
Mount Everest oder Fahrstuhl<br />
in die Kloake Singapurs, während<br />
Waschmaschinentrommel<br />
und Sonnenschirm als wandelbares<br />
Equipment auf einer<br />
unglaublichen Expedition fungieren.<br />
Wie die beiden Astronauten<br />
durch den Weltraum<br />
schweben, in einer Gondel mit<br />
siebzig singenden Chinesen<br />
in die Tiefe sausen oder halbverdurstet<br />
im Stillen Ozean<br />
dümpeln, strotzt nicht nur vor Sprachwitz<br />
und überbordender Fantasie, sondern ist<br />
ebenso verspielt wie pfiffig in Szene gesetzt.<br />
Blitzschnelle Umbauten werden launig ins<br />
Geschehen integriert, statt Illusionstheater<br />
gibt es handgebastelte Szenerien, die einen<br />
doch mühelos einsaugen. Ein schönes Beispiel<br />
für die Vielfalt des Genres.<br />
Dabei hätte man vor allem den sperrigen<br />
Stoffen mehr Zuschauer gewünscht,<br />
zeigt sich doch hier, was Figurentheater in<br />
seiner Mixtur aus Unmittelbarkeit und Kreativität<br />
vermag: Vielschichtige Welten zu erschaffen,<br />
die das Kopfkino zum Schnurren<br />
bringen.<br />
Marion Klötzer, BZ, 9. März 2013<br />
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