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Schwarzer Ritus

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SCHWARZER RITUS<br />

Zur Vollmondstunde erreichten die Gefährten die neuen Behausungen der Wilden. Sie hatten sich in<br />

den südlichen Hügeln niedergelassen, doch ihre Sippe war offenbar auf dem gefährlichen Weg arg<br />

dezimiert worden, denn es glimmten nur weniger Feuer in den Höhleneingängen. Sigma hieß die<br />

Gefährten anzuhalten. Cassiopeia war auf einer Hügelkuppe, von der aus man einen guten Blick auf<br />

die Höhlen hatte, stehen geblieben und drehte sich langsam zu Sigma um.<br />

„Das Ziel ist nahe“, zischte sich mit leiser Stimme. Sigma nickte stumm. Ein scharfer Wind war<br />

aufgekommen. Die Wolken teilten sich am Himmel und gaben den Blick auf den fahlen Mond frei,<br />

der als bleiche Sichel am Himmelszelt hing. Seine Gefährtin fuhr mit der Rechten wie beiläufig<br />

durch die Luft und hinterließ dabei flammende Runen. Der Kleriker verstand.<br />

„Schart Euch um mich!“, befahl der der Gruppe mit kalter Stimme.<br />

„Ich bringe uns unbemerkt hinein.“<br />

„Was hast du vor?“ In Ragnaroks Stimme konnte man deutlich die Unruhe hören, die den Krieger<br />

befallen hatte. Etwas ging hier vor, etwas, das er sich nicht erklären konnte. Etwas unheimliches.<br />

Etwas Böses. Cassiopeia maß ihn mit spöttischem Blick.<br />

„Es wird Zeit“, flüsterte sie und löste sich in dunkle Schemen auf und verschwand. Mit dunkler<br />

Stimme las Sigma die brennenden Zeichen. Sein Herz pochte heftig in seiner Brust, als sich ein Riss<br />

durch die Realität zog. Ein Spalt öffnete sich direkt vor den Gefährten, durch den man hinüber in<br />

eine andere Welt blicken konnte. Sie erinnerte entfernt an ihre eigene Welt, doch alles war seltsam<br />

grau und blass, als hätte jedes Ding seine Farbe verloren. Sämtliche Konturen flackerten und<br />

zitterten, wie Flammen im Wind. Es verlieh der Welt einen geisterhaften, unwirklichen Anschein.<br />

„Was ist das für ein Zauber?“, flüsterte Amras mit tonloser Stimme. Sigma hielt seinen Blick starr<br />

auf den Riss geheftet.<br />

„Wir reisen durch die Ätherebene“, erklärte er schließlich und trat einen Schritt vor.<br />

„Sie werden uns nicht kommen sehen.“ Als er sich ein letztes Mal umdrehte, bevor er durch den<br />

Riss trat, war sein Gesicht gezeichnet von einem diabolischen Lächeln. Es jagte seinen Gefährten<br />

einen kalten Schauer über den Rücken. Sie konnten förmlich sehen, wie die letzten Spuren von<br />

Menschlichkeit aus dem Geist des jungen Klerikers wichen. Dann schritt er entschlossen durch den<br />

Spalt.


Der Äther verbindet alle anderen Ebenen des Kosmos miteinander. Gleich, in welche Ebene man<br />

reisen will, der Weg führt durch den Äther, denn alle Portale und Zauber verbinden sich mit ihm. Es<br />

ist ein nebliger, fremder Ort, an dem man lediglich andere Reisende trifft. Wer durch den Äther<br />

reist, ist für alle Lebewesen auf der materiellen Ebene, die unsere Realität darstellt, vollkommen<br />

unsichtbar, kann aber seinerseits alles sehen. Die Ebenen überlappen sich und ermöglichen es dem<br />

Reisenden dadurch, sich unbemerkt zu bewegen und an jeder beliebigen Stelle auf der materiellen<br />

Ebene wieder auf zu tauchen. Doch das Reisen birgt auch Gefahren. Man sagt, es hausen grausamen<br />

Kreaturen auf den äußeren Ebenen, die auf unvorsichtige Besucher lauern. Nicht jeder, der ein<br />

solches Wagnis eingeht, kehrt unbeschadet wieder zurück. Viele verschwinden in den weiten des<br />

Nebels. Denn es kommt häufig vor, dass der Zauber, der einen Riss öffnet, fehlschlägt. Und so<br />

wagen es nur die mächtigen göttlichen und arkanen Zauberwirker, Portale zu öffnen und Risse zu<br />

erschaffen. Solche Gedanken gingen Amras und Ragnarok durch den Kopf, während sie durch die<br />

fremde Welt wanderten. Es war ein unheimliches Gefühl an den verschwommenen Schemen der<br />

Wilden vorbei zu marschieren, die nicht ahnten von der drohenden Gefahr. Sie folgten dem weiten<br />

Gang, der sie in eine große Wohnhöhle führte. Die Wilden saßen vereinzelt um mehrere Feuer, die<br />

in der Höhle brannten. Die meisten schliefen in primitiven Behausungen, die sie überall in der<br />

Höhle errichtet hatten. Niedrige Hütten aus Kiefernholz mit schäbigen Fellen und Tierhäuten<br />

bedeckt. An den Wänden erkannten die Gefährten dieselben Zeichnungen, die sie bereist in den<br />

anderen Höhlen gefunden hatten. Einer der Wilden trug tatsächlich den Speer bei sich. Es war ein<br />

hochgewachsener, muskulöser junger Mann mit buschigem Bart und drohenden dunklen Augen. Er<br />

saß am großen Feuer in der Höhlenmitte und unterhielt sich in unverständlicher Sprache mit einigen<br />

Stammesgenossen. Sigma deutete auf den Speerträger. Vladimir nickte stumm. Er packte den<br />

göttlichen Hammer fest mit der Rechten und sprang mit einem gewaltigen Satz durch den Riss, den<br />

der Kleriker zurück in die materielle Ebene geöffnet hatte. Das war keine Schlacht, das war ein<br />

Gemetzel. Einen nach dem anderen schlachteten die Gefährten ab, ohne dass der Feind überhaupt<br />

wusste, wie ihm geschah. Bald schon war der Boden der Höhle klebrig vom heißen Blut, das<br />

unablässig aus den Körpern der Getöteten rann. Das Gewölbe war erfüllt von den Schreien der<br />

Verletzten und Sterbenden. Verzweifelt versuchten die Frauen und Alten sich durch Flucht zu retten,<br />

aber niemand entkam. Zu groß war die Gefahr, dass die Wilden in den anderen Höhlen Alarm<br />

schlugen. Und so wartete Ragnarok im Tunnel bereits auf diejenigen, die mit Angst verzerrten<br />

Gesichtern angerannt kamen. Er verfehlte niemanden. Und er verschonte kein Leben. Doch mit<br />

jedem Hieb, den er führte, fühlte er eine unheimliche Kälte in sein Herz kriechen. Das hier war<br />

falsch. Grauenhaft falsch. Wie hatte es so weit kommen können? Wann hatten sie sich entschieden,<br />

diesen Weg zu beschreiten?

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