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Denn im Winter ist ihm kalt

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DENN IM WINTER IST IHM KALT<br />

Selbst die Pferde waren unruhig. Immer wieder scheuten sie und die Reiter hatten Mühe, sie zum<br />

weitergehen zu bewegen. In unregelmäßigen Abständen war der Waldrand zu beiden Seiten des<br />

Weges eingeknickt und riesige Schleifspuren kreuzten den Weg. Sigma ließ den Blick durch die<br />

wachsende Dunkelheit wandern. Im Stillen wusste er, dass sie nicht alle die Nacht überleben<br />

würden. Niemand sprach es aus, doch er erkannte in den Blicken seiner Freunde, dass auch sie so<br />

dachten. Sollten sie überfallen werden, waren sie nicht genug, um die Karawane zu beschützen. Das<br />

bedeutete Flucht oder Tod. Und wer nicht schnell genug davon kam, für den ging die Sonne in<br />

diesem Moment das letzte Mal unter.<br />

„Das Licht verlischt“, kicherte Cassiopeia und schwang sich leichtfüßig zwischen Sigma und Naius<br />

auf den Kutschbock. Der Kleriker gab sich alle Mühe, ihr nicht in die toten Augen zu blicken.<br />

„Hast du Angst?“, flüsterte das Scheusal leise. Er schüttelte den Kopf.<br />

„Nicht vor den Halbwesen! Vor mir!“<br />

Sigma wandte den Kopf und blickte sie nun doch direkt an. Diese Augen. Ihr Gesicht.<br />

„Sollte ich das?“<br />

Cassiopeia kicherte erneut. Sie streckte den linken Arm aus und fuhr Naius dabei fast liebevoll<br />

durch das Gesicht. Sigma sah, wie das Blut von der Stelle wich, an dem ihn ihre Finger berührt<br />

hatten. Er schien es nicht zu merken. Mit angespanntem Gesicht starrte er auf den Pfad vor sich.<br />

„Du kannst es sehen, nicht wahr? Du weißt, was <strong>ihm</strong> bevor steht.“<br />

Ohne seine Antwort abzuwarten löste sich ihre Gestalt in dunklen Rauch auf. Sigmas Gesicht<br />

verdüsterte sich. Ja, er konnte es sehen. Wenn er Naius anblickte, war dieser bereits tot. Er konnte<br />

ihn sehen, <strong>im</strong> Graben neben dem Waldweg, die Augen vor Entsetzen und Angst weit aufgerissen.<br />

Der Schnee um ihn herum war hell rot gefärbt von dem Blut, das aus seinem zerfetzten Leib rann.<br />

Er würde die Nacht nicht überstehen. Ebensowenig sein Sohn. Das war die Zukunft. Nicht eine<br />

mögliche, sondern eine unabwendbare, dessen war sich sicher. Wenngleich er letztlich keinen<br />

Beweis hatte, dass die Visionen nicht aufgehalten werden konnten. Manchmal waren sie eindeutig.<br />

Doch me<strong>ist</strong>ens waren sie rätselhaft und verschwommen. Doch bisher waren sie jedes Mal<br />

eingetreten. Das war seine Gabe. Seine Waffe. Sein Fluch. Er war dem Tod <strong>im</strong>mer einen Schritt<br />

voraus. Deshalb, nur deshalb hatte er es geschafft, so langer in den eisigen Landen zu überleben.<br />

Und Cassiopeia war daran nicht unschuldig. Oftmals hatte sie ihn bereits vor drohender Gefahr<br />

gewarnt. Auf ihre Art. Und trotzdem wusste er nach all den Jahren <strong>im</strong>mer noch nicht, auf wessen<br />

Seite sie stand. Seit er denken konnte, war sie seine ständige, stumme Begleiterin. Doch erst,


nachdem der Fremde <strong>im</strong> Klostergarten <strong>ihm</strong> die Augen geöffnet hatte, konnte er mit ihr sprechen.<br />

Auch wenn er über die Zeit vor dem Kloster nur verworrene Erinnerungsfetzen besaß, so war es<br />

doch ein Bild, das in seinen Gedanken und Träumen <strong>im</strong>mer wiederkehrte. Ein kleines Z<strong>im</strong>merchen<br />

mit einer Wiege. Draußen vor dem Fenster heult der <strong>Winter</strong>sturm. Auf einem niedrigen dreibeinigen<br />

Tisch steht eine einsame Kerze. Die tanzende Flamme erleuchtet die Kammer kaum. Es sind gerade<br />

die Umrisse der Möbel zu erahnen. Kein Laut <strong>ist</strong> zu hören, bis auf das Wüten des Sturms. Er tritt<br />

näher an die Wiege heran. Bei jedem Schritt dehnen sich die D<strong>im</strong>ensionen des Z<strong>im</strong>mers um das<br />

doppelte aus. Er beschleunigt seine Schritte, fängt an zu rennen. Die Kammer <strong>ist</strong> groß wie ein<br />

Palast, die Wiege unerreichbar. Ein Schatten wird aus der Dunkelheit geboren. Eine dunkle<br />

Silhouette schleicht um die Wiege herum. Immer wieder. Dabei singt sie mit flüsternder St<strong>im</strong>me ein<br />

Lied:<br />

Eines Mitternachts am Feuer<br />

saß ich, seltsam, ungeheuer<br />

die Gedanken, die da drangen dumpf in meines Hirnes Sphär´<br />

Im Kamin die tanzend Flammen<br />

wuchsen, zuckten wild zusammen<br />

warfen <strong>im</strong> verrückten Spiele wirre Schatten kreuz und quer<br />

[...]<br />

Schritte knarrten auf den Dielen<br />

meine wirren Blicke fielen<br />

hin zum Spiegel und mein Antlitz starrte müde zu mir her<br />

fahl und bleich die trüben Züge<br />

starr die totengleiche Miene<br />

nur ein Fremder, denn ich selber kannte mich schon längst nicht mehr<br />

[...]<br />

Schaudernd kehrte ich mich gegen<br />

dieses Bild, die Spiegel-Schemen<br />

ungestüm, und meine Schritte führten mich zum Flammenmeer<br />

schweigend stand ich, endlos lange<br />

zitternd sich das Feuer rankte


<strong>im</strong> Kamine und die Hitze brannte wie mein Herz so sehr<br />

[...]<br />

Doch ich konnte nicht entrinnen<br />

und so stürzt´ ich wie von Sinnen<br />

durch die Flure des Gemäuers, doch wohin wusst´ ich nicht mehr<br />

in den Ohren fremde Klänge<br />

lief ich rastlos durch die Gänge<br />

längst schon war ich meiner eignen, wirren Schritte nicht mehr Herr<br />

[...]<br />

Las der Augen fremde Zeichen<br />

längst vergaß ich deresgleichen<br />

und was hinter jener Türe lag, verwirrte mich doch sehr<br />

zögernd trat ich in die Kammer<br />

welche Grund für meinen Jammer<br />

und mit furchtsam schlagend Herzen trat ich zu der Truhe her<br />

[...]<br />

Mühsam konnte ich entfliehen<br />

doch mit tausend St<strong>im</strong>men schrien<br />

mir die die Asche und die Knochen meiner Träume hinterher<br />

zitternd lag ich am Kamine<br />

dort mit totenblasser Miene<br />

und die Seele fühlt´ sich schrecklich, unersetzlich, endlos, leer<br />

Heute weiß ich´s abzukehren<br />

wenn die Ge<strong>ist</strong>er aufbegehren<br />

doch an solchen trüben Tagen, fürcht´ ich, schwindet meine Wehr<br />

hilflos muss ich´s dann ertragen,<br />

wenn sie mir am Herzen nagen<br />

denn verlorne Träume wiegen endlos viele Tränen schwer

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