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Maerz 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde Wien

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GEMEINDE<br />

DVR 0112305 € 2.-<br />

Nr. 617 März <strong>2008</strong><br />

Adar2 5768<br />

Erscheinungsort <strong>Wien</strong><br />

Verlagspostamt 1010 P.b.b<br />

eGZ 2.- 03Z034854 W<br />

Die Die<br />

OFFIZIELLES ORGAN DER ISRAELITISCHEN KULTUSGEMEINDE WIEN<br />

magazin


INHALT<br />

&<br />

AUS DEM BÜRO DES<br />

PRÄSIDENTEN<br />

Eröffnung Hakoah 3<br />

EJC vor Spaltung 5<br />

(ЕЕК) ПЕРЕД РАСКОЛОМ? 6<br />

Liste der Extraneii in den<br />

IKG-Kommissionen 8<br />

DOSSIER • MÄRZ 1838 9-22<br />

POLITIK<br />

IN- UND AUSLAND<br />

SIMONE DINAH HARTMANN<br />

Österreich: Irans Tor zu Europa 23<br />

EU verurteilt israelfeindliche<br />

Aussagen 24<br />

ISRAEL<br />

TERRORANSCHLAG IN JERUSALEM<br />

„Er war ein guter Junge“ 25<br />

EU korrigiert Verurteilung 26<br />

UNO-Sicherheitsrat: keine<br />

gemeinsame Einigung 26<br />

GAZASTREIFEN<br />

Fragen der Verhältnismäßigkeit<br />

27<br />

Israels Militäroperation<br />

im Gaza-Streifen 29<br />

JERUSALEM-FRAGE<br />

Heiße Diaspora-Debatte 30<br />

Lauders Brief an Olmert 31<br />

WIRTSCHAFT<br />

Made in Israel:<br />

Die Schmuck-Industrie 32<br />

Beschäftigungsrate der<br />

Studenten sehr hoch 32<br />

WISSENSCHAFT<br />

Israelischer Forscher<br />

entwickelt Medikament<br />

zur Gewichts reduktion 33<br />

RECHTE ECKE<br />

Erna Wallisch - Die Banalität der<br />

Verjährung 24<br />

GEMEINDE<br />

Medieninhaber (Verleger), Herausgeber: <strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong> <strong>Wien</strong>.<br />

Zweck: Information der Mitglieder der IKG <strong>Wien</strong> in kulturellen, politischen<br />

und or ganisatori schen Belangen. Stärkung des demokratischen<br />

Bewusst seins in der österreichischen Bevöl kerung. Sitz: 1010 <strong>Wien</strong>, Seitenstettengasse 4, Postfach 145.<br />

Tel. Redaktion/Sekretariat 53 104/271, Anzeigenannahme 53 104/272, Fax: 53104/279, E-mail redaktion@ikg-wien.at<br />

Druck: AV+Astoria Druckzentrum GmbH, A-1030 <strong>Wien</strong><br />

Alle signierten Artikel geben die persönliche Mei nung des Autors wieder, die sich nicht immer mit der<br />

Meinung der Redaktion deckt. Für die Kaschrut der in der GEMEINDE angezeigten Produkte übernehmen<br />

Herausgeber und Redaktion ausdrücklich keine Verantwortung. Nicht alle Artikel, die in der<br />

Redaktion einlangen, müs sen zur Veröffentlichung gelangen.<br />

Die<br />

Boykott gegen Pariser<br />

Buch messe wegen<br />

Einladung Israels 24<br />

JÜDISCHE WELT<br />

BIRGIT JOHLER<br />

<strong>2008</strong> Adresse: Servitengasse 35<br />

LARRY LUXNER<br />

Kubanische Juden 36<br />

Panorama 38<br />

ZWI HALEVI<br />

Yerushalmi: „Terror-Tatorte<br />

erzählen viel“ 40<br />

KULTUR<br />

Ehrung für Dr. Pittermann 41<br />

PETER WEINBERGER<br />

neu<br />

Überall & nirgendwo 41<br />

I.B.HENRI<br />

Sylvia Greenberg: Mit Korngold<br />

ins Herz gesungen 42<br />

MICHAELA LEHNER<br />

Die Welt <strong>als</strong> Möglichkeit<br />

und Fiktion 43<br />

MARTA S. HALPERT<br />

Die mitreissende Welle: „Es<br />

kann heute wieder passieren“ -<br />

Ein Interview mit Filmregisseur<br />

Dennis Gansel 44<br />

MARCUS G. PATKA<br />

„Zur Erinnerung an<br />

schönere Zeiten“ 47<br />

Titelbild:<br />

Magbith-Eröffnung <strong>2008</strong> im <strong>Wien</strong>er<br />

Rathaus © Renée Del Missier<br />

Dossier März 1938<br />

Idee, Konzept & Realisierung:<br />

SONIA FEIGER<br />

Titelbild: Adolf Hitler bei einem seiner<br />

Besuche in der „Füh rer stadt“<br />

© Archiv d.Stadt Linz/HPK<br />

Quellen- und Bildernachweis: Archiv,<br />

APA, www.nation<strong>als</strong>ozialis mus.at,<br />

erinnern.at, DÖW,<br />

DIE MISRACHI,<br />

DIE SOZIALABTEILUNG DER IKG UND<br />

DER VEREIN ESRA<br />

laden Sie herzlich ein zum<br />

SEDERABEND<br />

SAMSTAG, 19. APRIL <strong>2008</strong>,<br />

(Beginn 21.15 Uhr) und<br />

SONNTAG, 20. APRIL <strong>2008</strong>,<br />

(Beginn 21.00 Uhr)<br />

MISRACHI-HAUS<br />

1010 <strong>Wien</strong>, Judenplatz 8, Festsaal<br />

Preis:e 40.- pro Person und Abend<br />

(Preisnachlass auf Anfrage möglich)<br />

ANMELDUNG UND INFORMATION:<br />

Verein ESRA - 1020 <strong>Wien</strong>, Tempelgasse 5/Tel. 214 90 14<br />

oder Herr Raizmann Tel: 218 66 60 oder 0699/105 86 947<br />

PLENARSITZUNGEN <strong>2008</strong><br />

Dienstag, 08. April<br />

Dienstag, 06. Mai<br />

Dienstag, 03. Juni<br />

Donnerstag, 03. Juli<br />

Donnerstag, 31. Juli<br />

Dienstag, 02. September<br />

Donnerstag, 25. September<br />

Dienstag, 28. Oktober<br />

Dienstag, 25. November<br />

Donnerstag, 04. Dezember<br />

Donnerstag, 18. Dezember<br />

Wir sind stolz auf<br />

60 JAHRE<br />

ISRAEL<br />

Feiern auch Sie und Ihre Familie mit uns<br />

am neuen IKG-Campus!<br />

MITTWOCH, 7. MAI <strong>2008</strong> – AB 17.30 UHR<br />

Simon Wiesenthal-Gasse 2, 1020 <strong>Wien</strong><br />

Täglich<br />

aktualisiert!<br />

www. ikg-wien.at<br />

@<br />

news<br />

events<br />

pinwand<br />

Ausgewertet werden Meldungen von: APA, Jerusalem<br />

Post, Ha’aretz, MEMRI, Yediot Aharonot, Global intelligence<br />

centre, Walla, Y-net, israelnetz (inn), nahostfocus<br />

(NOF), ICEJ, Honestly-concerned, GMW, JTA, u.v.a.<br />

2 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

Sehr geehrte Gemeindemitglieder!<br />

Wir eröffneten am 11. März gemeinsam<br />

mit dem Bundeskanzler, dem Bürger meis ter<br />

der Stadt <strong>Wien</strong> sowie vielen Ehren gästen,<br />

Freunden, Funktionären der Hakoah und<br />

Ge mein de mitgliedern das Sport- und Frei -<br />

zeitzentrum der Hakoah in der Simon-<br />

Wiesenthal-Gasse. Damit wird eine mehr <strong>als</strong><br />

25jährige Arbeit (um nicht zu sagen ein<br />

jahr zehntelanger Spießrutenlauf) erfolgreich<br />

abgeschlossen. Ich möchte die Gele -<br />

gen heit nutzen, um aus der Sicht der IKG<br />

Bilanz zu ziehen:<br />

Vorgeschichte<br />

70 Jahre nach dem „An schluss“ und der<br />

Arisierung feiern wir die Inbe trieb nahme<br />

eines neuen jüdischen Zentrums auf einem<br />

kleinen Teil der seiner zeitigen Lie gen -<br />

schaft. Es ist dies ein erster Schritt. Im<br />

August <strong>2008</strong> geht der neue jüdische<br />

Kindergarten und im September <strong>2008</strong> die<br />

neue ZPC-Schule in Betrieb. Wenn alles<br />

klappt, soll im De zem ber 2009 das neue<br />

Maimondes Zentrum fertig gestellt sein.<br />

Wer in den letzten Jahren bei Kultusvor -<br />

standssitzungen anwesend war, konnte<br />

die mo natlichen Debatten, Diskussionen<br />

und Beschlüsse mitverfolgen, die diesem<br />

Projekt voran gegangen sind. Ich möchte<br />

jedoch daran erinnern, dass ursprünglich<br />

1988 die Idee be stand, angrenzend an die<br />

ZPC-Schule in der Castellezgasse die dort<br />

befindliche Baum schu le zu erwerben, dort<br />

ein teils unterirdisches Sportzentrum zu<br />

bau en, die Tennis plät ze und Athletikan la -<br />

gen im Freien und das Clubhaus unmittelbar<br />

in der Castellezgasse zu er richten. In<br />

den zehn Jahren bis 1998 kam es zu zahlreichen<br />

Verhandlungen mit mehreren Bun -<br />

deskanzlern, Wirtschaftsministern (u.a. Dr.<br />

Schüssel), dem Landwirt schafts mi nister<br />

(Mag. Molterer!), dem Innenminister, den<br />

Bürgermeistern, den verschiedenen Stadt -<br />

rä ten und der Burghauptmannschaft. Es<br />

gibt kaum einen Politiker, der nicht mit der<br />

Thematik Hakoah-Sportplatz konfrontiert<br />

wurde.<br />

Als die Verhandlungen betreffend<br />

Augar ten relativ weit gediehen waren, trat<br />

eine Bürgerinitiative auf den Plan und<br />

brachte das Projekt um. Der Bürgermeister,<br />

dem die Erledigung ein besonders<br />

Anliegen war („Es ist höchste Zeit, dass<br />

die Hakoah endlich ihren Sportplatz<br />

bekommt!“) bot sechs Alternativ lie gen -<br />

schaf ten an (unter an de ren in Strebersdorf),<br />

die besichtigt und evaluiert wurden; man<br />

einigte sich schließ lich auf eine Lie -<br />

genschaft im Prater, nämlich ei nem Teil<br />

des ehemaligen Hakoah-Grund stücks, das<br />

sich im Eigentum der Republik Österreich<br />

befand und auf welchem das Bundes mi -<br />

nis te ri um für Finanzen einen Sport club<br />

betrieb. Es kam zu einer Eini gung mit der<br />

Stadt, 50% der Baukosten (60 Mio. ATS) zu<br />

übernehmen, aber der Bund zögerte.<br />

Erst im Rahmen der ab 1999 von der IKG<br />

geführten Restitutionsverhand lungen (und<br />

Klagen) kam es zur Einigung im Washing -<br />

to ner Vertrag, wo <strong>als</strong> einer der wenigen<br />

Erfolge für die <strong>Wien</strong>er Jüdische Gemeinde<br />

die teilweise Rückgabe eines Hakoah-Plat -<br />

zes und die Errichtung des Sport- und<br />

Freizeitzentrums vereinbart wurden. (Ein<br />

zweiter Punkt war die Zusage, die Fried -<br />

hö fe zu sanieren ...) Es muss festgehalten<br />

werden, dass alle diese Verhandlungen, Ge -<br />

spräche, Initiativen (neben dem Vertre ter<br />

der Hakoah – Prof. Paul Haber) im We sent -<br />

li chen von den Mitarbeitern und Funk tio -<br />

nären der <strong>Kultusgemeinde</strong> geführt wurden.<br />

So waren es die Präsidenten der Kultus ge -<br />

meinde (Grosz und ich) bei den zahlreichen<br />

Vor spra chen bei Politikern, die Mitarbeiter<br />

der technischen Abteilung (die Herren Ep -<br />

stein, Geissler und Eller), die Vorsitzenden<br />

der Immobilienkommission (u.a. DI Reisz)<br />

und last but not least Architekt DI Thomas<br />

Feiger, die fast die gesamte Last über 20 Jahre<br />

trugen. Es fällt mir schwer zu schätzen,<br />

wie viele tausende von Stunden von diesen<br />

ehrenamtli chen Funktionären, IKG-Ange -<br />

stell ten und freien Mitarbeitern erbracht<br />

wurden, um dieses Projekt endlich fertig<br />

zu stellen.<br />

Projekt im Prater - konkrete Realisierung<br />

und Errichtung<br />

Ab dem Jahr 2000 begannen die Ver -<br />

handlungen mit der Republik, der Stadt<br />

<strong>Wien</strong>, dem Finanzministerium und vielen<br />

an deren, bis dann Dr. Ferdinand Podkowicz<br />

schließlich von der Stadt <strong>Wien</strong> eingesetzt<br />

wurde, um das Projekt zu einem positiven<br />

Ende zu bringen. Mit seiner Hilfe gelang es,<br />

die Finanz auszumieten, einen Liegen -<br />

schafts tausch Republik/Stadt <strong>Wien</strong> herbeizuführen,<br />

einen Pacht vertrag für die Ha ko -<br />

ah auszuarbeiten, die notwendige be hörd li -<br />

che Genehmigung (Flä chenwid mungs än -<br />

derung, Anrainerverhandlungen, usw.) zu<br />

erwirken.<br />

Es würde diesen Beitrag sprengen, all<br />

diese Probleme aufzulisten, die in den letz-<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 3


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

ten acht Jahren zu lösen waren – las sen Sie<br />

mich nur einige anführen: Nachdem wir<br />

uns für den Prater entschieden hatten stellte<br />

sich heraus, dass eine U-Bahn über un se re<br />

Liegenschaft geführt werden sollte; nachdem<br />

die IKG entschieden hatte, die Lie -<br />

gen schaft von der Stadt <strong>Wien</strong> zu kaufen,<br />

mussten wir wenige Wochen vor Baube -<br />

ginn feststellen, dass sich Bauschutt im<br />

Untergrund befand; es gab Schwie rig kei ten<br />

und Einsprüche von Anrai nern ge gen die<br />

Baugenehmigung; die Subven tio nen (der<br />

Stadt <strong>Wien</strong>) waren seinerzeit in US Dollar<br />

vereinbart, bei der Auszahlung gab es „In -<br />

terpretations unter schiede“ beim Umrech -<br />

nungskurs; es mussten Termin kol lisionen<br />

mit dem U-Bahn-Bau und der Fuß ball-Eu -<br />

ro pameisterschaft aus der Welt geschafft<br />

werden; die Auf lagen der Si cher heit hatten<br />

grundlegen de Umplanungen zur Folge;<br />

die Schwie rig kei ten mit einer israelischen<br />

Fensterfirma führten fast zu einer Einstel -<br />

lung der Bau stelle und monate langen Bau -<br />

verzögerun gen; dies wiederum drohte das<br />

gesamte Budget zu sprengen; schließlich<br />

kam es zu einer Grund stück steilung und<br />

zu einem gemeinsamen Projekt mit der Zwi<br />

Perez Chajes Schule, die gleichzeitig am<br />

Cam pus errichtet wird; dies führte zu er -<br />

heblichen Kom plika tio nen, mussten doch<br />

die teils kontroversiellen Wünsche von<br />

Ha koah, Schule und Kultus ge meinde un -<br />

ter einen Hut gebracht werden; diese so<br />

genannten „Abgrenzungs schwie rig kei ten“<br />

wurden letztendlich in einem präzisen<br />

aber sehr komplexen Ver trag aus der Welt<br />

ge schafft; es musste ein neues Verkehrs -<br />

kon zept erstellt und die Weh listraße sowie<br />

die Simon-Wiesenthal-Gasse neu geplant<br />

wer den; die Liste ist be liebig fortsetzbar ...<br />

Persönlicher Dank<br />

Ich schreibe diese Zei len, weil ich glaube,<br />

dass es notwendig ist, sich diese Fakten in<br />

Erinnerung zu rufen, und in aller Deut -<br />

lichkeit all jenen zu danken, die in den verschiedensten<br />

ehrenamtlichen Funktionen,<br />

<strong>als</strong> Mitarbeiter oder <strong>als</strong> IKG-Auftragsneh -<br />

mer tätig waren. (Ich kann sie nicht alle hier<br />

anführen, da ich si cher den einen oder an -<br />

deren vergessen würde.) Gestatten Sie mir<br />

daher stellvertretend für alle an dieser Stel le<br />

Architekt DI Thomas Feiger dafür zu dan ken,<br />

dass er ne ben seinen vertragli chen Ver -<br />

pflichtun gen (für die er das Hono rar laut<br />

der IKG-spezifischen Verein ba rung erhält)<br />

eine Fülle von Auf ga ben übernommen hat,<br />

die die Vor aus set zung waren, um das<br />

Projekt überhaupt reali sieren zu können: Er<br />

hat von 1988 bis 2001 sämtliche Pro jek -<br />

tierungs- und Planungsar bei ten auf sein<br />

Risiko und kostenlos er bracht inklusive<br />

des kompletten Vorent wurfs für das verworfene<br />

Au gar ten pro jekt, die Begutach -<br />

tung der verschiedenen an uns herangetragenen<br />

Lie gen schaften, sowie beim IKG-<br />

Cam pus Simon-Wiesen thal-Gasse die Ver -<br />

hand lun gen mit der U-Bahn positiv abgewickelt;<br />

er hat das ge sam te Problem Schutt<br />

im Untergrund für die IKG kostenneutral<br />

aus der Welt ge schafft; er hat die Anrainer<br />

überzeugt, Ein sprüche zurückzuziehen; er<br />

hat das gesamte Sicherheitskonzept mitver -<br />

handelt und umgesetzt inklusive der not -<br />

wendigen Ab stimmungen mit einschlägigen<br />

Experten; er hat „den Nerven krieg“<br />

mit der Fenster fir ma positiv beendet, hat<br />

seit Jahren die verschiedensten sich ständig<br />

ändernden Nut zer-Wünsche (insbesonders<br />

der Ha ko ah und der Schule) eingearbeitet<br />

und koordiniert und gleichzeitig da -<br />

für gesorgt, dass das Budget und die Fer tigstellungstermine<br />

eingehalten werden. Und<br />

seit einigen Mo na ten kommt das neue<br />

Maimonides Zen trum hinzu, womit die<br />

komplexe Koordi na tion und Projekt-Orga -<br />

ni sation noch kom plexer und schwieriger<br />

geworden sind ….<br />

Mir wird seit Jahrzehnten vorgeworfen,<br />

„dass ich mit meinen Freunden Projekte<br />

der IKG realisiere“. Es stimmt, dass Tho -<br />

mas Feiger mein Freund ist, gleichzeitig erfüllt<br />

er jene Kriterien, die einige wenige Ar -<br />

chitekten in <strong>Wien</strong> erfüllen und, im Falle<br />

des IKG Campus, wäre es unmöglich ge we -<br />

sen, die Fülle von Problemen zu lösen und<br />

das Projekt zu realisieren, wenn das Pro jektmanagement<br />

nicht von ihm in der oben<br />

beschriebenen Form gemacht worden wä re.<br />

Alle diese Leistungen kommen der IKG<br />

zugute, ohne dass hierfür der IKG zusätzli<br />

che Kosten verrechnet werden. Dafür gilt<br />

es an dieser Stelle zu danken.<br />

Die Eröffnung<br />

– darüber lesen Sie in der nächsten Ge -<br />

meinde.<br />

Ihr<br />

Dr. Ariel Muzicant<br />

4 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

Europäischer jüdischer Kongress (EJC)<br />

vor der Spaltung?<br />

Vorgeschichte<br />

Seit Jahren (Jahrzehnten) gibt es „Schwierigkeiten“ in der<br />

politischen Vertretung des Europäischen Judentums. Die<br />

Gründe sind zahlreich: Mangel an kompetenten Füh rungspersönlichkeiten,<br />

Indolenz in großen Gemeinden (Eng land,<br />

Frankreich), persönliche Auseinandersetzungen um „Pos -<br />

ten“ und Prioritäten, Geldmangel, Chaos und Konflikte<br />

im Jüdischen Weltkongress (WJC) - der Dachorganisation<br />

aller jüdischen Gemeinden. 2005 wurde Pierre Besnainou*<br />

zum EJC-Präsidenten gewählt und begann ein ehrgeiziges<br />

Re formprogramm: Dem EJC nach 20 Jahren ein Statut zu<br />

ge ben, die Organisation zu straffen, korrekt zu registrieren,<br />

die Arbeit mit den anderen jüdischen Organisationen (ECJC,<br />

Bnei Brith, Europäische Rabbinerkonferenz, EUJS, etc.)<br />

abzustimmen (Thema: Wer macht was?) und dem EJC ein<br />

ordentliches Budget zu verpassen, um folgende Prioritä ten<br />

tatsächlich umsetzen zu können:<br />

✧ Die politische Vertretung des europäischen Juden tums<br />

gegenüber den europäischen Institutionen (EU-Par la -<br />

ment, Kommission, Europarat, etc.) und den europäischen<br />

Regierungen.<br />

✧ Die Unterstützung Israels insbesondere in der Aus ein -<br />

an dersetzung mit dem Iran und der Hamas/His bol lah.<br />

✧ Alle anderen Themen (Antisemitismus, christlich-jü -<br />

di scher Dialog, islamisch-jüdischer Dialog, etc.) sollten<br />

auch behandelt werden, aber eben nur so fern die<br />

finanziellen und zeitlichen Ressourcen es ermögli chen.<br />

Konflikt<br />

Ab 2006 trat Moshe Kantor** in direkte Konfrontation mit<br />

Pierre Bensnainou und die Führung des EJC; dabei wurde<br />

jede Initiative unterbunden (z.B. konnten die fix ausverhandelten<br />

Statuten nicht beschlossen werden, die EJC-<br />

Stiftung, welche die notwendigen Geldmittel aufbringen<br />

sollte, wurde nicht gegründet, usw.). Schließlich kam es<br />

zum offenen Konflikt, der die Arbeit lähmte und viele<br />

Gemeinden ob des ständigen Streits verärgerte.<br />

EJC-Generalversammlung im Juni 2007<br />

Bei dieser Generalversammlung kam es schließlich zur<br />

Kampf abstimmung zwischen Besnainou und Kantor, die<br />

letzterer klar für sich entscheiden konnte. Dabei wurden<br />

ganz offen Wahlkampfmethoden angewandt, die (für die<br />

Österreichische Jüdische Gemeinde) inakzeptabel sind:<br />

• Den Gemeinden Osteuropas wurden verschiedene „Be -<br />

träge“ angeboten (für Kulturprogramme, Jugendpro gramme,<br />

etc.), aber auch diverse „Reisespesenrefundierungen“<br />

gegeben (dies alles aus „Kantors Privatstiftung“).<br />

• Der Vertreterin des britischen „Jewish Board of De pu -<br />

ties“ (B.O.D.) wurde die Position einer Vorsitzenden des<br />

Board of Governors im EJC versprochen - damit wurde<br />

sichergestellt, dass sie zu den offiziellen Fototerminen bei<br />

Besuchen von Regierungsvertretern anwesend sein konnte.<br />

(Ironie am Rande: diese Position wurde am 10.2.<strong>2008</strong> <strong>als</strong><br />

unnötig gestrichen, gleichzeitig wurde die Position eines<br />

„Chairman of the Council“ geschaffen….).<br />

• Gleichzeitig wurden die Prioritäten des EJC massiv verän<br />

dert. Nunmehr sind „Shoah-Veranstaltungen“, die Kantor<br />

„hollywoodartig“ organisiert, erste Priorität. Österreich<br />

wurde 2007 wieder ins Präsidium gewählt (trotz heftiger<br />

Opposition gegen die Kantor-Methoden). Der Vorstand<br />

der IKG-<strong>Wien</strong> hat jedoch auf Anraten des Präsidenten auf<br />

dieses Amt verzichtet, da man nicht Teil einer solchen<br />

EJC-Führung sein wollte.<br />

Kontroversielle Politik<br />

Moshe Kantors 2007/<strong>2008</strong><br />

Seit Juni 2007 gab es eine<br />

Vielzahl von Erklärungen<br />

und Handlungen des EJC<br />

(Moshe Kantors), die großen<br />

Ärger unter den Mitglieds ge -<br />

mein den ausgelöst haben:<br />

✧ Beim Antrittsbesuch bei<br />

Angela Merkel wurde<br />

dieser eine Schach tel<br />

Seife überbracht (zum<br />

Entsetzen der Vertreter<br />

des Zentralrats der Ju den<br />

in Deutschland). Seit her<br />

verweigert Mer kel jeglichen<br />

direkten Kon takt.<br />

✧ Kantor versuchte, eine<br />

zentrale „Kristall nacht veran staltung“ in Berlin im<br />

November <strong>2008</strong> zu organisieren, trotz heftigem<br />

Widerstand der deutschen Juden. Schließlich sprach<br />

sich die deutsche Kanzlerin dagegen aus (siehe<br />

oben).<br />

✧ Kantor erklärte den 27. Jänner (Gedenktag zur Be frei -<br />

ung von Auschwitz) auch zum Gedenktag für all jene<br />

Soldaten, die die Konzentrationslager befreit hatten<br />

und dabei getötet wurden. Zahlreiche jüdische Ge -<br />

mein den legten Protest ein, dass dieser Gedenktag,<br />

der nach 60 Jahren Kampf durchgesetzt wurde, nun<br />

„verwässert“ wird.<br />

✧ Kantor schrieb einen Artikel in der „Jerusalem Post“,<br />

wonach all jene Menschen jüdischer Herkunft, die<br />

zumindest einen jüdischen Großvater haben, bei Ent -<br />

schei dungen des Staates Israel ein Mitspracherecht<br />

haben sollten….<br />

✧ Ronald Lauder (Präsident des WJC) schrieb dem is ra -<br />

elischen Premierminister Olmert einen Brief, wo nach<br />

alle Juden der Diaspora ein Mitspracherecht bei Ent -<br />

schei dungen über Jerusalem haben sollten. Dies ge -<br />

schah auch im Namen des EJC. Kantor blieb dazu<br />

stumm, ebenso wie bei vielen anderen für das Juden -<br />

tum wichtigen Ereignissen (Konferenz von Anna po lis,<br />

usw.)<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 5


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

✧ In der Position zum Iran meinen viele jüdische Ge -<br />

mein den Europas, dass der EJC sich auf dieses Pro -<br />

blem konzentrieren sollte. Die Bedrohung des Staates<br />

Israel ist derzeit unser größtes Problem. Kantor<br />

besuchte Putin offiziell inklusive Fototermin. Zwei<br />

Wochen später war Putin im Iran und sagte kein<br />

Wort über die Shoah oder den Staat Israel, sondern<br />

be kräftigte Ahmadinejad in seinen Plänen, Atom -<br />

macht zu werden - und der EJC schwieg.<br />

✧ Unter Präsident Kantor gibt es zahlreiche EJC-Ak ti vi -<br />

tä ten im kulturellen und erzieherischen Bereich. Die<br />

Prioritäten verschieben sich weiter, weg von der politischen<br />

Vertretung in Europa, hin zu einer Organi sa -<br />

tion, die in Konkurrenz zu allen anderen jüdischen<br />

Organisationen in Europa steht.<br />

Außerordentliche Generalversammlung vom 10.2.<strong>2008</strong><br />

Im Jänner <strong>2008</strong> wurde plötzlich eine außerordentliche Ge -<br />

ne ralversammlung einberufen, um die seit drei Jahren von<br />

Kantor blockierten Statuten zu verabschieden. Dabei wur de<br />

weitestgehend die von der IKG Österreich 2006 ausgearbeitete<br />

Version zur Abstimmung vorgelegt, wobei allerdings<br />

neben einer Reihe von juridischen Fehlern ein Absatz hinzugefügt<br />

wurde, wonach die Wahlperiode auf vier Jahre<br />

verlängert und die 2007 gewählte Führung ohne Wahl bis<br />

2011 „<strong>als</strong> gewählt“ bezeichnet wird. Trotz wiederholten<br />

Hin weisen, dass diese Vorgangsweise weder legal noch<br />

ethisch zulässig ist (retroaktive Veränderung der Wahl von<br />

2007) stimmte die Mehrheit nach Vorlage f<strong>als</strong>cher Rechts -<br />

gutachten dafür.<br />

Daraufhin erklärten Frankreich, Österreich und Portugal ihre<br />

Mitgliedschaft im EJC für ausgesetzt. In derselben Woche<br />

folgte auch Deutschland mit einer gleichen Erklärung.<br />

Kommt es zu einer Spaltung des EJC?<br />

Der EJC hat noch wenige Wochen Zeit, um eine Spaltung zu<br />

verhindern, indem eine Mehrheit der jüdischen Ge mein den<br />

Europas festlegen, dass bei der ordentlichen General ver -<br />

sammlung im Juni 2009 die Führung des EJC statutengemäß<br />

neu zu wählen sein wird. Andernfalls wird eine neue Or -<br />

ga nisation entstehen, der Congress der 27 EU-Gemeinden<br />

(EUJC).<br />

Dr. Ariel Muzicant<br />

P.S. Gestatten Sie mir noch folgenden persönlichen Kom -<br />

mentar: Ich war von 1998 bis 2007 in der Exekutive/dem<br />

Präsi di um des EJC und habe ohne Anspruch auf einen<br />

„Posten“ versucht, die Anliegen des europäischen Juden -<br />

tums zu vertreten und die Organisation EJC <strong>als</strong> eine<br />

Lobby in Europa zu etablieren.<br />

Es ist erschreckend und macht mich sehr traurig, Ihnen<br />

berichten zu müssen, dass die persönlichen Interessen und<br />

der Kampf um Positionen im Vordergrund stehen und<br />

dass Methoden eingerissen sind, die mit unseren Auffas -<br />

sun gen von Recht, Moral und Ethik nichts mehr zu tun<br />

haben. Alle Appelle zur Einheit und Zusammenarbeit ha -<br />

ben in einem solchen Klima keinerlei Chance auf Erfolg. Es<br />

ist besser, sich rechtzeitig und offen davon zu distanzieren<br />

und gegebenenfalls dabei die Organisation zu spalten, auch<br />

wenn manche meinen, dies wäre sinnlose Vereins meie rei…<br />

Die europäischen Juden verfügen weder über eine Armee,<br />

noch über große wirtschaftliche Druckmittel. Unsere<br />

stärksten Argumente basieren auf Moral, Ethik und unserem<br />

Kampf dafür. Deshalb müssen unsere Or ga ni sationen<br />

auf einem sauberen Fundament stehen und müs sen unsere<br />

Strukturen über jeden Zweifel erhaben sein.<br />

* Pierre Besnainou: Präsident des „Fonds Social“ in Frankreich, Mitglied des<br />

Board of Governors der Jewish Agency, finanziert seit Jahren viele große Pro -<br />

jekte (Medbridge - der Besuch europäischer Parlamentarier im Nahen Osten;<br />

AMI - einer Aliya-Hilfsorganistion, usw.), 2005-2007 Präsident des EJC.<br />

** Viatcheslav (Moshe) Kantor, Russischer Industrieller, Gründer des Welt-Holo -<br />

caust-Forums, und anderen Shoah-Gedenkorganisationen, Präsident des russi -<br />

schen-jüdischen Kongresses, seit 2007 EJC Präsident.<br />

*** EJC: Besteht aus jüdischen Gemeinden in 42 Ländern Europas und Nord -<br />

afri kas. Einige Gemeinden (Russland, Ukraine, usw.) sind auch Mitglieder des<br />

Eurasischen Jüdischen Kongresses.<br />

ЕВРОПЕЙСКИЙ ЕВРЕЙСКИЙ<br />

КОНГРЕСС (ЕЕК) ПЕРЕД РАСКОЛОМ?<br />

Предыстория<br />

Уже годы (десятилетия) существуют «трудности» в<br />

политическом представительстве европейского<br />

еврейства. Причин этому много: недостаток<br />

компетентных руководящих личностей, инертность<br />

больших общин (Англия, Франция), личные<br />

конфронтации о «позициях» и приоритетах,<br />

недостаток денег, хаос и конфликты во Всемирном<br />

Еврейском Конгрессе (ВЕК) – верхушечной<br />

организации всех еврейских общин. В 2005 году<br />

Пьер Беснану* был избран Президентом ЕЕК и<br />

начал честолюбивую программу реформ: спустя 20<br />

лет дать ЕЕК устав , упорядочить организацию,<br />

корректно зарегистрировать её, координировать<br />

работу с другими еврейскими организациями (ECJC,<br />

Bnei Brith, Европейская конференция раввинов, EUJC<br />

ит.д.) и создать солидный бюджет для ЕЕК, чтобы<br />

действительно добиться осуществления<br />

следующих приоритетных задач:<br />

- Политическое представительство европейского<br />

еврейства в европейских институтах<br />

(Европарламент, Еврокомиссия, Совет Европы, и<br />

т.д.) и перед<br />

европейскими правительствами.<br />

.- Поддержка Израиля особенно в противостоянии с<br />

Ираном и Хамас/Хисболлой.<br />

6 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

- Все прочие темы (антисемитизм, христианскоеврейский<br />

диалог, исламско-еврейский диалог, и<br />

т.д.) тоже должны разрабатываться, но настолько,<br />

насколько это позволяют финансовые и временные<br />

ресурсы.<br />

Конфликт<br />

В 2006 году Моше Кантор** вступил в прямую<br />

конфронтацию с Пьером Беснану и руководством<br />

ЕЕК, чиня при этом препятствия любой инициативе<br />

(например, уже полностью готовый устав не мог<br />

быть принят, не был создан фонд ЕЕК, который<br />

должен был принести необходимые денежные<br />

средства, ит.д.). В конце концов дошло до<br />

открытого конфликта, который парализовал работу и<br />

постоянные споры вызвали недовольство многих<br />

общих.<br />

Внеочередное общее собрание ЕЕК в июне 2007<br />

года<br />

На этом общем собрании было проведено<br />

голосование между Беснану и Кантором, которое<br />

прошло в пользу последнего. При этом абсолютно<br />

открыто применялись методы предвыборной<br />

борьбы, которые (для Австрийской Еврейской<br />

Общины) неприемлимы: общинам из Восточной<br />

Европы были предложены различные «суммы»<br />

(на культурную программу, на молодёжные<br />

программы ит.д.), но также и всевозможные<br />

«компенсанции дорожных расходов»<br />

(всё это из личного фонда Кантора).<br />

Представительнице британской «Jewish Board of<br />

Deputies» (B.O.D.) был предложен пост председателя<br />

Board of Governors в ЕЕК - тем самым обеспечив её<br />

присутствие на официальных фотосессиях во<br />

время визитов представителей<br />

правительств.(Ироничное замечание на полях: этот<br />

пост был 10.2.<strong>2008</strong> упразднён за ненадобностью,<br />

одновременно был создан пост «Chairman of the<br />

Council»...).<br />

Одновременно прошли значительные изменения в<br />

приоритетах ЕЕК. Теперь лишь «мероприятия<br />

посвященные Шоа», которые в «голливудской<br />

манере» организует Кантор, являются первым<br />

приоритетом. Австрия в 2007 году была вновь<br />

избрана в президиум (несмотря на серьёзную<br />

оппозицию методам Кантора). Руководство<br />

Венской Еврейской Общины отказалось от этого<br />

поста, по совету Президента, так как не хотело бы<br />

стать частью такого руководства ЕЕК.<br />

Противоречивая политика Моше Кантора в<br />

2007/<strong>2008</strong> годах<br />

С июня 2007 года было большое количество<br />

заявлений и действий ЕЕК (Моше Кантора), которые<br />

вызвали большое недовольство со стороны общин<br />

членов конгресса:<br />

Во время его первого после избрания визита к<br />

Ангеле Меркель, ей преподнесли упаковку мыла (к<br />

ужасу представителей Центрального Совета евреев<br />

в Германии). С тех пор Меркель избегает любых<br />

прямых контактов... .<br />

Кантор попытался провести центральное<br />

мероприятие посвященное «Kristallnacht » в Берлине<br />

в ноябре <strong>2008</strong> года, несмотря на серьёзные<br />

протесты немецких евреев. В конце концов<br />

госпожа Канцлер Германии высказалась против<br />

этой идеи (смотри выше).<br />

Кантор объявил 27 января (день памяти<br />

освобождения Освенцима) также и днём памяти<br />

всех солдат, освобождавших лагеря и убитых при<br />

этом. Многочисленные еврейские общины заявили<br />

свой протест тому, что этот день памяти,<br />

проведения которого добились после 60 лет<br />

борьбы, теперь «разбавляют».<br />

Кантор написал статью в «Jerusalem Post», в которой<br />

он заявляет, что все те люди еврейского<br />

происхождения, у которых хотя бы дед был<br />

евреем, должны иметь право голоса в принятии<br />

решений государства Израиль...<br />

Роланд Лаудер (Президент ВЕК) написал<br />

премьер-министру Израиля Ольмерту письмо о том,<br />

что все евреи диаспоры должны иметь право<br />

голоса при принятии решений относительно<br />

Иерусалима. Это было сделано и от имени ЕЕК.<br />

Кантор промолчал по этому поводу, также как и по<br />

поводу многих других важных для еврейства<br />

событиях (конференция в Аннаполисе ит.д.).<br />

В позиции по отношению к Ирану, многие<br />

еврейские общины Европы считают, что ЕЕК должен<br />

сконцентрировать своё внимание на этой<br />

проблеме. Угроза государству Израиль является в<br />

настоящее время нашей самой большой<br />

проблемой. Кантор был с официальным визитом у<br />

Путина, включая фотосессию. Две недели спустя<br />

Путин был в Иране и не сказал ни слова о Шоа или<br />

государстве Израиль, но поддержал<br />

Ахмадинеджада в его планах создания атомной<br />

державы – ЕЕК промолчал.<br />

При Президенте Канторе ЕЕК проводит<br />

многочисленные мероприятия культурного и<br />

воспитательного характера. Приоритеты и дальше<br />

меняются, всё больше уходя от политического<br />

представительства в Европе, к организации,<br />

которая составляет конкуренцию всем прочим<br />

еврейским организациям Европы.<br />

Внеочередное общее собрание 10.2.<strong>2008</strong> года<br />

В январе <strong>2008</strong> года было вдруг созвано<br />

внеочередное общее собрание, чтобы принять<br />

устав, который уже в течении трёх лет блокируется<br />

Кантором. При этом на голосование была<br />

предложена версия, в значительной мере<br />

разработанная Еврейской Общиной Австрии в 2006<br />

году, хотя при этом наряду с рядом юридических<br />

ошибок, был добавлен абзац, согласно которому<br />

избирательный период продлён до четырёх лет и<br />

избранное в 2007 году руководство будет считаться<br />

избранным до 2011 года без проведения выборов.<br />

Несмотря на неоднократные замечания, что этот<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 7


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

образ действий недопустим, как с юридической<br />

так исэтической точки зрения (ректроактивное<br />

изменение выборов 2007 года), после<br />

предоставления неправильного юридического<br />

экспертного заключения, большинство<br />

проголосовало за. После этого Франция, Австрия и<br />

Португалия объявили о приоставновлении своего<br />

членства в ЕЕК. На той же неделе последовала и<br />

Германия с таким же заявлением.<br />

Наступит ли раскол в ЕЕК?<br />

У ЕЕК есть ещё пару недель времени, чтобы<br />

предотвратить раскол, в случае, если большинство<br />

еврейских общин Европы примут решение о<br />

выборах нового руководства ЕЕК на очередном<br />

общем собрании в июне 2009 года. В противном<br />

случае, возникнет новая организация, Конгресс 27<br />

общин ЕС (ЕСЕК).<br />

Доктор Ариель Музикант<br />

P.S.: Разрешите мне ещё следующий личный<br />

комментарий:<br />

Я был с 1998 по 2007 году в испольнительном<br />

органе/Президиуме ЕЕК и пытался, без претензий<br />

на какие-либо «посты», представлять интересы<br />

европейского еврейства и сделать организацию<br />

ЕЕК своего рода лобби в Европе. Ужасает и очень<br />

печалит меня то, что приходится сообщать Вам, что<br />

личные интересы и борьба за места находятся на<br />

переднем плане и, что используются методы,<br />

которые уже не имеют ничего общего с нашими<br />

представлениями о праве, морали и этике. Наши<br />

призывы к единству и сотрудничеству не имеют ни<br />

малейших шансов на успех в подобном климате.<br />

Лучше своевременно и открыто уйти на дистанцию<br />

от этого и при известных условиях привести при<br />

этом организацию к расколу, даже если некоторые<br />

считают, что это было бы бессмысленно..<br />

Европейские евреи не располагают ни армией, ни<br />

большими экономическими средствами давления.<br />

Наши сильнейшие аргументы основаны на морали,<br />

этике и нашей борьбе за это. Поэтому наши<br />

организации должны стоять на чистом фундаменте<br />

и наши структуры не должны вызывать ни<br />

малейших сомнений.<br />

* Пьер Беснану: Президент «Fonds Social» во Франции, член Board of<br />

Governers в Jewish Agency, уже многие годы финансирует большое<br />

количество крупных проектов (Medbridge – визит европейских<br />

парламентариев на Ближний Восток, АМI - алия –<br />

благотворительная организация, и т.д.), 2005 – 2007 года<br />

Президент ЕЕК<br />

** Вячеслав (Моше) Кантор, русский промышленник, основатель<br />

всемирного форума Холокоста и других организаций памяти<br />

Шоа, Президент русского еврейского Конгресса, с 2007 года –<br />

Президент ЕЕК.<br />

*** ЕЕК состоит из еврейских общин из 42 стран Европы и<br />

Северной Африки. Некоторые общины (Россия, Украина ит.д.)<br />

Neue jüdische Jugendgruppe in <strong>Wien</strong><br />

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und engagiert ist.<br />

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Dann senden Sie bitte Ihre Bewerbungsunterlagen<br />

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Bei Fragen wenden Sie sich bitte an:<br />

Dina Margules-Rappaport unter 0664/124 2992<br />

Liste der Extraneii in den Kommissionen<br />

Kommission für Kultusangelegenheiten<br />

Elie Natanov, Avi Malaev, Roni Ungar-Klein<br />

Kommission für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit<br />

Hanna Morgenstern, Shalom Alfandari, Ruth Freyer,<br />

Timothy Smolka, Azaria Aronbaew, Judith Scheer,<br />

Barbara Jehudit Michel<br />

Kommission für Finanzen und<br />

Personalangelegenheiten:<br />

Leo Gottfried, Laszlo Zelmanovic, Erwin Steiner, KV<br />

Robert Sperling, KV Josef Guttmann, KV Bernhard Bauer,<br />

Rafael Gilkarov, Avihay Shamuilov, Josef Slomovits<br />

Kommission für soziale Angelegenheiten:<br />

Hanna Morgenstern, Karl Vybiral, Slavik Jakubov,<br />

Ahron Samandarov<br />

Kommission für Bildungswesen<br />

Daniel Rubinov, Susan Rotter<br />

Kommission für Immobilienangelegenheiten,<br />

Gebäudeverwaltung und Technik<br />

Peter Maier<br />

Kommission für Jugend und Sport<br />

Nicole Kürzer, 7 Vertreter (wechselnd) von 5 Jugendor ga -<br />

nisationen + 2 Sportorganisationen<br />

Redaktionskommission für die Medien der<br />

<strong>Kultusgemeinde</strong><br />

Olivia Dirnberger-Pixner, Rafael Schwarz<br />

Kommission für Frauen und Familie<br />

Irma Pani<br />

8 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

1938<br />

Finis Austriae. <strong>Wien</strong> im Frühjahr 38 und die Folgen<br />

Von L. Joseph Heid<br />

Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit<br />

Chronologie 1938<br />

Skandale und tabuisierte Vergangenheit<br />

Literatur zum „Anschluss“<br />

DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 9


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Finis Austriae. <strong>Wien</strong> im Frühjahr 38 und die Folgen<br />

Im März des Jahres 1938 vollzog<br />

Hitler die großdeutsche Lösung, von<br />

der viele Nationalisten im deutschen<br />

Kultur- und Sprachraum seit den Bis -<br />

marck-Tagen geträumt hatten. Hitler<br />

holte am 15. März 1938 im Hand streich<br />

seine alte Heimat, wie er es vor den<br />

hun derttausenden enthusiasmierten<br />

<strong>Wien</strong>ern und vor der Weltgeschichte<br />

offiziell und großspurig verkündete,<br />

Heim ins Reich. Das Großdeutsche<br />

Reich nahm von der Donaumetropole<br />

seinen unseligen Aus gang, und keine<br />

Gewehrkugel musste dafür ihren Lauf<br />

verlassen. Es waren die „dröhnenden<br />

Akkorde ei nes nationalen Gebets“,<br />

wie Joseph Goeb bels, der hinkende<br />

Pro pagan da mi nis ter, in seiner ge -<br />

wohnt blu migen Agitations sprache<br />

meinte, <strong>als</strong> er den Einzug des Österreichers<br />

Adolf Hitler in die österreichische<br />

Hauptstadt <strong>Wien</strong> für den großdeutschen<br />

Rund funk kom mentierte:<br />

„So ist aus den un end li chen Qualen des<br />

deutschen Volkes in Ös terreich am Ende<br />

doch die Erlösung ge kom men“. Und der<br />

„Er lö sung“ sollte die „Endlösung“<br />

auf dem Fuße folgen, zunächst verbal,<br />

doch bald schon final.<br />

Schreckensherrschaft<br />

Während sich in den stürmischen<br />

März tagen des Jahres 1938 in Österreich<br />

die politischen Ereignisse überschlugen,<br />

lag der große Sohn der Stadt<br />

<strong>Wien</strong>, Sigmund Freud, der Begründer<br />

der Psychoanalyse, auf der Couch in<br />

seiner Praxis in der Berggasse 19, dort<br />

wo sonst seine Patienten sich Linde -<br />

rung von ihren Seelenqualen erhofften,<br />

um sich wieder einmal von einer Ra -<br />

chen-Operation zu erholen. Schon des<br />

öfteren war er des Gaumenkrebses<br />

we gen im Mund operiert und wieder<br />

REDE DES REICHSMINISTERS,<br />

JOSEPH GOEBBELS, IN DER<br />

NORDWESTBAHNHALLE IN WIEN<br />

<strong>Wien</strong>er Neueste Nachrichten,<br />

Abendausgabe, 30. 3. 1938<br />

„Ich komme jetzt auf das Juden pro -<br />

blem. (Stürmischer Beifall.)<br />

Wenn man heute die Auslandspresse<br />

liest, so kommt man zu dem Ein druck,<br />

<strong>als</strong> ob sich in <strong>Wien</strong> täglich ein paar<br />

tausend Juden erhängen, er schießen<br />

oder vergiften. Es ist gar nicht an dem.<br />

Es sind in <strong>Wien</strong> augenblicklich nicht<br />

mehr Selbstmorde zu verzeichnen <strong>als</strong><br />

früher, nur mit dem Unterschied: Frü -<br />

her haben sich nur Deutsche er schossen,<br />

und jetzt sind auch Juden darunter.<br />

Daß wir die Juden aus der Presse<br />

und dem Thea ter entfernen, das versteht<br />

sich am Rande.“ DÖW Bibliothek 17.171<br />

einmal war ihm „unentwegt“ Ra di -<br />

um „ins Maul“ gegeben worden, wie<br />

er voller Sarkasmus kommentierte.<br />

Am 12. März 1938 hörte Freud im<br />

Ra dio, wie die deutsche Wehrmacht<br />

in Österreich einmarschierte. Er hörte<br />

tapfere Widerstandserklärungen, auf<br />

die der Zusammenbruch folgte, den<br />

Jubel auf der einen Seite und dann<br />

auf der anderen. Da er, der Analyst, im<br />

Sprechen behindert war, griff er ge -<br />

zwungenermaßen zur Feder. Am 13.<br />

März 1938 notierte Freud in der „Kür -<br />

zesten Chronik“, wie er sein Ta ge buch<br />

nannte: „Anschluss an Deutsch land“.<br />

Und einen Tag später der Ein trag:<br />

„Hit ler in <strong>Wien</strong>“. Und eine Wo che später<br />

dann: „Anna bei Gestapo“.<br />

Die Schreckensherrschaft begann,<br />

ei ne widerliche Mischung aus ge planten<br />

„Säuberungen“ der Deut schen<br />

und den spontanen lokalen Aus brü -<br />

chen grausamer Vergnügun gen –<br />

Terror gegen Sozialdemokraten, vor<br />

allem gegen Juden. Freud hatte seine<br />

Landsleute unterschätzt: Ende 1937<br />

hatte er die Österreicher noch <strong>als</strong> nicht<br />

weniger brutal <strong>als</strong> die Deutschen charakterisiert.<br />

Tatsächlich zeigten sie sich<br />

williger <strong>als</strong> ihre Nazivorbilder bei der<br />

Misshandlung von Hilflosen.<br />

Was in Österreich im März 1938 ge -<br />

schah, war zum großen Teil ein Aus -<br />

bruch des Pöbels, der sich an jüdischem<br />

Eigentum bereichern wollte. In<br />

diesem unerhörten Raubzug wurden<br />

tausende Wohnungen, Geschäfte, Be -<br />

triebe und andere Unterneh mun gen,<br />

die Juden gehörten, „arisiert“. Es kam<br />

in <strong>Wien</strong>, wo zu diesem Zeitpunkt et -<br />

wa 175.000 Juden lebten, zu wüsteren<br />

antisemitischen Ausschreitungen, <strong>als</strong><br />

es sie bis dahin in Nazideutschland<br />

selbst nicht gegeben hatte. Die Zwi -<br />

schen fälle auf den Straßen österreichischer<br />

Städte und Dörfer unmittelbar<br />

nach der deutschen Invasion waren<br />

ab scheulicher <strong>als</strong> alle, die man bis<br />

dahin in Hitlers Reich erlebt hatte.<br />

Österreich im März 1938, das war so -<br />

zu sagen eine Generalprobe für die<br />

deutschen Pogrome im kommenden<br />

November. Der Dramatiker Carl Zuckmayer,<br />

der in diesen Tagen zu fällig in<br />

<strong>Wien</strong> war, beschreibt seine Eindrücke<br />

so: „Die Unterwelt hatte ihre Pforten<br />

aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten,<br />

unreinsten Geister losgelassen.<br />

Die Stadt verwandelte sich in ein Alp -<br />

traumg emälde des Hieronymus Bosch. ...<br />

Die Luft war von einem unablässig gellenden,<br />

wüsten, hysterischen Gekreische<br />

erfüllt, aus Männer- und Weiber keh len...“<br />

<strong>Wien</strong>er Pöbelspaß<br />

Treffender konnte man die <strong>Wien</strong>er<br />

Luft in dieser Zeit nicht charakterisieren.<br />

Einen dieser Exzesse erlebte der<br />

später international bekannt gewordene<br />

aus <strong>Wien</strong> stammende Historiker<br />

und Jakobiner-Forscher Walter Grab,<br />

der freilich zu diesem Zeitpunkt seine<br />

akademische Karriere noch vor sich<br />

und gerade an der Universität <strong>Wien</strong><br />

sein Studium aufgenommen hatte.<br />

10 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Auch wenn seine Schilderung, die er<br />

in seinen Erinnerungen (Walter Grab:<br />

Meine vier Leben. Gedächtnis künst -<br />

ler, Emigrant, Jakobinerforscher, De -<br />

mo krat, Köln 1999) ebenso plastisch<br />

wie drastisch festgehalten hat, an un -<br />

an genehmer Derbheit kaum zu überbieten<br />

ist, verdeutlicht sie doch den<br />

alltäglichen aus den Fugen geratenen<br />

Judenhass, der auf den <strong>Wien</strong>er Straßen<br />

des Jahres 1938 zum Ausdruck kam:<br />

Am Nachmittag des 25. April 1938<br />

ist Grab auf dem Weg nach Hause. In<br />

der Nähe seiner Wohnung befindet<br />

sich im Keller des Hauses Liechten -<br />

stein straße 20 ein jüdisches Turn heim.<br />

Als er in die Nähe des Hauses kommt,<br />

wird er von Nazis aufgehalten, die<br />

ihn fragen, ob er Jude sei, und ihn<br />

dann in den Keller stoßen. In dem Vor -<br />

raum des Turnsa<strong>als</strong> erblickt er et wa<br />

25 Juden, die die Nazis vor ihm zu -<br />

sam mengefangen haben und die sich<br />

in einer Ecke zusammendrängen. Der<br />

große Turnsaal, und auch dieser Vor -<br />

raum, ist – mit Verlaub, man glaubt es<br />

kaum – vollständig angeschissen.<br />

Boden und Wände sind mit Kot völlig<br />

bedeckt, es stinkt bestialisch. Ein ganzes<br />

Regiment SA oder irgendwelche<br />

anderen Nazis müssen dort ihre Not -<br />

durft verrichtet haben, und zwar kurz<br />

bevor man die Juden dort zu sam -<br />

mengepfercht hat. Außer den Juden<br />

stehen noch 15 oder 20 Nazis in den<br />

Umkleideräumen. Weitere Juden wer -<br />

den nach und nach in die Keller räu me<br />

gestoßen.<br />

Für die Nazis ist das ein Riesenspaß,<br />

weil sie jetzt an den hilflosen Juden<br />

ihr Mütchen kühlen können. Sie la -<br />

chen die verängstigten Juden aus und<br />

verspotten sie. Schließlich tritt einer<br />

vor und sagt: „So verdreckt habt ihr<br />

Ju den uns euer Turnheim überlassen. Da<br />

sieht man wieder, wie dreckig Juden sind.<br />

Und jetzt müsst ihr das auflecken“.<br />

Das barbarische Verhalten der Na zis<br />

erweist sich zunächst <strong>als</strong> ein makab -<br />

rer Jux. Sie dachten sich das aus, um<br />

die Juden zu demütigen und zu er -<br />

niedrigen. Das ist keine befohlene<br />

Ak tion wie der Judenpogrom vom 9.<br />

November, nein, das ist echter <strong>Wien</strong>er<br />

Pöbelspaß. Grab und seine zufällige<br />

Bekanntschaft mit anderen <strong>Wien</strong>er<br />

Ju den sind der Willkür dieser Nazis<br />

überlassen und ihm geht durch den<br />

Kopf: Wie kann man diesen Nazikot<br />

auflecken?<br />

Und dann ruft einer: „Also los, an die<br />

Arbeit!“ Einige Juden versuchen, den<br />

Kot mit den Händen zusammenzuscharren<br />

und in die Muscheln des Klosetts<br />

hinzuwerfen, aber das er weist<br />

sich <strong>als</strong> unmöglich. Schließlich bringt<br />

ein Nazi eine Schaufel, einen Besen,<br />

einen Eimer und einige Lappen. Grab<br />

hat rasende Angst, in diesem Keller<br />

von dem Nazipöbel erschlagen zu<br />

wer den, nimmt einen Lappen in die<br />

Hand und versucht, sich hinter den<br />

an deren Juden zu verkriechen. Das<br />

gan ze schaurige Spektakel dauert et -<br />

wa zwanzig Minuten.<br />

Während Grab dort hockt und sich<br />

bückt, um sich in seiner Angst so un -<br />

scheinbar wie möglich zu machen, er -<br />

hebt er die Augen, und sein Blick trifft<br />

genau den Blick eines dieser lachenden<br />

Nazis, die mit ihren braunen Hemden<br />

und Hakenkreuzbinden herumstehen.<br />

Und den erkennt er sofort! Es ist ein<br />

Klassenkamerad aus der Volksschule,<br />

dieser Nazi ist ein Junge, mit dem er<br />

die vier Jahre der Grundschule in dieselbe<br />

Klasse gegangen war.<br />

Dieser ehemalige Klassenkamerad er -<br />

kennt Grab im selben Augenblick, <strong>als</strong><br />

ihm klar wird, wen er vor sich hat.<br />

Dieses Erkennen ist ihm unangenehm<br />

und peinlich. Grab spürt, dass er nicht<br />

ihn, <strong>als</strong>o den Juden Grab, den er<br />

kennt, erniedrigen und verhöhnen<br />

will, sondern den anonymen jüdischen<br />

Popanz des nazistischen Ras -<br />

sen wahns. Der Jude ganz allgemein<br />

ist das „Ungeziefer“, das man zertreten,<br />

vernichten muss, aber den Schul -<br />

kameraden Walter Grab, den kennt er<br />

<strong>als</strong> Mitmenschen, den hat er nicht<br />

gemeint. Dies begreift Grab in der<br />

Sekundenschnelle, <strong>als</strong> beide Blicke<br />

sich treffen. Da erhebt er sich, wirft<br />

den Lappen weg, geht auf den Peini -<br />

ger zu und sagt in seinem breitesten<br />

<strong>Wien</strong>erisch: „Geh, hörst, Lichteneg ger,<br />

du kennst mi doch, lass mi raus da!“ Der<br />

Angesprochene schlägt die Au gen nieder,<br />

reißt von einer Zeitung, die herumliegt,<br />

um den Kot einzuwickeln,<br />

ein Stück vom Rand weg und schreibt<br />

darauf: „Der Jude kann raus“.<br />

Grab eilt nach Hause und hat nur<br />

noch einen Gedanken, dieses antisemitisch<br />

aufgeladene Österreich zu<br />

ver lassen und sich um die Auswan de -<br />

rungspapiere für Palästina zu kümmern.<br />

Die Nazis haben ein eigenes „Wande<br />

rungsamt“ in der Wehrgasse im<br />

fünften Bezirk errichtet, wo die jüdischen<br />

Auswanderer die Bewilligung<br />

zur Ausreise in den Pass eingestempelt<br />

erhalten. Als Grab zum ersten Mal<br />

gegen zehn Uhr morgens hinkommt,<br />

stehen dort etwa tausend Ju den und<br />

er erfährt, dass am Tage zuvor die<br />

Nazis mit Lastwagen vorge fahren<br />

waren und die Juden, die auf Einlass<br />

warteten, aufgeladen hätten. Einige<br />

behaupten, dass sie in Nazi hei men<br />

verprügelt und dann freigelassen<br />

worden seien, während andere meinen,<br />

sie wären gleich nach Da chau<br />

gebracht worden.<br />

Grab bekommt zwar den für die Aus -<br />

reise nötigen Hakenkreuz stem pel,<br />

muss aber einen vorgedruckten Schein<br />

unterschreiben und sich ehren wört lich<br />

verpflichten, niem<strong>als</strong> mehr den Bo den<br />

des Deutschen Reiches zu betreten.<br />

Es besteht eine starke Ironie da rin,<br />

dass das Ehrenwort eines 19-jähri gen<br />

noch nicht majorennen Jungen den<br />

Nazibehörden mehr galt <strong>als</strong> die mit<br />

dem Hakenkreuz geschmückte Aus -<br />

reisebewilligung.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 11


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Psychologische Nüch ternheit<br />

Mit dem Schriftsteller Arnold Zweig<br />

pflegte Sigmund Freud seit dem Jahre<br />

1927 einen intensiven Briefwechsel,<br />

aus dem eine tiefe Freundschaft wur -<br />

de. Zwölf Jahre tauschten diese Män -<br />

ner ihre Gedanken über Themen aus,<br />

die für jene dramatische Epoche signifikant<br />

waren: zeitgenössische Li te ra tur,<br />

die sogenannte Judenfrage, ihre Re aktionen<br />

und Unruhe angesichts der Be -<br />

drohung durch den Fa schis mus, das<br />

Leben im Exil. Es war ein Werk statt -<br />

gespräch zwischen ei nem universell<br />

gebildeten Schriftsteller, den die So -<br />

zial psychologie faszinierte und ei -<br />

nem Gelehrten, der, ausgestattet mit<br />

einem Stil makelloser Rein heit, große<br />

deutsche Prosa schrieb. Eine Korres -<br />

pon denz, die es in sich hat.<br />

Obwohl immer noch unter heftigen<br />

Schmerzen leidend, die er mit er staunlichem<br />

Stoizismus ertrug, nahm Freud<br />

seine Arbeit wieder auf und es traten<br />

jene Ereignisse ein, wie er Zweig am<br />

21. März 1938 mitteilte, die, „Welt ge -<br />

schichte im Wasserglas“, sein Leben<br />

verändern. „Ich konnte beim Radio lauschen<br />

der Kampfansage wie dem Ver zicht,<br />

dem einen Jubel und dann dem Gegen -<br />

jubel.“ Der deutschen Wehrmacht<br />

Einmarsch in Österreich liest sich bei<br />

Freud dann in psychologischer Nüch -<br />

ternheit so: „Im Laufe dieser ‚eventful<br />

week’ haben mich die letzten meiner we -<br />

ni gen Patienten verlassen“.<br />

Freud wusste um die Gefahr, die<br />

vom Nation<strong>als</strong>ozialismus ausging. Er<br />

hatte die Entwicklung in Deutschland<br />

aus der österreichischen Perspektive<br />

genau beobachtet und deswegen auch<br />

seinem Freund Zweig zur Emigration<br />

nach Palästina geraten, <strong>als</strong> die beiden<br />

sich über die politische Lage ausgesprochen<br />

und am 13. Mai 1933 in <strong>Wien</strong><br />

voneinander verabschiedet hatten.<br />

Freud war es, der Zweig von der „Toll -<br />

heit“ zurück hielt, nach Berlin zurück<br />

und damit in den Tod zu gehen.<br />

Zweig emigrierte Ende 1933 nach Pal -<br />

äs tina, nach Haifa.<br />

Unfreiwilliger Abschied<br />

Finis Austriae: Als Hitler, der des po ti -<br />

sche Feldherr, aus Braunau am Inn ge -<br />

bürtig, am 15. März 1938 den Wie ner<br />

Heldenplatz betrat, Freuds Toch ter<br />

Anna von der Gestapo verhört und in<br />

Wohnung und Praxis des Hauses in<br />

der Berggasse eine Hausdurch su -<br />

chung durchgeführt wurde, war für<br />

Freud der Zeitpunkt gekommen, „das<br />

Gefängnis“ <strong>Wien</strong> zu verlassen, um in<br />

Freiheit zu sterben. Gerettet auch sei ne<br />

Hauptsachen: die Bibliothek, die<br />

Samm lungen, das Archiv. Der 82-jähri<br />

ge Freud zog Bilanz: „Ich vergleiche<br />

mich manchmal mit dem alten Jakob, den<br />

seine Kinder auch im hohen Alter nach<br />

Ägypten mitgenommen haben. ... Hof -<br />

fentlich folgt nicht darauf wie dereinst<br />

ein Auszug aus Ägypten“. Und schließlich:<br />

„Es ist Zeit“, so Freud in bib li scher<br />

Metaphorik, „dass Ahasver irgend wo<br />

zur Ruhe kommt“.<br />

20 Maresfield Gardens N.W. 3 im<br />

Lon doner Stadtteil Hampstead wur de<br />

des Menschenforschers Freud letztes<br />

Domizil, wo er in freier Luft und im -<br />

stan de war, wie er seinen Schrift stel -<br />

ler freund Arnold Zweig in dessen<br />

Haifaer Exil tröstete, wieder aus dem<br />

Fenster zu blicken, ohne die „Rotten<br />

des menschlichen Abfalls“ zu sehen.<br />

Nicht einmal eine Intervention des<br />

„Kulturhelden“ Mussolini - dem Freud<br />

im Jahre 1933 ein Widmungs exem plar<br />

von „Warum Krieg?“, wie er einen<br />

Briefwechsel mit Einstein tituliert und<br />

dem Duce zum Geschenk ge macht<br />

hatte –den 82-jährigen Greis doch in<br />

seiner Wohnung in der Berg gasse 19<br />

im neunten <strong>Wien</strong>er Bezirk zu belassen<br />

und ihn nicht davon zu jagen, vermochte<br />

den obsessiven Amts kol le gen<br />

in Berlin umzustimmen.<br />

Zweig war erleichtert, <strong>als</strong> er von<br />

Freuds Abreise aus <strong>Wien</strong> erfuhr. Er<br />

tröstete seinen väterlichen Freund mit<br />

den ihm eigenen Worten: „Und obwohl<br />

mein Unglaube an das gute Ablaufen der<br />

Dinge noch nicht ganz behoben ist, will<br />

ich doch denken, nach all dem Fürchter li -<br />

chen werde jetzt endlich diese kleine<br />

Schick s<strong>als</strong>gnade klappen. Und so: beide<br />

Hände und aus heißem Herzen die alte<br />

dumme Formel: Gottseidank!“<br />

Zweig richtete sogleich den Blick<br />

auf die Zukunft und glaubte dem<br />

See lenarzt Freud mit biblischer An -<br />

spielung psychologischen Rat geben<br />

zu können: „Aber was auch verloren sei,<br />

was auch neu aufgebaut werden müsse:<br />

Sie sind draußen und sehn auf die rauchen<br />

den Trümmer zurück wie die Ent -<br />

flohenen von Sodom ...“ Für die Nazis,<br />

die in <strong>Wien</strong> eingefallen waren, hatte<br />

Zweig nur ein obszönes „Schurken -<br />

pest“ übrig, nicht ohne die Österreicher<br />

anzuklagen: „Welch ein Jammer<br />

und was für Tragödien! Und dass Ihr alle<br />

so lange, Schuschnigg-gläubig in einer<br />

Stadt sitzen bliebt, bis der Müll Euch wie<br />

eine Lawine zudeckte!“ Das war deutlich.<br />

London war ihm nicht <strong>Wien</strong>. Seine<br />

erste Bilanz fiel eher nüchtern aus.<br />

Freud schrieb Ende Juni 1938: „Es geht<br />

uns sehr gut, ginge uns sehr gut, wenn<br />

nicht die angreifenden Nachrichten aus<br />

<strong>Wien</strong>, die unausgesetzten Anforde run gen<br />

zu helfen, durch die man nur immer an<br />

die eigene Ohnmacht gemahnt wird, jedes<br />

Gefühl von Behagen ersticken würden. Es<br />

ist kein Stoff für einen kurzen Brief“.<br />

Kann jemand seine Trauer, sein Un be -<br />

hagen mit so wenigen Worten besser<br />

ausdrücken?<br />

Am 11. Mai 1939 wurde Arnold<br />

Zweig von Eleanor Roosevelt ins<br />

Weiße Haus eingeladen. Auf dem<br />

Rück weg nach Haifa nahm er einen<br />

Um weg über London, um seinen „Vater<br />

Freud“ ein letztes Mal zu se hen.<br />

Freud überreichte seinem Zieh sohn<br />

ein druckfrisches Exemplar der religionsphilosophischen<br />

Abhand lung<br />

„Der Mann Moses und die monotheistische<br />

Religion“, an deren Entste -<br />

hung und Fortkommen Zweig nicht<br />

ganz un beteiligt gewesen war. Das<br />

Buch trug eine fast zärtliche Wid -<br />

mung: „Sei nem lieben Meister<br />

Arnold 1939 Sigmund Freud“.<br />

12 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Beim Abschied in London legte<br />

Zweig Freud die Frage vor, wie er nach<br />

allem den Menschen nun einschätze,<br />

ob er ihn für mehr dumm halte oder<br />

für mehr schlecht. „Mehr schlecht“, antwortete<br />

der sterbenskran ke Greis, den<br />

der nagende Schmerz in seinem Kie -<br />

ferknochen lakonischer gemacht<br />

hatte, <strong>als</strong> er von Natur war.<br />

Sigismund Schlomo Freud, so der<br />

vollständige Name, starb am 23. Sep -<br />

tem ber 1939, drei Wochen nachdem<br />

das nation<strong>als</strong>ozialistische Deutsch land<br />

einen weiteren Weltkrieg entfesselt<br />

hatte. Auf die Frage, ob er glaube, dass<br />

dies der letzte Krieg der Menschheit<br />

sein werde, hatte Freud nur ein mü -<br />

des „mein letzter“, übrig. Ansonsten<br />

ließ er zu dem gegenwärtigen Krieg<br />

kein Wort mehr vernehmen, er hatte<br />

alles bereits 1932 im Gespräch mit Al -<br />

bert Einstein gesagt und das Uner klärliche<br />

damit erklärt, dass keinerlei ab -<br />

schreckende Wirkung vom Krieg aus -<br />

gehe, eher eine ansteckende. Zweigs<br />

letzter schriftlicher Briefwunsch vom<br />

9. September 1939 an Freud galt dem<br />

Sturz „unserer“ Feinde - den „Hun -<br />

nen“ und den „Hitleriern“.<br />

Fokus <strong>Wien</strong><br />

Warum <strong>Wien</strong>? Gerade <strong>Wien</strong>! Des we -<br />

gen <strong>Wien</strong>, weil hier Adolf Eich mann<br />

das „Sonderkommando des SD-Re fe -<br />

ra tes II-112“ entwickelte. Diese Ein -<br />

richtung diente <strong>als</strong> „Vorzeigemodell“<br />

nation<strong>als</strong>ozialistischer „Juden poli tik“,<br />

das den euphemistischen Namen<br />

„Zen tr<strong>als</strong>telle für die jüdische Auswan -<br />

de rung“ trug. Das war jene Behörde,<br />

mit der sich erst die Massenvertrei -<br />

bung und danach die Deportation in<br />

die Vernichtungslager organisieren<br />

ließ. Indem die jüdischen Organisa -<br />

tio nen des „heim ins Reich geholten“<br />

Ös terreich den neuen Machthabern<br />

vollkommen, will sagen: ohnmächtig,<br />

ausgeliefert waren und die jüdische<br />

Ad ministration gänzlich umstrukturiert<br />

werden musste, kann die <strong>Wien</strong>er<br />

<strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong> unter<br />

nation<strong>als</strong>ozialistischer Herrschaft <strong>als</strong><br />

Prototyp der späteren Judenräte be -<br />

zeich net werden. Aber es ist f<strong>als</strong>ch,<br />

sie <strong>als</strong> jüdische Führung zu betrachten,<br />

weil sie über keine eigenständige<br />

Macht verfügte.<br />

Der fokussierte Blick auf <strong>Wien</strong> auch<br />

deshalb, weil gerade in der Donau metropole,<br />

wie kaum irgendwo sonst,<br />

die Verbrechen an Juden <strong>als</strong> gesell -<br />

schaft li ches Ereignis, dessen Fort -<br />

schrit te in den Zeitungen jubelnd vermeldet,<br />

des sen Erfolge in öffentlichen<br />

Raub zü gen, Verächtlichma chung und<br />

De mü ti gungen in Prügelorgien, in<br />

Po gro men, wie etwa im November<br />

1938, mit Mor den, Brandlegungen und<br />

Ver ge wal ti gun gen gefeiert wurden.<br />

Auch waren die <strong>Wien</strong>er Juden nicht<br />

Opfer einer von außen kommen den<br />

Po litik: Jene Aus schreitun gen und<br />

Raub züge, die bisher in Deutschland<br />

(noch) un vorstellbar waren und nunmehr<br />

das ganz besondere Ambiente<br />

des nazis ti schen <strong>Wien</strong>s ausmachten,<br />

setzten nicht erst mit dem Einmarsch<br />

der Deut schen ein – es war bereits<br />

vorhanden.<br />

Der im vorauseilenden Gehorsam<br />

an den Tag gelegte Arbeitseifer, die<br />

Schnel ligkeit und Pedanterie, mit de -<br />

Razzia in der Seitenstettengasse<br />

„Da war a Jud im Gemeindebau, a<br />

gewisser Tennenbaum, sonst a netter<br />

Mensch..., da ham's g'schrieben<br />

g'habt auf de Trottoir... und der Ten -<br />

nenbaum hat des aufwischen müs -<br />

sen...net er allan, de andern Juden<br />

eh aa. Hab i ihm hing'führt, daß er's<br />

aufwischt, und der Haus master hat<br />

zuagschaut und hat g'lacht, er war<br />

immer bei aner Hetz dabei."<br />

Helmut Qualtinger, Carl Merz, Der Herr Karl<br />

nen im <strong>Wien</strong> des Jahres 1938 antijüdische<br />

Maßnahmen, Erlasse und Geset ze<br />

beschlossen und durchgeführt wurden,<br />

führt die sprichwörtliche Schlampigkeit<br />

oder Langsamkeit der <strong>Wien</strong>er<br />

Bürokratie geradezu ad ab sur dum.<br />

Und das ist ein erstes bemerkenswertes<br />

Ergebnis der Untersuchung, mit<br />

der Doron Rabinovici den Weg zum<br />

Judenrat, den er am Beispiel <strong>Wien</strong> aufzeigt,<br />

beschrieben hat. (Doron Rabi -<br />

no vici: Instanzen der Ohnmacht. <strong>Wien</strong><br />

1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Jü -<br />

discher Verlag im Suhrkamp Verlag,<br />

Frankfurt am Main 2000). Nicht dass<br />

Opfer zu Tätern werden können, sondern<br />

dass Opfer nach 1945 strenger<br />

<strong>als</strong> ihre Täter verurteilt wurden und<br />

so weiterhin Opfer blieben, ist der ei -<br />

gentliche Skandal, den Rabinovici<br />

dargestellt – und aufgedeckt – hat.<br />

Das diabolische Täuschungs ma nö -<br />

ver der Nazi-Technokraten zielte ja<br />

gerade darauf ab, dass nicht die SS<br />

oder Gestapo, sondern die jüdischen<br />

Funktionäre die diskriminierenden<br />

Ge setze verkünden und vollziehen<br />

sollten, um letztlich die Vernichtung<br />

reibungsloser zu ermöglichen. Damit<br />

wurde die jüdische Gemeinde ge -<br />

zwun genermaßen zum Werkzeug der<br />

Nazis, zum „Agenten der eigenen Ver -<br />

nichtung“, wie es Dan Diner einmal<br />

ausgedrückt hat, indes, anders formuliert,<br />

die gedrungenen jüdischen<br />

Ju denräte war nichts anderes <strong>als</strong> Gei -<br />

seln der Nazis.<br />

Legalisierter Raubzug<br />

Die moralischen Uhren in Österreich<br />

ticken anders: Es bedurfte erhebli chen<br />

internationalen Drucks, dass sich die<br />

Alpenrepublik nunmehr endlich zu<br />

ent schließen scheint, Wieder gut ma -<br />

chungsansprüche nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Unrechts zu befriedigen. Scheint,<br />

wohlgemerkt, oder scheinbar. Das gilt<br />

namentlich für die Enteignung der<br />

Ju den in <strong>Wien</strong> durch die Bevölkerung<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 13


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

und die behauptete Restitution, die in<br />

ein öffentliches Interesse gerückt ist.<br />

Doch zur Rückgabe geraubter Kunst -<br />

ge genstände braucht die Republik<br />

mit einem Mal gar ein Ermächti gungs -<br />

gesetz: Rechtsanspruch erwächst den<br />

Geschädigten daraus freilich nicht,<br />

doch darf das zuständige Ministe ri um<br />

nun hochoffiziell entscheiden, ob es<br />

die einst gestohlenen Objekte zurück -<br />

ge ben will oder nicht. Tina Walzer und<br />

Stephan Templ haben sich in ihrer<br />

Un tersuchung „Unser <strong>Wien</strong>. ‚Arisie -<br />

rung’ auf österreichisch“ (Auf bau-<br />

Verlag, Berlin 2001) mit diesem sensiblen<br />

Thema beschäftigt. „Ari sie rung“<br />

und „Wiedergutma chung“ auf „öster -<br />

reichisch“, so scheint es, sind zwei<br />

Seiten einer Medaille.<br />

Unmittelbar nach der „Heim ho lung“<br />

ins „Großdeutsche Reich“ im März<br />

1938 begann ein einzigartiger „legalisierter“<br />

Raubzug der Nazis gegen die<br />

gesamte jüdische Bevöl ke rung, der<br />

anfangs ein solch anarchis tisches Aus -<br />

maß annahm, dass selbst die Nazis in<br />

das Chaos eingreifen muss ten. Unter<br />

einem erfundenen Sys tem der Pseu -<br />

do rechtmäßigkeit klangen moralisch<br />

schlechte Hand lun gen auf einmal gut:<br />

Allein in <strong>Wien</strong> wurden 70.000 Woh -<br />

nun gen, unzählige Betriebe und Ge -<br />

schäfte „arisiert“. <strong>Wien</strong>s Ikonen – das<br />

Erbe von Johann Strauss, Staatsoper<br />

und Kronen-Zei tung, Wagner-Villen<br />

und Wurstlpra ter, Ringstraßenpalais<br />

und Ottakringer bier, all das und noch<br />

viel mehr, wurden 1938/39 „anständig<br />

enteignet“ und bis heute oft nicht<br />

zurückgegeben. In den sarkastischen<br />

Worten Tina Wal zers und Stephan<br />

Templs liest sich das so: „Ob Prater bu -<br />

de, Promenadencafé oder Rie senrad – die<br />

jüdischen Besitzer wurden ermordet, das<br />

ANONYME ANZEIGE AN DEN GAULEITER<br />

JOSEF BÜRCKEL, O. D. (ENDE APRIL 1938)<br />

AVA, Bürckel-Akten, 2025 DÖW 9424<br />

/.../ Ist Ihnen bekannt, daß Juden in<br />

den Keller gesperrt, mit dem Er -<br />

schießen bedroht wurden, so daß sie<br />

dann noch froh waren, daß man<br />

ihnen le diglich den Kopf mit ... Teer<br />

einschmierte, dann das halbe Kopf -<br />

haar und die Augenbrauen herausschnitt,<br />

und der betreffende Jude mit<br />

dem Bemerken freigelassen wurde, er<br />

mö ge sich wohl hüten, irgend jemandem<br />

etwas davon zu erzählen, da es<br />

ihm sonst noch viel schlechter ergehen<br />

würde?/.../ Ist es Ihnen bekannt,<br />

daß am Samstag, den 23. April -<br />

nachdem die Juden bei den jüdischen<br />

Geschäften die Tafeln "Arier, kauft<br />

nicht bei Juden" zu halten gezwungen<br />

worden waren - /sie/ wie eine Horde<br />

zusammengetrieben wurden, ein Zug<br />

formiert wurde, wobei die Juden<br />

unter unbeschreiblichem Gejohle der<br />

immer größer werdenden Menge turnen<br />

etc. mußten, be spuckt und mit<br />

brennenden Zigaret ten verletzt wurden,<br />

daß die Anführer schließlich<br />

selbst erklärten, daß sie es momentan<br />

gar nicht wagen, die Ju den der Menge<br />

auszuliefern und sie deshalb länger <strong>als</strong><br />

beabsichtigt herumführen müssen -<br />

in den Straßen des II. Bezirkes -, und<br />

daß zum Schluß die Juden gezwungen<br />

wurden, im Chor zu sprechen: „Wir<br />

danken der SA, daß wir noch am Leben<br />

sind“?/.../ Ist es Ihnen bekannt, daß<br />

am Freitag, den 22. April aus einem<br />

ärmlichen Bet lo kal im XX. Bezirk,<br />

Gaußplatz, betende Juden herausgeschleppt<br />

und blutig ge schlagen wurden?<br />

(Hier hat das her beigerufene<br />

Über fallkommando interveniert.) /.../<br />

Was gegen die Geschäftsinhaber in<br />

allen Teilen <strong>Wien</strong>s veranstaltet wur -<br />

de, scheint Ihnen ja teilweise bekannt<br />

zu sein. Ist Ihnen auch bekannt, daß<br />

viele Ge schäfts schil der die Aufma lung<br />

erhielten: „Juden raus“ und in Klam -<br />

mer „Gö ring“?<br />

„Anschluß“ 1938. Eine Dokumentation, hrsg. v.<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />

Widerstandes, <strong>Wien</strong> 1988, S. 420-446.)<br />

Vergnügen ging weiter! Hauptsache, <strong>Wien</strong><br />

war wieder ein Stück „arischer“ geworden.<br />

Schlimmer noch: Nach 1945 wurden<br />

viele der geraubten Bauten, Kunstwerke<br />

und das Riesenrad im Prater zu nationalen<br />

Symbolen stilisiert, und eine Rückgabe<br />

wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen.“<br />

Es ist und bleibt eine Skandal chro -<br />

nik, dass die „Kulturgroßmacht“ Ös -<br />

terreich seit Jahrzehnten <strong>als</strong> identitäts<br />

stiftende Trophäen vermarktet,<br />

was Nazibonzen oder die Lumpen -<br />

bour geosie vor 70 Jahren in Besitz<br />

nah men.<br />

Die Frage der Rückgabe geraubten<br />

jüdischen Eigentums im österreichischen<br />

Rechtsbewusstsein ist immer<br />

noch ungeklärt und aktueller denn je.<br />

Einen konsequenten Bruch mit der<br />

Ver gangenheit hat es in Österreich nie<br />

gegeben. Im Gegenteil, Antisemitis -<br />

mus, manifest wie latent, blieb ein sa -<br />

lon fähiges Argument und war und ist<br />

immer noch in Politik, Justiz, Ge sell -<br />

schaft und Wirtschaft gleichermaßen<br />

präsent. Moralisches Umden ken<br />

müss te mit einer neuen juristischen<br />

Beurteilung verbunden werden. Wie<br />

viel glücklicher könnte Österreich<br />

doch sein, wenn es die Voraussetzung<br />

dafür schaffen würde, seine düstere<br />

Vergangenheit <strong>als</strong> aktiver, keineswegs<br />

gedungener Partner Nazi-Deutsch -<br />

lands bewältigte.<br />

Spätestens <strong>als</strong> Hitler am 15. März<br />

1938 auf dem <strong>Wien</strong>er Heldenplatz voll -<br />

mundig den Eintritt seiner früheren<br />

Heimat ins Großdeutsche Reich verkündete<br />

und aus einer Millionen ös -<br />

ter reichischer Kehlen die frenetischen<br />

„Heil“-Rufe ausgestoßen wurden,<br />

aller spätestens in diesem Au gen blick<br />

bewahrheitete sich ein Satz Thomas<br />

Manns, der lautet: „Man soll nicht vergessen<br />

und sich nicht ausreden lassen,<br />

dass der Nation<strong>als</strong>ozialismus eine enthusiastische,<br />

funkensprühende Revolution,<br />

eine deutsche Volksbewegung mit einer<br />

un geheuren seelischen Investierung von<br />

Glauben und Begeisterung war“. ■<br />

14 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

HINTERGRUNDINFORMATION:<br />

Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit<br />

In Österreich gab es zwischen 1938 und 1945 sowohl Op fer <strong>als</strong> auch Täter. Nach Kriegsende empfand sich allerdings<br />

jeder in irgendeiner Form <strong>als</strong> Opfer. Die ehemaligen Nation<strong>als</strong>ozia lis ten sahen sich <strong>als</strong> Opfer der Alliierten.<br />

Ein Hauptziel der Alliierten nach Kriegsende war, die Na tio n<strong>als</strong>ozialisten für ihre Verbrechen gerichtlich zu bestrafen<br />

und sie aus allen wichtigen Gesellschaftspositionen zu entfernen. Dieses Ziel wurde in den ersten drei Jahren<br />

nach Kriegsende intensiv durchgeführt, danach ließen die Entnazifierungs maß nahmen nach.<br />

In der österreichischen Unabhängig keitserklärung vom 27. April 1945 wurde ebenfalls der Opferstatuts festgeschrie -<br />

ben. Dadurch versuchte Österreich seine Verant wor tung an den national-sozialistischen Verbrechen zu verdrängen<br />

und Ent schädigungszahlungen an die Opfer abzuwehren. Der „Opfermythos“ bildete einen fixen Be standteil der<br />

österreichischen Geschichte.<br />

Die Themen „Nation<strong>als</strong>ozialismus“ und „Holocaust“ blie ben viele Jahrzehnte ein Tabuthema in Österreich. Da ran<br />

änderten auch die in regelmäßigen Abständen stattfindenden Skandale und Affären nichts. Erst <strong>als</strong> Folge der Wald -<br />

heim-Affäre (vor allem 1986-1988) und dem Jahr 1988 (Fünfzig Jahre „An schluss“) wurde das Thema „Natio nal so -<br />

zialismus in Österreich“ stärker thematisiert und er forscht.<br />

Das Resultat dieser Forschungen entzog dem „reinen Op ferstatus“ jegliche Grundlage: Ein großer Teil der Österreiche<br />

rinnen hat den „Anschluss“ 1938 begrüßt, zahlreiche Österreicher haben sich aktiv am Holocaust beteiligt, viele<br />

haben einfach nur zugeschaut.<br />

Diese Veränderung wirkt sich auch auf die Politik aus. 1991 bekannte Franz Vranitzky <strong>als</strong> erster Bundeskanzler of fi zi -<br />

ell die Mitschuld an nation<strong>als</strong>ozialistischen Ver bre chen. Durch die Gründung des Nationalfonds der Re publik Ös terreich<br />

für die Opfer des Nation<strong>als</strong>ozialis mus erhielten zahlreiche Opfer erstm<strong>als</strong> eine kleine finanzielle Entschä -<br />

digung. Gesetze über Entschädigungen für Zwangs arbeit und „arisiertes“ Vermögen folgten 2000 und 2001.<br />

Bereits ab 1933 spürten viele österreichische<br />

Künstler und Intellektuelle<br />

den Druck des aufkommenden Nazi -<br />

reiches und flohen, zumeist nach<br />

Eng land und in die USA. Doch nach<br />

dem „Anschluss“ fünf Jahre später<br />

er reichte jene Welle von Vertreibung<br />

prominenter jüdischer Vertreter des<br />

österreichischen Geisteslebens ihren<br />

Höhepunkt, die noch Jahrzehnte später<br />

Nachwirkungen zeigt. Sigmund<br />

Freud, Leon Askin, Oskar Kokoschka,<br />

Carl Djerassi - sie alle sind nur ein kleiner<br />

Teil jenes „Brain Drains“, der<br />

nach En de der Nazi-Herrschaft nicht<br />

wieder gutgemacht werden konnte,<br />

was nach Ansicht vieler nicht ausreichend<br />

probiert wurde. Der deutsche<br />

Ein marsch am 12. März und der formelle<br />

„Anschluss“ an Hitler-Deutsch -<br />

land am 10. April 1938 zeitigten einen<br />

Exo dus österreichischer Intellek tuel -<br />

ler ohne Gleichen. Wissenschaftler,<br />

Ärz te, Schriftsteller, Musiker und<br />

Film schaf fende kehrten Österreich<br />

den Rücken; ein Großteil, aber längst<br />

nicht alle wa ren jüdischer Herkunft.<br />

Viele sahen gar keinen anderen<br />

Ausweg, <strong>als</strong> aus dem Leben zu scheiden<br />

- wie der Ka ba rettist, Schrift stel -<br />

ler, Schauspie ler und Feuilletonist<br />

Egon Friedell.<br />

Am 12. März 1938 war SS-Chef<br />

Hein rich Himmler in Aspern bei <strong>Wien</strong><br />

ge lan det. Kaum hatte Himmler noch<br />

vor dem Morgengrauen einen Fuß auf<br />

öster reichischem Boden gesetzt, be -<br />

gannen die Säuberungen und De por -<br />

tationen. Unter den ersten, die sei ne<br />

Schergen in die Hände bekamen, war<br />

der damalige niederösterreichische<br />

Bauernbundchef und spätere Bun des -<br />

kanzler Leopold Figl. Am ersten April<br />

saß er bereits im Zug nach Da chau.<br />

Figl überlebte das KZ - und rechnete<br />

Jahre später einmal vor, dass<br />

„Österreich prozentuell der Welt die<br />

meisten Nobelpreisträger geschenkt“<br />

habe. Tat säch lich entließ etwa die<br />

Grazer Uni versität 1938 einen Medi -<br />

zin-No belpreisträger. Gegen Otto<br />

Loewis jü dische Abstammung kamen<br />

in den Augen der Nation<strong>als</strong>o zia listen<br />

auch die höchsten wissenschaftlichen<br />

Wei hen nicht an. Das Preis geld der<br />

Schwe dischen Akade mie der Wissen -<br />

schaf ten musste Loewi vor seiner<br />

Flucht <strong>als</strong> „Reichs fluchtsteuer“ dem<br />

Reich überlassen. Bis zum Jah res ende<br />

1939 verließen über 100.000 Juden<br />

Österreich ohne ihr Vermögen.<br />

Die österreichische Wissenschaft ver -<br />

lor in der Zeit nach dem „An schluss“<br />

vie le ihrer hellsten Köpfe. Carl Dje ras -<br />

si, der spätere Erfinder der Antibaby -<br />

pil le, floh 1938, der spätere Nobel -<br />

preis trä ger und Physiker Walter Kohn<br />

verließ das Land 1939 ebenso wie der<br />

spätere Neu ro wissenschafter und<br />

Nobel preis trä ger Eric Kandel. Zu Emi -<br />

granten wider Wil len wurden auch die<br />

No bel preis trä ger Erwin Schrödin ger<br />

und Victor Hess.<br />

Nur zehn Tage nach dem „An -<br />

schluss“ war auch die <strong>Wien</strong>er Univer -<br />

si tät „an geschlossen“. Allein an der<br />

Phi lo so phi schen Fakultät nahm da -<br />

nach ein Drittel der ordentlichen und<br />

die Hälf te der außerordentlichen Pro -<br />

fes soren ih re Arbeit nicht wieder auf.<br />

Auch dem Grundlagen-Mathe ma tiker<br />

Kurt Gödel, vom ‘Time’-Magazin zu<br />

einer der bedeutendsten Persön lich -<br />

keiten des 20. Jahrhunderts ge kürt,<br />

wurde die Leh re verboten. Obwohl<br />

nicht jü disch, verdächtigte der damalige<br />

Rektor ihn doch, nicht genügend<br />

„Bindung“ zum Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

zu haben. Gödel verließ Österreich<br />

und gelangte über zahllose Stationen<br />

in die USA.<br />

Nach der NS-Machtergreifung verlor<br />

die Uni <strong>Wien</strong> auch 42 Prozent ih rer<br />

Stu denten; 1.463 Jüdinnen und Juden<br />

wurden von der Uni vor dem Winter -<br />

semester 1938/39 vertrieben. 3.200 von<br />

4.900 Medizinern entzog man infolge<br />

des „Anschlusses“ wegen „rassischer<br />

Kriterien“ die Berufszulas sung. Auch<br />

die Selbstmordrate stieg signifikant im<br />

Jahr 1938. 500 Suizide wurden allein<br />

in der jüdischen Bevölke rung gezählt.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 15


1938<br />

Zu Beginn des Jahres 1938 änderte Hitler seine<br />

Politik gegenüber Österreich und übte immer<br />

mehr Druck auf Kanzler Schuschnigg aus.<br />

Da durch ermutigt, kam es immer häufiger zu<br />

Demon strationen von österreichischen Nazis für<br />

den Anschluss an das Deutsche Reich. Um das<br />

zu verhindern, setzte Schuschnigg für den 13. März<br />

eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit<br />

Österreichs an, zu der es allerdings nicht mehr<br />

kam.<br />

9.1.1938 - Bundeskanzler Kurt Schusch -<br />

nigg lehnt die deutsche und italienische<br />

Aufforde rung ab, Österreich solle aus<br />

dem Völ ker bund austreten und sich dem<br />

(1936 ge schlos se nen) Antikominternpakt<br />

anschließen.<br />

27.1.1938 - Aufdeckung des „Tavs-<br />

Plans“: Das von Leo Tavs ausgearbeitete<br />

NSDAP-Ak tionsprogramm für die Nazi-<br />

Macht über nah me in Ös terreich sah unter<br />

anderem provo ka torische Anschläge auf<br />

deutsche Diplo maten und Einrichtungen<br />

in <strong>Wien</strong> vor.<br />

31.1.1938 - Wie schon Tage zuvor, weist<br />

Bun deskanzler Kurt Schusch nigg die<br />

deut sche Forderung nach einem Beitritt<br />

Ös terreichs zum „Antikominternpakt“<br />

(Deutsch land-Japan-Italien) aberm<strong>als</strong> zu -<br />

rück.<br />

12.2.1938 - Hitler empfängt Schusch nigg<br />

auf dem Obersalzberg und zwingt Österreich<br />

in rüdem Ton ein Gleichschal tungs -<br />

ab kom men auf: Der Nation<strong>als</strong>ozia list<br />

Arthur Seyß-In quart muss zum Innen -<br />

minister er nannt und mit absoluter Poli -<br />

zei gewalt ausge stattet werden; Freilas -<br />

sung aller inhaftierten Na tio nal sozia lis ten;<br />

die im Ständestaat wegen NS-Betä ti gung<br />

entlassenen Beamten und Offi zie re müs -<br />

sen sofort auf ihre Posten zurückkehren.<br />

Die österreichische Außen- und Wirt -<br />

schafts po litik ist jener des Deut schen Rei -<br />

ches anzupassen. Der Bundes kanz ler fügt<br />

sich in der trüge ri schen Hoff nung, noch<br />

eine Atem pau se zu gewinnen.<br />

16.2.1938 - Bundeskanzler Schusch nigg<br />

trägt dem Ultimatum Hitlers Rech nung<br />

und bildet die Bundesre gie rung um: Der<br />

Natio nal so zialist Arthur Seyß-Inquart<br />

wird Innen- und Sicherheitsminister.<br />

17.2.1938 - Otto Habsburg, der älteste<br />

Sohn des letzten österreichischen Kaisers<br />

DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Karl I., richtet an Bun des kanzler Kurt<br />

Schusch nigg einen Brief mit der Auffor de -<br />

rung, ihm an ge sichts der nazideut schen<br />

Gefahr die Regie rungsgewalt zu übertragen.<br />

Er erhält am eine negative Ant wort.<br />

4.3.1938 - Im Auftrag Hitlers besteht der<br />

deutsche Staatssekretär Wilhelm Keppler<br />

in <strong>Wien</strong> auf Erfüllung der ul ti mativen Be -<br />

stim mun gen des Berch tes gadener Ab kommens<br />

vom 12.2. Der deutsche Militärat -<br />

taché Ge ne ral leut nant Muff meldet nach<br />

Berlin, dass ein Einsatz der österreichischen<br />

Exe kut ive gegen die National so zi al -<br />

isten nicht mehr denkbar sei.<br />

6.3.1938 - Zwischen Bundeskanzler<br />

Schusch nigg und dem neuen nation<strong>als</strong>o -<br />

zialis tischen Innenminister Seyß-In quart<br />

kommt es zu schweren Aus ein an dersetzun<br />

gen über die Umset zung des Ber ch tes -<br />

ga dener Ab kom mens (freie NS-Betä ti -<br />

gung innerhalb der Vaterländischen Front).<br />

Schusch nigg er wägt daraufhin die Ab -<br />

haltung einer Volksab stim mung.<br />

9.3.1938 - Bei seinem letzten öf fent li -<br />

chen Auf treten kündigt Bun des kanz ler<br />

Schusch nigg in einer Rede in Inns bruck<br />

für den 13.3. eine Volksabstim mung über<br />

die Unabhängigkeit Österreichs an.<br />

10.3.1938 - Hitler lässt die Österrei chi -<br />

schen Nation<strong>als</strong>ozialisten anwei sen, sich<br />

auf eine „kämpferische Aus ein an der set zung<br />

mit dem Schusch nigg-Regime“ einzustellen.<br />

Jubelnder Empfang - Am 12. März 1938<br />

überqueren Wehrmachtseinheiten die<br />

Grenze zu Österreich. Vom Balkon des<br />

Rathauses von Linz verkündet Adolf<br />

Hitler den Eintritt seiner Heimat in das<br />

Deutsche Reich. In <strong>Wien</strong> zieht Hitler<br />

bereits <strong>als</strong> neues Staatsoberhaupt ein.<br />

In einer De mar che der deutschen Bot schaft<br />

in <strong>Wien</strong> wird die Absage der ange kün -<br />

digten Volks ab stimmung über die Unab -<br />

hän gigkeit Österreichs verlangt.<br />

11.3.1938 - Nach dem von Hitler ul ti ma -<br />

tiv geforderten Rücktritt von Bun des kanz -<br />

ler Schuschnigg, der sich im Rund funk<br />

mit den Worten “So verabschiede ich mich in<br />

dieser Stunde von dem österreichischen Volke<br />

mit einem deut schen Wort und einem Her zenswunsch:<br />

Gott schütze Österreich!“ verab -<br />

schiedet, ernennt Bundesprä sident Wil -<br />

helm Miklas nach mehrstündigem Wider -<br />

stand un ter massivem Druck Arthur Seyß-<br />

Inquart zum Regie rungs chef. Hitler ordnet<br />

den deutschen Trup pen ein marsch in Ös -<br />

ter reich an.<br />

12.3. 1938 - Deutsche Truppen be setzen<br />

die Grenzübergänge zu Österreich - der<br />

Ein marsch beginnt. Einen Tag später wird<br />

der „Anschluss“ durch die neue Regie -<br />

rung Seyß-In quart offiziell vollzogen.<br />

13.3.1938 - Nach dem deutschen Überfall<br />

lässt Hitler in Linz das „Ge setz über die<br />

Wie der vereinigung Ös terreichs mit dem Deutschen<br />

Reich“ ausarbeiten. Mit der Billi gung<br />

durch den Ministerrat wird der „An-<br />

schluss“ offiziell vollzogen, Österreich<br />

hört auf, ein souveräner Staat zu sein. Der<br />

zurückgetre te ne Bundes kanz ler Schusch -<br />

nigg fällt in die Hände der Gestapo.<br />

14.3.1938 - Hitler trifft in <strong>Wien</strong> ein und<br />

hält vom Balkon des Hotels Imperial eine<br />

An spra che. Für den 10.4. wird eine „Volksab<br />

stim mung über die Wiederver ei nigung<br />

Öster reichs mit dem Deutschen Reich“ angeor<br />

d net.<br />

15.3.1938 - Auf dem <strong>Wien</strong>er Heldenplatz<br />

proklamiert Hitler vor rund 250.000 Men -<br />

schen den „Anschluss“ Österreichs an das<br />

Deutsche Reich. Seyß-Inquart wird<br />

„Reichs statt halter“. Der <strong>Wien</strong>er Erz bi -<br />

schof Kardinal Theodor Innitzer wird von<br />

Hitler empfangen.<br />

16.3.1938 - Mexiko, Chile, die Sow jet -<br />

union und das republikanische Spanien<br />

protes tie ren gegen die Annexion Österreichs<br />

durch Hitler-Deutschland.<br />

17.3.1938 - Österreich wird ausgeplündert:<br />

Eingliederung der Nationalbank in<br />

die Deut sche Reichsbank. ÖS 243 Mio.<br />

Gold reserven und ÖS 121 Mio. an Devi -<br />

sen be ständen werden nach Berlin ge -<br />

schafft. Die Wertrela tion des Schilling zur<br />

Reichsmark wird im Verhältnis 1RM = 1,5<br />

ÖS festgelegt.<br />

18.3.1938 - In einer feierlichen Erklä -<br />

rung zum „An schluss“ fordern Kardinal<br />

Innitzer und die anderen österreichischen<br />

Bischöfe die katholischen Gläubigen auf,<br />

16 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

sich bei der von den Nazimachthabern<br />

angeordneten „Volksabstimmung“ am<br />

10.4. „<strong>als</strong> Deutsche zum Deutschen Reich<br />

zu bekennen“. Dies sei „selbstverständ-<br />

liche nationale Pflicht“.<br />

19.3.1938 - Die USA erkennen de facto<br />

den „Anschluss“ Österreichs an Deutsch -<br />

land an.<br />

1.4.1938 - Erster österreicher-Transport<br />

in das nazideutsche Konzentrationslager<br />

Da chau (Bayern). In der 150-Personen-<br />

Gruppe befinden sich die nachmaligen<br />

Bun des kanz ler Leopold Figl und Alfons<br />

Gorbach, Fritz Bock (später Handels mi nis -<br />

ter und Vize kanzler), Franz Olah (später<br />

ÖGB-Chef und Innenminister) und Viktor<br />

Matejka (erster <strong>Wien</strong>er Kulturstadtrat<br />

nach dem Krieg).<br />

3.4.1938 - Das ‘<strong>Wien</strong>er Tagblatt’ veröffentlicht<br />

ein Interview mit dem sozial de -<br />

mo kratischen Spitzenpolitiker, Ex-Staats -<br />

kanzler und letzten Präsidenten des<br />

Nationalrates Karl Renner: „Obschon nicht<br />

mit jenen Me thoden errungen, zu denen ich<br />

mich bekenne, ist der Anschluss nunmehr voll -<br />

zogen, ist geschichtliche Tatsache“. Renner<br />

rechtfertigt sich später mit dem Bemühen,<br />

seinem von den Nazis inhaftierten Par -<br />

teifreund Robert Danneberg helfen zu<br />

wollen, der 1942 im KZ Auschwitz umgebracht<br />

wird.<br />

7.4.1938 - Auf dem W<strong>als</strong>erberg eröffnet<br />

Hitler mit dem ersten Spatenstich den Bau<br />

der Autobahn München-Salzburg-<strong>Wien</strong>.<br />

10.4.1938 - „Volksabstimmung“ in<br />

Österreich über den bereits nach dem<br />

Trup pen ein marsch im März vollzogenen<br />

„Anschluss“ an Deutschland: 99,73 Pro -<br />

zent Ja-Stimmen. (Im ganzen Deutschen<br />

Reich stimmen 99,01 Prozent dafür).<br />

24.4.1938 - Die Sudetendeutsche Partei<br />

stellt in ihren „Karlsbader Beschlüssen“<br />

Forderungen auf, deren Erfüllung das<br />

Ende der tschechoslowakischen Eigen -<br />

staat lichkeit bedeuten würde.<br />

27.4.1938 - Die deutschen Nazibe hör -<br />

den lassen ein Hochverrats verfah ren ge -<br />

gen Otto Habsburg einleiten.<br />

3.5.1938 - Bei einem Staatsbesuch in<br />

Rom bekräftigt Hitler gegenüber Musso -<br />

lini die Anerkennung der Brennergrenze.<br />

13.5.1938 - In Linz findet der Spa -<br />

tenstich für die Errichtung der "Reichs -<br />

werke Her mann Göring" statt. (1945<br />

Vereinigte österreichische Eisen- und<br />

Stahl werke, heute voest al pine AG).<br />

20.5.1938 - Die Nürnberger Rassen -<br />

gesetze werden auch in Österreich eingeführt.<br />

24.5.1938 - Hitler verfügt die „Auftei -<br />

lung des Landes Österreich“ in sieben<br />

„Gaue“. Das nach dem Ersten Weltkrieg<br />

geschaffene Burgenland wird zwischen<br />

„Nie derdonau“ und der Steiermark auf -<br />

ge teilt, Osttirol an Kärnten angeschlossen.<br />

Tirol und Vorarlberg werden zusammengefasst.<br />

9.6.1938 - In Österreich werden von den<br />

deutschen Nazibehörden die katholischen<br />

Stu dentenverbindungen aufgelöst.<br />

27.7.1938 - Die Nazibehörden ordnen<br />

an, dass alle Straßen und Plätze in der<br />

„Ost mark“, die nach jüdischen Persön -<br />

lich keiten benannt sind, umbenannt werden<br />

müssen.<br />

8.8.1938 - Auf Anordnung Hitlers wird<br />

mit dem Bau des Konzentrationslagers<br />

Maut hau sen in Oberösterreich begonnen.<br />

In dem KZ und seinen 49 Nebenlagern<br />

wurden bis Kriegs ende 210.000 Menschen<br />

gefangen ge halten, mindestens 105.000<br />

wurden er mor det oder gingen zugrunde.<br />

5.9.1938 - Die seit dem Ende des 18. Jahr -<br />

hunderts in der <strong>Wien</strong>er Schatzkammer<br />

aufbewahrten Reichskleinodien des 1806<br />

auf ge lösten Heiligen Römischen Reiches<br />

werden auf Befehl Hitlers nach Nürnberg<br />

ge bracht. (Die Rückgabe an die österrei -<br />

chi sche Bun des regierung erfolgt 1946<br />

durch die ameri kanische Besatzungs -<br />

macht.)<br />

6.9.1938 - Auf dem Nürnberger „NS-<br />

DAP-Parteitag Großdeutschlands“ richtet<br />

Hitler heftige Attacken gegen den tsche -<br />

chos lo wa ki schen Präsidenten Ed vard<br />

Benes und droht, dass er der „Un ter drük -<br />

kung“der Sudeten deut schen nicht „in<br />

endloser Ruhe“ zusehen werde.<br />

8.10.1938 - Nachdem Kardinal Innitzer<br />

am Vorabend bei einer Andacht im Wie ner<br />

Stephansdom siebentausend katholischen<br />

Jugendlichen zugerufen hatte: „Nur Einer<br />

ist euer Führer: Jesus Christus“, stürmen<br />

Nazi- Banden das Erzbischöfliche Pa lais<br />

und verwüs ten es. Ein Geistlicher wird aus<br />

dem Fenster geworfen und schwer verletzt.<br />

Die jüdische Bevölkerung Europas<br />

war nicht das einzige Opfer des Nazi-<br />

Regimes. Alle Menschen, die nicht mit<br />

den „Normen“ der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Rassenideologie übereinstimm -<br />

ten, zählten zu den Opfern: Sinti und<br />

Roma, sogenannte „Asoziale“ und<br />

durch die NS-Medizin <strong>als</strong> „minderwer<br />

tig“ definierte Personen, sowie<br />

alle Personen, die politisch an ders<br />

dachten <strong>als</strong> die National sozia lis ten.<br />

5.11.1938 - Die Nazibehörden erlassen<br />

eine Verordnung über die Kennzeichnung<br />

jüdischer Geschäfte in <strong>Wien</strong>.<br />

7.11.1938 - In Paris erschießt der 17-<br />

jährige polnische Jude Herschel Grynszpan,<br />

dessen Eltern von den Nazis aus Deutsch -<br />

land vertrieben wurden, den deutschen<br />

Legationsse kretär Ernst von Rath. Das<br />

Attentat auf den Diplomaten liefert den<br />

Machthabern in Ber lin den Anlass für<br />

eine von langer Hand vorbereitete antisemitische<br />

Hetzkampagne, die am 9.11.<br />

zu landesweiten Pogromen führt.<br />

9.11.1938 - Vom Naziregime gesteuerte<br />

Po grome in ganz Deutschland und im<br />

besetz ten Österreich („Reichs kristall -<br />

nacht“): Juden werden verhaftet, schwer<br />

misshandelt oder ermordet, ihre Woh nungen<br />

und Geschäfte ge plündert und zahl -<br />

lose Synagogen und Bet häuser niedergebrannt.<br />

In <strong>Wien</strong> werden 27 Juden er mor -<br />

det, 88 weitere schwer verletzt, rund 7.800<br />

verhaftet.<br />

31.12.1938 - In seiner Ansprache zum<br />

Jah res wechsel nennt Hitler 1938 „das<br />

ereig nis reichste Jahr der deutschen Geschichte<br />

seit Jahrhunderten“. Er bezieht sich damit<br />

auf die Annexion Österreichs und der<br />

Sudeten ge biete.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 17


1938<br />

<strong>2008</strong><br />

Skandale und tabuisierte<br />

Vergangenheit<br />

Es dauerte lange, bis man in Österreich<br />

begann, offen über die nation<strong>als</strong>ozialistische<br />

Vergangenheit zu reden. Auch die<br />

regelmäßigen Skandale führten zu keiner<br />

breiten Diskussion. Die NS-Vergangen -<br />

heit bildete bis in die 1980er Jahre ein<br />

großes Tabuthema.<br />

1965: Die Affäre Borodajkewycz<br />

Taras Borodajkewycz war Professor<br />

an der <strong>Wien</strong>er Hochschule für Welt -<br />

han del. Er machte in seinen Vorle -<br />

sun gen offen nation<strong>als</strong>ozialistische<br />

Aussagen. Es kam zu längeren öffentlichen<br />

Auseinandersetzungen, die<br />

das erste politische Todesopfer der<br />

Zweiten Republik forderten: Bei einer<br />

Demonstration Anfang April 1965<br />

wurde der ehemalige kommunistische<br />

Widerstandskämpfer Ernst<br />

Kirchweger getötet. Borodajkewycz<br />

wurde schließlich zwangspensioniert.<br />

1975: Die Affäre Peter – Kreisky –<br />

Wiesenthal<br />

Auch die 1970er Jahre brachten keine<br />

große Veränderung. Die Affäre Peter<br />

– Kreisky – Wiesenthal führte 1975<br />

noch zu keiner breiten Diskussion<br />

über die NS-Vergangenheit. Der da -<br />

malige Leiter des jüdischen Doku -<br />

mentationszentrums in <strong>Wien</strong>, Simon<br />

Wiesenthal, veröffentlichte nach der<br />

Nationalratswahl 1975 einen Bericht<br />

über den damaligen FPÖ-Chef Fried -<br />

rich Peter. Daraus ging hervor, dass<br />

dieser <strong>als</strong> Obersturmbannführer in<br />

ei ner mit Massenmorden in Ver bindung<br />

stehenden SS-Einheit gedient<br />

hatte. Der damalige Bundeskanzler<br />

Bruno Kreisky (SPÖ) war durch das<br />

eigene Schicksal der Verfolgung und<br />

des Exils gegenüber jeden Verdacht<br />

der Sympathie für den National so zi a-<br />

lismus erhaben. Er beschützte seinen<br />

DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

politischen Partner Peter. Darüber<br />

hinaus beschuldigte er Wiesenthal,<br />

mit Mafiamethoden zu arbeiten und<br />

unterstellte ihm sinngemäß, <strong>als</strong> KZ-<br />

In sasse mit der Gestapo kollaboriert<br />

zu haben 1 .<br />

1985: Die Reder-Affäre<br />

Der ehemalige SS-Obersturmbann füh -<br />

rer Walter Reder war verantwortlich<br />

für ein Massaker in der italienischen<br />

Ortschaft Marzabotto bei Bologna im<br />

September 1944. Die 1830 Opfer wa ren<br />

meist alte Menschen, Frauen und<br />

Kin der. Reder wurde 1951 in Bologna<br />

zu lebenslänglicher Haft verurteilt.<br />

1985 wurde er entlassen 2 . In Österreich<br />

wurde er vom damaligen Ver teidigungsminister<br />

Friedhelm Fri schen -<br />

schlager (FPÖ) am Flughafen mit<br />

Hand schlag empfangen. Dieser Hand -<br />

schlag erregte auch international<br />

Aufsehen und ausländische Medien<br />

griffen das Verhältnis der Österreicher<br />

zur NS-Vergangenheit auf. Eine Aus -<br />

sage Jörg Haiders aus dem Jahr 1985<br />

macht deutlich, wie die nation<strong>als</strong>ozia -<br />

listische Vergangenheit von manchen<br />

Österreichern betrachtet wurde: "Die<br />

Rückkehr von Walter Reder hat beträchtlichen<br />

Staub aufgewirbelt. Die finsteren<br />

Ereignisse der Vergangenheit werden be -<br />

schwo ren und Reder zur Symbolfigur für<br />

alle Greueltaten erklärt. Das ist betrüblich<br />

und erschütternd. Denn Walter Reder<br />

war Soldat wie Hunderttausende andere<br />

auch. Er hat seine Pflicht erfüllt, wie es<br />

der Eid des Soldaten gebietet. (...) Sein<br />

Schicksal ist die tragische Lebensge schichte<br />

eines Soldaten, dessen Tun nicht mit<br />

Greueltaten des NS-Regimes verglichen<br />

werden kann. Das Schicksal Walter Re ders<br />

hätte jeden unserer Väter ereilen können." 3<br />

„Wer vermeintlich gute Seiten und Errun gen -<br />

schaften der NS-Dikta tur he rvorhebt, erliegt<br />

heute noch den Nach wirkungen der Nazi-Pro -<br />

apa gan da... Da schlägt ein Mangel an Auf klä -<br />

rung durch“.<br />

Historiker Hans Mommsen,<br />

zum 75. Jahrestag der Machtübertra gung<br />

an die Nazis am 30. Jänner 1933<br />

Die Diskussionen endeten zwar bald<br />

wieder, doch die nächste Aufregung<br />

lag bereits in der Luft: Die Waldheim-<br />

Affäre war ein entscheidender Ein -<br />

schnitt im Umgang mit der Nazi-Ver -<br />

gan genheit.<br />

1<br />

Vergleiche Gehler/Sickinger 1995, S.678).<br />

2<br />

Vergleiche En zy klo pädie des NS 2001, S.872f; S.579)<br />

3<br />

Kärntner Nachrichten, 14. Februar 1985; zitiert nach<br />

Czernin 2000, S.15)<br />

Zitiert: Österreichische<br />

Politiker<br />

Immer wieder machen österreichische<br />

Politiker aller Parteien skandalöse<br />

Aus sa gen über die Zeit des Natio nal -<br />

sozia lis mus, über den Holocaust oder<br />

über das Judentum. Lesen Sie eine<br />

Auswahl von Aussa gen österreichischer<br />

Politiker:<br />

"Na, das hat’s im Dritten Reich nicht ge -<br />

geben, weil im Drit ten Reich haben sie or -<br />

dentliche Be schäf ti gungspolitik ge macht,<br />

was nicht einmal Ihre Regierung in <strong>Wien</strong><br />

zusam men bringt. Das muss man auch<br />

einmal sagen." (Re de von Jörg Haider vor<br />

dem Kärntner Land tag, 13.06.1991 zitiert<br />

nach Czernin 2000, S.31)<br />

„Wer einmal schon für Adolf war, wählt<br />

Adolf auch in diesem Jahr.“ (Wahlslogan<br />

von SPÖ-Politiker Adolf Schärf bei<br />

Präsidentschaftswahlen in den 1950er<br />

Jahren. „Entgleisungen quer durch die<br />

Parteien“, Salzburger Nach rich ten, 22.<br />

September 2001)<br />

„Die Juden wollen halt rasch reich werden.“<br />

(ÖVP-Bundeskanzler Leopold Figl<br />

im Zusammenhang mit Entschädigungs -<br />

forderungen. Zitiert nach: Ebenda)<br />

„Saujud“ (ÖVP-Abgeordneter Alois<br />

Schei bengraf 1966 in Richtung SPÖ-Geg -<br />

ner Bruno Kreisky. Zitiert nach: Ebenda)<br />

„Wenn sie so wollen, dann war es halt<br />

Massenmord.“ (Jörg Haider, profil, 18.02.<br />

1985. zi tiert nach Czernin 2000, S.16f.)<br />

„Die Soldaten in Stalingrad, gleichgültig<br />

ob Deutsche oder Österreicher, haben sich<br />

geopfert, um die Heimat zu schützen."<br />

(Jörg Haider am Tag seiner Wahl zum<br />

FPÖ-Obmann [1986] laut Unterlagen des<br />

DÖW [Mappe RE 84/13] zitiert nach<br />

Czernin 2000, S.17)<br />

„Dem Wiesenthal habe ich gesagt, wir<br />

bauen schon wieder Öfen, aber nicht für<br />

Sie, Herr Wiesenthal – Sie haben im Jörgl<br />

seiner Pfeife Platz." (Peter Müller, da m<strong>als</strong><br />

FPÖ-Spitzenkandidat bei den Ge mein de -<br />

wahlen 1990 in St. Leonhard im Lavan -<br />

thal, „Entgleisungen quer durch die Par teien“,<br />

Salzburger Nach richten, 22.09. 2001)<br />

„Nazi? Neu, attraktiv, zielstrebig und<br />

ideen reich. Es hat mit der Vergangenheit<br />

nichts zu tun.“ (FPÖ-Politiker Reinhard<br />

Gaugg auf die Frage, was ihm das Wort<br />

Na zi sage. Kärntner Tageszeitung, 11.09<br />

1993)<br />

„Die Waffen-SS war Teil der Wehrmacht<br />

und es kommt ihr daher alle Ehre und<br />

18 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Anerkennung zu.“ (Jörg Haider im ORF,<br />

19.12.1995. zitiert nach Czernin 2000, S.48)<br />

„Da halte ich mich an Goebbels, der ge -<br />

sagt hat: Das Volk muss fühlen, wer das<br />

Sagen hat.“ (Der Kärntner SPÖ-Land -<br />

tagsabgeordnete Gebhard Arbeiter 1999.<br />

„Entgleisungen quer durch die Parteien“,<br />

Salzburger Nachrichten, 22.09.2001).<br />

„Unsere Ehre heißt Treue!“ (Mit diesem<br />

SS-Leitspruch ehrte der niederösterreichische<br />

FPÖ-Chef Ernest Windholz langjähri<br />

ge FPÖ-Mitglieder. Der Standard, 5.06.<br />

2000).<br />

„Sieg Heil!“ (Zwischenruf des SPÖ Na tionalrats-Abgeordneten<br />

Rudolf Edlinger<br />

nach einer Rede der FPÖ-Abgeordneten<br />

Helene Partik-Pablé laut Protokoll. Laut<br />

Edlinger habe er „Jetzt fehlt nur noch Sieg<br />

Heil!“ gerufen. Salzburger Nachrichten,<br />

17. April 2002).<br />

„Viele Menschen in Ostösterreich haben<br />

die Maitage des Jahres 1945 nicht <strong>als</strong> Be -<br />

freiung empfunden, sondern <strong>als</strong> Wech sel<br />

der Besatzung. Sie wurden durch eine<br />

Besatzungsmacht von der anderen Besat -<br />

zungs macht befreit (...) Österreich war<br />

zwischen 38 und 55 nicht frei, und ich<br />

glau be, dass das die richtige Betrach tungs -<br />

weise ist: Dass zuvor eine deutsche Be sat -<br />

zungsmacht hier war, dann waren es<br />

meh rere Besatzungsmächte, und die wirk liche<br />

Freiheit hat Österreich erst 1955 wie -<br />

der erlangt." (Volksanwalt Ewald Stad ler<br />

im ORF-Report. „Ich seh’s gelassener“,<br />

Salzburger Nachrichten, 4.07.2002)<br />

Don’t mention the J-word<br />

Der notorische Israel-Basher Johann<br />

Hatzl, seines Zeichens sozialdemokratischer<br />

<strong>Wien</strong>er Landtagsprä si dent,<br />

fühlt sich ungerecht behandelt.<br />

Hat er sich doch die Mühe gemacht<br />

eigens zum Zwecke des Gedenkens an<br />

den sogenannten „Anschluss“, der<br />

sich am 12. März zum siebzigsten Mal<br />

jährt, eine Sit zung des Gemeinde ra -<br />

tes einzuberufen. Er hätte dieses historische<br />

Ereig nis auch in zehn Mi -<br />

nuten im Rah men einer re gu lären<br />

Sitzung ab han deln können, betont er<br />

in einem Tele fo nat mit der Autorin<br />

dieser Zei len. Aber stattdessen lädt<br />

Hatzl zu einer eigenen Land tags sit -<br />

zung, „die insofern etwas aufgelockert(!)<br />

ist, dass bei dieser Landtagssit zung auch<br />

Personen, die kei ne Abgeord neten sind,<br />

darüber reden.“ (O-Ton) 1<br />

Reden sollten laut Hatzl Vertreter der<br />

Opfergruppen. Dass kein Vertreter<br />

des „jüdischen Volkes in <strong>Wien</strong>“ in der<br />

ursprünglichen Planung vorgesehen<br />

war, erklärt er damit, dass namens der<br />

„rassisch Verfolgten“ auf dieser „Ge-<br />

denk sitzung“ Rudolf Sarközi, Vor sit -<br />

zender des Volksgruppenbeirates der<br />

Roma, sprechen sollte, damit auch ein -<br />

mal jemand anderer <strong>als</strong> „die Juden“ zu<br />

diesem Thema zu Wort kommt. Es<br />

müssen ja nicht immer nur die Juden<br />

über ihre Verfolgung sprechen, sondern<br />

sei oft sogar besser, wenn ein<br />

Nichtjude daüber spricht, so Hatzl.<br />

„Im Gedenken (...) an jene <strong>Wien</strong>e rin -<br />

nen und <strong>Wien</strong>er, die Opfer des fa schis -<br />

tischen Terrors, aber auch des Krie ges<br />

wurden“, heißt es in der Einladung.<br />

Gedenkt werden soll <strong>als</strong>o all jenen,<br />

die zwischen 1938 – vielleicht auch<br />

1934, dem Beginn des Austro fa schis -<br />

mus – und 1945 eines nicht natürli -<br />

chen Todes gestorben sind. Ob durch<br />

die Hände des ostmärkischen KZ-<br />

Auf sehers oder die Panzer der Roten<br />

Armee. Opfer sind demnach nicht<br />

nur die, die von der Tötungsmaschi -<br />

ne rie der Na tion<strong>als</strong>ozialisten ermordet<br />

wur den, sondern auch jene, die<br />

sich an die ser Maschinerie beteiligen<br />

„muss ten“. Es gab ja viele Österreicher,<br />

die gezwungen waren in den<br />

Krieg zu ziehen, so Hatzl – natürlich<br />

gab es auch Täter, fährt er fort, die sich<br />

an der „restlosen(!) Ausrottung der<br />

Juden“ be teiligt haben. Simone Dinah<br />

Hartmann<br />

1<br />

Dieses und weitere Zitate stammen aus<br />

einem Telefonat mit Hatzl vom 27.02.<strong>2008</strong><br />

... In den zehn Jahren zwischen<br />

1938 und der Gründung des Staa -<br />

tes Israel im Jahr 1948, wurde ein<br />

Drittel des jüdischen Vol kes in<br />

Europa vernichtet, ermordet, vergast.<br />

Niemand darf diese Katas -<br />

trophe, die Shoah, ausklammern,<br />

relativieren oder marginalisieren.<br />

Diese Katastrophe, diese Shoah, ist<br />

ein Teil der Geschichte. Diese<br />

Men schen waren weder Opfer<br />

einer Na turkatastrophe noch Opfer<br />

eines Krieges, sie mussten sterben,<br />

nur weil sie Juden waren.<br />

Es geht daher einfach nicht, „die<br />

historischen Ereignisse unaufgeregt<br />

und mög lichst frei von Emo -<br />

tionen zu betrachten" und das<br />

„Gedenk jahr <strong>als</strong> An lass für die<br />

Brücken funk tion Österreichs in<br />

Mitteleu ro pa zu betonen“*.<br />

Genau so unmöglich ist es, die<br />

ermordeten Juden unerwähnt zu<br />

lassen in einer Gedenkstunde "im<br />

Gedenken an jene Wie ne rin nen und<br />

<strong>Wien</strong>er, die Opfer des faschistischen<br />

Terrors, aber auch des Krie ges<br />

wurden".<br />

In diesem Jahr, 70 Jahre nach dem<br />

„Anschluss“ und 60 Jahre nach der<br />

Gründung des Staates Israel, gilt es,<br />

Brücken der Versöhnung mit dem<br />

jüdischen Volk und Brücken der<br />

Solidarität mit dem jüdischen Staat<br />

zu bauen....<br />

S.E. Dan Ashbel, Botschafter des Staates<br />

Israel, bei seiner Festansprache im<br />

<strong>Wien</strong>er Rathaus anlässlich Magbith <strong>2008</strong><br />

*Anmerkung d. Redaktion: Der Zweite Natio -<br />

nalratspräsident Michael Spin del egger bei<br />

seiner Ansprache am 4. März angesichts<br />

des 75. Jah restages der Ausschaltung des<br />

Parla ments durch Engel bert Dollfuß.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 19


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Anschluss - Eine Bildchronologie<br />

Hans Petschar<br />

Brandstätter Verlag • ISBN 978-3-85033-193-7<br />

Die erste präzise Bildchronologie der Ereignisse in Österreich 1938. Offizielle<br />

Propagandabilder gegenüber Privataufnahmen und unveröffentlichtem Ma -<br />

terial. Aus unterschiedlichsten Gründen und von vielen Zufällen begünstigt<br />

existiert eine Fülle von unbekann ten Geschichtsbildern in privaten und öffentli<br />

chen Archiven. Eine beträchtliche Anzahl wird in diesem Buch zum ersten<br />

Mal dargestellt und in einen historischen und chronologischen Kontext<br />

gebracht.<br />

Herbert Posch, Doris Ingrisch, Gert Dressel<br />

"Anschluß" und Ausschluss 1938<br />

Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität <strong>Wien</strong><br />

LiT Verlag • ISBN 978-3-8258-0497-8<br />

Mit dem „Anschluss“ ans Deutsche Reich wird auch die Universität <strong>Wien</strong><br />

ra dikal und in kürzester Zeit zu einer nation<strong>als</strong>ozialistischen Institution<br />

umgestaltet. In jahrelanger Arbeit hat ein HistorikerInnenteam der Uni -<br />

versität <strong>Wien</strong> unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. Friedrich Stadler vom<br />

Institut für Zeit geschichte in den Aktenbergen des Universitätsarchivs re -<br />

cherchiert.<br />

LESETIPP<br />

Dosedla Heinrich:<br />

Von Habsburg bis Hitler<br />

Österreich vor dem Anschluss<br />

Molden • ISBN: 978-3-85485-217-9<br />

Anhand von Erlebnisberichten der letzten, in die Tagespolitik der Zwi schen -<br />

kriegs zeit verstrickten Zeitzeugen zeichnet der Soziologe Heinrich Dosedla<br />

in einem spannenden Tagebuch den Weg der kleinen Leute vom Schutzbund<br />

zur SS und vom Kuhstall ins KZ nach. Gleichzeitig versucht er den Weg seines<br />

Vaters nachzuzeichnen, der in den Nachkriegswirren spurlos verschwand.<br />

Ivan Hacker<br />

Unser Weg in die Hölle<br />

Österr. Literaturforum<br />

Der Autor schildert in seinem Buch mit der Genau ig keit des Rechtsanwaltes<br />

jene furchtbaren Monate des Jahres 1944, die er und seine Familie miterleben<br />

mussten.<br />

Ivan Hacker war Präsident der Israe li tischen Kultus gemeinde <strong>Wien</strong> – am 4.<br />

Mai <strong>2008</strong> wäre er 100 Jahre alt geworden.<br />

Erhältlich in der Literarturhandlung im Jüdi schen Museum (1., Dorotheergasse 11)<br />

Peter Longerich<br />

„Davon haben wir nichts gewusst!“<br />

Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945<br />

Pantheon • ISBN: 978-3-570-55041-0<br />

Peter Longerich gelingt es, aus der Sicht des Historikers Antworten auf die<br />

Frage nach dem Wissen der Deutschen über die „Endlösung“ und ihre Ein stel -<br />

lung zur Judenverfolgung zu geben. Er hat die antisemitische Propa gan da des<br />

Regimes analysiert, noch vorhandene geheime NS-Stimmungs be rich te zur<br />

„Judenfrage“ untersucht und zusätzlich Informationen aus verschiedenen<br />

Quellen zusammengetragen.<br />

Gerhard Botz<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus in <strong>Wien</strong><br />

Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39<br />

Mandelbaum Verlag • ISBN: 978385476-252-2<br />

Am Beispiel einer Millionenstadt im Südosten des „Großdeutschen<br />

Reiches“, <strong>Wien</strong> in den Jahren 1938 und 1939, wird das Funktionieren der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Machtübernahme und Herrschaftssiche rung gezeigt, mit<br />

den alltäglichen Mechanismen der Kon trolle, Belohnung, Überzeugung und<br />

Maßregelung des Einzelnen und ganzer Gruppen.<br />

Stéphane Bruchfeld, Paul A. Levine<br />

Erzählt es euren Kindern<br />

Der Holocaust in Europa<br />

DVA • ISBN: 978-3-570-30245-3<br />

„Dokumente und Bilder können nur zeigen, was war und wie es erlebt<br />

wurde. Erklären können sie nichts. Vieles am Holocaust lässt sich nicht verstehen.<br />

Aber seiner Wahrheit müssen wir ins Auge sehen, wir müssen uns<br />

mit ihm beschäftigen: Nur wer weiß, was möglich ist, wird daran arbeiten,<br />

dass es sich nicht wiederholt.“ (Ab 14 Jahren)<br />

Robert Gellately<br />

Hingeschaut und weggesehen<br />

Hitler und sein Volk<br />

dtv • ISBN 3-423-34153-X<br />

Nach dem Krieg wollte kaum jemand in Deutsch land etwas von den<br />

Konzentrationslagern, von Terror und Mord gewusst haben. Es schien, <strong>als</strong><br />

hätten nur wenige „willige Helfer“ im Verborgenen die von Hitler befohlenen<br />

Verbrechen begangen. Robert Gellately beweist anhand bislang vernachlässigter<br />

Dokumente das Gegenteil.<br />

Sachslehner Johannes:<br />

Der Tod ist ein Meister aus <strong>Wien</strong><br />

Leben und Taten des Amon Leopold Göth<br />

Styria • ISBN: 978-3-222-13233-9<br />

Johannes Sachslehner zeichnet das packende Porträt eines Mannes, der in<br />

den österreichischen Geschichts bü chern zwar noch immer verschwiegen<br />

wird, international aber – nicht zuletzt durch „Schindlers Liste“ – <strong>als</strong><br />

Inbegriff des Nazi-Bösen gilt. Ein beklemmender Geschichts-Thriller, der in<br />

die zynische Welt eines SS-Mörders führt, in der das Töten Alltag und das<br />

Überleben zum Wunder wurde.<br />

Steven Beller<br />

Geschichte Österreichs<br />

Böhlau • ISBN 3-205-77528-7<br />

„Steven Bellers Geschichte Österreichs ist nicht nur kurz und prägnant -, sie<br />

ist auch scharfsinnig, witzig und mitreißend. Realistisch und aufrichtig, aber<br />

nie langweilig nostalgisch in seinen Einschätzungen der Er fahrungen Österreichs<br />

gelingt es Beller, die parado xe und mehrdeutige Rolle des Landes<br />

sowohl <strong>als</strong> Hintergrund wie auch <strong>als</strong> Wesen der umfassenderen Muster der<br />

europäischen Geschichte zu beleuchten.“<br />

Aviel Roshwald, Georgetown University<br />

Barbara Rogasky<br />

Der Holocaust<br />

Ein Buch für junge Leser<br />

rororo rotfuchs • ISBN 978-3-499-21205-5<br />

Als ein mehrfach ausgezeichnetes Standardwerk, sollte diese anschauliche<br />

und vielschichtige Dar stel lung eines hochsensiblen Themas auch in Österreichs<br />

Klassenzimmern zur Pflichtlektüre werden. Sie bietet eine grundlegende<br />

Einführung in die Hinter gründe, den zeitlichen Ablauf, die wichtigsten<br />

Ereig nisse, Personen und Orte des Holocaust - nicht nur für junge Leser.<br />

Hilde Kammer, Elisabet Bartsch<br />

Jugendlexikon Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

Rowohlt • ISBN 978-3-87134-562-3<br />

Jeder, der sich mit der Zeit des „Dritten Reichs“ beschäftigt, stößt dabei auf<br />

Schlagwörter und Be grif fe, die heute nicht mehr ohne weiteres verständlich<br />

sind. Präzise und doch leicht verständlich erklärt das Buch die Begriffe, die<br />

dam<strong>als</strong> verwendet wurden, und erläutert, wie die zahlreichen Einrich tun gen<br />

und Organisationen des „Dritten Reiches“ funktionierten. Ein unentbehrliches<br />

Nachschla ge werk.<br />

20 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

Hgg. v. Dieter J. Hecht / Eleonore Lappin / Michaela Raggam-Blesch /<br />

Lisa Rettl / Heidemarie Uhl<br />

1938 – Auftakt zur Shoah in Österreich.<br />

Orte – Bilder – Erinnerungen<br />

Milena Verlag • ISBN 978 3 95286 165 4<br />

Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 hatte eine<br />

Radikalisierung der na tional so zialisti schen Ver fol gungs politik gegen die jüdische<br />

Bevölkerung zur Folge: <strong>Wien</strong> ist jene Stadt, die sich durch pogromartige<br />

Gewalt exzesse in die Ge schichte der Shoah, der Vernichtung der jüdischen Be -<br />

völke rung im nation<strong>als</strong>ozialistischen Machtbe reich, eingeschrieben hat. Und in<br />

<strong>Wien</strong> hat Adolf Eichmann sein System der staatlich-in sti tu tionellen<br />

Enteignung und Ver trei bung der Jü dinnen und Juden eingeführt, das schließlich<br />

zu den Mas sendeportationen der europäischen Jü din nen und Juden in die<br />

Vernichtung wei ter ent wickelt wur de.<br />

Die Broschüre „1938 – Auftakt zur Shoah in Ös ter reich. Orte – Bilder – Erin nerungen“<br />

zeichnet die Erfahrungen der jüdischen <strong>Wien</strong>erInnen und Ös ter rei -<br />

cher Innen vom „Anschluss“ im März bis zum Ende des Jahres 1938 nach. Das<br />

No vem berpogrom bildete den vorläufigen Höhe punkt der NS-Verfol gungs -<br />

politik mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung aus dem Deutschen Reich zu<br />

vertreiben, ihr Eigentum aber einzubehalten. Die im Som mer 1938 von Eich -<br />

mann eingerichtete „Zen tr<strong>als</strong>telle für jüdische Auswanderung“ wurde dabei<br />

zur organisatorischen Keimzelle des Holo caust. Die Broschüre vermittelt, wie<br />

Jüdinnen und Ju den das ers te Jahr der NS-Herrschaft in Österreich erlebten.<br />

„Namentliche Erfassung der österreichischen Holo caust opfer“<br />

Im März 1938 gab es 181.778 Österreicherinnen jüdischen Glaubens, die zum<br />

Großteil in <strong>Wien</strong> wohn ten. Hinzu kamen noch zirka 25.000 Österreicher, die<br />

nach den Nürnberger Rassegesetzen <strong>als</strong> Juden gal ten.<br />

In einer ersten Phase (1938 – 1940) wurden diese rund 200.000 Menschen vor<br />

allem beraubt und vertrieben. In einer zweiten Phase ab 1941 wurden die österreichischen<br />

Juden in Massentransporten in die Get tos nach Osteuropa deportiert.<br />

Ab 1942 wurden sie in den Ver nichtungslagern der Nazis ermordet.<br />

Von den österreichischen Juden wurden zwei Drittel zwischen 1938 und 1941<br />

aus Österreich vertrieben und ein Drittel (65.000 Menschen) während der<br />

„Der Mann auf dem Balkon“<br />

Der Dokumentarfilm „Der Mann auf<br />

dem Balkon“ hatte im <strong>Wien</strong>er Metro-<br />

Kino Vorpremiere. Zur bis auf den letzten<br />

Platz ausgebuchten Veranstaltung<br />

im Rahmen des Gedenkjahrs <strong>2008</strong><br />

geladen hatten die <strong>Wien</strong>er SPÖ Bil dung<br />

und der Bund Sozialde mokratischer<br />

Freiheitskämpfer. Die einleitenden Wor te sprach Altbundeskanzler Dr. Franz<br />

Vranitzky. „Der Mann auf dem Balkon“ spürt dem Schicksal des Holocaust-<br />

Überlebenden Prof. Rudolf Gelbard nach, der <strong>als</strong> 12jähriger in das Kon zen tra -<br />

tionslager Theresienstadt deportiert worden war. Später widmete er sein Leben<br />

der Aufarbeitung der NS-Vergan gen heit und dem Eintreten gegen Antise mi -<br />

tis mus und Fremdenhass, getreu dem Gebot „Niem<strong>als</strong> wieder!“<br />

Dies ist eine be wusst gewählte Perspektive: Es geht darum, Einblick in die<br />

Erfah rungen jener Menschen zu geben, die ge demütigt, verfolgt, enteignet,<br />

vertrieben oder deportiert und ermordet wurden.<br />

Nach 1945 fand die Erinnerung an die Opfer der Shoah – der mehr <strong>als</strong><br />

65.000 Österreicherinnen und Österreicher zum Op fer fielen – lange Zeit<br />

kaum Eingang in das Geschichts be wusst sein: Die Zweite Republik stellte<br />

sich selbst <strong>als</strong> „erstes Opfer“ des Nation<strong>als</strong>ozialismus dar.<br />

Die Darstellung der Geschichte des Jahres 1938 aus der Per s pektive der jüdischen<br />

Bevölkerung ver wendet neue For men histori schen Erzählens: Le bens -<br />

geschichtliche Erinnerungen von Zeit zeug In nen werden mit konkreten Orten<br />

und Bild ma te r i al verknüpft und durch Dokumente und wissenschaft liche<br />

Kommen tare ergänzt.<br />

Den Jüdinnen und Juden, die durch das NS-Regime vertrieben und ermordet<br />

wurden, eine Stimme zu geben, dem Gedächtnis an die Opfer der Schoah im<br />

Gedenkjahr <strong>2008</strong> Präsenz zu verleihen, ist Ziel dieser Broschüre. (s.S. 22)<br />

Die Publikation, aus einem vom Jubiläumsfonds der Stadt <strong>Wien</strong> für die Akademie der<br />

Wissenschaften geförderten Pro jekt entstanden, ist auch ein "normales" wissen schaft liches<br />

Werk, das im Milena-Verlag erscheint und auch in Buch hand lungen erhältlich sein wird.<br />

Angesichts der Ankaufs zahlen durch öffentliche Stellen in der Höhe von ca. 8.000 Exem pla -<br />

ren wird diese Broschüre wohl eine der meistverbreiteten Publikationen im Rahmen der<br />

Aktivitäten zum Gedenkjahr <strong>2008</strong> sein und auch in englischer Sprache aufliegen.<br />

Ein kostenloses Exemplar wird allen Schulen ab der 5. Schul stu fe vom BMUKK Anfang März<br />

direkt zugesandt.(Erlass GZ 33.466/10-V/ 11/<strong>2008</strong>).<br />

gesamten Nazi-Herrschaft ermordet. Von den rund 200.000 Menschen, die<br />

nach den Rasse gesetzen <strong>als</strong> Juden galten, befanden sich Ende 1942 noch<br />

rund 8.000 Personen in Ös ter reich. (Freund/Safrian 2000, 767ff).<br />

Eine detaillierte Dokumentation über die jüdische Bevölkerung und deren De -<br />

portation bietet das Doku men ta tions archiv des österreichischen Wider stan des<br />

(DÖW) im Projekt „Namentliche Erfassung der österreichischen Holo caust -<br />

opfer“ http://www.doew.at/cgi-bin/shoah/shoah.pl ).<br />

Die Dokumentation des DÖW listet folgende Angaben auf:<br />

- Stand der jüdischen Bevölkerung Österreichs am 13. März 1938: 206.000<br />

- Stand der jüdischen Bevölkerung Österreichs am 15. April 1944: 5.512<br />

Im Anschluss an die Vorführung fand eine Diskussion mit Kam mer schau -<br />

spie lerin Elisabeth Orth, dem Regisseur Prof. Mag. Kurt Brazda und Prof.<br />

Rudolf Gelbard statt.<br />

TV-TIPP<br />

DER MANN AUF DEM BALKON<br />

Rudolf Gelbard<br />

KZ Überlebender - Zeitzeuge - Homo Politicus<br />

Dokumentarfilm von Kurt Brazda<br />

Erstausstrahlung: 26. März <strong>2008</strong> - 21.00 Uhr, 3sat<br />

Buch und Regie: Kurt Brazda • Kamera und Schnitt: Benjamin Epp • Ton: Christian Bednarik<br />

Musik&Sounddesign: Markus Vorzellner • Produktion: WIFAR <strong>2008</strong><br />

Gefördert vom Nationalfonds<br />

Die Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938<br />

Die Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938 (auch: Ostmark-Medaille) gehört<br />

zu den Orden, die während der Zeit des Nation<strong>als</strong>ozialismus von den Na tional so -<br />

zialisten eingeführt und verwendet wurden. Sie wurde am 1. Mai 1938 von Adolf Hitler<br />

gestiftet und an Personen verliehen, die an der Annek tierung von Österreich durch das<br />

Deut sche Reich beteiligt waren.<br />

Dazu gehörten auch Österreicher, die entweder an dem Ereignis direkt mitgewirkt hatten<br />

oder Mitglied der österreichischen NSDAP waren. Laut der damaligen Stif tungs -<br />

verordnung erhielten diese Aus zeich nung Per sonen, die sich „um die Wie der verei ni gung<br />

Österreichs mit dem Deutschen Reich Verdienste erworben haben“.<br />

Insgesamt wurde die Medaille 318.689 Mal verliehen.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 21


DOSSIER • MÄRZ 1938<br />

„SOUVENIR WIEN 1938“<br />

„Ich konzipierte diese Objekte – die „SOUVENIR WIEN 1938 REIBBÜRSTE“ und ihr Begleitstück, die „SARA/ISRAEL ZAHNBÜRSTEN“ –, um<br />

an <strong>Wien</strong> im Jahr 1938 zu erinnern, <strong>als</strong> Juden gezwungen wurden, die Straßen mit Bürsten – auch mit ihren Zahnbürsten – zu reinigen. Mein<br />

Großvater (Dachau, November 1938; Auschwitz, November 1942, ins Gas geschickt wenige Stunden nach seiner Ankunft) war einer von<br />

ihnen - kniend, eine Bürste in der Hand.<br />

Melissa Gould/New York City, <strong>2008</strong> - www.megophone.com<br />

22 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


POLITIK • INLAND<br />

Österreich: Irans Tor zu Europa<br />

von Simone Dinah Hartmann<br />

Als Hitler im März<br />

1938 in Österreich<br />

einmarschierte, waren es<br />

außergewöhnlich viele<br />

Ös terreicherInnen, die ihn<br />

willkommen hießen und den „An-<br />

schluss“ an Deutschland begrüß ten.<br />

Eine überproportional große Zahl von<br />

ÖsterreicherInnen diente der Todes -<br />

ma schinerie der Na zis, um die „End-<br />

lösung“ der „Juden frage“ ins Werk zu<br />

setzen. Trotz dieser Tatsachen stellte<br />

sich Österreich über 50 Jahre lang <strong>als</strong><br />

erstes Opfer des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

dar. Es bedurfte schon einer neuen<br />

Generation von HistorikerInnen und<br />

Politikwissen schaftler Innen, um 30<br />

Jahre nach dem Prozess gegen Eich -<br />

mann endlich zu der Einsicht zu ge -<br />

lan gen, dass Österrei cherInnen in den<br />

Massenmord in volviert waren.<br />

Während des letzten Jahrzehnts ar -<br />

bei tete Österreich daran, sich <strong>als</strong> Land<br />

zu präsentieren, das sich mit seiner<br />

Vergangenheit beschäftigt und die<br />

geeigneten historischen Leh ren aus ihr<br />

gezogen hat. Aber man muss fragen:<br />

Welche Lehren sind das? Ganz sicher<br />

gehört die wichtigste nicht dazu,<br />

nämlich die Verteidigung des Exis -<br />

tenz rechts Israels.<br />

Problematische Terrains<br />

Im April 2007 unterzeichnete der ös -<br />

terreichische Erdölkonzern OMV, der<br />

teilweise dem österreichischen Staat<br />

gehört, einen Vorvertrag mit dem<br />

Iran über ein gemeinsames Erd gas -<br />

pro jekt. Das Gesamtvolumen die ses<br />

ge planten Geschäfts soll 22 Mrd. Euro<br />

bei einer Laufzeit von 25 Jahren betragen.<br />

Experten sind davon überzeugt,<br />

dass diese Summe dazu verwendet<br />

wer den wird, das iranische Atompro -<br />

gramm zu finanzieren und die ak tu ellen<br />

internationalen Sanktionen ge gen<br />

den Iran zu unterlaufen. Die OMV ist<br />

dabei nicht irgendein Unternehmen –<br />

sie ist die größte Mineralölgesellschaft<br />

in Mitteleuropa. Der österreichische<br />

Staat hält 31,5 Prozent der Anteile an<br />

ihr. Wolfgang Ruttensdorfer, Gene ral di -<br />

rektor der OMV, gehörte mehrere<br />

Jahre lang der österreichischen Regie -<br />

rung an – für die SPÖ, die schon im -<br />

mer über enge Verbindungen zur<br />

OMV verfügte.<br />

Es ist nicht das erste Mal, dass sich<br />

die OMV auf problematisches Terrain<br />

begibt. Denn sie war es auch, die 1968<br />

das erste Gasabkommen mit der<br />

Sowjetunion schloss. Die Gasimporte<br />

begannen unmittelbar nach der Nie -<br />

der schlagung des Prager Frühlings<br />

durch Panzer des Warschauer Pakts.<br />

1980 unterzeichnete die OMV eine<br />

Ver einbarung mit Libyen <strong>als</strong> Teil eines<br />

internationalen Konsortiums und En -<br />

de der 1990er Jahre einen Kontrakt mit<br />

dem durch den Bürgerkrieg zerrütteten<br />

Sudan. Der damalige Presse spre -<br />

cher des Unternehmens argumen tierte<br />

seinerzeit, die OMV müsse trotz der<br />

Risiken im Sudan dort tätig werden,<br />

wo das Öl am billigsten sei und wo<br />

man keine amerikanische Konkur renz<br />

zu befürchten habe. Im Jahre 2003 war<br />

die OMV schließlich der einzig ver -<br />

blie bene internationale Konzern im<br />

Sudan – die übrigen Mineralölge sell -<br />

schaften hatten sich zurückgezogen,<br />

<strong>als</strong> sich die Krise zuspitzte und zehntausende<br />

Menschen von arabischen<br />

Milizen, die von der sudanesischen Regierung<br />

finanziert wurden, er mor det<br />

worden waren. Ende 2003 verkaufte<br />

die OMV ihre Anteile an asiatische<br />

Unternehmen.<br />

Das Geschäft der OMV mit dem<br />

Iran ist die logische Fortsetzung der<br />

Verstrickung dieses Konzerns mit<br />

dik tatorischen Regimes, die ihre ei ge -<br />

ne Bevölkerung unterdrücken und<br />

ermorden. Dennoch gibt es in Bezug<br />

auf den Iran Unterschiede: Die wie -<br />

der holten Drohungen der Mullahs,<br />

Israel zu vernichten, und die Unver -<br />

gleich lichkeit des Regimes hebt den<br />

Deal in den Rang einer existenziellen<br />

Frage – nicht nur für das jüdische<br />

Volk, sondern für die ganze Welt, die<br />

von der gewaltsamen Expansion der<br />

islamischen Herrschaft bedroht ist.<br />

Dennoch wird das Abkommen von al -<br />

len im österreichischen Parlament ver -<br />

tretenen Parteien unterstützt. So zial -<br />

demokraten, Konservative, Grüne und<br />

die extreme Rechte haben die Rei hen<br />

fest geschlossen und verweigern sich<br />

Forderungen, die Verhandlungen mit<br />

dem Iran einzustellen. Ironischer wei se<br />

machte der sozialdemokratische ös -<br />

ter reichische Kanzler Alfred Gusen -<br />

bauer unlängst überdeutlich, dass die<br />

Menschenrechte hinter wirtschaft li -<br />

chen Interessen zurückstehen müss -<br />

ten. Seine Regierung will sich deshalb<br />

nicht einmischen, trotz der fortgesetz -<br />

ten Repression, die vom iranischen<br />

Terrorregime ausgeht.<br />

Kritik aus Deutschland<br />

Die jüngste Kritik der deutschen<br />

Kanz lerin Angela Merkel – die sagte,<br />

Österreich sei dabei, mit dem Ab -<br />

schluss eines solchen Vertrags einen<br />

gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen<br />

– wurde mit dem Verweis auf den<br />

privatwirtschaftlichen Charakter der<br />

OMV gekontert, obwohl der österrei -<br />

chische Staat der größte Anteilseigner<br />

des Unternehmens ist. Am 3. Februar<br />

jedoch unterschrieb mit Albert Stein -<br />

hauser, dem Justizsprecher der Grü nen,<br />

der erste Parlamentsabgeordnete die<br />

Online-Petition gegen den Deal zwischen<br />

der OMV und dem Iran. Es<br />

be steht die Hoffnung, dass er mit sei -<br />

ner Courage ein Vorbild für weite re<br />

Par la mentsmitglieder ist und dass<br />

diese endlich begreifen, dass es höchs<br />

te Zeit zum Handeln ist.<br />

Während des jüngsten Besuchs ei ner<br />

Delegation iranischer Parlamen ta rier<br />

im Dezember 2007 sprach Helmut<br />

Kukacka, konservativer Abgeordneter<br />

und Kopf der österreichisch-iranischen<br />

Parlamentariergruppe, über die gu ten<br />

bilateralen Beziehungen, die auch<br />

nach der Islamischen Revolution fortdauerten.<br />

„Österreich ist sehr daran in -<br />

teressiert, die Freundschaft zwischen den<br />

beiden Ländern zu stärken“, sagte er.<br />

Ein anderer Konservativer – Michael<br />

Spindelegger, Vizepräsident des Natio -<br />

nal rats – lobte die iranische Delega ti on<br />

dafür, den Dialog fortgesetzt und vertieft<br />

zu haben. Es war jedoch vor allem<br />

bemerkenswert, was in der Dis kus si on<br />

nicht zur Sprache kam: der iranische<br />

Wunsch nämlich, Israel zu vernichten.<br />

So warf die Debatte ein Schlaglicht<br />

auf das österreichische Bewusstsein,<br />

das sich durch eine lange Geschichte<br />

des Vergessens und Verdrängens aus -<br />

zeichnet – bis zu dem Punkt, an dem<br />

Österreich sich weigert, etwas zu un -<br />

ternehmen, um einen weiteren Juden -<br />

mord zu verhindern.<br />

➮<br />

POLITIK<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 23


POLITIK • AUSLAND<br />

Österreich hat das iranische Mul -<br />

lah-Regime schon immer behandelt<br />

wie ein rohes Ei. 1989 wurde der Vor -<br />

s it zen de der Demokratischen Partei<br />

Kurdistan-Iran, Abdel Rahman Ghas -<br />

sem lou, in <strong>Wien</strong> vom iranischen<br />

Regime er mor det. Kein einziger Ver -<br />

dächtiger – darunter Berichten zu fol ge<br />

Mahmud Ah madinedjad, wurde je m<strong>als</strong><br />

vor Ge richt für dieses Verbre chen zur<br />

Ver ant wortung gezogen. Statt dessen<br />

setz ten iranische Diplo maten die<br />

österrei chi sche Regierung unter<br />

Druck und for derten, die Er mitt -<br />

lungen einzustellen, die sich auf das<br />

iranische Kommando konzentrier ten,<br />

das am Ort des Mor des an ge troffen<br />

worden war. Un mit tel bar nach dem<br />

dieses Kommando Ös ter reich verlassen<br />

hatte, wurden Haft befehle er -<br />

lassen, die jedoch ohne Konse quenz<br />

blieben.<br />

Österreich hat stets versucht, seine<br />

Be ziehungen in jedem Sektor der ira -<br />

ni schen Wirtschaft zu verbessern.<br />

Mit ten im irakisch-iranischen Krieg<br />

beispielsweise schickte die VOEST,<br />

ein staatliches Stahlunternehmen, 200<br />

Kanonen via Libyen in den Iran. Und<br />

in den letzten Jahren verkaufte der<br />

österreichische Waffenkonzern Steyr-<br />

Mannlicher Präzisionsgewehre an den<br />

Iran. Nach Angaben des ‘American<br />

En terprise Institute’ macht der mili tärisch-industrielle<br />

Komplex elf Pro zent<br />

des österreichisch-iranischen Han -<br />

delsvolumens aus. Seit 2002 ha ben<br />

sich die österreichischen Ex porte in<br />

den Iran verdoppelt, aber sie ge hen<br />

immer noch nur in die Millio nen,<br />

nicht in die Milliarden. Der ge plante<br />

OMV-Deal mit dem Iran wür de das<br />

ändern und Österreich so wie Europa<br />

zu langfristigen strategischen Part nern<br />

des iranischen Regimes machen. „Ös -<br />

ter reich ist für uns das Tor zur Euro pä -<br />

ischen Union“, so Ali Naghi Khamou shi,<br />

der Präsident der iranischen Han delskammer,<br />

im November 2006.<br />

Im März <strong>2008</strong> wird Österreich of fi ziell<br />

das 70-jährige Jubiläum des „An -<br />

schlus ses“ betrauern. Zwei Mo nate<br />

später wird es an den 60-Jahres-Fei er -<br />

lichkeiten des Staates Israel teilneh -<br />

men. Diese Ereignisse sollten Anlass<br />

zu einer moralischen Gewis sens prü -<br />

fung sein. Österreich muss seine mo -<br />

ralische Rhetorik in kon kretes Han -<br />

deln umsetzen, wenn es unter Be weis<br />

stellen will, dass es seine Lektion gelernt<br />

hat. Diese Worte würden mit<br />

Inhalt gefüllt, und es würde zudem<br />

ein deutliches Zei chen gesetzt, wenn<br />

durch eine Auf kündigung des ge -<br />

planten größten Öl abkommens aller<br />

Zeiten zwischen einem euro pä i schen<br />

Unternehmen und den Mul lahs zu -<br />

mindest der Versuch unternommen<br />

wird, die atomaren Ambitionen des<br />

Irans zu stoppen.<br />

■<br />

UN-SITZUNG:<br />

Gedenkminute<br />

für „Märtyrer“<br />

im Gazastreifen<br />

Der UN-Menschenrechtsrat hat<br />

eine Schweigeminute für die<br />

„Märtyrer“ ab gehalten, die bei der<br />

jüngsten isra elischen Offensive im<br />

Gazastreifen getötet wurden. Der<br />

Antrag kam vom ira nischen Aus -<br />

senminister Manu chehr Mottaki.<br />

Während der Sitzung in Genf<br />

forder te Mottaki die Geste für die<br />

Frau en und Kinder, die „heutzutage<br />

vom zionistischen Regime angegriffen“<br />

würden. Er bat den Vor sit -<br />

zenden um „eine Mi nute des Schwei -<br />

gens“, in der seine „mus limischen<br />

Brüder und Schwestern“ den ersten<br />

Vers des Korans „für jene Mär ty rer<br />

in Gaza“ lesen sollten.<br />

Wie die Tageszeitung „Ha´aretz“<br />

be richtet, herrschte daraufhin im<br />

Sit zungssaal etwa 30 Sekunden<br />

lang Schweigen.<br />

inn<br />

EU verurteilt<br />

israelfeindliche Aussagen<br />

iranischer Spitzenpolitiker<br />

Die Europäische Union hat jüngste<br />

israelfeindliche Aussagen iranischer<br />

Spitzenpolitiker „aufs Schärfste verurteilt“.<br />

„Die EU ruft den Iran auf, mit<br />

seiner feindlichen Sprache aufzuhören und<br />

sich aller Drohungen gegenüber an de ren<br />

Staaten und Mitgliedern der internationalen<br />

Gemeinschaft zu enthalten“, heißt es<br />

in einer Stellungnahme des slowenischen<br />

EU-Ratsvorsitzes. Darin wird<br />

Teheran aufgerufen, sich zur Not wen -<br />

digkeit einer Koexistenz zweier Staa -<br />

ten <strong>als</strong> Lösung des israelisch-palästinensischen<br />

Konflikts zu bekennen.<br />

Die Aus sagen von Präsident Mah -<br />

moud Ahmadinejad, Außenminister<br />

Ma nou cher Mottaki und des Befehls -<br />

habers der Revolutionären Garden<br />

(Pas da ran), Mohammad Ali Jafari,<br />

seien „un annehmbar, schädlich und un -<br />

zi vilisiert“, heißt es in der Stellung -<br />

nah me.<br />

Ahmadinejad bezeichnete Israel „<strong>als</strong><br />

schwarze und schmutzige Mikrobe“, die<br />

von der internationalen Gemein schaft<br />

„wie ein wildes Tier auf die Nationen der<br />

Region losgelassen“ worden sei. Jafari<br />

hatte Israel <strong>als</strong> „krebsartige Existenz“<br />

bezeichnet, die bald von der libanesischen<br />

schiitischen Hisbollah-Miliz<br />

zerstört werde. Mottaki sagte, dieses<br />

vom Westen aufgezwungene „künstliche<br />

Regime“ habe auch 60 Jahre nach<br />

seiner Gründung „keine Legi ti mität“<br />

und spiele keine Rolle in der Region.<br />

Islamabad, 07. März <strong>2008</strong> - Pakistans religiöse Partei Jamaat-e-Islami und ihr<br />

Führer Qazi Hussein Ahmad (nicht im Bild) rufen vor der Faisal Moschee zur<br />

Zerstörung Israels auf .<br />

©EPA/T.Mughal<br />

24 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


POLITIK • ISRAEL<br />

TERRORANSCHLAG IN JERUSALEM<br />

Kurz nach 20.30 Uhr stürmte am<br />

Abend des 6. März ein palästinensischer<br />

Terrorist mit einer Ka lasch -<br />

nikov bewaffnet in die Mercaz Harav<br />

Yeshiva in Jerusalem und schoss in<br />

der Bibliothek, in der sich 80<br />

Studenten, zumeist Teenager, aufhielten,<br />

in die Menge. Acht Studenten<br />

wurden getötet, elf verletzt, drei da -<br />

von schwer.<br />

Im Gazastreifen wurde der An schlag<br />

durch Luft schüsse ge feiert. Die Ha -<br />

mas erklärte, dass sie den Anschlag<br />

segne und dass es nicht der letzte<br />

gewesen sei.<br />

Stichwort: Jeschiva<br />

„Er war ein guter Junge“<br />

Besuch bei der Familie des Jerusalem-Attentäters<br />

Allah Abu Dehaim, 25, war ein „guter<br />

Junge“, sagt sein Cousin Mohammad<br />

vor dem riesigen blauen Trauerzelt<br />

der Familie. Am 6. März hatte De haim<br />

mit einem Schnellfeuergewehr, mehreren<br />

Pistolen und sehr viel Munition<br />

in der „Jeshivat Merkaz Harav“ ein<br />

Blutbad angerichtet, acht Schüler zwi -<br />

schen 16 und 26 Jahren ermordet und<br />

weitere verletzt. „Mit uns hat er nie über<br />

Politik gesprochen“, erzählt Mo ham -<br />

mad, der auf der Terrasse der Neu -<br />

bauvilla der Familie Dehaim steht. Er<br />

gab Interviews im Fließband. In der<br />

Ferne sieht man die von den Israelis<br />

er richtete Trennmauer im Osten Jeru -<br />

salem, die judäische Wüste und sogar<br />

die Berge Jordaniens. Djebel Mukab er,<br />

eigentlich ein Dorf und heute ein Vier -<br />

tel Jerusalems, grenzt an das von Ju den<br />

bewohnte Viertel „Armon Hanatziv“.<br />

Keine Mauer und kein Zaun zwischen<br />

beiden Vierteln, die dennoch wie zwei<br />

Welten wirken. Neben BBC und dem<br />

spanischen Fernsehen sind auch Reu -<br />

ters und arabische Fernsehteams ge -<br />

kom men. Dehaim habe <strong>als</strong> „Trans por -<br />

teur“ gearbeitet und einen Mini bus<br />

gefahren. Ob er auch für jene fromme<br />

Schule gearbeitet habe, wie die Po li zei<br />

behauptete? Mohammad wird leicht<br />

ungehalten: „Das ist eine typische Lüge<br />

der Juden. An der Schule wird Hass auf<br />

Araber gelehrt. Die würden niem<strong>als</strong><br />

einen Araber <strong>als</strong> Fahrer einsetzen.“<br />

Vor dem Haus, <strong>als</strong> Girlande über<br />

die Straße und auf der benachbarten<br />

Schule hängen fabrikneue grüne<br />

Flag gen mit dem eingestickten Spruch<br />

„Allah ist Groß“. Zwischen diesen<br />

Flaggen der radikal-islamischen Ha -<br />

mas hängt auch eine gelbe Fahne der<br />

Hisbollah und ansonsten Flaggen der<br />

PLO, die „palästinensische Flagge“.<br />

Ob die Familie politisch aktiv sei und<br />

der Hamas angehöre? Mohammad<br />

ver neint: „Es ist üblich, die Fahne mit<br />

dem Wort Allah aufzuhängen, weil sie<br />

zeigt, dass Allah hinter uns steht.“ Ob<br />

Dehaim Mitglied einer politischen Or -<br />

ganisation gewesen sei? Mohammad<br />

verneint erneut, aber „es ist klar, dass<br />

wir alle betroffen und wütend sind, we -<br />

gen der Vorgänge in Gaza und wegen der<br />

Mohammed-Karikaturen. Sie wissen doch,<br />

die Karikaturen aus Dänemark. Und wie<br />

die Welt Moslems behandelt.“<br />

Dehaim habe drei Brüder - die in<br />

der Nacht von der Polizei abgeholt<br />

worden seien und immer noch in Haft<br />

säßen - und sechs Schwestern hin ter -<br />

lassen. Die Familie habe nichts ge spürt<br />

und Mohammad behauptet, selber erst<br />

etwas erfahren zu haben, <strong>als</strong> die Poli zei<br />

kam. Die Frage, woher denn De haim,<br />

der keiner Organisa tion an gehöre und<br />

über Politik nicht einmal re den wollte,<br />

die Waffen hatte, „würde ich Ihnen<br />

beantworten, wenn ich es wüss te“. Mo -<br />

ham mad weiß auch nicht, wie und wo<br />

Dehaim in den Ge brauch der Waffen<br />

eingeweiht worden war. UWS/APA<br />

„Jeschiva“ (Plural: Jeschivot) ist eine fromme<br />

jüdische Erziehungsanstalt für junge Männer.<br />

Mädchen lernen separat in „Instituten“.<br />

Im Staat Israel gibt es parallele staatlich<br />

anerkannte Erziehungssysteme: weltliche<br />

Schu len, fromme Schulen, zu denen auch die<br />

Jeschivot zählen und arabische Schu len.<br />

Hinzu kommen orthodoxe Jeschivot mit<br />

einem eigenen streng religiösen Lehrplan.<br />

Die in Jerusalem überfallene Jeschiva bie tet<br />

ihren Schülern neben dem Stu di um des Tal -<br />

mud auch weltliche Kurse zu Mathematik und<br />

Geografie. Der Ab schluss, das Abitur, er -<br />

mächtigt sie zum Studium an der Uni ver si tät.<br />

Die „Jeschiva“ ist kein „Priesterse mi nar“, da<br />

es im Judentum keine hauptamtlichen „Pries-<br />

ter“ gibt. Ein „Cohen“ (Priester) ist ein Nach -<br />

fahre des biblischen Aahron, erkennbar an<br />

seinem Familiennamen wie Kahn, Kohn oder<br />

Katz (Abkürzung für „Cohen Zedek“). Einem<br />

Cohen wird im Gottesdienst traditionell eine<br />

besondere Eh re erteilt, <strong>als</strong> Erster zur Lesung<br />

aus der Tora (Fünf Bücher Mose) aufgerufen zu<br />

werden. Diese Erbpriester sind nicht zu ver -<br />

wechseln mit den an „Rabbiner se mi na ren“ ausgebildeten<br />

Rabbinern, den jüdischen Geist li -<br />

chen. Wer in einer „Jeschi va“ lernt, wird nicht<br />

automatisch Rabbiner.<br />

Auf Anfrage vergleicht der Jerusalemer Rab -<br />

biner Zeev Gotthold die „Jeshiva“ mit der<br />

deutschen Mittelschule. Das Schwer gewicht<br />

werde auf das Studium frommer Texte, das tägliche<br />

Gebet und die Erzie hung zu einem from -<br />

men Lebenswandel gelegt, vergleichbar mit<br />

deutschen Non nenschulen, wo Schüler nicht<br />

dazu angehalten werden, nach dem Ab schluss<br />

ins Kloster zu gehen. Neben diesen Mittel -<br />

schu le-Jeschivot gibt es Jeschivot, an de nen<br />

fromme jüdische Männer ihr Leben lang studie<br />

ren, weil sie im Studium des Talmud eine<br />

be sonders gottgefällige Aufgabe sehen. Der<br />

Talmud, zwischen 500 vor und 500 nach Chr.<br />

entstanden, ist ein Sammelwerk rabbinischer<br />

Kommentare zu den in den fünf Büchern Mo -<br />

ses enthaltenen göttlichen Geboten. UWS<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 25


POLITIK • ISRAEL<br />

UNO<br />

UNO-SICHERHEITSRAT<br />

Keine Einigung zu<br />

Jerusalemer Anschlag<br />

Zahlreiche Regierungen - bedauerlicherweise<br />

gab es aus Österreich keine<br />

offizielle Reaktion - haben den blutigen<br />

Anschlag auf eine Jeshiva in Jeru -<br />

sa lem mit min destens acht Toten<br />

scharf verurteilt.<br />

Der UNO-Sicherheitsrat konnte sich<br />

hingegen nicht auf eine gemeinsame<br />

Haltung einigen. Das höchste Gre mi -<br />

um der Vereinten Nationen ging nach<br />

zweistündigen Beratungen oh ne Er -<br />

geb nis auseinander. Einige Mitglie der<br />

hätten das At ten tat nicht <strong>als</strong> Ter ror -<br />

an schlag werten wol len, sagte der<br />

am tierende Präsi dent des Weltsicher -<br />

heits rates, der rus sische UNO-Bot -<br />

schaf ter Witali Tschur kin. „Als russische<br />

De legation bedauern wir, dass der Welt -<br />

sicherheitsrat nicht in der Lage war, den<br />

Anschlag zu verurteilen“, so Tschur kin<br />

vor Journalisten.<br />

Auch der UNO-Botschafter der<br />

USA, Zalmay Khalilzad, zeigte sich<br />

ent täuscht. Er machte Libyen - eines<br />

der zehn nichtständigen Mitglieder<br />

des Weltsicherheitsrates - für das<br />

Schei tern verantwortlich. „Diejenigen,<br />

die die Er klä rung verhindert haben, tragen<br />

die Verantwortung“, so Khalilzad.<br />

Israels UNO-Botschafter Dan Giller -<br />

man griff die libysche Delegation an:<br />

„Der Welt si cherheitsrat ist von Terro ris ten<br />

infiltriert“, sagte er vor Journa lis ten.<br />

Mitglieder der libyschen Delega ti on<br />

erklärten, das Gremium müsse auch<br />

die Tötung von mehr <strong>als</strong> 120 Palästi -<br />

nen sern bei der jüngsten israelischen<br />

Offensive gegen Extremisten im Ga -<br />

za-Streifen verurteilen. „Wenn der Rat<br />

Maßnahmen ergreift, sollten sie ausgewo<br />

gen sein“, hieß es. Khalilzad und<br />

Tschurkin wollten die Gescheh nisse<br />

nicht gleichsetzen. Menschen in einer<br />

Schule zu töten sei etwas anderes <strong>als</strong><br />

die unbeabsichtigte Tötung von Zivi -<br />

lis ten wie bei dem Einsatz in Gaza,<br />

ar gumentierte der US-Botschafter.<br />

US-Präsident George W. Bush er -<br />

TERRORANSCHLAG IN JERUSALEM<br />

klär te: „Dieser barbarische und teuflische<br />

An griff auf unschuldige Zivilisten<br />

verdient es, von jeder Nation verurteilt<br />

zu werden.“ Er habe dem israelischen<br />

Pre mier Ehud Olmert in einem Tele -<br />

fonat sein tiefes Beileid ausgesprochen<br />

und versichert, dass die USA<br />

eng an der Seite Israels stünden.<br />

Der EU-Außen be auf tragte Solana<br />

sprach der israelischen Außenminis -<br />

te rin Tzipi Livni sein Mitgefühl aus,<br />

wie seine Spre cherin Cristina Gallach<br />

sagte.<br />

Mit Entsetzen reagierte auch Bun -<br />

deskanzlerin Angela Merkel auf den<br />

blutigen Anschlag auf die Religions -<br />

schu le in Jerusalem. Ihr Sprecher<br />

Ulrich Wilhelm sagte in Berlin, die<br />

Kanzlerin habe mit dem israelischen<br />

Re gierungschef Ehud Olmert am<br />

morgen telefoniert, den Anschlag auf<br />

das Schärfste verurteilt und ihr Mit -<br />

gefühl ausgedrückt. Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier hatte sich<br />

ähnlich geäußert und von einem verbrecherischen<br />

Akt gesprochen. Spre -<br />

cher Martin Jäger sagte, es handle<br />

sich um ein entsetzliches Verbrechen,<br />

EU<br />

das <strong>als</strong> Einzelakt gesehen werde. Der<br />

Mi nis ter habe auch mit seiner israelischen<br />

Kollegin Tsipi Livni telefoniert<br />

und sein Mitgefühl ausgedrückt.<br />

UNO-Gener<strong>als</strong>ekretär Ban Ki-moon<br />

kritisierte den „grausamen Angriff“. Er<br />

sei in tiefer Sorge, dass die anhaltende<br />

Gewalt und der Terrorismus den<br />

politischen Prozess untergrabe, sagte<br />

Ban in einer Erklärung, die in New<br />

York verbreitet wurde.<br />

Auch der palästinensische Präsi dent<br />

Mahmoud Abbas verurteilte den An -<br />

schlag scharf.<br />

Die israelische Re gie rung erklärte,<br />

trotz des Terrorakts soll ten die Friedens<br />

gespräche mit den Palästinen sern<br />

weitergehen. „Die Ter ro risten versuchen<br />

die Chancen auf Frieden zu zerstören, aber<br />

wir werden bestimmt die Friedensge sprä -<br />

che fortsetzen“, sagte der Sprecher des<br />

israelischen Außen mi nisteriums, Arie<br />

Me kel.<br />

Der Angreifer, ein <strong>als</strong> orthodoxer<br />

Jude verkleideter Mann, wurde laut<br />

Po li zei von einem israelischen Solda -<br />

ten getötet.<br />

EU-PRÄSIDENTSCHAFT<br />

EU korrigiert ihre Verurteilung<br />

Die EU Präsidentschaft hat eine schar fe Verurteilung<br />

des Terror-Anschlags veröffentlicht. Allerdings folgte<br />

einer ersten Version eine zweite, mit der Bitte, den<br />

ersten per Email anderthalb Stunden zuvor verschickten Text nicht zu beachten.<br />

Während die EU zunächst beklagte, dass der „Terror-Akt“ in dem jüdischen<br />

Seminar in Jerusalem „kostbares Leben“ gefordert habe, besann sich die EU darauf,<br />

dass es „unschuldiges Leben“ gewesen sei.<br />

Im nächsten Abschnitt hieß es zu nächst: „Trotz des Horrors, den diese Attacke<br />

erneut erweckte, forderte die Prä sidentschaft Israel und die Palästinenser auf, standhaft<br />

ihre Bemühungen einzig um eine politische Lösung des Konflikts zu befolgen, die<br />

allein einen beständigen Frieden und Sicherheit für beide Völker bringen könne.“<br />

Diese Passage wich den Worten: „Ter ror akte sind nicht akzeptabel. Dieser<br />

Terrorakt darf den Friedensprozess nicht entgleisen lassen und nicht den Geist von<br />

Annapolis schwächen.“<br />

Aus dem Vergleich der Texte ergibt sich, dass die EU zunächst nicht das<br />

Wort „unschuldig“ für die Schüler der jüdischen Hochschule verwenden wollte,<br />

zumal dieses Wort inflationär für die Beschreibung von Palästinen sern<br />

dient, die durch Israelis getötet wurden, gleichgültig ob Kämpfer, be waffnet<br />

oder beim Verschießen einer Rakete ertappt.<br />

Die zweite gestrichene Passage konnte <strong>als</strong> Aufforderung vor allem an Israel<br />

miss verstanden werden, jetzt den Friedensprozess nicht entgleisen zu las sen.<br />

In der neueren Version verurteilt die EU-Präsidentschaft ganz grund sätzlich<br />

den Terrorakt, ohne mehr Israelis und Palästinenser beim Na men zu nennen.<br />

Ulrich W. Sahm, Jerusalem,7.3.<strong>2008</strong><br />

26 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


POLITIK • ISRAEL<br />

Einleitung<br />

GAZASTREIFEN<br />

Die gegenwärtigen Kämpfe in Is -<br />

rael und im Gaza-Streifen, insbesondere<br />

der tragische Tod von Zivilisten<br />

und die Beschädigung zivilen Eigen -<br />

tums im Verlauf des Konflikts, werfen<br />

wichtige und herausfordernde<br />

Fra gen auf. Was ist ein legitimes Ziel<br />

bei der Reaktion auf einen terroristischen<br />

Angriff? Wie kann bestimmt<br />

werden, ob eine Reaktion unverhältnismäßig<br />

ist?<br />

Diese Fragen sind besonders akut in<br />

einer Situation, in der die Terroror ga -<br />

ni sation Hamas Zivilisten sowohl <strong>als</strong><br />

Schutzschild <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Ziel scheibe<br />

benutzt. Israel bemüht sich für seinen<br />

Teil darum, die Verletzung von Zivi -<br />

lis ten auf beiden Seiten zu begrenzen:<br />

von israelischen Zivilis ten, die von den<br />

Raketen und Mörsern der Hamas at -<br />

tackiert werden, und von palästinensischen<br />

Zivilisten, in deren Mitte sie<br />

gehortet und abgeschossen werden.<br />

Dass Israel sich der krassen Verlet -<br />

zungen des internationalen Rechts<br />

durch die Terroristen schmerzhaft be -<br />

wusst ist, entbindet es nicht von seiner<br />

eigenen Verantwortung, rechtliche<br />

Grundsätze bei seiner Reaktion zu<br />

be folgen. Diese Grundsätze des in -<br />

ternationalen Rechts enthalten nicht<br />

immer eindeutige Antworten, aber<br />

sie bieten eine wichtige Orien tie -<br />

rungshilfe bei der Durchfüh rung von<br />

Militäroperationen.<br />

I. Militäroperationen und<br />

zivile Opfer<br />

Das internationale Recht erkennt<br />

die tragische Tatsache an, dass es in<br />

rechtmäßigen Militäroperationen zu<br />

zivilen Todesopfern und Verletzten<br />

kommen kann. So hat die Rechts au -<br />

torität Oppenheim festgestellt: „Zi -<br />

vilisten genießen keine absolute Immu -<br />

nität. Ihre Anwesenheit macht militärische<br />

Objekte nicht schon deshalb immun<br />

gegen einen Angriff, dass es unmöglich ist,<br />

sie zu bombardieren, ohne Nicht kämp -<br />

fenden Schaden zuzufügen.“ 1<br />

In der Praxis stellen sich zwei Fra -<br />

gen in Bezug auf die Recht mäßigkeit<br />

der Planung und Ausführung einer<br />

Operation:<br />

Fragen der Verhältnismäßigkeit<br />

Israels Antwort auf den Terror der Hamas<br />

1) Ist das Ziel selbst ein legitimes<br />

mi litärisches Angriffsziel?<br />

2) Ist - wenn das Ziel legitim ist –<br />

mit der unverhältnismäßigen Verlet -<br />

zung und Schädigung der Zivilbevöl -<br />

ke rung und zivilen Eigentums zu<br />

rechnen?<br />

II. Legitime militärische Ziele<br />

Die allgemein anerkannte Defini -<br />

tion eines „militärischen Ziels“ wird<br />

in Art. 52 (2), Zusatzprotokoll I der<br />

Genfer Konvention bestimmt: „Was<br />

die Ziele angeht, sind militärische Ziele<br />

auf solche begrenzt, die ihrer Natur, ih -<br />

rem Standort und ihrem Zweck oder ih rer<br />

Nutzung nach einen wirksamen Beitrag<br />

für eine Militäraktion darstellen und<br />

deren totale oder teilweise Zerstö rung,<br />

Einnahme oder Neutralisierung innerhalb<br />

der aktuell herrschenden Um stände einen<br />

eindeutigen militärischen Vor teil versprechen.“<br />

Wenn der Standort ein legitimes<br />

militärisches Ziel darstellt, hört er<br />

nicht deswegen auf eines zu sein,<br />

dass sich Zivilisten in seiner Umge -<br />

bung befinden. So stellt Art. 28 der<br />

IV. Genfer Konvention fest: „Die<br />

Anwesenheit einer geschützten Person<br />

kann nicht dazu genutzt werden, be -<br />

stimmte Punkte oder Gebiete immun ge -<br />

gen Militäroperationen zu machen.“<br />

Ohne Frage stellt die absichtliche<br />

Platzierung militärischer Ziele im<br />

Herzen bewohnter Gebiete eine ernsthafte<br />

Verletzung des humanitären<br />

Rechts dar, und diejenigen, die solche<br />

Ziele in diesen Gebieten platzieren,<br />

müssen die Verantwortung für die Verletzung<br />

von Zivilisten tragen, die ihre<br />

Entscheidung mit sich bringt. Der<br />

internationale Rechtsexperte Yo ram<br />

Dinstein bemerkt: „Sollten sich zivile<br />

Opfer aus einem Versuch, Kämpfer oder<br />

ein militärisches Ziel abzuschirmen, er ge -<br />

ben, liegt die letzte Verantwortung bei der<br />

kriegsführenden Partei, die die un schul -<br />

digen Zivilisten der Gefahr aussetzt.“<br />

Aber die hartherzige Missachtung<br />

von Seiten derjenigen, die sich hinter<br />

Zivilisten verstecken, befreit den<br />

Staat nicht davon, auf solche Angriffe<br />

aus der Verantwortung heraus zu<br />

reagieren, dass die Verletzung von<br />

Zivilisten und ihrem Eigentum im<br />

Laufe der Operationen vermieden<br />

oder zumindest minimiert werden.<br />

Gerade dies wirft die komplexe Frage<br />

der Verhältnismäßigkeit auf.<br />

III. Verhältnismäßigkeit<br />

Die zweite rechtliche Anforderung<br />

besteht darin, dass jeder Angriff im<br />

Verhältnis zu dem erhofften militärischen<br />

Vorteil steht. Generalmajor<br />

A.P.V. Rogers, ein früherer Direktor der<br />

British Army Legal Services, erläutert<br />

die Ratio hinter diesem Prinzip:<br />

„Obwohl sie keine militärischen Ziele dar -<br />

stellen, sind Zivilisten und zivile Ob jekte<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 27


POLITIK • ISRAEL<br />

den allgemeinen Gefahren des Krieges in<br />

dem Sinne unterworfen, dass Angriffe<br />

auf Militärpersonal und militärische Ziele<br />

zufälligen Schaden verursachen können. Es<br />

kann unmöglich sein, den Einwir kungs ra -<br />

dius gänzlich auf das anzugreifende Ziel<br />

zu beschränken... Angehörige der Streit -<br />

kräf te sind nicht für zufälligen Schaden<br />

zur Verantwortung zu ziehen, vorausgesetzt,<br />

dass er in angemessenem Verhält nis<br />

zu dem erwarteten militärischen Ertrag<br />

des Angriffs steht.“<br />

Während das Prinzip klar ist, kann<br />

sich das Abwägen eines erwarteten<br />

mi litärischen Vorteils gegen einen<br />

mög lichen Kollater<strong>als</strong>chaden <strong>als</strong> ex -<br />

trem komplizierte Kalkulation erweisen,<br />

speziell in der Hitze eines be waff -<br />

neten Konflikts. In seinem Bericht an<br />

den Ankläger des Inter na tionalen<br />

Straf tribun<strong>als</strong> für das ehemalige Ju goslawien<br />

hat das Komitee zur Überprüfung<br />

der NATO-Bombardie run gen in<br />

Jugosla wien die besonderen Schwie -<br />

rig keiten hervorgehoben, die entstehen,<br />

wenn militärische Ziele in dicht<br />

bevölkerten Gebieten liegen:<br />

„Die Antworten auf diese Fragen sind<br />

nicht einfach. Es kann notwendig sein,<br />

sie auf einer Fall-für-Fall-Grundlage zu<br />

lösen, und die Antworten können je nach<br />

dem Hintergrund und den Werten des<br />

Entscheidungsträgers differieren. Es ist<br />

un wahrscheinlich, dass ein Menschen -<br />

rechts anwalt und ein erfahrener Kampf -<br />

kom mandeur die gleichen jeweiligen<br />

Werte an den militärischen Vorteil und<br />

die Verletzung von Nichtkämpfenden<br />

anlegen ... Es wird vorgeschlagen, dass die<br />

Bestimmung der jeweiligen Werte diejenige<br />

eines ‚vernünftigen Militär kom man -<br />

deurs’ sein sollte.“<br />

Ein wichtiger Grundsatz, den das<br />

in ternationale Recht für den diesen<br />

schwierigen Abgleich suchenden‚<br />

ver nünftigen Militärkommandanten’<br />

eingeführt hat, besteht darin, dass die<br />

Verhältnismäßigkeit einer Antwort<br />

auf einen Angriff nicht an dem spezifischen<br />

Angriff gemessen werden soll,<br />

der dem Staat widerfahren ist, sondern<br />

daran, was notwendig dafür ist,<br />

die übergreifende Bedrohung abzuwenden.<br />

Wie Rosalyn Higgins, die ge -<br />

genwärtige Präsidentin des Inter nationalen<br />

Gerichtshofs, geschrieben hat,<br />

kann Verhältnismäßigkeit „nicht in<br />

Bezug auf irgendeine spezifische Verlet -<br />

zung“ bestimmt werden, sondern „in<br />

Bezug auf das übergreifende legitime Ziel<br />

der Beendigung der Aggression“.<br />

Dementsprechend schließt das Recht<br />

auf Selbstverteidigung nicht nur<br />

Handlungen ein, die zur Abwehr<br />

einer unmittelbaren Bedrohung er -<br />

grif fen werden, sondern auch solche,<br />

die nachfolgende Angriffe verhindern<br />

sollen.<br />

IV. Von der Theorie zur Praxis –<br />

Israels Operationen in Gaza<br />

Israel hat sich die oben dargelegten<br />

Grundsätze des internationalen hu manitären<br />

Rechts zu Eigen gemacht, und<br />

die Israelischen Verteidi gungs streit -<br />

kräf te (ZAHAL) haben sie in ih rem<br />

Handbuch zum Kriegsbuch ver an kert.<br />

Was die Auswahl von Zie len angeht,<br />

verlangt das Handbuch nicht nur,<br />

dass zwischen militärischen Zie len<br />

und zivilen Objekten unterschieden<br />

werden muss; es ordnet auch an, dass<br />

man „im Falle des Zweifels, ob ein ziviles<br />

Objekt zu einem militärischen Ziel<br />

geworden ist, ... davon ausgehen muss,<br />

dass es sich nicht um ein militärisches Ziel<br />

handelt, bis das Gegenteil bewiesen ist“.<br />

In ähnlicher Weise bestimmt das<br />

ZA HAL-Handbuch in Bezug auf die<br />

Frage der Verhältnismäßigkeit: „Selbst<br />

wenn es nicht möglich ist, Zivilisten von<br />

einem Militärschlag auszunehmen und es<br />

keine andere Möglichkeit gibt <strong>als</strong> anzugrei<br />

fen, muss der Kommandant einen An -<br />

griff unterlassen, der erwartungsgemäß<br />

der Zivilbevölkerung Schaden zufügt, der<br />

unverhältnismäßig zum erwarteten militärischen<br />

Ertrag ist.“<br />

In der Praxis verlangt dies von ZA -<br />

HAL und dem Kommandeur im<br />

Feld, sowohl den erwarteten militärischen<br />

Etrag <strong>als</strong> auch den potentiellen<br />

Kollater<strong>als</strong>chaden für Zivilisten in<br />

dem Gebiet abzuwägen. In Hinsicht<br />

auf den erwarteten militärischen Er -<br />

trag ist zu betonen, dass der relevante<br />

Vorteil nicht der des spezifischen An -<br />

griffs, sondern der Militärope ra ti on<br />

<strong>als</strong> Ganzer ist. So stellt das deutsche<br />

Militärhandbuch fest: „Der Begriff<br />

‚militärischer Vorteil’ bezieht sich auf den<br />

Vorteil, der von dem Angriff <strong>als</strong> Ganzem<br />

erwartet werden kann und nicht nur von<br />

isolierten oder spezifischen Teilen des<br />

Angriffs.“<br />

Es muss – wie oben erwähnt - auch<br />

daran erinnert werden, dass die relevante<br />

Überlegung zur Abwägung der<br />

Rechtmäßigkeit einer Antwort auf<br />

einen Akt der Aggression sich nicht<br />

auf die bereits durchgeführten An -<br />

grif fe bezieht, sondern auf das „über -<br />

grei fende Ziel einer Been di gung der Ag -<br />

gres sion“.<br />

In Israels Fall bedeutet dies, dass<br />

seine Antwort nicht nur in Hin sicht auf<br />

irgendeinen spezifischen Grenz zwi -<br />

schenfall gemessen werden muss –<br />

oder selbst die Gesamtzahl der Tau senden<br />

von Raketen und Mör ser gra na ten,<br />

die bereits auf is ra eli sche Zi vi listen in<br />

der Nachbar schaft Gazas abgefeuert<br />

worden sind -, sondern auch in Hin -<br />

sicht auf die Bedrohung in Form der<br />

gehorteten Raketen, Waf fen und Mu nition,<br />

die die Hamas noch zur Ver fügung<br />

hat und gegen Israel einzusetzen<br />

droht.<br />

Die Möglichkeit eines Kollateral -<br />

scha dens von Zivilisten muss im Lich -<br />

te dieser Überlegungen abgewogen<br />

werden. Leider bedeutet die absichtliche<br />

Platzierung von Raketenwerfern<br />

und Waffenvorräten im Herzen von<br />

zivilen Wohngebieten, dass dieses<br />

Risiko tragisch hoch ist.<br />

Aber durch die Anwesenheit von<br />

Zivilisten in seinem Gebiet hört ein<br />

militärisches Ziel nicht auf, ein legitimes<br />

Angriffsziel zu sein. Dies ist nicht<br />

nur das Recht – wie oben erwähnt -,<br />

sondern auch die Praxis von Staaten.<br />

Das Handbuch der australischen Ar -<br />

mee spiegelt diese vorherrschende<br />

Praxis wieder: „Die Anwesenheit von<br />

Nichtkämp fen den in nerhalb oder in der<br />

Gegend eines militärischen Ziels ändert<br />

nichts an seinem We sen <strong>als</strong> militärisches<br />

Ziel. Nichtkämpfende in der Um ge bung<br />

eines militärischen Ziels müssen die Ge -<br />

fahr teilen, denen das militärische Ziel<br />

ausgesetzt ist.“<br />

In der Praxis macht sich Israel den<br />

hier reflektierten Standpunkt nicht zu<br />

Eigen, demzufolge Zivilisten in der<br />

Umgebung eines militärischen Ziels<br />

die „Gefahr teilen“ müssen. Vielmehr<br />

un ternimmt es erhebliche Anstren gungen,<br />

zivile Opfer zu vermeiden oder<br />

zu minimieren. Jede Operation wird<br />

auf individueller Basis abgewogen,<br />

um sicherzustellen, dass sie der Ver -<br />

hält nismäßigkeitsprüfung standhält.<br />

Oft m<strong>als</strong> bedeutet dies die Ableh nung<br />

vorgeschlagener Militärope ra tionen,<br />

wenn die Wahrschein lich keit von Kol -<br />

later<strong>als</strong>chäden für Zivi listen und ihr Ei -<br />

gentum <strong>als</strong> zu hoch eingeschätzt wird.<br />

28 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


POLITIK • ISRAEL<br />

Schluss<br />

Die gegenwärtige Militäroperation in<br />

Gaza vollzieht sich vor dem Hinter -<br />

grund einer klaren Asymmetrie in<br />

Be zug auf die Umsetzung von<br />

Grund sätzen des internationalen hu -<br />

manitä ren Rechts: Die Hamas greift<br />

unter klarer Verlet zung dieser<br />

Grund sätze absichtlich israelische<br />

Zivilisten an, während sie gleichzeitig<br />

ihre Ba sen und Waffen lager im<br />

Herzen ziviler Zentren platziert.<br />

Israel trachtet auf der anderen Seite<br />

danach, die Grund sätze des hu -<br />

manitären Rechts selbst auf jene<br />

anzuwenden, die sie verspotten.<br />

Israels Oberster Gerichts hof hat bei<br />

der Prüfung der Rechtmäßigkeit von<br />

Israels Antworten auf den Terror<br />

wiederholt unterstrichen: „Dies ist das<br />

Schicksal einer Demokratie, insofern nicht<br />

alle Mittel akzeptabel für sie sind und<br />

nicht alle Handlungen ihrer Feinde offen<br />

liegen. Obwohl eine Demokratie mit<br />

einer hinter dem Rücken gefesselten<br />

Hand kämp fen muss, behält sie dennoch<br />

die Oberhand.“ (HCJ 5100/94)<br />

Dementsprechend bemüht sich Is -<br />

rael sicherzustellen, dass es seine<br />

Angriffe gegen legitime militärische<br />

Ziele richtet und die Verletzung von<br />

Zivilisten im Laufe seiner Operatio -<br />

nen auf ein Minimum begrenzt<br />

bleibt. Eine Studie zur internationalen<br />

Praxis deutet darauf hin, dass die<br />

von Israel unternommenen Schritte<br />

und seine Herangehensweise an die<br />

Ver häl tnismäßigkeit denen der meisten<br />

westlichen Staaten, die ähnlichen<br />

Bedrohungen ausgesetzt sind,<br />

entspricht bzw. stringenter sind <strong>als</strong><br />

jene.<br />

Das Leiden von Zivilisten auf beiden<br />

Seiten dieses Konflikts ist tragisch.<br />

Israel unternimmt unermüdliche An -<br />

strengungen, diesen Tribut zu verringern,<br />

sowohl durch den Schutz israelischer<br />

Zivilisten <strong>als</strong> auch durch das<br />

Bemühen, die Verletzung von Zivi -<br />

listen innerhalb des Gaza-Strei fens zu<br />

minimieren. Israels Anstren gungen<br />

in dieser Hinsicht sollten jedoch nicht<br />

die letzte Verantwortung derjenigen<br />

vermindern, die kaltschnäuzig und<br />

absichtlich die Zivil bevölkerung <strong>als</strong><br />

Schutzschild vor An griffen missbrauchen,<br />

die unvermeidlich aus ihrem<br />

Han deln resultieren.<br />

Außenministerium des Staates Israel,<br />

März <strong>2008</strong><br />

ISRAELS MILITÄROPERATION IM GAZA-STREIFEN<br />

Hintergrundbericht über die jüngste Opera ti on der israelischen<br />

Verteidi gungs streit kräfte (ZA HAL) im Gaza-Strei fen in Auszügen:<br />

Die ZAHAL-Operation begann am Mitt wochmorgen (27.02.), nachdem be kannt geworden<br />

war, dass eine Spe zialeinheit von Hamas-Terro risten, die aus Syrien und dem Iran<br />

angekommen war, beabsichtigte, nach Is rael einzudringen, um dort Anschlä ge zu verüben<br />

und womöglich Soldaten oder Zivilisten zu entführen. Im Schutz des schlechten Wetters<br />

wollten sie entweder durch einen Tunnel nach Israel gelangen oder mithilfe von Seilen den<br />

Sicherheitszaun überwinden und dann in einen Armee stütz punkt oder eine israelische<br />

Ortschaft eindringen.<br />

Die Anweisungen für die Opera ti on kamen direkt aus Damaskus und Teheran. Israe li -<br />

schen Einsatzkräften gelang es, die fünf Terroristen zu lo kal isieren und auszuschalten. In<br />

Reak tion darauf versuchte die Hamas, eine neue Gleichung in der Region ein zuführen, derzufolge<br />

sie <strong>als</strong> Vergel tung für jede israelische Attacke Ra keten feuert. Die Hamas verfolgt<br />

seit Juni 2007 eine wagh<strong>als</strong>ige Politik, um ihre Macht zu erhalten.<br />

Während der Vorkommnisse in Ra fiah wurden 122mm-Grad-Raketen iranischer Her stel -<br />

lung, die zuvor nach Gaza geschmuggelt worden waren, auf Ashkelon abgefeuert. Durch<br />

den Einsatz der Raketen wurden die Reich weite der Hamas-Raketen er weitert und mehr<br />

Israelis in die Schusslinie gebracht. Der gegenwärtige Raketen bestand der Hamas reicht<br />

für den Ab schuss einiger Dutzend täglich, für viele Tage. Dies ist jedoch auch von israelischen<br />

Aktionen abhängig.<br />

Am Samstag (01.03.) führte Israel einen Schlag gegen eine der Rake ten basen aus und<br />

zerstörte Hunderte von Mörsern. Die Strategie der israelischen Armee ist es, die Lager- und<br />

Ab schuss anlagen für Raketen zu treffen. Einige der Raketen haben eine Reich weite von 20<br />

Kilometern. Sie stammen von der Hisbollah im Libanon, und Syrien und der Iran schmuggelten<br />

sie in den Gaza-Streifen, <strong>als</strong> die Grenze in Rafiah durchbrochen wur de. Die genaue<br />

Zahl der geschmuggelten Raketen ist nicht bekannt.<br />

Ein großes israelisches Kommando der nahe Jabaliya stationierten Giva ti-Brigaden marschierte<br />

am Freitag (29.02.) in den Gaza-Streifen ein und eröffnete den Kampf gegen die<br />

Ter ro risten. Die Zahl der palästinensischen Ver luste ist unklar, Medienberichte weichen<br />

von der tatsächlichen Realität ab. Wenn es auch definitiv zivile Opfer gibt, ist es eine<br />

bekannte Taktik der Hamas, Zivilisten <strong>als</strong> Schutzschilder zu missbrauchen und Raketen aus<br />

Be völke rungs zen tren abzufeuern. Wenn Zivilisten dagegen protestieren, bringt die Hamas<br />

sie woanders hin.<br />

Aktuelle israelische Einschätzun gen sagen voraus, dass das Raketenfeuer andauern wird.<br />

Einige der Hamas-Führer sind geflohen, alle Wohn quar tiere der Führung sind leer. Es ist<br />

offen sichtlich, dass die israelische Re gierung entschieden hat, der Ha mas-Führung zu<br />

zeigen, dass es ein Fehler war, Raketen mit größerer Reichweite abzuschießen.<br />

Über Dauer und Umfang der Ope ration wird die Regierung entscheiden. Im Moment<br />

sieht es danach aus, dass das Ausmaß der Operation größer sein wird <strong>als</strong> das der vorherge -<br />

henden, da es notwendig ist, nicht nur gegen die Möglichkeiten der Hamas anzukämpfen,<br />

sondern auch gegen ihre Ab sichten, und zu zeigen, dass sie den Beschuss auf Sderot und<br />

Ash kelon nicht ungestraft fortsetzen können wird. Dies ist nicht die breite Of fen sive in<br />

Gaza, von der zuvor die Rede gewesen ist. Für den Fall, dass die Hamas, mit Unterstüt zung<br />

von Sy ri en und dem Iran, ihre Aktivitäten steigert, hat die israelische Regierung wei tere<br />

Op tionen. Die Hamas-Füh rung wird gegenwärtig nicht ins Vi sier genommen, doch kann sich<br />

dies ändern, da es sich hier um eine Frage der Strategie handelt. Während eine begrenzte<br />

Operation nicht alle Raketen stoppen kann, verfolgte diese Operation zwei Ziele:<br />

- Die Operation wurde in Jabliya ini tiiert, dem Gebiet, von dem aus die meisten Raketen<br />

abgeschossen werden.<br />

- Der Hamas muss demonstriert werden, dass sie weitere Opfer wird erleiden müssen,<br />

wenn der Ra ke tenbe schuss andauert. Sollte die Hamas ihre Raketenpolitik fortsetzen,<br />

wird sie die große angelegte militärische Offensive auf sich ziehen.<br />

Die Instrukteure der Hamas und des Islamischen Jihad, die im Iran und in Syrien ausge -<br />

bildet worden und via Ägypten nach Gaza gelangt sind, bilden nun Hamas-Truppen im<br />

Gaza-Streifen aus. Während es schwierig für die Hamas war, bestimmte Waffentypen durch<br />

die Dutzenden von Tunnel an der Grenze zu schmuggeln, konnte sie, während die Grenze<br />

offen war, ganze Last wagenladungen von Waffen und Munition einführen. Die Syrer und Ira -<br />

ner konnten neue Waffen liefern. Daher muss Israel sich nun gegen bisher unbekannte<br />

Waffentypen behaupten.“ Außenministerium des Staates Israel, 02.03.08<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 29


POLITIK • ISRAEL<br />

Das seit mehr <strong>als</strong> 2.000 Jahren heiß<br />

umkämpfte Jerusalem stellt wohl<br />

den sensibelsten Punkt bei den israelisch-palästinensischen<br />

Frie dens ver -<br />

hand lungen dar. Deshalb lassen vor<br />

allem die in der Diaspora lebenden<br />

Juden ihre Meinung zur Zukunft –<br />

und einer möglichen Teilung – der<br />

Stadt besonders energisch verlauten.<br />

Heiße Diaspora-Debatte<br />

um den Status Jerusalems<br />

von Dina Kraft, JTA; Übersetzung: Karin Fasching<br />

Die Frage, wie laut und intensiv<br />

diese Meinungsäußerungen denn tatsächlich<br />

sein sollten, war auch Thema<br />

beim Besuch von jüdischen US-Größen<br />

in Israel zur diesjährigen Präsi den -<br />

tenkonferenz der größten jüdischen<br />

Or ganisationen Mitte Februar.<br />

„Das Thema Jerusalem stellt sich differenzierter<br />

dar, weil es für Leben und<br />

Exis tenz der Juden so zentral ist“, er klärt<br />

Mal com Hoenlein, stellvertretender Vor -<br />

sitzender der Präsidenten kon fe renz.<br />

„Die endgültige Entschei dung ob liegt der<br />

israelischen Regierung, dennoch ist es<br />

legitim, feinfühlig zu sein“, was die<br />

Bedürfnisse des Diaspora-Ju den tums<br />

betrifft, so Hoenlein weiter.<br />

Spannungen darüber, ob jene, die<br />

nicht ständig in Israel leben, ein Recht<br />

hätten – und wenn ja, in welchem Ausmaß<br />

-, bei den israelisch-palästinensischen<br />

Verhandlungen über Jeru salem<br />

mitzureden, gab es bereits bei der<br />

Frie denskonferenz in Annapolis im<br />

No vember 2007. Dam<strong>als</strong> hatte die Or -<br />

tho doxe Union Israels Premier Ol mert<br />

dazu aufgefordert, in der Jeru sa lem-<br />

Frage keine territorialen Kom pro mis se<br />

einzugehen.<br />

Israel annektierte den arabischen Teil<br />

Ostjerusalems nach dem Sechs-Tage-<br />

Krieg im Jahr 1967. Dennoch be har ren<br />

die Palästinenser darauf, diesen zur<br />

Hauptstadt in einem un ab hän gigen<br />

Staat Palästina machen zu wollen. Die<br />

150.000 Araber, die dort le ben, die<br />

emo tionale Beweg kraft und Ge -<br />

schich te der Altstadt und das Tür-an-<br />

Tür-Leben von arabischer und jüdischer<br />

Bevölkerung machen eine Lö -<br />

sung dieses Problems noch zusätzlich<br />

schwierig.<br />

Den Anspruch der Diaspora-Juden<br />

auf Mitsprache brachte der Präsident<br />

des Jüdischen Weltkongresses Ro nald<br />

Lauder im Februar gegenüber Pre mi er<br />

Olmert erneut zur Sprache und ver är -<br />

gerte damit den Regie rungs chef. Bei<br />

seiner Rede vor der Präsiden ten kon -<br />

fe renz am 16. Februar versicherte Ol -<br />

mert, er würde bei den Verhand lun gen<br />

keinen Weg einschlagen, der Israel be -<br />

nachteiligen könnte. Außer dem wür -<br />

d en im Moment Gespräche über den<br />

Status Jerusalems bei den Ver hand -<br />

lungen mit der Palästinen ser führung<br />

gar nicht auf der Tages ord nung ste -<br />

hen. „Ich werde alles in meiner Macht<br />

ste hende tun, um ein Friedensabkom- ➮<br />

men mit den Palästinensern zu erreichen,<br />

und um dies zu ermöglichen, werden wir<br />

schmerz liche Kompromisse eingehen<br />

müs sen“, so Olmert. Die Sicherheit<br />

des Staa tes Is ra el solle nicht gefährdet<br />

wer den. „Über Jerusalem werden wir<br />

zuletzt verhandeln. Es ist das sensibelste<br />

und schwie rigste Thema und bevor wir<br />

uns damit beschäftigen, müssen wir Ver -<br />

einbarun gen über weniger wichtige und<br />

sensible Punkte erzielen.“ Dennoch be -<br />

richteten israelische Me dien über ge -<br />

heime Ge spräche im Hin tergrund mit<br />

Außen ministerin Tzipi Livni über das<br />

The ma Jerusa lem.<br />

Die Meinungen, ob den Diaspora-<br />

Juden nun tatsächlich ein Mitspra che -<br />

recht eingeräumt werden sollte<br />

wiederum sind zweigeteilt. „Die Rolle<br />

der Diaspora-Juden ist es, zu lernen, sich<br />

zu interessieren, unterstützend und verständnisvoll<br />

zu sein, aber nicht bestimmend<br />

und kontrollierend“, meint unter<br />

anderem Leonard Kleinman, der ad mi -<br />

nistrative Vizepräsident des Jüdi schen<br />

Nationalfonds. „Diaspora-Ju den leben<br />

nicht hier, kennen nicht die alltägli chen,<br />

individuellen Ereignisse in Israel und können<br />

das Geschehen nicht beurteilen.“<br />

Für Joshua Katzen vom Jüdischen In -<br />

sti tut für Nationale Sicherheitsan ge le -<br />

genheiten wiederum sehen die in der<br />

Diaspora lebenden Juden die größeren<br />

Zusammenhänge, welche die Israelis<br />

selbst manchmal nicht ausmachen. So<br />

könnten die Amerikaner den Israelis<br />

aufzeigen, dass es ein großer Fehler<br />

wäre, den Palästinen sern irgendein<br />

Recht auf Jerusalem einzuräumen, da<br />

dies einer zunehmend radikalisierten<br />

islamischen Welt die Tür zur Stadt<br />

öffnen würde.<br />

Morton Klein, Präsident der Zionis ti -<br />

schen Organisation von Amerika, sieht<br />

das ähnlich. Jerusalem mit den Pa läs -<br />

ti nensern zu teilen wäre eine Katas -<br />

30 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


POLITIK • ISRAEL<br />

trophe für die Juden in dem Gebiet,<br />

gerade „wo wir doch gesehen haben, was<br />

passiert ist, <strong>als</strong> wir Gaza aufgegeben und<br />

die angrenzenden jüdischen Gebiete in<br />

Gefahr gebracht haben“. Es würde „Teile<br />

Je ru salems für Juden unbewohnbar ma -<br />

chen“, so Klein, und den Paläs ti nen -<br />

sern einen zusätzlichen Nährbo den<br />

für Terror und Möglichkeiten für den<br />

Ab schuss von Raketen auf israelisches<br />

Gebiet geben.<br />

Zusätzlich warnte eine Exper ten -<br />

kommission davor, dass Jerusalem so<br />

die jüdische Mehrheit verlieren könnte,<br />

egal ob es einen Friedensvertrag<br />

gäbe oder nicht. Schon jetzt verlassen<br />

viele säkulare Juden die Stadt, weil,<br />

so deren Angaben, sie zu teuer sei, es<br />

zu wenige Arbeitsplätze gäbe und<br />

das Stadtzentrum kulturell völlig<br />

unterentwickelt sei. Außerdem sei Je -<br />

ru sa lem zu arm, zu orthodox und zu<br />

arabisch.<br />

Auch ein Treffen mit dem palästinensischen<br />

Premierminister Salam<br />

Fayyad sah die Präsidentenkonferenz<br />

vor. Dieser bestätigte, dass sein Fokus<br />

stets „auf den Punkten der Road Map“<br />

gelegen sei – sich auf das israelischpa<br />

lästinensische Abkommen mit dem<br />

Namen „Road Map“ aus dem Jahre<br />

2003 beziehend, das auch Je ru salem<br />

beinhaltete. „Wir versuchen, unsere<br />

Institutionen so bald wie möglich zu verstärken.<br />

Ohne sie können wir den Pro -<br />

zess nicht fortsetzen. Dennoch haben wir<br />

in den letzten Monaten gute Fortschritte<br />

erzielt.“<br />

■<br />

Aufregung beim WJC über Lauders Brief an Olmert<br />

von Jacob Berkman, JTA; Übersetzung: Karin Fasching<br />

World Jewish Congress-Präsident<br />

Ronald Lauder hat sich mit seinem<br />

Appell an Israels Premierminister, den<br />

Diaspora-Juden ein Mitspra che recht<br />

bei der Ent scheidung um das Schick -<br />

sal Jerusalems zu gewähren, nicht<br />

nur Freunde gemacht. In seinem Brief<br />

vom 8. Januar wünschte er Olmert<br />

alles Gu te für den Besuch von US-<br />

Präsident Bush in der Region und<br />

drückte gleich zeitig die Hoffnung des<br />

Welt ju dentums auf ein baldiges Frie -<br />

dens ab kommen aus. Zum Abschluss<br />

bat er den Premier, auch „die Gebete,<br />

die Hoff nungen und die Ansichten der<br />

Juden in aller Welt bei der Entscheidung<br />

über die Zukunft“ zu berücksichtigen.<br />

„Bei aller Anerkennung von Israels inhärenten<br />

Vor rechten <strong>als</strong> souveräner Staat“,<br />

schrieb Lauder, „wäre es doch unbegreiflich,<br />

auch nur die geringste Veränderung<br />

im Status unserer Heiligen Stadt durchzuführen,<br />

ohne vorher die Stimme der<br />

Juden <strong>als</strong> Gesamtheit gehört zu haben.“<br />

Shai Hermesh, Vorsitzender des is ra -<br />

e lischen Zweigs des WJC, sprach sich,<br />

unter anderen, entschieden ge gen die -<br />

sen Brief aus. Obwohl diesbe züg lich<br />

niemand vom WJC Hauptquartier in<br />

New York mit ihm Rücksprache ge -<br />

hal ten hätte, sei sein Name im Brief -<br />

kopf angeführt gewesen. Außerdem<br />

gäbe es seit Langem die Übereinkunft,<br />

dass der WJC sich nicht in die politischen<br />

Angelegenheiten Israels einmische:<br />

„Die Juden auf der ganzen Welt<br />

sind für uns wie Brüder und ihre Un ter -<br />

stüt zung ist uns sehr wichtig, doch politische<br />

Ent scheidung sollten allein der<br />

Knes set vorbehalten bleiben und niemandem<br />

sonst, auch nicht dem israelischen<br />

Zweig des World Jewish Congress.“<br />

Die Aufregung über Lauders Brief<br />

gründet sich vor allem auf eine da -<br />

m<strong>als</strong> lau fende Kampagne orthodoxer<br />

und rechter amerikanisch-jüdischer<br />

Grup pie rungen, die verhindern wollen,<br />

dass die israelische Regierung im<br />

Zuge der Verhandlungen über ein<br />

Frie densabkommen mit den Paläs ti -<br />

nensern jem<strong>als</strong> einer Teilung Jerusa -<br />

lems zustimmt. Dies wiederum führte<br />

zur anhaltenden Diskussion über die<br />

Rolle, die dem Disapora-Judentum bei<br />

den innerisraelischen Entschei dun -<br />

gen – wenn überhaupt - zugestanden<br />

werden soll.<br />

Das Ziel des Briefes, erklärte Ronald<br />

Lauder, sei es jedoch nicht gewesen,<br />

Druck auf Olmert oder Israel bezüglich<br />

eines Hardliner-Standpunkts in<br />

der Jerusalem-Frage auszuüben, sondern<br />

eine Debatte über die, seiner Mei -<br />

nung nach, wichtigste Entschei dung<br />

zu entfachen, der sich der jüdische<br />

Staat derzeit gegenübersieht. Ginge<br />

es um ein anderes Gebiet, wie Gaza<br />

oder das Westjordanland, so Lauder,<br />

hätte er niem<strong>als</strong> einen solchen Schritt<br />

unternom men: „Der Brief weist lediglich<br />

darauf hin, dass es wichtig ist, das Thema<br />

Je ru salem mit dem Diaspora-Judentum<br />

zu diskutieren, denn hierbei spielen wir<br />

alle eine Rolle und Jerusalem befindet<br />

sich in der Schlüsselposition.“<br />

Allerdings würde der WJC keine of -<br />

fizielle Position zur Jerusalem-Frage<br />

einnehmen.Der erst kürzlich gewählte<br />

WJC-Präsident ist schon lange <strong>als</strong> aus -<br />

ge sprochener Gegner einer Teilung<br />

Je ru salems bekannt. Bereits im No -<br />

vem ber 2007, im Vorfeld der Nahost -<br />

kon ferenz in Annapolis, hatte Ehud<br />

Olmert zu diesem Thema Stellung be -<br />

zogen. Im Gespräch mit Reportern<br />

wies er da m<strong>als</strong> jegliches Mit spra che -<br />

recht von in der Diaspora lebenden Ju -<br />

den bezüglich Jerusalem zurück. Spä -<br />

ter erklärte er, er begrüße sehr wohl<br />

deren Meinungs äuße run gen, ließ<br />

aber wiederum keinen Zweifel an<br />

Israels alleiniger Sou ve rä nität in der<br />

Verhandlungsführung aufkommen.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 31


WIRTSCHAFT • ISRAEL<br />

Made in Israel – Highlights der israelischen Wirtschaft<br />

DIE SCHMUCK-INDUSTRIE<br />

Israels Schmucksektor steht an der<br />

Spit ze des internationalen Diaman -<br />

ten- und Schmuckmarkts. Das Land<br />

ist eines der weltweit wichtigsten<br />

Zentren der Diamantenschleiferei<br />

und des Diamantenhandels. In An -<br />

betracht dieses Heimvorteils haben<br />

israelische Juweliere und Diamanten -<br />

her steller ihre Kräfte vereint.<br />

Durch die Verbindung von Dia manten-Expertise<br />

mit kreativem Talent<br />

und außergewöhnlichen Fähigkeiten<br />

in der Schmuckherstellung hat sich<br />

Israel <strong>als</strong> ein Spitzenreiter in kreativem<br />

Design, Qualitätsproduktion und<br />

Wettbewerbsfähigkeit positioniert.<br />

Ei nige der größten US-amerikanischen<br />

Schmuckvertreiber - Bel-Oro,<br />

Jewel America u.a. - arbeiten eng mit<br />

israelischen Schmuckdesignern und -<br />

herstellern zusammen.<br />

Insgesamt beliefen sich die Exporte<br />

der israelischen Schmuckindustrie im<br />

Jahr 2006 auf US$ 390 Mio. Diese teilten<br />

sich wie folgt auf die vier Haupt -<br />

ge chäftssegmente auf:<br />

Goldschmuck: US$ 312 Mio. (46%)<br />

Diamantengold s c h m u c k :<br />

US$ 133 Mio. (32%)<br />

Modeschmuck:US$49 Mio. (13%)<br />

Silberschmuck: US$29 Mio. (7%)<br />

Der Großteil der israelischen<br />

Schmuck exporte ging dabei in die<br />

USA (US$ 264 Mio., 68%), gefolgt von<br />

Europa (US$102 Mio., 26%) und dem<br />

Fernen Osten (US$ 16 Mio., 4%).<br />

Der Schmuckexporteur Israel lockt<br />

mit zahlreichen Vorteilen. So ist<br />

Schmuck aus Israel nicht nur generell<br />

preisgünstig, sondern auch zollfrei<br />

nach Nordamerika, Europa, Mexiko,<br />

Jordanien und Ägypten.<br />

Dabei profitiert die<br />

Juwelenbranche von<br />

Israels Know-how im<br />

High-Tech-Bereich und<br />

der kundenorientierten<br />

Flexi bilität der heimischen<br />

Designer und<br />

Hersteller.<br />

Als Einwande rungs -<br />

land hat Israel talentierte<br />

Juweliere aus<br />

über 70 Ländern aufgenommen,<br />

die einzigartige Ideen,<br />

Kreati vi tät, Einsichten, Tech ni ken<br />

und Wissen mit sich gebracht haben.<br />

Viele der Schmuck de sig ner des<br />

Landes sind Absolven ten der israelischen<br />

Elite hoch schu len für schöne<br />

Künste wie die Bezalel Akademie für<br />

Kunst und De sign in Jerusalem, das<br />

Shenkar Col lege in Ra mat Gan oder<br />

Omanit in Tel Aviv.<br />

Israel Export & International Cooperation Institute<br />

WIRTSCHAFT<br />

Israelische Frauen<br />

verdienen weniger <strong>als</strong><br />

israelische Männer<br />

Anlässlich des internationalen Frau -<br />

entages am 8. März veröffentlichte<br />

das statistische Zentralamt Angaben,<br />

die besagen, dass israelische Frauen<br />

im Durchschnitt 82,2 Jahre alt werden,<br />

vier Jahre jünger <strong>als</strong> Männer.<br />

Mehr Frauen <strong>als</strong> früher studieren,<br />

verdienen aber laut Angaben des statistischen<br />

Zentralamts viel weniger<br />

<strong>als</strong> Männer. Dies ist wahrscheinlich<br />

darauf zurückzuführen, dass Frauen<br />

traditonellere „Frauenberufe“ ausüben,<br />

wie zum Beispiel Lehrtä tig kei ten,<br />

Putzen, Büroarbeiten, die schlechter<br />

bezahlt werden.<br />

Frauen machen 70% der Arbeits -<br />

kräfte in diesen Berufen aus und verdienen<br />

einen Lohn, der 63% dessen<br />

ist, was ein Mann verdient.<br />

In der Hightech-Industrie machen<br />

Frau en nur 33.8% der Arbeitskräfte<br />

aus.<br />

Israelische<br />

Studenten<br />

arbeiten neben<br />

dem Studium<br />

Etwa 66% aller israelischen Stu denten gehen parallel zu ihrem<br />

Studium einer Lohnarbeit nach. Das geht aus einer neuen Studie der<br />

Bank of Israel und des Zentralamts für Statistik hervor, deren Ergebnisse<br />

noch nicht offiziell veröffentlicht worden sind.<br />

Die Beschäftigungsrate von Studenten in Israel wird dabei im Vergleich<br />

zu anderen Ländern <strong>als</strong> sehr hoch bewertet. Während des ersten Jahres<br />

an der Universität arbeiten ca. 52% der Studenten, im zweiten Jahr sind<br />

es dann bereits 64%. Die wirkliche Beschäftigungsrate liegt vermutlich<br />

noch um einiges höher, da die Studie nur besteuerte Arbeitsverhältnisse<br />

berücksichtigt.<br />

Die häufigsten Jobs für Studenten zwischen 20 und 29 Jahren, die einen<br />

BA-Studiengang absolvieren, liegen in den Bereichen Verkauf, Gastro no -<br />

mie, Sicherheit und Servicedienstleistungen. Etwa 35% der Studenten<br />

arbeiten in diesen Sektoren.<br />

Der israelische Student arbeitet durchschnittlich 30 Stunden in der Wo -<br />

che. Etwa 40% arbeiten gar mehr <strong>als</strong> 40 Stunden. Wie aus der Studie hervorgeht,<br />

wird die Studiendauer durch die Arbeit jedoch kaum beeinflusst.<br />

Haaretz<br />

32 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


Die steigenden Adipositas-Zahlen<br />

sind längst kein Geheimnis mehr und<br />

damit einher geht ein drastischer An -<br />

stieg von Herzerkrankungen und<br />

Diabetes. Und auch wenn das in zwi -<br />

schen verstorbene Star let Anna<br />

Nicole Smith den Diätpillen in<br />

Amerika zu enormer Popu la rität ver -<br />

half, kann nicht ge leugnet wer den,<br />

dass diese un ab seh ba re Ne ben wir -<br />

kun gen ha ben und die<br />

Gesund heit der Kon -<br />

sumen ten nach haltig<br />

schädigen können.<br />

Um diesem<br />

Di lem ma ent ge -<br />

gen zuwir ken, hat<br />

der israelische<br />

Wissen schaf ter<br />

Dr. Nir Barak nun<br />

ein Me di ka ment<br />

de sig ned, das<br />

sich <strong>als</strong> Wun der -<br />

mit tel zur Ge -<br />

wicht s re duk -<br />

tion<br />

herausstellen<br />

könn te. In Zu -<br />

sam men ar beit<br />

mit dem Phar -<br />

ma un ter neh men<br />

Obe cure ent -<br />

wickelte er die<br />

Sub stanz Histalean, basierend<br />

auf Be ta his tin,<br />

einem weltweit zugelassenen<br />

Medikament gegen Schwin -<br />

del anfälle.<br />

Histalean soll nun, vor allem bei<br />

Frauen unter 50, den Wunsch, fetthaltige<br />

Speisen zu konsumieren, unterdrücken,<br />

indem es chemische Vor -<br />

gän ge im Körper aktiviert, die den<br />

Ap pe tit reduzieren.<br />

Bei einer kürzlich abgehaltenen Stu -<br />

die mit 281 Patienten, Männer und<br />

Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren,<br />

alle mit einem BMI zwischen 30 und<br />

40, wurden die Effekte des Medi ka -<br />

ments im Hinblick auf Alter und Ge -<br />

schlecht der Probanden erforscht.<br />

Die folgenden Untersuchungen, so<br />

Obecure Chef Dr. Yaffa Beck, werden<br />

sich auf Frauen unter 50 konzentrieren,<br />

WISSENSCHAFT• ISRAEL<br />

Medikament zur Gewichtsreduktion von<br />

israelischem Forscher entwickelt<br />

Ilana Teitelbaum; Übersetzung: Karin Fasching<br />

da bei diesen, aufgrund ihres Ös tro -<br />

genspiegels, das Medikament die<br />

größ te Wirkung gezeigt habe.<br />

Die Einzigartigkeit von Histalean,<br />

das <strong>als</strong> einziges Medi ka ment seiner<br />

Art si cher am Men schen getestet<br />

wurde, so Barak, mache dessen Fo -<br />

kus sierung auf das Hi s tamin-Sys tem<br />

aus, welches die Wis sen schaft über<br />

Jah re hinweg mit<br />

dem Im mun -<br />

system as so -<br />

ziiert hatte.<br />

Doch vor<br />

kur zem<br />

stell te<br />

man fest,<br />

dass es da<br />

eine Ver -<br />

bin dung<br />

zum Er näh -<br />

rungs ver hal -<br />

ten gibt. Und<br />

ge nau hier<br />

setze His -<br />

ta lean an.<br />

Al ler dings<br />

sei es wichtig,<br />

gleich zei -<br />

tig an ei ner Hei -<br />

lungs me tho de<br />

für die Adi posi -<br />

tas-Erkran -<br />

kung zu ar -<br />

bei ten, denn<br />

das Ess ver -<br />

halten des Men schen ist we sent lich<br />

komplizierter, <strong>als</strong> es sich auf den<br />

ersten Blick darstellt.<br />

„Ich glaube nicht, dass es eine Wunder -<br />

pille gibt“, erklärt Barak. „Jedes Indi vi -<br />

du um weist wahrscheinlich ein Sammel -<br />

surium aus verschiedensten Mechanis men<br />

auf, die es zum Überessen zwingen... Erst<br />

wenn wir ein Arsenal aus vier oder fünf<br />

Medikamenten haben, die jeweils auf<br />

einen anderen Mechanismus ausgelegt<br />

sind, wird es uns möglich sein, die Men -<br />

schen wesentlich effizienter bei ihrem<br />

Diätplan zu unterstützen.“<br />

Histalean, so Barak, kann aber auch<br />

bei Schizophreniepatienten eingesetzt<br />

werden, um zu verhindern, dass die se<br />

durch die Einnahme des Anti psy cho ti -<br />

kums Zyprexa an Gewicht zu neh men<br />

– immer wieder ein großes Problem,<br />

das mit der Behandlung einhergeht. In<br />

einzelnen Fällen nahmen die Betrof fe -<br />

nen bis zu einem Kilo pro Woche zu.<br />

Hier kann Hista le an nun wirksame<br />

Ab hilfe schaffen, ist Barak überzeugt.<br />

Es aktiviert eben jene appetitzügelnden<br />

Stoffe im Kör per, die durch<br />

Zyprexa blockiert werden.<br />

„Die Patienten nehmen im<br />

selben Um fang an Ge -<br />

wicht zu, wie sie Diabetes<br />

entwickeln“, er klärt er.<br />

„Das ist ein enormes<br />

Problem. Schizo -<br />

phrenie gehört zu den<br />

schlimmsten Krank hei -<br />

ten, die es gibt – weil<br />

es jeden Lebensbereich<br />

beeinträchtig.“<br />

Sich mit den<br />

Auswirkungen<br />

der Schi zo -<br />

phre nie und<br />

gleichzeitig<br />

mit dem un -<br />

aus weichlichen<br />

Über gewicht<br />

auseinan -<br />

dersetzen zu<br />

müssen, überfordert<br />

viele<br />

Betroffene.<br />

Oftm<strong>als</strong> se hen sie ei ne<br />

Absetzung des Medika -<br />

ments Zy pre xa<br />

<strong>als</strong> einzige Möglichkeit, diesem Teu -<br />

felskreis zu entkommen, oder sie überlegen,<br />

zu einem älteren Me di kament<br />

zu wechseln, das aber wiederum eine<br />

Parkinson-ähnliche Krank heit begüns<br />

tigt. „Sie leiden lieber an Parkinson, <strong>als</strong><br />

übergewichtig zu sein,“ so Barak.<br />

Und gerade ebendiese Möglichkeit,<br />

das Leben von Menschen, die bereits<br />

unter schwersten Bedingungen leben<br />

müssen, zu erleichtern, ist es, was Ba -<br />

rak so fasziniert. „Für mich <strong>als</strong> Phy si -<br />

ker ist das sehr reizvoll,“ meint er. „Hier<br />

gilt es, ein schwerwiegendes medizinisches<br />

Problem zu lösen – ein richtiges Problem,<br />

kein kosmetisches.“<br />

WISSENSCHAFT<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 33


RECHTE ECKE • IN- UND AUSLAND<br />

Aus der rechten Ecke<br />

Erna Wallisch:<br />

Die Banalität der<br />

Verjährung<br />

Bis zu ihrem Tod hat die frühere KZ-<br />

Aufseherin Erna Wallisch (86) die in -<br />

ter nationalen Behörden und Medien<br />

beschäftigt. Vor allem jene, die sie<br />

noch einem weltlichen Gericht sehen<br />

wollten, haben auf einen schnellen<br />

Prozess gedrängt. Für eine Anklage<br />

wegen Mordes fehlten lange die Be -<br />

weise, der Vorwurf der Beihilfe war<br />

verjährt. Doch gerade in den letzten<br />

Monaten schien sich das noch zu<br />

ändern. Wallisch soll <strong>als</strong> Wachperson<br />

im Konzentrations- und Vernich -<br />

tungs lager im Lubliner Stadtteil Maj -<br />

danek (Südostpolen) in den Massen -<br />

mord an Tausenden Menschen involviert<br />

gewesen sein. Vor allem war es<br />

auch Wallisch, die Österreich international<br />

den Ruf <strong>als</strong> „Paradies für NS-<br />

Verbrecher“ eingehandelt hat. Der<br />

Ausspruch stammt von Efraim Zu -<br />

roff, Direktor des Simon Wiesenthal<br />

Centers (SWC) Jerusalem, der in<br />

regelmäßigen Abständen an heimische<br />

Politik und Öffentlichkeit appelliert<br />

hatte, Wallisch den Prozess zu<br />

machen - zuletzt bei Justizministerin<br />

Maria Berger (S). Gerade in ihrer<br />

Amtszeit verdichteten sich die An zei -<br />

chen, es könnte doch noch zu ei nem<br />

Prozess kommen. Zuletzt ließen Zu -<br />

roff neu entdeckte Dokumente aus<br />

Polen hoffen, es gebe doch noch Be -<br />

wei se.<br />

Als Wärterin im Konzentrations la -<br />

ger Majdanek habe sie Gefangene<br />

bloß beaufsichtigt, etwa <strong>als</strong> diese in<br />

der Gärtnerei oder in der Schneiderei<br />

gearbeitet haben, meinte Wallisch.<br />

Zur selben Zeit war jedoch das im polnischen<br />

Lublin gelegene KZ Schau -<br />

platz eines Massenmordes. 1942 richtete<br />

man dort eine Vergasungsanlage<br />

ein. Ein Jahr später erschossen die<br />

Nazis bei der „Aktion Erntedankfest“<br />

an einem einzigen Tag sämtliche<br />

17.000 Insassen. Wallisch: „Ich war an<br />

Gewalttätigkeiten nicht beteiligt und<br />

habe so etwas auch nicht gesehen.“<br />

Die Causa Wallisch ist keine einfache:<br />

In den 70ern ermittelte in der<br />

Causa die Justiz, das Verfahren wur -<br />

de aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen.<br />

Das Delikt Beihilfe zum<br />

Mord war verjährt. 2006 traf Zuroff<br />

Bergers Vorgängerin Karin Gastinger<br />

und die damalige Innenministerin<br />

Liese Prokop (V). „Die Zeit läuft aus“,<br />

drängte der Nazi-Jäger dam<strong>als</strong>, bei<br />

den Justiz-Behörden gebe es „keinen<br />

Sinn für Dringlichkeit“. Darum hoffte<br />

Zuroff auch auf die Auslieferung an<br />

Polen, da dort das Gesetz keine<br />

Verjährung für Kriegsverbrechen vorsieht.<br />

Erst Ende Jänner wurden Do ku mente<br />

aus polnischen Archiven bekannt,<br />

die <strong>als</strong> Beweis in einem österreichischen<br />

Mordprozess hätten dienen<br />

kön nen. Sie wurden bis zuletzt von<br />

heimischen Behörden geprüft. Wal -<br />

lisch wurde am 10. Februar 1922 <strong>als</strong><br />

Erna Pfannstiel in Benshausen in<br />

Thüringen (Deutschland) geboren<br />

und lebte bis zu ihrem Tod in <strong>Wien</strong><br />

Donaustadt. Die Tochter eines Post -<br />

be amten arbeitete vom Oktober 1942<br />

bis zum Jänner 1944 im Konzen tra -<br />

tionslager im Lubliner Stadtteil Maj -<br />

danek. Kurz nach dem Kriegsende<br />

siedelte sie nach <strong>Wien</strong> um, wo sie die<br />

österreichische Staatsbürgerschaft<br />

hat te. Wallisch starb am 16. Februar<br />

bei einem Krankenhausaufenthalt.<br />

Auch Oman boykottiert<br />

Pariser Buchmesse aus<br />

Protest gegen Israel<br />

Nach einigen Staaten wie Libanon,<br />

Jemen und Iran hat auch das Sultanat<br />

Oman seinen Boykott der Pariser<br />

Buchmesse „Salon du Livre“ aus Pro -<br />

test gegen die Einladung Israels <strong>als</strong><br />

Ehrengastland angekündigt. Auch<br />

die panislamische kulturelle Organi -<br />

sation ISESCO, ein Ableger der „Or -<br />

ga nisation der Islamischen Konfe renz“<br />

(OIC), hatte ihre 50 Mitgliedsländer<br />

zum Boykott aufgerufen. Die Or ga ni -<br />

satoren bedauern den Boykott und erinnern<br />

daran, dass auch Proponenten<br />

der israelischen Friedensbewegung<br />

nach Paris eingeladen worden seien.<br />

Die Buchmesse soll am 13. März<br />

durch den französischen Staatspräsi -<br />

den ten Nicolas Sarkozy und seinen<br />

israelischen Amtskollegen Simon Pe -<br />

res eröffnet werden.<br />

Polen: Jesuiten<br />

entschuldigen sich<br />

für antisemitische<br />

Veranstaltung<br />

Auseinandersetzung um das Buch des<br />

polnisch-amerikanischen Histo ri kers Jan<br />

Tomasz Gross „Die Angst“ geht weiter<br />

Judenfeindliche Äußerungen bei ei -<br />

ner Diskussionsveranstaltung in ei ner<br />

Krakauer Jesuitenkirche hat der polnische<br />

Jesuiten-Provinzial P. Krzysz -<br />

tof Dyrek bedauert. Er entschul dige<br />

sich bei allen, die sich durch das verletzt<br />

fühlen, was in der Krakauer Herz-<br />

Jesu-Basilika geschehen sei, schrieb P.<br />

Dyrek in einer Stel lungnahme. Zwei<br />

Referenten hatten bei einer sogenannten<br />

„Protest veranstaltung“ ge gen das<br />

Buch „Die Angst“ über den polnischen<br />

Antise mi tismus den Au tor Jan<br />

Tomasz Gross scharf angegriffen.<br />

P. Dyrek bedauerte dies und betonte,<br />

in einer katholischen Kirche dürfe<br />

„nicht zum Antisemitismus aufgerufen<br />

werden“. Zuvor hatte sich bereits der<br />

Sprecher der Erzdiözese Krakau, Ro -<br />

bert Necek, von der Veranstaltung<br />

distanziert. In Anwesenheit des 91-<br />

jährigen emeritierten Krakauer Weih -<br />

bischofs Albin Malysiak hatte bei der<br />

Veranstaltung unter anderem der<br />

Geschichtsprofessor Jerzy Nowak<br />

von der Hochschule des umstrittenen<br />

katholischen Senders „Radio Maryja“<br />

antisemitische Äußerungen formuliert.<br />

Es war die erste einer Reihe von<br />

Veranstaltungen Nowaks gegen das<br />

Buch des polnisch-amerikanischen<br />

Historikers Jan Tomasz Gross, der die<br />

„Mitwirkung“ von Polen an antijüdischen<br />

Verfolgungsmaßnahmen der<br />

Deutschen im besetzten Polen 1939-<br />

1945 schildert.<br />

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34 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

„Von den jüdischen Menschen zu reden,<br />

die hier einst lebten, heißt, daran zu erinnern,<br />

dass sie vernichtet wurden“,<br />

schreibt Doron Rabinovici in seiner<br />

Einleitung zu dem kürzlich erschienenen<br />

Buch 1938 Adresse: Serviten gasse.<br />

Eine Nachbarschaft auf Spurensuche.<br />

„Die Vernichtung wollte die Opfer<br />

namenlos machen, sie ihrer menschlichen<br />

Würde berauben, bevor und nachdem sie<br />

ermordet waren. Nichts sollte an die un -<br />

zähligen Toten, nichts an die Vertrie be -<br />

nen gemahnen.“ 1<br />

Im April <strong>2008</strong> wird nun der einst<br />

aus der Servitengasse Vertriebenen<br />

ge dacht, 70 Jahre nach dem „An -<br />

schluss“ Österreichs an Hitler-Deuschland.<br />

Überlebende, die hier <strong>als</strong> Kin der<br />

mit ihren Eltern und Geschwis tern<br />

gewohnt hatten, werden auf Einla -<br />

dung des Jewish Welcome Service der<br />

Enthüllung eines Gedenksymbols in<br />

der Servitengasse beiwohnen.<br />

Schlüssel gegen das Vergessen, entwor -<br />

fen von der Künstlerin Julia Schulz, ist<br />

eine in den Boden eingelassene Glas -<br />

vitrine mit 462 Schlüssel, an denen<br />

462 Namen angebracht sind. Namen<br />

von Menschen, die hier einst wohnten,<br />

zur Schule gingen, ein Geschäft<br />

führten oder EigentümerIn eines<br />

Hauses waren und die dann – quasi<br />

über Nacht – <strong>als</strong> „Unzugehörige“ verfolgt<br />

und vertrieben wurden. Der<br />

Wohnungsschlüssel <strong>als</strong> Verweis auf<br />

das Private, auf Intimsphäre und<br />

Schutz, ist eng mit dem Leben eines<br />

Menschen verbunden.<br />

Mit Beginn der NS-Herrschaft in<br />

Österreich waren Schutz und Privat -<br />

sphäre für die jüdische Bevölkerung<br />

jedoch vorbei, die Schlüssel mussten<br />

abgegeben oder vor Ort zurückgelassen<br />

werden. Allein in den Jahren 1938<br />

bis 1942 erwirkten die Nation<strong>als</strong>o zia -<br />

listen in <strong>Wien</strong> durch Vertreibung und<br />

Deportationen das Freiwerden von<br />

rund 70.000 Wohnungen. 2<br />

In der Servitengasse waren vor dem<br />

März 1938 mehr <strong>als</strong> die Hälfte der Be -<br />

wohnerinnen und Bewohner jüdischer<br />

Herkunft bzw. wurden dann <strong>als</strong><br />

„Jüdinnen“ oder „Juden“ verfolgt.<br />

Zwölf der 24 Häuser waren in jüdischem<br />

Eigentum. Mit Ende 1943 wa ren<br />

die meistern der ehemaligen jü di schen<br />

BewohnerInnen aus ihren Woh nun -<br />

gen vertrie ben worden, die Häuser<br />

„arisiert“ oder dem „Deutschen<br />

Reich“ einverleibt. Auch die nach<br />

1938 in einzelnen Häusern der<br />

Servitengasse eingerichteten „Sam -<br />

mel wohnungen“ wurden aufgelöst.<br />

In diesen von den Nation<strong>als</strong>o zia -<br />

listen auch <strong>als</strong> „Wohngemein schaf -<br />

ten“ be zeichneten Wohnungen, lebten<br />

Men schen auf engstem Raum, bevor<br />

sie aus diesen Wohnungen entweder<br />

direkt deportiert oder in ein „Sam -<br />

mel lager“ eingewiesen wurden. Aus<br />

einem „Sammellager“ gab es so gut<br />

wie kein Entkommen mehr. Hier<br />

wurden die Menschen ihrer letzten<br />

Habseligkeiten beraubt und anschließend<br />

in Transporte eingereiht, die sie<br />

in die Konzentrations- und Vernich -<br />

tungs lager verschleppten.<br />

Dass die Erinnerung an diese Er -<br />

eignisse und an diese Menschen stattfindet,<br />

ist einer engagierten Gruppe<br />

von BürgerInnen, vornehmlich aus<br />

<strong>2008</strong><br />

Adresse:<br />

Servitengasse<br />

von Birgit Johler<br />

dem 9. <strong>Wien</strong>er Gemeindebezirk, zu<br />

verdanken. In jahrelanger, oft auch<br />

mühevoller und langwieriger Kleinund<br />

Gruppenarbeit ist ein Projekt<br />

entstanden, das in seiner Ausprägung<br />

bislang wohl <strong>als</strong> einzigartig bezeichnet<br />

werden kann: Minutiös wurden von<br />

einem Forscherinnenteam Recher chen<br />

in <strong>Wien</strong>er Archiven getätigt, um die<br />

Schicksale jüdischer Bewohnerinnen<br />

und Bewohner zumindest bruchstückhaft<br />

wieder hervorzuholen. Andere<br />

Projektmitglieder widmeten sich ei ner<br />

breiten Vermittlungs- und Vernet -<br />

zungs arbeit über Bezirks-, Stadt- und<br />

Landesgrenzen hinaus und suchten<br />

Kontakt zu Überlebenden; wiederum<br />

andere verhandelten in unzähligen<br />

Stunden mit den zuständigen Be hör -<br />

den, um die Errichtung des Gedenk -<br />

sym bols zu ermöglichen. Das „Pro jekt<br />

Servitengasse“ ist durch seine Hart -<br />

näckigkeit auch zu einem Syno nym ➮<br />

JÜDISCHE WELT<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 35


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

für das Recht der BürgerInnen auf<br />

„Erinnern“ geworden. Nicht von<br />

„oben herab“, sondern von „der<br />

Basis“ ausgehend geschieht hier die<br />

Auseinandersetzung mit der<br />

Geschichte und das Bemühen um<br />

persönlichen Kontakt zu den einst<br />

aus Österreich Vertriebenen.<br />

„Erinnerung ist Erinnerung an etwas<br />

Verges se nes“, schreibt der Historiker<br />

Yosef Hayim Yerushalmi 3 . Die Suche<br />

nach den „verschwunde nen<br />

Nachbarn“ 4 brachte auch die<br />

Wiederent deckung der Geschichte<br />

eines einstm<strong>als</strong> ebenso jüdischen<br />

Stadtteils mit sich. Die Ecke Ser -<br />

vitengasse-Grünentorgasse mit dem<br />

beleuchteten Viereck im Boden und<br />

den 462 Namen soll nun zu einem<br />

Ort werden, an dem der vertriebenen<br />

und ermordeten jüdischen<br />

Bevölkerung gedacht werden kann.<br />

Dass die Projekt mit glie der zu<br />

KommunikatorInnen geworden sind,<br />

die zu einem veränderten Klima in<br />

der Gasse, im Bezirk und zu einem<br />

Darüber-Sprechen-Wollen und auch<br />

Darüber-Sprechen-Können beigetragen<br />

haben, gehört gleichfalls zu den<br />

bemerkenswerten Kennzeichen dieses<br />

Projektes.<br />

Informationen über das Projekt<br />

„Serviten gasse 1938“ unter<br />

www.servitengasse1938.at<br />

Die Inhaberin der Servitengarage, Helene<br />

Grünwald mit ihren Angestellten, um 1937.<br />

1<br />

Doron Rabinovici, Von den jüdischen<br />

Menschen zu reden, in: Birgit Johler/Maria<br />

Fritsche (Hg.), 1938 Adresse: Servitengasse.<br />

Eine Nachbarschaft auf Spurensuche, <strong>Wien</strong>:<br />

Mandelbaum 2007, S. 20f.<br />

2<br />

Ebd., S. 20.<br />

3<br />

Yosef Hayim Yerushalmi, Über das Vergessen,<br />

in: ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über<br />

jüdische Geschichte. Ber lin 1993, S. 13.<br />

4<br />

in Anlehnung an eine Ausstellung im<br />

Sigmund Freud Museum <strong>Wien</strong>, „Freuds verschwundene<br />

Nachbarn“ (2003)<br />

KUBANISCHE JUDEN: Kaum<br />

Veränderungen nach Castros Abgang<br />

von Larry Luxner, JTA; Übersetzung: Karin Fasching<br />

Eingang zum jüdischen Friedhof<br />

in Camaguey.<br />

Für die Weltpolitik war Fidel Cas tros<br />

Rücktritt nach 50 Jahren Präsi dent -<br />

schaft ein markantes Ereignis – doch<br />

die kubanischen Juden im Land so -<br />

wie im Exil nehmen dies überaus<br />

gelassen hin, wird sich für sie doch<br />

kaum etwas ändern.<br />

Bereits vor eineinhalb Jahren, <strong>als</strong><br />

Fidel Castro schwer erkrankte, hatte<br />

sein Bruder Raul, 76, die Regierungs -<br />

ge schäfte übernommen, inzwischen<br />

wurde er auch offiziell von der Natio -<br />

nalversammlung zum neuen Staats -<br />

prä sidenten gewählt.<br />

Unter dem nunmehr 81jährigen<br />

Cas tro verfolgte Kuba eine strikt antiisraelische<br />

Politik, dennoch genossen<br />

die geschätzten 1.300 Juden des Lan -<br />

des eine gewisse religiöse Freiheit und<br />

es wird nicht erwartet, dass sich dies<br />

un ter der neuen Führung ändern wird.<br />

Der Bankier Bernardo Benes, 73, verließ<br />

Kuba 1960. Er lernte Raul Castro<br />

in seiner Studentenzeit an der Uni -<br />

ver sität von Havanna kennen.<br />

Fidel Castro sei keineswegs ein Anti -<br />

se mit, ist Benes überzeugt und will<br />

keine Spekulationen über Rauls Mei -<br />

nung gegenüber den Juden anstellen.<br />

„Ich versichere Ihnen, dass Fidel das jü -<br />

dische Volk sehr bewundert. Ich habe mich<br />

ein paar Mal mit ihm über das Judentum<br />

und Israel unterhalten und er zeigte großes<br />

Interesse“, erzählt Benes, der vor seiner<br />

Emigration <strong>als</strong> Rechtsbeistand an<br />

Kubas größter Synagoge, Patronato,<br />

tätig war. „Dennoch hat sich sein Re gie -<br />

rungskurs horrend auf Israel ausgewirkt.<br />

Fidel ist eine schwierige Persönlichkeit.<br />

Die meisten Menschen verstehen nicht,<br />

wer er ist.“<br />

Tatsächlich war Castro keineswegs<br />

ein Freund Israels. Im Jahr 1966 wurden<br />

in Kuba Guerilla-Trainingscamps<br />

für die Palästinenser eröffnet. Für Cas -<br />

tro und Palästinenserführer Yasser<br />

Arafat begann damit eine lebenslange<br />

Verbindung. Beim ersten Parteitag der<br />

Kubanischen Kommunistischen Par -<br />

tei 1975, zwei Jahre nachdem er jegliche<br />

diplomatische Beziehungen zu<br />

Israel abgebrochen und Syrien im<br />

Yom Kippur Krieg gegen Israel 1973<br />

unterstützt hatte, erklärte Fidel<br />

Castro: „Wir lieben und verehren Yasser<br />

Arafat und haben ihm stets unsere<br />

Solidarität bewiesen.“<br />

1975 unterstützte Kuba eine UN-Re -<br />

solution, die Zionismus mit Rassis -<br />

mus gleichsetzte; 1991 stimmte es ge -<br />

gen einen Vorschlag der Vereinten Nationen,<br />

die Resolution zu widerrufen.<br />

Auch bei der ersten UN-Welt kon -<br />

ferenz gegen Rassismus in Durban,<br />

Südafrika, im Jahr 2001, verfolgte Cas -<br />

tro diese Linie weiter. Er rief die De le -<br />

gierten dazu auf, „dem anhaltenden<br />

Genozid gegen das palästinensische Volk“<br />

durch Israel „ein Ende zu bereiten“.<br />

Trotzdem gehören, auch ohne di -<br />

plomatische Verbindungen zwischen<br />

Jerusalem und Havanna, israelische<br />

Geschäftsleute zu den Top-Investoren<br />

in Kubas Zitrus-Export-Industrie und<br />

haben Millionen in die Errichtung<br />

eines Bürokomplexes in der kubanischen<br />

Hauptstadt gesteckt.<br />

Die tatsächliche Zahl der kubanischen<br />

Juden zu ermitteln ist fast un -<br />

36 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Viele Juden wanderten nach Kuba<br />

aus, nachdem man sie 1492 aus Spa -<br />

nien vertrieben hatte und Jahr hun der -<br />

te später machten jüdische Pira ten<br />

Kubas Küstengewässer unsicher.<br />

© Larry Luxner/JTA<br />

möglich, so die Experten, denn auch<br />

wenn viele Juden das Land in den<br />

letzten Jahren verlassen haben, gab es<br />

doch zahlreiche Konversionen zum<br />

Ju dentum. Laut dem ehemaligen He -<br />

bräischlehrer Moisés Asís sollen nur<br />

noch etwa 400 „bona fide“ übrig sein.<br />

Außerdem würde die jüdische Ge -<br />

meinde ihre Größenangaben immer<br />

ein wenig übertreiben, „um zu zeigen,<br />

dass sie mehr Hilfe und mehr Geld brauchen“,<br />

so Asís, der auch General se kre -<br />

tär von Kubas B´nai B´rith Loge war.<br />

Er schätzt, dass seit 1992 ungefähr<br />

800 kubanische Juden nach Israel ausgewandert<br />

sind; etwa die Hälfte da -<br />

von blieb auch dort, während die<br />

andere Hälfte später in die Vereinig ten<br />

Staaten emigriert sei.<br />

Die große Zahl an Konvertiten er -<br />

klärt Asís sich mit der religiösen Frei -<br />

heit, die die jüdische Gemeinde auf<br />

der Insel genießt. Etwa 80 % derjenigen,<br />

die jede Woche zum G´ttesdienst<br />

kommen, spekuliert er, „haben gar<br />

nichts mit dem jüdischen Leben zu tun“.<br />

Unter anderem bekommt die jüdische<br />

Bevölkerung drei koschere<br />

Fleisch rationen pro Monat und regelmäßig<br />

großzügige „Care Pa kete“ von<br />

wohlhabenden jüdi schen Gemeinden<br />

Fassade der 1928 erbauten Synagoge „Con -<br />

gregación Hatikva“ in Santiago de Cuba.<br />

Gemeidemitglieder in Havana's<br />

Patronato Synagoge.<br />

aus den USA und Kanada.<br />

„Wenn man es mit anderen ehem<strong>als</strong><br />

kommunistischen Staaten vergleicht, ist<br />

die Situation in Kuba tatsächlich besser“,<br />

meint Asís, der inzwischen selbst in<br />

Florida lebt. „Fidel Castro stand der<br />

Reli gion im Allgemeinen negativ ge gen -<br />

über, nicht dem Judentum im Spe ziellen.<br />

Besonders wenig mochte er die Katho li ken,<br />

die Zeugen Jeho vas, die Baptisten und die<br />

Adventisten des siebten Tages, doch weil<br />

es nur so wenige Juden gab – die meisten<br />

derjenigen, die zum G´ttesdienst kamen<br />

schon älter waren – stellten sie keine Be -<br />

drohung für seine Macht dar. Deshalb<br />

war er der jüdischen Gemeinde gegenüber<br />

sehr tolerant.“<br />

Asís erwartet auch keine große Än -<br />

de rung in Kubas Nahost-Politik so<br />

lange Castro am Leben ist. „Er wird<br />

seine Meinung über alle Angelegenheiten<br />

aus dem Hin tergrund kundtun. Raul<br />

Castro ist abhängig von Fidel. Wenn<br />

Fidel eine Meinung hat, wird Raul sich<br />

ihm nicht entgegen stellen.“<br />

Rabbi Mayer Abramowitz, spirituelles<br />

Oberhaupt der 200 Mit glieder zählenden<br />

kubanisch-jüdischen Ge mein -<br />

de von Miami Beach, sieht wie de rum,<br />

wie sehr die Menschen auf eine Änderung<br />

in der Politik ihrer ehemaligen<br />

Heimat warten.<br />

Sobald das Castro-Regime nicht<br />

mehr existiert und eine Chance für<br />

die Demokratie besteht, „wird es ei nen<br />

gewaltigen Zustrom von Juden nach<br />

Kuba geben“, meint Abra mo witz.<br />

„Aber es wird in Form von Tou ri s mus<br />

sein, nicht Immigration. Nie mand, den ich<br />

kenne, denkt auch nur daran, zurück zu<br />

gehen, um dort zu leben.“<br />

1898 unterstützten die Juden der<br />

niederländischen Antillen den Be frei er<br />

Jose Marti, der Kuba der spanischen<br />

Kontrolle entriss. Dam<strong>als</strong> stiegen jü -<br />

dische Händler in das lukrative Zucker -<br />

rohr-Geschäft ein, in Osteuro pa ge -<br />

bür tige amerikanische Juden kamen<br />

ins Land, um auf Plantagen zu arbeiten.<br />

1904 wurde Kubas erste Synagoge,<br />

die Vereinigte Hebräische Kongre ga -<br />

tion, gegründet, zwei Jahre später ein<br />

Gotteshaus gebaut, weshalb auch<br />

2006 das 100. Jubiläum der jüdischen<br />

Gemeinde gefeiert wurde.<br />

Zwischen 1910 und 1920 verstärkte<br />

sich der Einfluss des sephardischen<br />

Judentums aus der Türkei, Osteu ro -<br />

päer nutzten die Insel <strong>als</strong> Zwischen -<br />

stopp auf ihrem Weg in das schwer<br />

zugängliche Amerika. Viele von ih nen<br />

blieben, denn das Klima war angenehm<br />

und Antisemitismus war kaum<br />

anzutreffen – so wurde der Begriff<br />

„Polacos“ für Juden im Allgemeinen<br />

geprägt.<br />

1959 gab es 15.000 jüdische Kubaner,<br />

größtenteils wohlhabende Schuhfa bri -<br />

kanten und Händler, doch <strong>als</strong> Fidel<br />

Castro sämtlichen Privat be sitz konfiszierte,<br />

wanderten die meisten ins<br />

südliche Florida aus, andere gingen<br />

nach Israel oder in verschiedene Län -<br />

der Südamerikas.<br />

Die Acosta Street in Alt-Havanna<br />

wird immer noch „die jüdische Straße“<br />

genannt, war sie doch dam<strong>als</strong> das<br />

Heim koscherer Bäckereien, Restau -<br />

rants und jüdischer Textilgeschäfte.<br />

Havanna hat heute drei aktive Syna -<br />

gogen, Camaguey und Santiago de<br />

Cuba jeweils eine.<br />

Bücher zum Thema:<br />

„The Chosen Island: Jews in Cuba“ von<br />

der Historikerin Maritza Corrales;<br />

„History of Cuba´s Jewish Community in<br />

Maps“ von Eugenia Farin Levy, Synago -<br />

gen vorstand der Hatikva-Gemeinde in<br />

Santiago de Cuba.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 37


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Panorama<br />

Kurznachrichten aus der jüdischen Welt<br />

Quelle: JTA/Guysen u.a.; Übersetzung: Karin Fasching/Foto:©JTA u.a.<br />

USA/Israel: Einigung in<br />

Konversions-Frage<br />

Der Rabbinische Rat von Amerika,<br />

Dachorganisation für moderne orthodoxe<br />

Rabbiner, konnte nun eine Eini -<br />

gung mit dem israelischen Oberrab -<br />

binat in der schwierigen Konversi ons-<br />

Frage erzielen, indem er ein Netz -<br />

werk nordamerikanischer Rabbinats -<br />

ge richte, die für die Übertritte zuständig<br />

sind, aufbaute.<br />

Dies ist das Ende eines langjährigen<br />

Streits mit dem sephardischen Ober -<br />

rabbiner Israels, Shlomo Amar, der<br />

an gekündigt hatte, keine außerhalb<br />

von Israel durchgeführten Übertritte<br />

mehr anerkennen zu wollen.<br />

Nun sind 15 Rabbinatsgerichte mit<br />

insgesamt 40 Rabbinern dazu berechtigt,<br />

Konversionen durchzuführen.<br />

Holocaust-Historiker unter Verdacht<br />

Der Holocaust-Historiker und ehemalige<br />

Partisanenkämpfer Yitzhak Arad,<br />

der 21 Jahre lang <strong>als</strong> Direktor von Isra -<br />

els Nationalmuseum tätig war, steht<br />

unter Verdacht, in die Er mor dung li -<br />

tauischer Zivilisten während des Krieges<br />

involviert zu sein. Der Umstand<br />

war ans Licht gekommen, <strong>als</strong> Israels<br />

sich weigerte, Arad durch die litauischen<br />

Behörden befragen zu lassen.<br />

Yad Vashem-Direktor Avner Shalev<br />

wand te sich mit einem Protest schrei -<br />

ben an Litauens Außenminister, in<br />

dem er ihn dringend bat, die Ange le -<br />

genheit zu einem raschen Ende zu<br />

bringen. „Es ist klar, dass die Einleitung<br />

eines Verfahrens über Dr. Arads Beteili -<br />

gung an den litauischen Partisanenak ti -<br />

vi täten während des Zwei ten Weltkriegs<br />

gleichbedeutend ist mit dem Ruf nach<br />

einer Untersuchung sämtlicher Partisa -<br />

nen aktivitäten“, schrieb Shalev. „Jeder<br />

Versuch, diese Aktionen mit illegalen Ak -<br />

tivitäten gleichzusetzen – und diese auch<br />

noch <strong>als</strong> kriminell zu klassifizieren, ist<br />

eine gefährliche Verdrehung der Ereignis -<br />

se, die sich in Litauen während des<br />

Krieges zugetragen haben.“<br />

Israel will Durban II boykottieren<br />

Israel überlegt, die im kommenden<br />

Jahr erneut in Durban, Südafrika, statt -<br />

findende Rassismuskonferenz zu boykottieren.<br />

Bereits 2001 war die „Welt -<br />

kon ferenz gegen Rassismus, Rassen -<br />

dis kriminierung, Xenophobie und<br />

Intoleranz“ dort abgehalten worden.<br />

Der extrem antizionistische und proara<br />

bische Tenor der Konferenz 2001<br />

lässt Israel die Vorbereitungen für 2009<br />

nun mit großer Besorgnis beobachten.<br />

Israels Außenministerin Tzipi Livni<br />

sagte dazu, Jerusalem sei mit der A genda<br />

von „Durban II“ alles andere <strong>als</strong><br />

zufrieden. „Israel wird nicht teilnehmen<br />

und die Rassismus-Folgekonferenz der<br />

Vereinten Nationen, genannt Durban II,<br />

auch nicht legitimieren, so lange nicht<br />

sichergestellt ist, dass die Konferenz nicht<br />

<strong>als</strong> Plattform für weitere antiisraelische<br />

und antisemitische Aktivitäten benutzt<br />

wird“, sagte sie zu Delegierten einer<br />

An tisemitismus-Konferenz in Jerusa -<br />

lem.<br />

Auch Kanada kündigte bereits an,<br />

„Durban II“ aufgrund der vorangegangenen<br />

antiisraelischen Tendenzen<br />

bokottieren zu wollen.<br />

Großer Andrang bei Birthright Israel<br />

Die Gratis-Israel-Reisen des Vereins<br />

„Birthright Israel“ genießen enormen<br />

Zuspruch: Bereits am ersten Tag, der<br />

zur Registrierung offen stand, dem<br />

12. Februar, meldeten sich 14.000 Per -<br />

so nen für die Frühjahr/Sommer-Sai -<br />

son an. Die Anmeldung ist noch bis<br />

Ende März möglich.<br />

Seit seiner Gründung im Jahr 2000<br />

ermöglichte „Birthright Israel“ mehr<br />

<strong>als</strong> 160.000 Juden zwischen 18 und 26<br />

Jahren kostenlose 10-Tages-Reisen ins<br />

Heilige Land.<br />

Israel <strong>als</strong> Ehrengast<br />

bei Pariser Buchmesse<br />

Aus Anlass von Israels 60jährigem<br />

Bestehen wird der jüdische Staat vom<br />

14. bis 19. März Ehrengast der diesjährigen<br />

Pariser Buchmesse sein. 39<br />

israelische Autoren wurden eigens<br />

dazu nach Frankreich eingeladen.<br />

Zuvor hatte sich Ägypten gegen Is ra -<br />

el <strong>als</strong> Ehrengast ausgesprochen wird<br />

aus diesem Grund die Buchmesse<br />

boykottieren.<br />

Polnische Rabbinervereinigung neu<br />

gegründet<br />

Zum ersten Mal seit den 1930er Jah -<br />

ren darf die Rabbinervereinigung von<br />

Polen sich wieder über ihr Be stehen<br />

freuen. Bei einer Versammlung aller<br />

polnischen Rabbiner in Lodz, in An -<br />

we senheit von Israels Oberrabbiner<br />

Yona Metzger und unter der Leitung<br />

von Polens Oberrabbiner Michael<br />

Schudrich, erfolgte die offizielle Neu -<br />

gründung.<br />

Die Zeremonie war Teil der jährlichen<br />

Shavei Israel Konferenz für „verborgene“<br />

Juden, <strong>als</strong>o Personen, die erst<br />

kürzlich ihre jüdischen Wurzeln entdeckten.<br />

Die Coen-Brüder verfilmen Chabon<br />

Die erst kürzlich mit einem Oscar für<br />

ihren Film „No Country for Old Men“<br />

ausgezeichneten US-Filmemacher<br />

Joel und Ethan Coen wollen, laut Me -<br />

di enberichten, das Buch „Die Verei ni -<br />

gung jiddischer Polizisten“ des jüdischen<br />

Schriftstellers Michael Chabon<br />

verfilmen.<br />

Der Autor beschreibt darin eine Welt,<br />

38 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

in der Israel 1948 zerstört und <strong>als</strong> Jid -<br />

disch sprechender, souveräner Staat<br />

im entlegenen Alaska wieder aufgebaut<br />

wurde. Columbia Pictures haben<br />

bereits die Rechte für eine Verfilmung<br />

erworben.<br />

Ha´aretz-Chefredakteur abgelöst<br />

Dov Alfon wird David Landau, der<br />

den Posten vier Jahre lang inne hatte,<br />

mit 15. April <strong>2008</strong> <strong>als</strong> Chefredakteur<br />

der Tageszeitung Ha´aretz ablösen.<br />

Landau wird danach auch weiterhin<br />

dem Redaktionsbüro angehören. Lan -<br />

dau, so Herausgeber Amos Schocken,<br />

sei in einer sowohl für die Zeitung <strong>als</strong><br />

auch für ihre Mitarbeiter schwierigen<br />

Zeit zum Chefredakteur ernannt worden<br />

und hätte es geschafft, Ha´aretz´<br />

Bekenntnis zu den Werten des angewandten<br />

Zionismus deutlich zu<br />

machen.<br />

Der 46jährige Alfon arbeitete ab 1989<br />

für die Tageszeitung. Er initiierte den<br />

Kultur-„Galerie“-Teil, editierte das<br />

Wochenendmagazin, war <strong>als</strong> Ha´a retz-<br />

Korrespondent in Paris und war Chef<br />

des „Marker“, der Wirtschaftspu bli -<br />

kation von Ha´aretz. 2004 wechselte<br />

Alfon <strong>als</strong> Chefredakteur zum Verlags -<br />

haus Kinneret Zmura-Beitan Dvir.<br />

Frank Sinatra unterstützte<br />

Waffenschmuggel nach Israel<br />

Bei einem Fundraising-Dinner für<br />

Israels Rabin Center erzählte Brian<br />

Greenspun, der Sohn des Medien- und<br />

Immobilienmagnaten Hank Green -<br />

spun aus Las Vegas, zum ersten Mal<br />

öffentlich über Frank Sinatras Be -<br />

teiligung am Waffenschmuggel nach<br />

Israel. Er hätte die Geschichte von seinem<br />

Vater gehört, so Greenspun, und<br />

später durch Teddy Kollek bestätigt<br />

bekommen.<br />

Nach deren Erzählungen lernte Kollek,<br />

der 1948 Israels Waffen schmug -<br />

gelaktivitäten in New York leitete, den<br />

Sänger im „Hotel 14“ kennen, das sich<br />

über dem alten Copa cabana Nacht -<br />

club befand, in dem Sinatra auftrat.<br />

Kollek musste dem Kapitän eines<br />

Schiffes, das die Waffen aus dem New<br />

Yorker Hafen herausbringen sollte,<br />

Bargeld zukommen lassen, wusste<br />

jedoch, dass er auf Schritt und Tritt<br />

vom FBI beobachtet wurde. Die USA<br />

nahmen dam<strong>als</strong> an einem Waffenem -<br />

bargo alle Parteien des Konflikts<br />

betreffend teil. Also verließ Kollek am<br />

verabredeten Tag das Hotel mit einer<br />

Tasche in der Hand und die Agenten<br />

folgten ihm. Sinatra allerdings verschwand<br />

durch einen anderen Aus -<br />

gang – und mit ihm eine Papiertüte,<br />

in der sich das Geld für den Kapitän<br />

befand, die er schließlich auch an diesen<br />

übergab. Sinatra und Kollek verband<br />

daraufhin eine jahrelange<br />

Freundschaft.<br />

Auch der ehemalige US-Präsident<br />

Bill Clinton ließ bei ebendiesem Fund -<br />

raising-Dinner, das zu Ehren Jimmy<br />

Hoffas, dem legendären Teamster-Gewerkschaftsführer,<br />

abgehalten wur de,<br />

aufhorchen: Es gäbe Zeiten, da sei es<br />

angebracht, sich über die Gesetze des<br />

Staates hinwegzusetzen, sagte Clin ton.<br />

Er bezog sich dabei auf den Waffen -<br />

schmuggel nach Israel während dessen<br />

Staatsgründung, den die US-Regie -<br />

rung durch ein umfassendes Embar -<br />

go zu verhindern gesucht hatte.<br />

Israels Gegner verfügten dam<strong>als</strong> über<br />

ausgedehnte Waffenbestände, während<br />

der junge Staat selbst sich diese<br />

erst mühsam beschaffen musste.<br />

Verbindung zwischen<br />

Handynutzung und Krebsrisiko<br />

Dr. Siegal Sadetzki, Empidemiologin<br />

und Lektorin an der Universität von<br />

Tel Aviv, veröffentlichte im US-Jour -<br />

nal für Epidemiologie die Ergebnisse<br />

einer Studie, die eindeutig zeigt, dass<br />

bei intensivem Handygebrauch ein<br />

höheres Risiko für die Entstehung<br />

krebsartiger Tumore besteht.<br />

Dass diese Studie mit 500 Israelis<br />

durchgeführt wurde, ist signifikant:<br />

„Im Unterschied zu den Bürgern anderer<br />

Staaten, nahmen die Israelis die Mobilte -<br />

lefonie sehr schnell an und entwickelten<br />

sich rasch zu außergewöhnlich intensiven<br />

Handynutzern.“, so Sadetzki. „Deshalb<br />

waren diese Probanden auch einem we -<br />

sent lich höheren Maß an Strahlung ausgesetzt,<br />

<strong>als</strong> jene in vorangegangenen<br />

Handy-Studien.“<br />

Juden und Hindus<br />

trafen sich in Jerusalem<br />

Einige der wichtigsten Größen in der<br />

Welt des Hinduismus und Oberrab bi -<br />

ner aus aller Welt trafen von 18.-20.<br />

Februar zum Hinduistisch-Jüdischen<br />

Gipfel in Jerusalem zusammen, der<br />

im vergangenen Jahr zum ersten Mal<br />

abgehalten worden war.<br />

Bei dem vom Weltrat Religiöser Füh -<br />

rer (WCORL) initiierten und unter<br />

der Schirmherrschaft des gesamtindischen<br />

Dharma Acharya Seba und des<br />

Oberrabbinats von Israel organisierten<br />

Gipfel ging es um die Entwicklung des<br />

interreligiösen Verständnisses und<br />

der interkulturellen Verbin dungen.<br />

Bereits beim ersten Treffen in Delhi<br />

2007 bekannten sich die Delegierten<br />

gemeinsam zur Förderung von So zia -<br />

ler Gerechtigkeit, religiöser Freiheit<br />

und einvernehmlichem Informations -<br />

austausch über Hinduismus und<br />

Judentum.<br />

Israelischer Judoka bei<br />

Olympischen Spielen in Peking<br />

Die Nummer 1 im israelischen Judo,<br />

Arik Zeevi, hat sich fix für die Teil nah -<br />

me an den Olympischen Spielen in<br />

Peking <strong>2008</strong> qualifiziert. Der dreifache<br />

Europäische Champion (2000, 2003<br />

und 2004) konnte bereits bei den<br />

Olympischen Spielen in Athen 2004 eine<br />

Bronzemedaille nach Hause tragen.<br />

Hörgeschädigte bekommen<br />

Terrorwarngerät<br />

Taube und Hörgeschädigte in der<br />

israelischen Stadt Ashkelon werden<br />

mit einem Gerät ausgestattet, dass bei<br />

einem Angriff durch Kassam-Raketen<br />

zu vibrieren anfängt. Das israelische<br />

So zialministerium gab grünes Licht<br />

für diese Maßnahme, die bereits in<br />

Sderot und anderen Grenzstädten zur<br />

Anwendung gekommen ist.<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 39


JÜDISCHE WELT • ISRAEL<br />

Yerushalmi:<br />

„Terror-Tatorte<br />

erzählen viel“<br />

Der israelische<br />

Sicherheitsexperte<br />

berät weltweit<br />

Er sieht nicht aus, <strong>als</strong> würde er zum<br />

Casting für die TV-Serie C.S.I.-Miami<br />

eingeladen werden. Eher schüchtern<br />

und schmächtig wirkt er in seinem<br />

schmal geschnittenen, dunklen Man -<br />

tel. Nur das braungebrannte Gesicht<br />

und die graue kräftige Haarmähne<br />

lassen in dieser winterlichen Ver klei -<br />

dung einen drahtigen, trainierten<br />

Mann vermuten. Eigentlich ist das ein<br />

Verlust für viele Krimi-Serien, denn<br />

Ingenieur Yaakov Yerushalmi könnte<br />

einiges aus der realen Werkstatt eines<br />

weltweit nachgefragten Sicherheits -<br />

ex perten beisteuern.<br />

„Ich bin so etwas wie ein Pathologe“,<br />

lächelt er entschuldigend, „denn wie<br />

die Spurensicherung in einem Krimi<br />

komme ich immer nach einem Bombenoder<br />

Sprengstoffanschlag an den Ort des<br />

Geschehens. Dort prüfe ich dann die Sta -<br />

tik der schadhaften Gebäude und auch die<br />

Struktur der beim Bau verwendeten<br />

Materialien.“ Yerushalmi, der von<br />

1967 bis 1971 am Technion in Haifa<br />

zum Erd- und Wasserbauingenieur<br />

ausgebildet wurde, spezialisierte sich<br />

ebendort in Structural Engineering an<br />

der Technion Post Graduate School. „Ich<br />

lese nach einem Sprengstoff- oder Bom -<br />

ben anschlag an jedem Tatort wie in einem<br />

offenen Buch“, erzählt der Fachmann,<br />

der sowohl nach Madrid und New<br />

York, <strong>als</strong> auch nach London und Sin -<br />

gapore eingeladen wurde, <strong>als</strong> die örtlichen<br />

Sicherheitskräfte seine Ein -<br />

schät zung hören wollten. Konkrete<br />

Bei spiele darf der Israeli, der auch<br />

von seiner Diskretion lebt, leider<br />

nicht preisgeben.<br />

Von 1975 bis 1979 leitete Yerushalmi<br />

<strong>als</strong> hoher Offizier die wichtigste Pio -<br />

nier-Abteilung in der israelischen<br />

Armee: Er war der Chef der geotechnischen<br />

Abteilung für Schutz-Struk -<br />

tu ren. „Da mich die IDF (Israel Defense<br />

Forces) auch beim Studium förderten,<br />

war es selbstverständlich, dass ich mein<br />

erworbenes Wissen auch für die Armee<br />

zur Verfügung stelle“. Heute entwickelt<br />

er auch raketensichere Hausmau ern<br />

und Schutzwälle gegen den Kassam-<br />

Beschuss auf die israelische Ortschaft<br />

Sderoth. „Seit sechs Jahren steht diese<br />

Gemeinde unter Dauerbeschuss, jetzt hat<br />

die israelische Regierung ein eigenes Bud -<br />

get für schusssichere Wände in Wohn -<br />

bau ten genehmigt,“ erzählt der Fach -<br />

mann, der auf einige lukrative Auf -<br />

trä ge im Ausland verzichtete, um für<br />

Sderoth arbeiten zu können.<br />

Seit 1979 ist Yaakov Yerushal mi mit<br />

seiner Beraterfirma YYLtd. selbstständig<br />

und sehr gut gebucht. <strong>Wien</strong><br />

besuchte er in letzter Zeit mehrm<strong>als</strong>,<br />

um der Hakoah und der IKG beim<br />

Bau des Sportzentrums, der Schule<br />

und des Maimonides-Zentrums mit<br />

sicherheitstechnischem Rat zur Seite<br />

zu stehen. Denn wer Yerushalmis Er -<br />

fahrungen zu nutzen weiß und seine<br />

Ratschläge vor der Errichtung eines<br />

Gebäudes einholt, baut jedenfalls<br />

günstiger. „Wenn wir schon in der Pla -<br />

nungsphase unsere Erfahrungen einbringen<br />

können, wird der für die Sicher heit<br />

nötige Aufwand bereits bei der Er rich -<br />

tung eines öffentlichen oder privaten<br />

Gebäudes berücksichtigt und das kommt<br />

auf jeden Fall billiger“.<br />

Respektiere Deinen Feind –<br />

er ist nicht blöd!<br />

Doch nicht nur jüdische Schulen werden<br />

heutzutage baulich geschützt,<br />

auch Bankengebäude in Spanien oder<br />

ein Holocaust-Mahnmal in Frank reich.<br />

Zur Erinnerung an das größte französische<br />

Lager Drancy, von dem aus<br />

24.000 Juden unter der Leitung des<br />

SS-Schergen Alois Brunner zur Ver -<br />

nich tung nach Auschwitz deportiert<br />

wurden, entsteht jetzt ein Mahnmal.<br />

„Das deutsch-schweizerische Architek ten -<br />

büro Diener & Diener hat den Wettbe -<br />

werb gewonnen und jetzt bin ich auch in<br />

das Projekt einbezogen worden“, berichtet<br />

Yerushalmi.<br />

Er hat auch an der Entstehung eines<br />

wichtigen EU-Gesetzes mitgewirkt.<br />

„Wir haben mit der EU-Kommission<br />

einen Katalog von gemeinsamen Sicher -<br />

heits standards erarbeitet, der nach den<br />

9/11 Anschlägen in New York noch notwendiger<br />

und dringlicher geworden ist.“<br />

Denn Yerushalmi ist überzeugt, dass<br />

man seinen Feind nicht unterschätzen<br />

darf: „Die so genannten ‚Feinde’ kann<br />

man nur ausschalten, wenn man sie res -<br />

pek tiert. Denn sie sind ja nicht blöd, davon<br />

darf man keinesfalls ausgehen. Zumeist<br />

gelingt doch ein Anschlag, weil sie die<br />

Schwach punkte eines Gebäudes oder ei ner<br />

Konstruktion entdeckt haben.“<br />

Da die kollateralen Effekte von<br />

Sprengstoffanschlägen immer dramatischer<br />

und ausgeklügelter werden,<br />

sieht Yerushalmi den Bedarf an dieser<br />

Spezialisierung weiter wachsen. Da -<br />

her sucht er auch junge Leute in aller<br />

Welt zur Ausbildung in seiner Firma.<br />

Nur bei der Sicherung von Sderoth<br />

und anderen gefährdeten Gebieten in<br />

Israel denkt er nicht an das Geschäft.<br />

Zwi Halevi<br />

40 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


KULTUR • KOLUMNE<br />

Überall & nirgendwo<br />

Großes Silbernes Ehrenzeichen<br />

für ehemalige StRin Pittermann<br />

Die frühere <strong>Wien</strong>er Gesund heits -<br />

stadt rätin Primaria Dr. Elisabeth<br />

Pittermann-Höcker hat das Große Sil -<br />

ber ne Ehrenzeichen für Verdienste<br />

um das Land <strong>Wien</strong> aus den Händen<br />

des <strong>Wien</strong>er Bürgermeisters, Dr.<br />

Michael Häupl, erhalten. Die Lauda tio<br />

hielt der Erste Präsident des <strong>Wien</strong>er<br />

Landtags, Johann Hatzl. Der Fest red -<br />

ner würdigte Pittermann vor al lem<br />

wegen ihres großen Engage ments<br />

und deren außerordentlichen Leis -<br />

tungen sowie wegen ihrer jahrzehntelangen<br />

ausgezeichneten Zu sam -<br />

menarbeit mit dem Land <strong>Wien</strong>.<br />

Dr. Pittermann war nach Ab schluss<br />

ihres Studiums im Jahr 1971 viele<br />

Jahre im Hanusch-Krankenhaus tätig,<br />

wo sie 20 Jahre später an der 3. Me di -<br />

zi ni schen Abteilung Primaria wurde<br />

– eine Tätigkeit, die sie auch heute<br />

noch ausübt. Ihre politische Lauf -<br />

bahn begann 1982 <strong>als</strong> Bezirksrätin,<br />

1994 kam sie in den Na tio nalrat, wo<br />

sie bis zum Wechsel in die <strong>Wien</strong>er<br />

Lan des regierung blieb; die Funktion<br />

<strong>als</strong> Ge sundheitsstadträtin übte sie<br />

von 2000 bis Früh som mer 2004 aus;<br />

von 1990 bis 2002 war sie Vizeprä si -<br />

dentin des BSA.<br />

Seit 2004 ist sie Ehrenpräsi den tin<br />

des Arbeitersamariterbundes, dessen<br />

Präsidentin sie von 1999 bis 2000 war.<br />

Dort, wo in Washington Heights, in New York,<br />

die Pine hurst, die Cabrini und die 187. Strasse<br />

zusammentreffen, dort befindet sich ein kleiner<br />

Platz. Eigentlich lediglich eine Verkehrs insel,<br />

auf der sich allerdings eine halbrunde Bank be -<br />

findet, die bei halbwegs erträglichem Wetter<br />

kaum leer bleibt. Hier trifft sich jung und alt,<br />

aber auch der Überrest jener deutschen und ös -<br />

terreichischen Emi granten, die seinerzeit Wa -<br />

shing ton Heights in ein europäisch-jüdisches<br />

Viertel verwandelt hatten. An einer Ecke steht meist vor „seinem“ Haustor der<br />

Super (Hausmeister), der mit seinen Neuigkeiten keinen an ihm Vorbeigehenden<br />

auslässt. Es ist fast wie in einem Dorf. Noch immer hört man gelegentlich<br />

deutsch in einigen Nachbarschaftsrestaurants, ein Deutsch meist nicht österreichischer<br />

Färbung, noch immer sieht man kleine, gebückte alte Frauen, ihren<br />

kleinen Einkaufswagen mühsam den Berg hinauf schieben. Und noch immer<br />

hat man das Gefühl, sie, die nunmehr gewohnheitsmäßig Englisch sprechen,<br />

im Kopf aber in Deutsch mit Zahlen hantieren, wie zum Beispiel in den vie len<br />

Bridgerunden, sie, die hier Anwesenden, sind ei gent lich überall und nirgendwo<br />

zu Hause.<br />

Weiter unten, bloß drei Parallelstrassen weiter, an der Ecke der 187. Strasse<br />

zum Broadway, befindet sich eine streng orthodoxe Gemeinde. Hier laufen die<br />

kleinen Mäd chen mit ihren langen mausgrauen Röcken herum, während die<br />

Buben mit aufgesetzter Kippa Fußball spielen. Hier empfiehlt es sich nicht, am<br />

Freitag kurz vor dem An bre chen des Sabbaths, in den nahe gelegenen Super -<br />

markt (mit entsprechend koscheren Abteilungen) zu gehen. Zu groß ist der<br />

Andrang derer, die noch ganz schnell einkaufen wollen, bevor die Zeit der<br />

schwarzen Anzüge anbricht und man mit gemessenen Schritten die Strassen<br />

bevölkert. Da unten, bloß drei Häuserblocks von der Bank entfernt, da gibt er<br />

nur ein hier. Ein hier, das einen winzigen Teil Man hattans umschließt und vielleicht<br />

ein paar (wohl ausgesuchte) Orte in Israel. Zumindest für einige.<br />

Überall & nirgendwo, und hier, das sind Gegensätze, die nicht nur Generationen<br />

voneinander trennen. Dies be merkt man spätestens bei einem Besuch beim<br />

Stammtisch, eines Treffpunkts von Emigranten, der bereits seit 1943 existiert<br />

und den u.a. Oskar Maria Graff ins Leben gerufen haben soll. Hier spricht man<br />

natürlich deutsch, zum Teil ein sehr gewähltes Hochdeutsch. Und alle sind per<br />

du. Auch die weit über Achtzigjährigen mit den österreichischen Ge denk -<br />

dienern, die vorbeischauen. Gelegentlich aufgeschnappte Gesprächsfetzen –<br />

alle reden durcheinander – beziehen sich auf Längstvergangenes. Etwa das<br />

Dienst mäd chenverbot in den ersten Jahren der Hitlerzeit in Deutschland, Dinge,<br />

die sich „nach dem Krieg“ (ein gängiger Euphemismus) wieder fanden. Hier<br />

beim Stamm tisch, hier in einer kleinen Wohnung an der Upper East Side, hier<br />

gilt wieder das überall und nirgendwo. Wenn man Glück hat, dann kommt man<br />

an dem Abend, an dem von einem älteren, sehr gepflegten Herren Pa lat schin -<br />

ken fabri ziert werden. Selbstverständlich mit Marillenmarmelade. Der<br />

Hobbykoch ist übrigens ein Enkel Arnold Schönbergs<br />

Wie macht man ein Bagel? Das ist ganz einfach: man nimmt ein Loch und<br />

legt den Teig herum. Das klingt witzig, beschreibt aber zugleich bestens den<br />

jüdischen Charakter New Yorks. Das unbekannte Loch, das enthält all die vielfältigen<br />

Vorstellungen, Wünsche, Interpretationen, die in das Wort jüdisch<br />

gelegt werden (dürfen, sollen, müssen). Und weil es so wenig genau wirklich<br />

erfasst werden kann, wird der Teig herumgelegt und je nach Geschmack<br />

bestreut: sesame, onion, garlic. Für manche von allem etwas: die everything<br />

bagels. Übrigens Bagel gibt es überall in New York, schließlich sind Bagel and<br />

Lox zumindest so amerikanisch wie Apple Pie.<br />

P. Weinberger<br />

KULTUR<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 41


KULTUR • MUSIK<br />

Sylvia Greenberg: Mit Korngold ins<br />

Herz gesungen<br />

Einen akustisch schwierigen Saal<br />

mit einem sehr anspruchsvollen Lie -<br />

derabend zu füllen, ist wahrlich eine<br />

Kunst, die nur ganz hervorragende<br />

Musiker schaffen können. Diesen<br />

Erfolg dürfen sich die Kolo ratur so -<br />

pranistin Sylvia Greenberg und der<br />

Pianist David Aronson zugute schreiben.<br />

Denn unter dem Titel „Haus -<br />

musik – Musikalische Grüße aus der<br />

Theobaldgasse 7“ verließen sie sich kei -<br />

neswegs auf populäre „Ohrwür mer“.<br />

Ganz im Gegenteil, sie boten ihrem<br />

Publikum im Jüdischen Museum in<br />

<strong>Wien</strong> erstens eine Weltpremiere - sie<br />

konzertieren mit dem gleichen Pro -<br />

gramm danach an der University von<br />

Michigan, Ann Arbor - und zweitens<br />

einen eindrucksvollen Querschnitt<br />

eines selten gehörten Liedgutes. „Wir<br />

haben den Begriff ‘Hausmusik’ ge wählt,<br />

weil wir hier in <strong>Wien</strong> in der Theobald gas se<br />

7 im sechsten Bezirk in einem musikalisch<br />

vorbelasteten Haus wohnen,“ erzählt der<br />

gebürtige New Yorker Aronson <strong>als</strong><br />

Ein führung in den Abend. Niemand<br />

geringerer <strong>als</strong> Erich Wolfgang Korn gold<br />

(1897-1957) lebte und arbeitete hier.<br />

Er galt <strong>als</strong> Wunderkind und war der<br />

Sohn des aus Brünn stammenden jü -<br />

di schen Musikkritikers Julius Korn -<br />

gold, der <strong>als</strong> Nachfolger von Eduard<br />

Hanslick ebenso gefürchtet und res -<br />

pek tiert für die ‘Neue Freie Presse’<br />

schrieb. „Zur Familie Korngold kamen<br />

viele berühmte Musiker, Komponisten<br />

und Interpreten auf Besuch, u.a. Bruno<br />

Walter und Alexander von Zemlinsky.“<br />

Letzterer war auch einer der Lehrer<br />

des Wunderkindes Erich Wolfgang,<br />

dessen Ballettkomposition Der Schnee -<br />

mann bereits mit elf Jahren an der<br />

Wie ner Hofoper seine Uraufführung<br />

erlebte. (Die Ausstellung „Die Korn -<br />

golds - Klischee, Kritik und Kompo -<br />

si tion“ im Jüdischen Museum in<br />

<strong>Wien</strong> läuft noch bis 18. Mai <strong>2008</strong>)<br />

Daraufhin wurde Korngold von der<br />

<strong>Wien</strong>er Hocharistokratie gefördert<br />

und er enttäuschte sie nicht: Mit dreizehn<br />

Jahren komponierte er Klavier -<br />

so naten, etwas später eine Schau spiel-<br />

Ouvertüre und eine Sinfonietta. Die<br />

Aufführungen seiner Jugendwerke di -<br />

rigierten häufig so prominente Per sön -<br />

lichkeiten des frühen 20. Jahr hun derts<br />

wie Bruno Walter, Artur Schna bel,<br />

Wilhelm Furtwängler oder Ri chard<br />

Strauss. Korngolds Opernkom posi ti -<br />

o nen Der Ring des Polykrates und<br />

Violanta (beide aus 1916) gehörten zu<br />

den meistgespielten Opern in Österreich<br />

und Deutschland, sein wohl<br />

bedeutendster Erfolg war jedoch die<br />

Oper Die tote Stadt. Bereits 1934 folgte<br />

Korngold der Einladung Max Rein -<br />

hardts nach Hollywood, um für dessen<br />

Film A Midsummer Night’s Dream<br />

(Ein Sommernachtstraum) die Film -<br />

mu sik nach der Vorlage Mendels sohns<br />

zu arrangieren. Der Durchbruch mit<br />

Reinhardt brachte ihm weitere Auf -<br />

trä ge <strong>als</strong> Filmkomponist für Warner<br />

Brothers ein.<br />

Korngold erhielt 1936 und 1938<br />

zweimal den begehrten Oscar für die<br />

beste Filmmusik. Durch seinen Kon -<br />

takt zu Warner Brothers zum Zeit punkt<br />

des Anschlusses in <strong>Wien</strong> konnte er<br />

seine Eltern rechtzeitig in die USA<br />

holen.<br />

Von Hans und Grete und<br />

Walzergesängen<br />

Mit dem berührenden Vortrag<br />

dreier Lieder von Erich Wolfgang<br />

Korngold führte die in Bukarest ge -<br />

bo rene Sopranistin und Professorin<br />

für Gesang an der Hochschule für<br />

Musik und Theater München, Sylvia<br />

Greenberg, ihre Zuhörer in die Welt<br />

der Moderne. Drei Gedichte von Joseph<br />

von Eichendorff hatte der welt be -<br />

rühmte Dirigent Bruno Walter vertont.<br />

Julius Bittner wiederum beschrieb in<br />

seinen Liebesliedern die Zuneigung<br />

zum Herbstmorgen und zur Julinacht.<br />

Lieder aus Gustav Mahlers Des Kna -<br />

ben Wunderhorn erweckte Greenberg<br />

ebenso mit ihrem leuchtenden So pran<br />

zum Leben wie Alexander von Zem -<br />

linskys leichtfüßige Walzer-Gesänge.<br />

Greenberg absolvierte ihre Aus bil -<br />

dung zur Cellistin in Israel, nachdem<br />

sie mit ihrer Familie dorthin Alijah<br />

gemacht hatte. Ihr Debüt <strong>als</strong> Sängerin<br />

erfolgte in einem Konzert des Israel<br />

Philharmonic Orchestra unter Zubin<br />

Mehta. Mit einem Stipendium kam<br />

sie nach Zürich, wo sie noch während<br />

der Gesangsausbildung an die Zür -<br />

cher Oper engagiert wurde. Die Par -<br />

tie der Königin der Nacht in Mozarts<br />

Zauberflöte wurde für mehrere Jahre<br />

ihr Markenzeichen. Erste Gastspiele<br />

führten die sehr junge Sängerin schon<br />

zum angesehenen Glyndebourne Festi -<br />

val sowie zu baldigen Auftritten an<br />

deut schen Opernhäusern in Ham -<br />

burg, München, Stuttgart, Köln und<br />

Frankfurt. 1980 wechselte Sylvia<br />

Greenberg nach Berlin und wurde<br />

Mit glied der Deutschen Oper. Da raufhin<br />

wurde sie für große Aufgaben in<br />

Werken von Guiseppe Verdi und Ri -<br />

chard Strauss Oper engagiert und ab<br />

1982 sang sie auch bei den Salzburger<br />

Festspielen. Nur ein Jahr später debütierte<br />

sie auf dem grünen Hügel von<br />

Bayreuth in Wagners Siegfried unter<br />

Sir George Solti. Auch die ersten<br />

Auftritte an der <strong>Wien</strong>er Staatsoper<br />

fielen bereits in diese Zeit, ebenso<br />

Gastspiele an der Pariser Grand Opé -<br />

ra und der Mailänder Scala.<br />

Sylvia Greenberg wurde bei der<br />

anspruchsvollen Hausmusik im Jü di -<br />

schen Museum in <strong>Wien</strong> von ihrem<br />

Ehemann David Aronson begleitet.<br />

Der studierte Pianist und Dirigent<br />

arbeitete seit vielen Jahren <strong>als</strong><br />

Korrepetitor an der <strong>Wien</strong>er Staats -<br />

oper und betreute schon bisher die<br />

großen Stars der Opernwelt, darunter<br />

Walter Berry, Placido Domingo, Lu -<br />

ciano Pavarotti, Bryan Terfel, Renée<br />

Fleming und Neil Shicoff. Mehr <strong>als</strong><br />

fünf Jahre arbeitete er direkt mit<br />

Ricardo Muti zusammen und tourte<br />

mit Seiji Ozawa <strong>als</strong> Pianist durch<br />

Japan. Den Fachwechsel seiner Frau<br />

zum lyrischen Sopranfach – 2002 war<br />

sie zum ersten Mal <strong>als</strong> Micaela in<br />

Bizets Carmen zu hören – hat Aronson<br />

tatkräftig unterstützt, und so zählt<br />

heute die Donna Anna in Mozarts Don<br />

Giovanni zu Sylvia Greenbergs Para -<br />

derollen.<br />

I.B.Henry<br />

Sylvia Greenberg &<br />

David Aronson<br />

42 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


KULTUR • LITERATUR<br />

aufgeblättert...<br />

von Michaela Lehner<br />

mit freundlicher Unterstützung von IKG-Linz<br />

Die Welt <strong>als</strong> Möglichkeit und<br />

Fiktion<br />

Die israelische Literatur <strong>als</strong> eminent<br />

politische Literatur, die in ihren An -<br />

fängen wesentlich an der Kon struk tion<br />

zeitgenössischer israelischer Identität<br />

und nationaler Erzählungen beteiligt<br />

war, um diese in späteren Jah ren kritisch<br />

zu reflektieren und ge gen deren<br />

politische, soziale und ideologische<br />

Verfasstheit anzuschreiben, hat in Joshua<br />

Sobol einen ihrer versiertesten,<br />

vielseitigsten und umstrittensten<br />

Vertreter, der mit seinem letzten, von<br />

Barbara Linner ins Deutsche übertragenen<br />

Text Whisky ist auch in Ord nung,<br />

nun in Gestalt eines rasanten Ve xier -<br />

spiels um Identität, Gewalt, Liebe,<br />

Opfer und Täter einen virtuosen politischen<br />

wie existentiellen, an literarischen<br />

Zitaten und historischen Ver -<br />

weisen überreichen Roman vorlegt,<br />

des sen metafiktionale Irr- und Abwe -<br />

ge, Verwicklungen und Verästelun gen<br />

mehr <strong>als</strong> nur postmoderner Fabulier -<br />

lust oder Selbstreferentialität geschuldet<br />

ist. In dessen Zentrum steht mit<br />

dem Protagonisten und mutmaßli chen<br />

Erzähler Chanina Rogev ein israelischer<br />

Mann ohne Eigenschaften der<br />

Ge genwart, geboren und aufgewachsen<br />

am Rande Jerusalems, nach seinem<br />

Militärdienst Mitglied einer ge hei men<br />

Antiterroreinheit zur Liqui die rung<br />

von Terroristen, in der Gegenwart er -<br />

folgreicher Werbemagnat in New York,<br />

Frauenliebhaber und Whiskyconnais -<br />

seur, dem die Camouflage nicht nur<br />

zur zweiten, sondern zur einzigen<br />

und ausschließlichen Natur wurde.<br />

Leichtfüßig wechselt er zwischen den<br />

Identitäten Shylocks, Shakespeares<br />

oder Ninos, phantasievoll entwirft<br />

der Beinmensch und nahezu übermenschlich<br />

begnadete Läufer fiktive<br />

Biographien. „Das ist Shakespeare für<br />

mich. Eine Sprache ohne Schrift, eine Form,<br />

die sich in dem Augenblick verändert, in<br />

dem du sie betrachtest. Ein Stoff, der sich<br />

in dem Moment verflüchtigt, in dem du<br />

ihn zu greifen versuchst. Wenn ich ihn<br />

mit drei Worten definieren müsste, wür -<br />

de ich schlicht sagen, er ist nicht. Und<br />

mit vier Worten – würde ich sagen, ich<br />

fühle ihn nicht.“ Permanent auf der<br />

Flucht aber bleibt Chanina/Shy lock/<br />

Shakespeare/Nino vor den Toten der<br />

kollektiven ebenso wie individuellen<br />

Vergangenheit, deren Präsenz ihn<br />

weder in den Armen der missbrauchten<br />

Prostituierten Melissa/Timber<br />

noch in einer New Yorker Bar, verlässt,<br />

bis er zufällig den totgesagten<br />

syrischen Terroristen Adonais/Tino<br />

in Gestalt eines sizilianischen Ge -<br />

schäfts manns und Zuhälters entdeckt<br />

und die vor über zwanzig Jahren in<br />

der libyschen Wüste begonnene Jagd<br />

in der Wüste Mexikos zu Ende bringt.<br />

Getreu der Absage des Erzählers an<br />

jedwede Homogenität von Identität<br />

und seiner Selbstdefinition <strong>als</strong> bricolage<br />

der „Fetzen, Bruchstücke und Splitter“<br />

entwickelt Sobol den aus Versatz stük -<br />

ken des Thrillers gebauten Ro man<br />

jedoch nicht – Kohärenz simulierend<br />

- linear chronologisch; <strong>als</strong> Verknüp -<br />

fungs- und Ordnungsprinzip kann<br />

Sobols Erzähler, der anders <strong>als</strong> Musils<br />

Mann ohne Eigenschaften nun auch<br />

jeden Glauben an die Zentralität der<br />

Materie verlor, nur mehr das der<br />

Mög lichkeit und Kontingenz, der<br />

Fiktion anerkennen. So verführt er<br />

kunstvoll und zugleich ironisch in<br />

das polyvalente Kaleidoskop der po -<br />

litischen und kulturellen Geschich te der<br />

jüdischen Moderne, deren Scher ben<br />

im Gefäß der Haupt figur des Ro mans<br />

im Akt der Lektüre mög licherweise<br />

versammelt werden können.<br />

Joshua Sobol<br />

Whisky ist auch<br />

in Ordnung.<br />

Übers. v. Barbara Linner.<br />

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März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 43


KULTUR • FILM<br />

Die mitreissende Welle:<br />

„Es kann heute wieder<br />

passieren“<br />

INTERVIEW MIT DEM REGISSEUR DENNIS GANSEL<br />

Das Experiment aus dem Jahr 1967, das schnell aus dem Ruder<br />

lief und vorzeitig abgebrochen werden musste, gilt heute <strong>als</strong> legendär<br />

und diente <strong>als</strong> Vorlage für einen Roman und einen Film. Eine<br />

Neubearbeitung des deutschen Regisseurs Dennis Gansel, der die<br />

Handlung in das heutige Deutschland überträgt, kommt Mitte März<br />

in die heimischen Kinos.<br />

von Marta S. Halpert<br />

Alle Fotos: © 2007 Constantin Film, München<br />

GEMEINDE: Wie sind Sie auf das Buch,<br />

auf das Thema der „Welle“ gestoßen?<br />

GANSEL: Ich kannte das Buch aus<br />

der Schule, ich habe es <strong>als</strong> Schüler mit<br />

12 Jahren lesen müssen. Es hat mich<br />

dam<strong>als</strong> sehr beeindruckt.<br />

GEMEINDE: Warum haben Sie gerade<br />

jetzt das Thema der „leichten Verführ -<br />

bar keit zum Faschismus“ aufgegriffen<br />

und verfilmt?<br />

GANSEL: Das hat sich alles durch ei -<br />

ne Diskussion unter Freunden ganz<br />

spon tan ergeben. Wir wollten voneinander<br />

wissen, wer sich noch an die<br />

„Wel le“ erinnern konnte. Da tauchte<br />

die Frage auf, ob so etwas heute wieder<br />

passieren könnte. Alle meinten,<br />

auf gar keinen Fall, wir hätten schon<br />

so viel über die Nazizeit gelernt. Es<br />

wäre nicht möglich, da Deutschland,<br />

Frankreich, eigentlich wir alle schon<br />

so aufgeklärt seien. Je länger wir aber<br />

darüber gesprochen haben, umso un -<br />

si cherer wurden wir. Was passiert,<br />

wenn eine große Krise in Deutsch -<br />

land ausbricht? Wenn die Verführung<br />

vielleicht unpolitisch daherkommt,<br />

wenn der Lehrer extrem charismatisch<br />

und ein seelischer Rattenfänger<br />

ist und alles gut einfädelt: Zum Bei -<br />

spiel, wenn es weniger um Ide o lo gi en,<br />

Po li tik geht, sondern um den Spaß -<br />

faktor, nur um gemeinschaftlichen<br />

Zu sam men halt.<br />

GEMEINDE: War es leicht sich die<br />

Film rechte in den USA zu holen?<br />

GANSEL: Nein, wir haben uns be -<br />

reits seit Jahren bemüht, den Stoff zu<br />

kaufen und zu verfilmen. Die Rechte<br />

waren bei den Sony Filmstudios, und<br />

die Amerikaner geben sehr ungern Fil -<br />

me heraus. Unserem Co-Pro du zen ten<br />

Martin Moszkowicz (Sohn des bekannten<br />

jüdischen Film- und Theater re gis seurs Imo<br />

Moszkowicz in München, Anmerk.d.Red.)<br />

ist es dann mit viel Charme und Pro -<br />

du zentenscharfsinn doch noch gelun -<br />

gen. Damit war die Auflage verbunden,<br />

nur einen deutschen Film zu<br />

machen.<br />

GEMEINDE: Sie haben dabei große<br />

Unter stützung von dem Initiator des Ex -<br />

pe ri mentes Ron Jones erhalten: Aufgrund<br />

sei ner Protokolle, die der US-Lehrer selbst<br />

zu diesem Thema veröffentlichte, ent stand<br />

das Drehbuch. Haben Sie sich an diese<br />

Vorlage von 1967 gehalten?<br />

GANSEL: Unsere neue „Welle“ spielt<br />

44 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


KULTUR • FILM<br />

hier und jetzt. Wir wollten zeigen, dass<br />

auch <strong>2008</strong> so etwas wieder möglich ist,<br />

weil gruppendynamische Phäno me ne<br />

immer wieder gleich ablaufen. Der<br />

Un terschied liegt einzig in den In ha -<br />

ten: Denn entscheidend ist, wo für man<br />

sich einsetzt.<br />

GEMEINDE: Der Schluss ist in ihrem<br />

Film viel dramatischer <strong>als</strong> die US-Vor la ge,<br />

er endet mit dem bewaffneten Amoklauf<br />

eines Schülers.<br />

GANSEL: Ja, weil heute oft Schüler<br />

ar rogant meinen, sie würden nie auf<br />

so eine plumpe Agitation faschistische<br />

Bewegung hereinfallen. Manche<br />

sind durch diverse Auschwitz-Filme<br />

geschockt worden und haben wie ich<br />

im fächerübergreifenden Unterricht -<br />

so wohl in Deutsch, Biologie und so gar<br />

im Sport – einiges über die NS-Zeit<br />

er fahren. Sie glauben einfach, dass<br />

eine Diktatur heute nicht mehr möglich<br />

ist.<br />

GEMEINDE: Merken Sie in Deutsch land<br />

eine Übersättigung mit dem Thema?<br />

GANSEL: Ja, schon, weil ja auch viele<br />

Filme so plakativ daher kommen.<br />

Wenn ich mir heute Reden von Hitler<br />

anhöre und Filme wie den „Unter-<br />

gang“ anschaue, dann wirkt das un -<br />

freiwillig komisch. Aber wenn ein faszinierender<br />

Lehrer, wie der großartige<br />

Jürgen Vogel in unserer „Welle“, eine<br />

richtige Stammtischrede hält, voll<br />

gestopft mit lauter Platitüden, die wie<br />

Titelzeilen von Boulevardmagazinen<br />

klingen, dann ist das schon wirksam.<br />

Seine Aussage lautet eigentlich:<br />

Schaut, wie weit ich euch treiben kann<br />

- und wie weit ihr bereit seid zu gehen.<br />

GEMEINDE: Haben Sie familiäre Erfah -<br />

rungen mit der NS-Zeit?<br />

GANSEL: Meine Großeltern waren<br />

von Hitler überzeugt, sie waren keine<br />

Nazis, eher konservativ eingestellt.<br />

Da für war mein Vater ein 68-er und<br />

extrem links eingestellt. Die beiden Generationen<br />

konnten überhaupt nicht<br />

miteinander reden: Mein Vater sagte,<br />

du bist ein alter Nazi. Und mein Groß -<br />

va ter beschimpfte meinen Vater <strong>als</strong><br />

einen linken Krawaller. So wird man<br />

natürlich beiden Seiten nicht gerecht.<br />

Meine Mutter kommt übrigens aus<br />

einem ungarisch-jüdischen Haus und<br />

hieß mit ihrem Mädchennamen Ilona<br />

Herczeg. Ich bin jetzt auf der Suche<br />

nach den Wurzeln ihrer Familie.<br />

GEMEINDE: Wie sind Sie <strong>als</strong> junger<br />

Mensch mit diesem Konfliktpotenzial<br />

umgegangen?<br />

GANSEL: Ich, <strong>als</strong> dritte Generation<br />

habe eben das Bedürfnis verspürt, die<br />

Verführbarkeit aufzuzeigen. Eben<br />

nicht alle Leute von dam<strong>als</strong> für Idi o ten<br />

zu erklären, sondern den psychologischen<br />

Ursprüngen nachzugehen.<br />

Schon mit meinem Film über die Eli -<br />

te schule Napola, habe ich dargestellt,<br />

wie die Verführung im Dritten Reich<br />

funktioniert hat. Es war das Bemü hen,<br />

für ein heutiges Publikum das verstehbar<br />

und emotional nacherlebbar<br />

zu machen, damit sie nicht auf den<br />

Mechanismus dahinter hereinfallen.<br />

In Treue fest? Rainer Wenger<br />

fordert letztmalig zum Welle-<br />

Gruss auf<br />

Regisseur Dennis Gansel<br />

Der 1973 in Hannover geborene Regis -<br />

seur studierte an der Hochschule für<br />

Fern sehen und Film in München und<br />

machte zunächst mit einer Reihe von<br />

Kurzfilmen auf sich aufmerksam.<br />

Dennis Gansels Filmdebüt „Das Phan -<br />

tom“, ein RAF-Politthriller mit Jürgen<br />

Vogel – der auch seinem jüngsten Film<br />

den Lehrer Rainer Wenger spielt – wurde<br />

im Mai 2000 im Fernsehen ausgestrahlt<br />

und gleich mit drei Adolf-Grimme-Prei -<br />

sen ausgezeichnet. Für den Film „Napola<br />

- Elite für den Führer“ erhielt Dennis Gansel<br />

den Bayerischen Filmpreises 2005.<br />

„Napola - Elite für den Führer“ ist in verschiedener<br />

Hinsicht bemerkenswert,<br />

schreibt die Filmkritikerin Andrea Mir beth:<br />

„Gansel hat sich mit dieser Arbeit in die<br />

erste Reihe deutscher Nachwuchsregis -<br />

seu re katapultiert. Er widmet diesen Film<br />

seinem vor zehn Jahren verstorbenen<br />

Groß vater, der Ausbilder an einer Reichs -<br />

kriegsschule war. Es ist ein Film übers Er -<br />

wach senwerden und eine große Freund -<br />

schaft. Ein Werk, das nach der Verführ -<br />

barkeit der Jugend im Dritten Reich fragt<br />

- ohne schlau zu tun, denn eine definitive<br />

Antwort gibt es nicht.<br />

Gansel hat Erzählkino für ein großes Pu -<br />

blikum gemacht: spannend und unterhaltsam,<br />

nie zynisch oder anklagend. Es geht<br />

um Mitläufertum, Widerstand und die<br />

Suche nach eigenen Werten im Leben.<br />

Betroffen von dem Film, den sie ebenso<br />

wie Barbara Prammer vorab gesehen hatten,<br />

zeigten sich auch die Schülerinnen<br />

und Schüler des Haydn-Gymnasiums.<br />

Ein Jugendlicher brachte den Eindruck<br />

auf den Punkt: „Wir glauben, wir wären<br />

aus reichend aufgeklärt, in Wirklichkeit hat<br />

sich aber nur die Landschaft verändert.<br />

Wir hingegen stehen immer noch da, wo<br />

wir vor 70 Jahren gestanden sind.“<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 45


KULTUR • THEATER<br />

GEMEINDE: War die „Welle“ eine Fol -<br />

ge Ihrer Beschäftigung mit der Napola?<br />

GANSEL: Es war der nächste logische<br />

Schritt <strong>als</strong> Filmemacher, die Verführ -<br />

bar keit zum Faschismus zu zeigen, das<br />

diktatorische und gruppenpsychologische<br />

in die heutige Zeit zu transferieren.<br />

Vor allem, weil bei uns in Mit -<br />

tel europa das Gefühl vorherrscht,<br />

die se schreckliche Geschichte des 20.<br />

Jahrhunderts sei noch so präsent, dass<br />

wir alle davor gefeit sind.<br />

GEMEINDE: Aber wir sind es eigentlich<br />

nicht?<br />

GANSEL: Ron Jones hat in unseren<br />

Gesprächen immer wiederholt, dass<br />

diese Gruppendynamik universell sei<br />

und daher alles jederzeit wieder passieren<br />

kann.<br />

Denken Sie an die WM in Deutsch -<br />

land, wie viele plötzlich zu Fussball -<br />

fans und fahnenschwingenden Pa tri o -<br />

ten mutierten. Das war diesmal zwar<br />

positiv besetzt. Aber Gruppen dy -<br />

namik ist per se steuerbar. Ich bin Un -<br />

terstützer von Greenpeace und auch<br />

ein Globalisierungsgegner – aber im<br />

Grunde arbeiten die genau so.<br />

GEMEINDE: Bleiben Sie an der Thema -<br />

tik dran?<br />

GANSEL: Nicht was die Vergangen -<br />

heit betrifft. Ich möchte einen Film<br />

über Terrorismus machen. Ich glaube,<br />

das wird das große beherrschende<br />

The ma dieses Jahrhunderts. Aber<br />

wenn Die Welle kein Erfolg wird,<br />

werde ich die nächsten zwei Jahre<br />

nicht arbeiten können.<br />

GEMEINDE: Wie sieht es mit dem Ver -<br />

kauf insgesamt und Vorführungen in<br />

Schulen aus?<br />

GANSEL: Der Film verkauft sich jetzt<br />

schon ganz gut, er geht schon nach<br />

Großbritannien, Spanien, Kanada und<br />

Frankreich. Mit Lehrer ver bän den und<br />

Schulen haben wir die Koo pe ration<br />

schon gestartet.<br />

■<br />

Ron Jones, Lehrer des Experiments<br />

von 1967 an der Cubberley High<br />

School in Palo Alto<br />

Das Experiment:<br />

TheThird Wave<br />

Im Herbst 1967 führte der Geschichtslehrer Ron Jones an der Cubberley High School<br />

im kalifornischen Palo Alto in seiner Klasse eine Projektarbeit zum Thema National so -<br />

zia lismus durch. Einer seiner Schüler stellte eine Frage, die auch der Lehrer nicht be -<br />

ant worten konnte. Sie lautete: „Wie konnten die Deutschen behaupten, nichts von der<br />

Judenvernichtung gewusst zu haben? Wie konnten Dorfbewohner, Bahnangestellte, Lehrer,<br />

Ärzte sagen, sie hätten nichts von dem Grauen in den Konzentrationslagern gewusst? Wie<br />

konnten die Nachbarn und auch Freunde jüdischer Bürger erklären, sie hätten davon nichts<br />

mitbekommen?“<br />

Ron Jones beschloss daraufhin spontan ein Experiment zu wagen. Er begann die Schü -<br />

ler zu disziplinieren, sie mussten strenge Regeln in der Gemeinschaft befolgen und auch<br />

persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Jones nannte die Bewegung The Third<br />

Wave und war überrascht, wie schnell, mühelos und begeistert die Schüler auf den ge -<br />

for derten Autoritätsgehorsam reagierten. Dieser beängstigende Test, der ursprünglich<br />

nur einen Tag dauern sollte, ergriff aber die gesamte Schule: Plötzlich wurden Anders -<br />

denkende ausgegrenzt, die Mitglieder bespitzelten und denunzierten sich gegenseitig<br />

und wer das Mitmachen in der „Bewegung“ verweigerte, wurde brutal zusammengeschlagen.<br />

Am fünften Tag musste Ron Jones diesen ausartenden Schulversuch abbrechen.<br />

Nach dreijähriger Verschwiegenheit schrieb er das „Experiment“ nieder, sein Bericht<br />

wurde 1972 veröffentlicht.<br />

Neun Jahre später veröffentlichte der Schriftsteller Morton Rhue die Erzählung The<br />

Wave und verschaffte so dem Vorfall weltweite Aufmerksamkeit. 1981 wurde das Buch<br />

von dem US-Sender ABC verfilmt.<br />

Morton Rhues Die Welle ist seit 20 Jahren der Jugendbuch- und Schullektü ren klassiker<br />

in Deutschland und hat Generationen von Jugendlichen geprägt. In unzähligen<br />

Unterrichtsstunden ging es immer wieder um die Frage: Ist Faschismus heute, in unserer<br />

so aufgeklärten Zeit, wieder möglich? Wie entsteht Faschismus? Und vor allem:<br />

Wie hätte ich mich bei diesem Experiment verhalten?<br />

Die internationale jüdische<br />

EHE-PARTNER-VERMITTLUNG<br />

Weber José<br />

PF 180182<br />

D-60082 Frankfurt a.M.<br />

Telefon +49/69-597 34 57<br />

+49/17/267 14940<br />

Fax +49/69-55 75 95<br />

eMail: weber@simantov.de<br />

www.simantov.de<br />

Ron Jones, der zur Österreich-Premiere des Films nach <strong>Wien</strong> gekommen war, beteiligte<br />

sich an einer Diskussion im österreichischen Parlament unter der Leitung von<br />

Präsidentin Barbara Prammer. „Faschismus gibt es aber auch in den eigenen vier Wänden,<br />

in den Kirchen, Tempeln und am Arbeitsplatz. Wenn man aus dem Experiment Lehren ziehen<br />

könne, dann wohl jene, dass wir alle sowohl zum Guten <strong>als</strong> auch zum Bösen fähig sind“,<br />

betonte Jones. Gerade deshalb gebe es ja „Checks and Balances“ in der De mokr a tie,<br />

die uns helfen, ein Gleichgewicht zwischen Recht und Ordnung, Disziplin und Freiheit<br />

zu fin den. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse liege aber letztlich bei jedem Ein -<br />

zel nen. So einfach sei es jedenfalls nicht, demokratisch und frei zu sein, lautete seine<br />

Schlussfolgerung.<br />

46 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768


7„Zur Erinnerung<br />

an schönere Zeiten“<br />

Ausstellung der Fotosammlung von<br />

Raoul Korty in der Nationalbibliothek<br />

von Marcus G. Patka<br />

Vincenz Prinz Auersperg, um 1890<br />

Bis 13. April <strong>2008</strong> ist im Prunksaal der<br />

Österreichischen Na tionalbibliothek<br />

die kürzlich von Generaldirektorin<br />

Jo han na Rachinger, André Heller und<br />

Bundeskanzler Al fred Gusenbauer<br />

eröffnete Ausstellung der Sammlung<br />

von Raoul Korty zu sehen. Diese um -<br />

fasste ursprünglich an die 250.000<br />

Fotos (heute sind es nur noch 30.000),<br />

1939 wurde sie durch die Gestapo ge -<br />

stohlen und „arisiert“, anschließend<br />

vom damaligen Generaldirektor Paul<br />

Heigl an die ÖNB gebracht. Korty<br />

wurde 1944 in <strong>Wien</strong> verhaftet und in<br />

Au schwitz ermordet. Nach Kriegs en -<br />

de brachte seine Tochter einen Resti tu -<br />

tionantrag ein, der jedoch nach „be -<br />

währ ter“ österreichischer Praxis jahrzehntelang<br />

verzögert wurde. Nach<br />

dem 1998 erlassenenen Kunstrückga b e-<br />

gesetz kam die fast schon vergessene<br />

Sammlung 2003 wieder zum Vor -<br />

schein. Nach einer entsprechenden<br />

Sachverhaltsdar stel lung stimmte das<br />

BM:BWK der Restitution zu, auf<br />

Wunsch der Erbin wurde die Samm -<br />

lung von externen Sachverständigen<br />

bewertet und von der ÖNB angekauft.<br />

Damit hat diese ein weiteres Kapitel<br />

ihrer NS-Vergan gen heit aufgearbeitet.<br />

KULTUR • MUSEUM<br />

Seit 2003 wurden 50 Restitutionen<br />

mit der Rückgabe von etwa 33.000 Einzel<br />

objekten an die rechtmäßigen Er ben<br />

abgeschlossen, der überwiegende<br />

Groß teil der namentlich identifizierten<br />

Fälle. Für etwa ein Drittel der im Pro -<br />

venienzbericht erfassten Stücke konnten<br />

bislang keine ErbInnen ermittelt<br />

werden – über das weitere Schick sal<br />

die ser anonymen, erblosen Objekte<br />

steht eine politische Entscheidung<br />

noch aus.<br />

Bereits 2006 erschien die Publi kation<br />

von Murray G. Hall und Christina<br />

Köstner „… allerlei für die Nation bi blio -<br />

thek zu ergattern …“ Eine österreichische<br />

Institution in der NS-Zeit, die Ergeb -<br />

nisse des auf Initiative der ÖNB-<br />

Leitung erteilten Forschungsauftrags.<br />

Solch eine vorbildliche Aufarbeitung<br />

ihrer „Arisierungs“-Vergangenheit<br />

würde man sich auch in manch anderer<br />

öffentlichen Sammlung in diesem<br />

Land wünschen!<br />

Doch auch im Kleinen setzt die ÖNB<br />

entscheidende Schrit te, wie etwa bei<br />

der Sichtbarmachung der NS-Ver gan -<br />

genheit im öffentlichen Raum. So<br />

wurde im Van Swieten Saal das<br />

Porträtfoto von Paul Heigl mit dem<br />

Hakenkreuz im Knopfloch wieder an<br />

seinen Platz in der „Ah nen ga le rie“ der<br />

Generaldirektoren gehängt – nach<br />

1945 war es „scham haft“ entfernt<br />

wor den und in Publikationen kursier -<br />

te ein Foto, auf dem das Partei ab zei -<br />

chen wegretouschiert worden war.<br />

In ihrer fulminanten Eröffnungs re de,<br />

die immer wieder von Szenenapplaus<br />

unterbrochen wurde, bekannte sich<br />

Ge neraldirektorin Rachinger zur prinzipiellen<br />

institutionellen Verantwor -<br />

tung und sprach in dieser Deutlich keit<br />

von Spitzenvertreteren österreichischer<br />

Institutionen selten gehörte Worte über<br />

die Unklarheiten rund um die Samm -<br />

lung Leopold.<br />

Nicht weniger berührend war André<br />

Heller, der auf die un endlichen Ver -<br />

lus te verwies, die Österreich durch die<br />

Zer störung und Vertreibung seines<br />

jüdischen Erbes erlitten hat – und wie<br />

schwer es für ihn und seine Schick -<br />

s<strong>als</strong> ge nos sen war, in der Zeit danach<br />

in einem Klima der Leug nung und<br />

Verdrängung aufzuwachsen. Dass er<br />

zum Abschluss seiner Rede nach fast<br />

25 Jahren öffentlicher Enthaltsamkeit<br />

wieder <strong>als</strong> Sänger in Erscheinung trat,<br />

drückt wohl auch seinen Respekt vor<br />

der Leistung der ÖNB aus.<br />

Die Ausstellung „Zur Erinnerung<br />

an schönere Zeiten“ umfasst ab 1860<br />

po pulär gewordene „cartes de visite“<br />

s o wie Atelieraufnahmen um 1900 bis<br />

hin zu Presse- und Mo de fotografien<br />

aus den 1920er Jahren. Zu den High -<br />

lights gehören Szenenfotos von Johann<br />

Nestroy und Joseph Lewinsky oder<br />

auch kolorierte Stereoskopien mit<br />

„Mond scheineffekt“. Die von Mi cha e la<br />

Pfundner und Margot Werner erstellten<br />

und sehr behutsam kontextualisierten<br />

Bereiche umfassen Themen wie Ge sellschaft,<br />

Bühne, Adel und Kurio si tä ten.<br />

Da finden sich „süße Mädel“ neben<br />

Kronprinz Rudolph und Mary Vets e ra,<br />

mit Charlotte Wolter, Adele Sandrock<br />

und Katharina Schratt die Kulis sen -<br />

göttinnen ihrer Zeit, aber auch vergessene<br />

Stars wie die „Fiakermilli“<br />

und die Soubrette Mizzi Palme. Da<br />

der Sammler Raoul Korty auch <strong>als</strong><br />

Jour nalist tätig war, werden einige<br />

seiner Fotoreportagen ausgestellt.<br />

Seine besondere Verehrung galt der<br />

Opernsängerin Pauline Lucca, davon<br />

zeugen neben zahlreichen Fotos auch<br />

textile Memorabilia wie ein Kostüm -<br />

jäck chen, Handschuhe und eine Erin -<br />

ne rungsschleife. Und wem diese Bli cke<br />

in eine längst versunkene Welt tatsächlich<br />

nicht immer nicht genügen sollten,<br />

dem sei verraten, dass der Prunksaal<br />

der ÖNB der mit Abstand schönste<br />

Innenraum von <strong>Wien</strong> ist. Leider aufgrund<br />

seiner enormen Höhe aber auch<br />

der kälteste, weshalb bei Besuch der<br />

Ausstellung auf die Mitnahme eines<br />

Pullovers oder Mantels nicht verzichtet<br />

werden sollte. Es könnte sein, dass<br />

Sie dort länger verweilen.<br />

gastspiel in wien<br />

- Save the date!<br />

März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 47


Purim<br />

Sameach!

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