Isfahan - Christoffel-Blindenmission
Isfahan - Christoffel-Blindenmission
Isfahan - Christoffel-Blindenmission
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B I O G R A P H I E<br />
Auf den Spuren<br />
von Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Fotos (8): CBM
Auf den Spuren von<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Ein Lebensbild<br />
mit Selbstzeugnissen<br />
und Bilddokumenten<br />
Nachgezeichnet<br />
von Sabine Thüne<br />
Herausgegeben von der<br />
<strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> (CBM)
Impressum<br />
4. Auflage August 2012<br />
© CBM Deutschland e.V.<br />
Nibelungenstraße 124, 64625 Bensheim<br />
Paul-Neumann-Straße 55, 14482 Potsdam<br />
www.cbm.de<br />
Konto 2020<br />
Bank für Sozialwirtschaft<br />
BLZ 370 205 00<br />
Wir bedanken uns bei Otto <strong>Christoffel</strong><br />
(Neuwied), Charlotte Rahn (Potsdam),<br />
Pfarrer Stephan Dedring (Rheydt) und<br />
Pfarrer Ernst-Wilhelm Wulfmeier (Rheydt)<br />
für ihre hilfreiche Unterstützung.<br />
ISBN 3-00-005547-9
sgadfgsdfg<br />
Foto: CBM<br />
Dr. Rainer Brockhaus<br />
Direktor<br />
<strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong><br />
Vorwort<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
wie abenteuerlich erscheint uns Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>s Leben heute, wenn wir<br />
beim Lesen auf seinen Spuren wandern. Es waren oft harte und schwere Jahre<br />
für ihn, in denen sein Lebenswerk immer wieder zerstört wurde, er in Kriegsgefangenschaft<br />
geriet oder keine Erlaubnis bekam, in seinen Wirkungskreis, den<br />
Orient, zurückzukehren. Doch <strong>Christoffel</strong> verlor nie sein Ziel aus den Augen:<br />
Menschen zu helfen, die dringend Hilfe brauchten.<br />
Der „Vater der Blinden, Niemandskinder, Krüppel und Taubstummen“,<br />
wie <strong>Christoffel</strong> damals auch genannt wurde, fand seine Kraft in dem tiefen<br />
Glauben an Gott. Mit Hilfe der Barmherzigkeit seiner Unterstützer schaffte er<br />
es, Heime für Waisen und Menschen mit Behinderungen aufzubauen und so<br />
Unzähligen ein neues Zuhause und eine Zukunft zu schenken.<br />
Bis heute führt die <strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> (CBM) <strong>Christoffel</strong>s Werk weiter,<br />
indem sie die Lebensqualität von behinderten Menschen in Entwicklungsländern<br />
verbessert und sich für ihre Inklusion in die Gemeinschaft einsetzt.<br />
Doch auch das Wirken der heutigen CBM ist nur durch die Hilfe der vielen<br />
Spenderinnen und Spender möglich.<br />
Mit ihrer Unterstützung konnte die <strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> bereits mehr als<br />
281 Millionen Menschen helfen! Sie fördert derzeit 749 Projekte in 81 Ländern<br />
und gehört im Bereich Menschen mit Behinderungen zu den führenden internationalen<br />
Entwicklungsorganisationen.<br />
Ich wünsche Ihnen nun viel Freude beim Lesen dieser besonderen Lektüre.<br />
Ihr<br />
Dr. Rainer Brockhaus<br />
– Direktor –
Inhalt<br />
1 Die Weichen sind gestellt 5<br />
Herkunft // Predigerschule // Armenierpogrome im Osmanischen Reich //<br />
Zwei armenische Waisenhäuser // Blinde Menschen im Orient<br />
2 Bethesda – Zufluchtsort für Hilfesuchende 10<br />
Das Blindenheim in der Türkei // Grundsätze der Arbeit //<br />
„Niemandskinder“ // Mission im islamischen Umfeld<br />
3 Friedensdienst in friedloser Zeit 15<br />
Der Erste Weltkrieg // <strong>Christoffel</strong> als Sanitäter // Wieder werden Armenier verfolgt //<br />
Bethesda bis zur endgültigen Ausweisung <strong>Christoffel</strong>s<br />
4 Hoffen, wo die Verzweiflung quält 20<br />
Wartezeit in Deutschland // Die Hoffnungstaler Anstalten //<br />
Jugendbund und Kinderbund // Wird <strong>Christoffel</strong> in der Türkei neu beginnen können?<br />
5 Der Sprung nach Persien 24<br />
Persien – ein Land mit alter Kultur // Das Heim in Täbris // Blindenausbildung //<br />
Teppichkunst und Kinderarbeit // Frauen im Islam // Frauen als Mitarbeiterinnen<br />
6 <strong>Isfahan</strong> – alte Stadt und neues Leben 32<br />
Das Heim in <strong>Isfahan</strong> // Die blinden Bettler // Gehörlose Menschen //<br />
Einheimische Mitarbeiter // <strong>Christoffel</strong>, das Kommunikationstalent<br />
7 Ist nun alles zu Ende? 41<br />
Internierung // Rückkehr nach Deutschland // Das Ernst-<strong>Christoffel</strong>-Haus in Nümbrecht //<br />
Erneute Ausreise<br />
8 Noch einmal <strong>Isfahan</strong> 46<br />
Der Wiederaufbau ist schwer // Krankheit und Tod // <strong>Christoffel</strong>s Missionstheologie //<br />
Weggefährten erinnern sich // Otto <strong>Christoffel</strong> über seinen Adoptivvater //<br />
Der Weg führt weiter<br />
Anhang 54
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong> wird am<br />
4. September 1876 in Rheydt/<br />
Rheinland geboren. Es ist eine<br />
Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs<br />
– Gründerzeit. Das er starkte, unter<br />
der Regie Preußens vereinigte Deutsche<br />
Reich ist auf dem Wege, stärkste<br />
In dustrienation Europas zu werden.<br />
Bald wird Wilhelm II. im Wettlauf der<br />
Groß mächte um Kolonien für Deutsch -<br />
land einen „Platz an der Sonne“ be an -<br />
spruchen.<br />
„Mein Vater war Rheinpfälzer.<br />
Seine Großmutter Holländerin. Meine<br />
Mutter vom Niederrhein, schwer blü tig,<br />
mit Neigung zur Me lancholie. Von<br />
beiden Eltern habe ich naturge mäß<br />
etwas. Im Grunde genommen habe<br />
ich die Frohnatur des Rheinländers.<br />
Die aber ist ge dämpft und vielfach<br />
zu rückgenommen durch die Aufgabe<br />
des Alltags und durch das schwere<br />
Er leben des letzten halben Jahr hun -<br />
der ts“, charakterisiert der Gründer<br />
der <strong>Blindenmission</strong> seine Wurzeln.<br />
1. Kapitel<br />
Die Weichen sind gestellt<br />
Herkunft // Predigerschule<br />
// Armenierpogrome im Osmanischen Reich //<br />
Zwei armenische Waisenhäuser // Blinde Menschen im Orient<br />
Mit vier Brüdern und vier Schwestern<br />
wächst Ernst Ja kob in seiner<br />
Heimatstadt Rheydt auf, wo der<br />
Vater als Klempnermeister einen<br />
Handwerksbetrieb besitzt.<br />
Die Eltern Christina und<br />
Louis <strong>Christoffel</strong> sind tief<br />
religiös. Ihr Haus ist offen<br />
für jeden, der Rat und Hilfe<br />
sucht. Vielen Menschen<br />
ihrer Umgebung, vor allem<br />
aber ihren Kindern sind<br />
sie ein Vorbild. „Mutter<br />
und er! Wenn der<br />
Herr uns Kindern ein<br />
Großes schenkte, so<br />
war es das, dass wir<br />
mit Hochachtung<br />
und Verehrung<br />
unserer Eltern ge -<br />
denken können“,<br />
schreibt <strong>Christoffel</strong><br />
1926 zum<br />
Tod seines<br />
Vaters.<br />
Foto: CBM<br />
Foto: Privat<br />
Louis <strong>Christoffel</strong><br />
(1841 bis 1926),<br />
der Vater des<br />
Missionsgründers.<br />
Links:<br />
Ernst Jakob<br />
<strong>Christoffel</strong><br />
bei seiner<br />
Ordination am<br />
27.11.1908<br />
in Basel.<br />
(Die Ordination<br />
nahm Wilhelm<br />
Arnold vor.)
Ehemaliges<br />
Wohnhaus der<br />
Familie <strong>Christoffel</strong><br />
in Rheydt, Mühlen -<br />
straße 219.<br />
Zu <strong>Christoffel</strong>s<br />
100. Geburtstag<br />
benannte seine<br />
Heimatstadt eine<br />
Straße in Rheydt-<br />
Heiden nach ihm.<br />
„ Meine Bekehrung<br />
fiel in die Zeit, in der<br />
die ersten Nachrichten<br />
von den Armenier -<br />
gräueln der Neunzigerjahre<br />
nach Deutschland<br />
kamen und<br />
unter den Christen<br />
in Deutschland eine<br />
er hebende Bewegung<br />
der Hilfs bereit schaft<br />
aus lösten. Da durch<br />
wurde mein Blick auf<br />
den Orient gelenkt<br />
und der Wunsch<br />
wurde in mir wach,<br />
wenn es des Herren<br />
Wille wäre, ihm im<br />
“<br />
Orient zu dienen.<br />
Der christliche Geist des Elternhauses<br />
prägt den be gabten Jungen und be -<br />
stimmt seinen Le bens weg. Zu nächst<br />
erwägt er, Lehrer zu werden. Dann<br />
entscheidet er sich, die Evangelische<br />
Pre di ger schule in Basel zu besuchen.<br />
Diese theologische Ausbildungsstätte,<br />
die von 1876 bis 1915 bestand,<br />
genießt einen guten Ruf weit über die<br />
Landesgrenzen hinaus. Der Schweizer<br />
Theologe und Schriftsteller Niklaus<br />
6<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
und seine Schwester<br />
Hedwig (1908)<br />
Bolt, der ein Jahrzehnt vor <strong>Christoffel</strong>s<br />
Studienbeginn die Schule besucht hat,<br />
würdigt sie in seinen Erinnerungen:<br />
„Keine Frage, die Predigerschule mit<br />
ihrem tiefgründigen Leiter Wilhelm<br />
Arnold, aus der Schule von Beck in<br />
Tübingen hervorgegangen, und Lehrkräften,<br />
im Absoluten verwurzelt,<br />
war für mich be weg lichen und an -<br />
passungsfähigen jungen Menschen<br />
die richtige Rüstkammer.“<br />
Mitte der Neunzigerjahre – <strong>Christoffel</strong><br />
ist noch in der Ausbildung –<br />
dringen Nachrichten von den Pogromen<br />
an Armeniern im Osmanischen<br />
Reich nach Deutschland. Nachrichten,<br />
die bei vielen Entsetzen auslösen und<br />
die Bereitschaft, den Verfolgten zu<br />
helfen. Hilfskomitees für Armenien<br />
entstehen. Auch <strong>Christoffel</strong>, tief be -<br />
trof fen von den Vorfällen, will nicht<br />
Fotos (2): CBM
tatenlos bleiben. Der Wunsch wird<br />
in ihm wach, wenn möglich „dem<br />
Herren im Orient zu dienen“.<br />
1904 beendet <strong>Christoffel</strong> sein Stu -<br />
dium an der Predigerschule in Basel.<br />
Kurze Zeit später bittet ihn das Schwei -<br />
zeri sche Hilfskomitee für Ar me nien, die<br />
Leitung zweier Waisenhäuser in Siwas<br />
in Klein asien zu übernehmen. In diesen<br />
Heimen sind ar me ni sche Waisenkinder<br />
untergebracht, deren Eltern bei den<br />
Pogromen ums Leben kamen.<br />
Fast scheitert das Vorhaben, denn<br />
das Schweize rische Komitee möchte<br />
nur einen verheirateten Mann ent -<br />
senden. Sich verloben oder heiraten<br />
mag <strong>Christoffel</strong> so von heute auf<br />
morgen allerdings nicht. Schließlich<br />
wird ein Kompromiss gefunden: Seine<br />
Schwester Hedwig darf ihn begleiten.<br />
In Sivas erwartet ihn die Aufgabe,<br />
innerhalb von drei Jahren die beiden<br />
Heime „abzuwickeln“: Die Kinder sollen<br />
anderweitig unter gebracht, die<br />
Häuser geschlossen werden.<br />
Die Evang.<br />
Predigerschule<br />
in Basel<br />
Rechts:<br />
Direktor<br />
Wilhelm Arnold<br />
Fotos (2): Privat<br />
Während <strong>Christoffel</strong> mit diesem<br />
schweren, kaum zu lösenden Auftrag<br />
beschäftigt ist, rücken täglich immer<br />
mehr die blinden Menschen in sein<br />
Blickfeld. Ihr Leid wird ihm fortan<br />
keine Ruhe mehr lassen. Es reift der<br />
Entschluss, sein Leben ganz den blinden<br />
Menschen im Orient zu widmen.<br />
Die befristete Zeit in Sivas geht zu<br />
Ende. Noch hofft <strong>Christoffel</strong> auf Wei -<br />
ter arbeit im Auftrag des Hilfskomitees<br />
für Armenien. Doch die Verhandlungen<br />
führen zu keinem Ergebnis. Seine Be -<br />
mühungen, andere Missionen für die<br />
Blindenarbeit zu erwärmen, scheitern<br />
eben falls. Auch fühlt sich <strong>Christoffel</strong><br />
durch den geforderten Ge horsam und<br />
die Unterordnung unter die Leitung<br />
die ser Missionen eingeengt. „Kadaver -<br />
gehorsam“, so meint er, sei seine<br />
7<br />
„ Es wurde uns immer<br />
gewisser, dass Gott<br />
einen Auftrag für uns<br />
hatte. Wie aber diesen<br />
Auftrag zur Ausfüh -<br />
rung bringen? Wir<br />
gingen zunächst den<br />
ge wiesenen Weg und<br />
wandten uns an die für<br />
den Nahen Orient in<br />
Betracht kommenden<br />
Missionen mit der Bitte,<br />
die Blinden für sorge in<br />
ihr Programm auf zu -<br />
nehmen. Wir selbst<br />
stellten uns für diesen<br />
Dienst zur Ver fügung.<br />
Alle lehnten ab. Das<br />
war gut so, denn als<br />
Anhängsel an eine<br />
andere Arbeit kommt<br />
die Blinden fürsorge<br />
“<br />
nicht zu ihrem Recht.
<strong>Christoffel</strong>s<br />
Wirkungsfeld<br />
1905 bis 1955<br />
„ Wenn der Herr<br />
die Geldmittel für die<br />
Reise gibt, Mittel zum<br />
Mieten eines Hauses,<br />
Mittel zur Verpflegung<br />
von zehn Blinden,<br />
und zwar für ein<br />
Jahr, dann wollen<br />
“<br />
wir hinaus gehen.<br />
Siwas<br />
Malatia<br />
8<br />
Täbris<br />
Sache nicht. Er ahnt – wohl zu Recht –,<br />
dass er einen anderen Spielraum<br />
braucht, um seine Indivi dualität und<br />
seine Gaben frei entfalten zu können.<br />
Allmählich wird <strong>Christoffel</strong> klar,<br />
dass er den Weg, den blinden<br />
Menschen im Orient zu helfen, allein<br />
gehen muss, d. h. ohne den Rückhalt<br />
einer Mission. Doch ohne tatkräftige<br />
Hilfe verständnisvoller Mitmenschen<br />
wird er diesen Weg nicht gehen<br />
können. Weder jetzt noch später auf<br />
allen Etappen seines Lebens. Im Sommer<br />
1908 wirft er „alle Be denken<br />
hinter sich“ und wagt den Schritt in<br />
die Öffentlich keit, um für seine Pläne<br />
zu werben. Er erntet Kopfschütteln<br />
<strong>Isfahan</strong><br />
und Spott. Aber er findet auch Verständnis<br />
und Unterstützung: Freunde<br />
geben Geld für das Vorhaben. Zwei<br />
Damen er klären sich bereit, Missionsspenden<br />
zu überweisen und seine<br />
Berichte an den Freundeskreis zu<br />
schicken. Der Herausgeber des Sonntagsblatts<br />
„Christlicher Volksbote aus<br />
Basel“, Theodor Sarasin-Bischoff, stellt<br />
eine Spalte für Nachrichten aus der<br />
Arbeit zur Ver fügung.<br />
Zunächst bereiten sich Ernst Jakob<br />
und Hedwig <strong>Christoffel</strong> intensiv auf<br />
die Arbeit mit blinden Menschen vor.<br />
Dann reisen sie – mit Geld für ein<br />
Jahr ausge stattet – 1908<br />
abermals in die Türkei.<br />
Foto: CBM
„ Einen Grundsatz<br />
habe ich stets ab -<br />
gelehnt und tue es<br />
heute noch, nämlich<br />
zu forschen, ob der<br />
Empfänger der Hilfe<br />
wert sei oder nicht.<br />
Sooft ich auf diesen<br />
Grundsatz stoße,<br />
daheim oder draußen,<br />
empört sich etwas<br />
in mir. Was heißt es,<br />
einer Hilfe, einer<br />
Unterstützung wert<br />
oder unwert sein?<br />
Wo wären wir, wenn<br />
Gott mit uns nach<br />
diesem Grundsatz<br />
“<br />
verfahren würde?<br />
9<br />
Blinde Menschen im Orient<br />
„Ich ging einmal mit einem Freund von der Großen Perastraße<br />
in Konstantinopel hinab zur Galatabrücke, eine Strecke, die man<br />
in 15 Minuten zurücklegen kann. An der Brücke fragte ich meinen<br />
Begleiter: Wie viel Blinde hast du gesehen?<br />
Er schaute mich verwundert an und antwortete:<br />
keinen! – Ich hatte zwölf gesehen. [...]<br />
Wenn ich, wie es meine Gewohnheit ist,<br />
Erkun digungen über Blinde fremder Städte<br />
einziehen will, so erhalte ich gewöhnlich<br />
die Antwort: Bei uns gibt es keine Blinden<br />
oder: Ich habe noch keine gesehen. [...]<br />
Die erschreckend hohe Zahl der Blinden<br />
im Orient repräsentiert eine Welt von Not,<br />
von einer Not so grenzenlos, dass sie jeder<br />
Be schreibung spottet. Warum sieht der<br />
Einheimische, warum sieht der Tourist diese<br />
Welt nicht? Auch ich war eineinhalb Jahre<br />
im Orient, ohne Blinde gesehen zu haben. Um Blinde zu sehen, muss<br />
man geöffnete Augen haben. Ohne die bleibt die Welt der Lichtlosen<br />
verborgen. Gott hat mir die Augen geöffnet.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
<strong>Christoffel</strong> nennt als häufige Ursachen der Blindheit: Schwarze<br />
Blattern, Trachom, Syphilis, Mangel an Hygiene, Mangel an Augen -<br />
ärzten. In der ganzen asiatischen Türkei gibt es seines Wissens<br />
keinen Augenarzt. Auf allen Stationen und Reisen durch die Türkei<br />
und später durch Persien begegnet er diesem Leid.<br />
Foto: CBM
„ Das Haus sollte ein<br />
Zufluchtsort werden<br />
für alle diejenigen, für<br />
die das Programm der<br />
anderen Missions ge sell -<br />
schaften keinen Raum<br />
bot, und zwar ohne<br />
Unterschied der Rasse<br />
oder des Religionsbekenntnisses.<br />
In erster<br />
Linie kamen Blinde in<br />
Betracht. Da aber kein<br />
Hilfe heischen der von<br />
Bethesdas Toren ab -<br />
gewiesen werden durfte,<br />
kamen wir auch zu<br />
Krüppeln, zu Blöden<br />
und zu einer Reihe<br />
von normalen Waisenkindern,<br />
die aber<br />
Nie mands kinder in<br />
des Wortes voll ster<br />
Be deutung waren und<br />
deren jedes einzelne<br />
seine be sondere<br />
“<br />
Geschichte hatte.<br />
Bethesda – Zufluchtsort für Hilfesuchende<br />
Das Blindenheim in der Türkei<br />
// Grundsätze der Arbeit // „Niemandskinder“ //<br />
Mission im islamischen Umfeld<br />
Mitten im Winter 1908/09<br />
treten Hedwig und Ernst<br />
Jakob <strong>Christoffel</strong> die Fahrt<br />
an. Zunächst mit der Bagdadbahn,<br />
dann im Sattel oder mit dem Pferdewagen<br />
geht die strapaziö se, nicht un -<br />
gefährliche Reise durch das winterlichvereiste<br />
Hoch-Anatolien und Türkisch-<br />
Kurdistan. Ihr Ziel ist Malatya, eine<br />
Stadt am Fuße des 3000 m hohen<br />
Bey-Dagh. Hier leben neben Kurden<br />
und Türken etwa 20.000 Armenier,<br />
die sich von den Auswirkungen der<br />
Pogrome in den Neunzigerjahren<br />
noch keineswegs erholt haben.<br />
Schwierigkeiten gibt es von An -<br />
fang an in Hülle und Fülle: Das Land,<br />
das die beiden Missionare betreten,<br />
befindet sich im Umbruch, denn die<br />
„Jungtürken“ sind im Begriff, die<br />
Macht an sich zu reißen: „Die Jahre<br />
1908 und 1909 waren für die Türkei<br />
äußerst entscheidungsreich. Der<br />
Sommer 1908 hatte den Marsch der<br />
jungtür kischen Freiheits armee auf<br />
10<br />
2. Kapitel<br />
Konstantinopel gebracht, und Sultan<br />
Abdul Hamid II. hatte sich gezwungen<br />
ge sehen, dem Land wieder eine<br />
Kons titution zu geben. Als wir nach<br />
Ma latya kamen, gingen die Wogen der<br />
politischen Erregung noch hoch.“<br />
Außerdem herrscht Hungersnot in<br />
der Stadt, besonders unter der arme ni -<br />
schen Bevölkerung. Das neu gegründe<br />
te Heim „Bethesda“ bedeutet für<br />
viele die Rettung: Die Geschwister ver -<br />
teilen Suppen und Brot. Sie helfen, so<br />
gut sie können, trotz begrenzter Geld -<br />
mittel. Zeitweise sind es 250 Personen,<br />
die in Bethesda verpflegt werden.<br />
Hedwig und Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
leben in einem Land, das vom Islam<br />
geprägt ist. Frei und ungehindert in<br />
der Öffentlichkeit die christliche Bot -<br />
schaft zu verkünden – wie sie es so<br />
gern täten – ist verboten, ja lebensge<br />
fährlich. So wächst wie selbstverständlich<br />
<strong>Christoffel</strong>s „Sonderweg“:<br />
eine Mission, deren „Predigt“ nach<br />
außen allein die „Tat der Liebe“ ist.
Seinen ursprüng -<br />
lichen Plan, vor allem<br />
blinden Menschen<br />
zu helfen, erweitert<br />
<strong>Christoffel</strong> an Ort<br />
und Stelle: Es ist ihm<br />
undenkbar, um Hilfe<br />
bittende Kinder wieder<br />
fortzuschicken.<br />
So füllt sich das Haus<br />
nicht nur mit blinden,<br />
sondern auch mit<br />
behinderten Jungen und Mädchen und<br />
mit Kindern, um die sich niemand<br />
kümmert – „Niemandskinder“, wie er<br />
sie nennt. Der Grundsatz „Kein Hilfe -<br />
suchender soll abgewiesen werden!“<br />
wird zum bestimmenden Motto hier<br />
in Malatya und in den Heimen, die er<br />
später in Persien gründen wird.<br />
Bald ist der Schulunterricht in<br />
vollem Gange, mithilfe der Blindenliteratur,<br />
die der begabte Pädagoge<br />
<strong>Christoffel</strong> in Türkisch und Armenisch<br />
entwickelt. Die Menschen in der Um -<br />
gebung beobachten das Tun der Fremden<br />
zunächst misstrauisch. Doch allmählich<br />
gewinnen <strong>Christoffel</strong> und sein<br />
Werk an Ansehen: „Unser Blindenheim<br />
war inzwischen die Sehenswürdigkeit<br />
Malatyas geworden. Mit Stolz führte<br />
der mohammedanische Bürgermeister<br />
jeden Fremden dorthin, und bei allen<br />
herrschte Staunen über das Wunderbare,<br />
was man hier sah. Konnten<br />
doch die meisten Sehenden nicht die<br />
Kunst des Lesens und Schreibens, die<br />
die Blinden hier fast spielend mit den<br />
11<br />
Bethesda – das<br />
erste Blindenheim<br />
in der Türkei<br />
Bild links:<br />
<strong>Christoffel</strong> mit<br />
blinden Schülern<br />
„ Der Weg der<br />
<strong>Blindenmission</strong> ist<br />
das Zeugnis des<br />
Glaubens, der durch<br />
die Liebe tätig ist.<br />
Die Tat der Liebe<br />
ist die Predigt,<br />
“<br />
die jeder versteht.<br />
Fotos (2): CBM
12<br />
„Niemandskinder“<br />
„Das Straßenkind gehört zum Bild der orientalischen Stadt. Orientreisende<br />
erwähnen das Straßenkind meist in humoristischer Weise.<br />
Sie freuen sich seiner malerischen Zerlumptheit, lachen über seine<br />
Zudringlichkeit. Das Elend, das materielle und moralische Elend,<br />
das dahinter steht, sehen sie nicht.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Foto: CBM<br />
„Niemandskinder“ – so nennt <strong>Christoffel</strong> diese Kinder, für<br />
die Bethesda Zufluchtsort und oft Rettung vor dem Verhungern<br />
bedeutet: „Auch Niemandskinder sind dort, nämlich<br />
solche, die nicht nur keinen Vater und keine Mutter haben,<br />
sondern überhaupt niemanden auf der großen weiten Welt,<br />
der sie lieb hat und für sie sorgt. Sie leben immer auf der<br />
Straße, schliefen auch dort und waren fast wie die wilden<br />
Straßenhunde im Morgenlande, bis sie nach Bethesda<br />
kamen. Dann aber waren sie keine Niemands kinder mehr,<br />
sondern Bethesdakinder, unsere Kinder.“<br />
„Niemandskinder“ – ihre Schicksale gleichen einander.<br />
<strong>Christoffel</strong>, der Kinderlose, wird sich ihrer mit Liebe annehmen,<br />
an allen Orten seines Wirkens. Es sind von nun an seine<br />
Kinder. Und sie lieben ihren „Hairik“ (armenisch: Väterchen).<br />
Aber <strong>Christoffel</strong> ist konsequent, wenn es um die Durchsetzung<br />
christlicher Grundsätze im Zusammenleben der<br />
Heimfamilie geht. So haben die Kindergeschichten in<br />
seinen Briefen nicht immer ein Happy End. Manchmal<br />
muss er voller Kummer berichten: „Dieses Kind wollte<br />
das Stehlen nicht lassen. Die Straße war stärker als wir!“
Hedwig und Hans Bauernfeind mit ihrer<br />
Tochter Marlene (1925)<br />
Fingern ausübten. Langsam vollzog<br />
sich im Denken des Orientalen eine<br />
Wandlung, sie fingen an, dem Blinden<br />
das Recht am Leben zuzugestehen;<br />
mussten sie doch zugeben, dass er<br />
bildungsfähig sei.“<br />
So entwickelt sich nach anfäng -<br />
lichen Schwierigkeiten das Wirken der<br />
beiden Missionare äußerst erfolgreich.<br />
1914 zählt die Heim familie 85 Personen.<br />
Längst können <strong>Christoffel</strong> und<br />
seine Schwester die Aufgaben nicht<br />
mehr allein bewäl tigen. Weitere Mitarbeiter<br />
kommen zu Hilfe: die blinde<br />
Blinden lehrerin Betty Warth und der<br />
deutsche Pfarrer Hans Bauernfeind,<br />
den Hedwig <strong>Christoffel</strong> 1913 gehei -<br />
ratet hat.<br />
<strong>Christoffel</strong> gewinnt Freunde unter<br />
Tür ken, Kurden und Arme niern,<br />
Christen und Muslimen. Denn er be -<br />
sitzt die seltene Fähigkeit, unvorein -<br />
genommen auf Menschen zuzugehen.<br />
Be rüh rungsängste kennt er nicht.<br />
Feind bilder „ziehen“ bei ihm nicht.<br />
Stattdessen versucht er, sich in die<br />
Bewaffnete<br />
Kurden<br />
„ Und die Kurden?<br />
Es ist ein Jammer um<br />
dieses Volk. Der Ruf<br />
nach einem unab -<br />
hängigen Kurdistan<br />
wird nicht mehr zum<br />
Schweigen gebracht<br />
werden können.<br />
Da neben wird England<br />
und auch Frankreich<br />
nicht nachlassen,<br />
immer wieder die<br />
Kurden gegen die<br />
Türken auszuspielen.<br />
Es wird sich aller<br />
Wahrscheinlichkeit<br />
nach dieselbe<br />
Tragödie wiederholen<br />
wie beim<br />
“<br />
armenischen Volke.<br />
Fotos (2): CBM
Mission im islamischen Umfeld<br />
„Die Tatsache, dass wir in einem der Kernländer des Islam arbeiten,<br />
bestimmt unsere Missionsmethode. Wir können nicht frei und<br />
öffentlich das Evangelium verkündigen.<br />
Unsere Methode war und ist, durch die<br />
Tat der Liebe das Evangelium an die<br />
Mohamme daner heranzubringen, ihnen zu<br />
predigen ohne Worte. Innerhalb unseres<br />
Heimes nimmt die Verkündigung des Wortes<br />
einen breiten Raum ein in Unterricht,<br />
Hausandachten, in Bibelstunden und offiziellen<br />
Gottesdiensten. [...]<br />
Dabei herrscht bei uns völlige Freiheit.<br />
Die erwachsenen Mohammedaner dürfen<br />
auch in unseren Häusern ihre religiösen<br />
Pflichten erfüllen und sind keineswegs<br />
gezwungen, am Religionsunterricht oder an den Andachten teil -<br />
zunehmen. Eine Erfahrungstatsache war, dass im Laufe der Zeit<br />
jeder Mohammedaner, ob Pflegling oder Angestellter, an den<br />
Andachten und am Gottesdienst teilnahm, aber wie gesagt, ohne<br />
Zwang. [...]<br />
Auch haben wir eines strikt vermieden, nämlich Polemik, besonders<br />
Kritik an der Person Mohammeds oder anderer religiöser Persönlichkeiten<br />
des Islam.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
14<br />
Anliegen der einzelnen oft verfeindeten<br />
Volksgruppen hineinzuversetzen.<br />
<strong>Christoffel</strong> Jahrzehnte später:<br />
„Blicken wir zurück auf unsere Tätigkeit<br />
in der Mission, so müssen wir<br />
sagen, dass es immer eine Arbeit in<br />
der Unruhe war. Einigermaßen ruhig<br />
haben wir nur arbeiten können in<br />
der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.<br />
Nachher war es stets ein Arbeiten<br />
in Unruhe und Gefahr.“<br />
Foto CBM
<strong>Christoffel</strong> und seine Mit -<br />
arbeiter schmieden Pläne:<br />
Ein Haus für blinde Mädchen<br />
möchten sie bauen und eine Zweigstelle<br />
am Tigris errichten. Eine Druckpresse<br />
für Blindenliteratur müsste an -<br />
ge schafft werden. 1914 reist <strong>Christoffel</strong><br />
deshalb nach Deutschland. Der Freundeskreis<br />
soll helfen. Auf der Heimreise<br />
trifft ihn „wie ein Blitz aus heiterem<br />
Himmel“ die Nachricht vom Ausbruch<br />
des Ersten Weltkriegs.<br />
Von einer Realisierung seiner Pläne<br />
kann nun keine Rede mehr sein.<br />
<strong>Christoffel</strong> wird Sanitäter und Lazarettseelsorger<br />
in Ahrweiler. Auch<br />
hier ist er als unermüdlicher Helfer<br />
leidender Menschen tätig. Er ist gern<br />
auf diesem Posten: „Da es mir nicht<br />
vergönnt war, ins Feld zu gehen,<br />
war ich dankbar, dem Vaterlande<br />
auf diese Weise dienen zu können.“<br />
Indessen bricht im Osmanischen<br />
Reich erneut eine Katastrophe über<br />
die Armenier herein: Das nationalis-<br />
3. Kapitel<br />
Friedensdienst in friedloser Zeit<br />
Der Erste Weltkrieg // <strong>Christoffel</strong> als Sanitäter<br />
// Wieder werden Armenier verfolgt //<br />
Bethesda bis zur endgültigen Ausweisung <strong>Christoffel</strong>s<br />
tisch aus gerichtete Regime der<br />
Jungtürken nutzt die Gelegenheit,<br />
sich der verhassten christlichen<br />
Minderheit zu entledigen. Die Behauptung,<br />
die Armenier würden mit<br />
den Kriegsgegnern England und<br />
Russland kollaborieren, dient<br />
ihnen dabei als Vorwand.<br />
Über eine Million Armenier<br />
werden in den folgenden<br />
Monaten ermordet<br />
oder sterben auf den<br />
Todesmärschen – der<br />
erste Völkermord des<br />
20. Jahrhunderts! Das<br />
offizielle Deutschland, auf<br />
den Kriegsverbündeten Türkei<br />
angewiesen, schaut weg.<br />
Die Nachrichten aus<br />
Malatya werden immer<br />
spärlicher. Schließlich treffen<br />
Hedwig und Hans Bauernfeind<br />
und die Blindenlehrerin<br />
Betty Warth in Deutschland<br />
ein. Von ihnen erfährt Chri-<br />
15<br />
Foto: CBM
„Im Jahre 1911 hatte das jungtürkische Komitee für<br />
Einheit und Fortschritt in Saloniki einen Kongress,<br />
in dem folgender Entschluss gefasst wurde: In der<br />
Türkei habe die Ottomanisierung aller Untertanen<br />
stattzufinden. Würde man das nicht auf friedlichem<br />
Wege können, so müsse es mit Gewalt geschehen.<br />
[...]<br />
Das hieß, aus dem türkischen Nationalitätenstaat<br />
einen Nationalstaat machen. Es war das<br />
Programm der extremen Pantürkisten. Nie ist<br />
ein innerpoli tisches Programm mit einer solchen<br />
blutigen Konsequenz durchgeführt worden. [...]<br />
Es ist ein Komplex von Ursachen, die zum Ausbruch<br />
einer Volkstragödie führten, wie sie die Weltgeschichte<br />
kaum gesehen hat: Da waren uralte Rassengegensätze.<br />
Da waren wirtschaftliche Gegen -<br />
sätze, vor allen Dingen religiöse Gegen sätze. [...]<br />
Man ging schrittweise vor: Zuerst beraubte man<br />
das Volk seiner Führer. Die Männer und Jungmannschaften<br />
wurden als sogenannte Arbeitsbataillone<br />
zum Straßenbau und ähnlichen Arbeiten verwendet.<br />
In der Regel wurden sie nach Vollendung der<br />
Ar beiten massenweise abgeschlachtet. Dann kam<br />
als letzte Verordnung, dass sämtliche Armenier<br />
ausgesiedelt und in Syrien und Nord mesopotamien<br />
wieder angesiedelt werden sollten. [...]<br />
Zur Verfolgung und Deportation der Armenier<br />
16<br />
Von Tag zu Tag verminderte sich die Zahl der Wandernden.<br />
Talaat Pascha (Minister des Innern, Anm. d.<br />
Red.) konnte Ende 1915 mit einem gewissen Recht<br />
sagen: ,Die armenische Frage existiert nicht mehr!’<br />
[...]<br />
Es herrscht in den Kreisen der Freunde des Orients<br />
die Ansicht, als ob das gesamte türkische Volk<br />
Armenierinnen in Nationaltracht<br />
sich an den an Armeniern begangenen Verbrechen<br />
beteiligt hätte. Diese Auffassung entspricht nicht<br />
den Tat sachen. Das türkische Volk als solches stand<br />
ab seits, nicht einmal die ganze jungtürkische Partei<br />
war beteiligt. Vielmehr ist es innerhalb der Partei<br />
eine kleine Gruppe, die sogenannten Pan türkisten,<br />
die verantwortlich zu machen ist.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Foto: CBM
stoffel direkt von den Gräueltaten der<br />
Türken an Armeniern. Um gehend lässt<br />
er sich vom Kriegsdienst be freien und<br />
reist zurück in die Türkei. Die Für -<br />
sprache der Deutschen Botschaft und<br />
die Unterstützung von türkischer Seite<br />
hatten ihm die Tür geöffnet, die anderen<br />
Missionaren verschlossen blieb.<br />
In Malatya erwartet ihn ein niederschmetternder<br />
Empfang: Von der<br />
großen Heimfamilie ist über die Hälfte<br />
ums Leben ge kommen. Das Haus<br />
selbst wurde in ein Seuchen lazarett<br />
für türkische Soldaten umgewandelt.<br />
Die Kunde von <strong>Christoffel</strong>s Rückkehr<br />
verbreitet sich rasch. Bethesda<br />
wird zum Zufluchtsort für Verfolgte.<br />
Im Schutz des Heimes sind sie vor -<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong> mit<br />
seinen Adoptivkindern<br />
(v.l.n.r.) Heinz, Otto<br />
und Liesel (1928)<br />
läufig gerettet, denn die Scharfmacher<br />
unter den Türken wagen es nicht,<br />
Hand an sie zu legen. Die Achtung,<br />
die sich <strong>Christoffel</strong> erworben hat, und<br />
die Freundschaft mit Türken in seiner<br />
Umgebung tragen nun Früchte: „Ein<br />
Trost war mir damals das mannhafte<br />
Auftreten unserer türkischen Freunde,<br />
in erster Linie das von Mustafa Agha,<br />
dem Bürgermeister. Auch andere<br />
17<br />
Foto: CBM<br />
„ Bethesda war<br />
der letzte Hort des<br />
Christentums in<br />
Malatia und im ganzen<br />
Bezirk. Die Clique,<br />
die in Malatya das<br />
Vernichtungswerk<br />
an den armenischen<br />
Christen in die Wege<br />
geleitet und vollendet<br />
hatte, glaubte nicht<br />
an meine Rückkehr.<br />
So scheint man auf die<br />
Gelegenheit gewartet<br />
zu haben, Bethesda<br />
unauffällig unter einem<br />
Schein des Rechts<br />
“<br />
zu beseitigen.
„ Es sind im Verlauf<br />
der drei Jahre bis zu<br />
meiner Ausweisung<br />
gegen tausend<br />
Armenier, Frauen,<br />
junge Mädchen,<br />
Jungmänner und<br />
Kinder durch unser<br />
Haus gegangen.<br />
Das bedeutete für<br />
alle Rettung vor<br />
dem Tode oder<br />
“<br />
noch Schlimmerem.<br />
angesehene Türken der Stadt traten<br />
für uns ein.“<br />
Dennoch: Weil sich <strong>Christoffel</strong><br />
schützend vor die Armenier stellt,<br />
bringt er sich selbst mehr als einmal<br />
in Lebensgefahr. <strong>Christoffel</strong>: „Ich hätte<br />
dasselbe für die Türken getan, wenn<br />
sie die Verfolgten gewesen wären.“<br />
Drei Waisenkinder wachsen ihm<br />
in dieser schweren Zeit besonders<br />
ans Herz: Es sind Heinz und Otto,<br />
zwei Armenierjungen, und Liesel. Die<br />
drei lieben ihren „Hairik“ innig, und<br />
vor allem Otto wäre „in der großen<br />
Menge an Liebes hunger eingegangen“.<br />
So werden sie seine Adoptiv -<br />
kinder, die er mit nach Deutschland<br />
nimmt – zunächst das Mädchen,<br />
später die Jungen – und für deren<br />
Ausbildung er sorgt. Zeit seines<br />
Lebens hat <strong>Christoffel</strong> ein liebevolles<br />
Verhältnis zu ihnen.<br />
Viele Monate lang wird sich das<br />
Leben der Heimfamilie auf den Fluren<br />
und Höfen abspielen. Die Haupträume<br />
18<br />
Hildegard Schuler, <strong>Christoffel</strong>s Nichte,<br />
kommt 1917 nach Malatia.<br />
dienen als Lazarett, überfüllt mit todkran<br />
ken und sterbenden Soldaten.<br />
Auch hier greift <strong>Christoffel</strong> helfend<br />
ein und versucht, die erbarmungswürdige<br />
Lage der Schwerkranken<br />
zu erleichtern.<br />
Die folgenden Jahre sind ge kenn -<br />
zeichnet von seelischen und körper -<br />
lichen Belastungen. Es fehlt an allem:<br />
an Lebensmitteln, Heiz material,<br />
Kleidung, Medikamenten.<br />
Foto: CBM
Und nun erweist es sich, dass<br />
<strong>Christoffel</strong>, das Sprachgenie, auch<br />
Talent zum Improvisieren hat: Das<br />
Brot backen die Heimbewohner ab<br />
sofort selbst. Kleider und Schuhe<br />
fehlen? Bald schneidern sich die<br />
Schüler und Schülerinnen ihre Be -<br />
kleidung aus Leder und Stoffen,<br />
die <strong>Christoffel</strong> preiswert in der<br />
Umgebung kauft.<br />
Zur Freude aller trifft 1917<br />
<strong>Christoffel</strong>s Nichte Hildegard Schuler<br />
in Malatya ein. Bald wird die begabte<br />
junge Frau seine unentbehrliche<br />
Stütze. Ihr früher Tod trifft ihn schwer:<br />
Hildegard Schuler stirbt bereits ein<br />
Jahr später, 22-jährig, an einer Blut -<br />
vergiftung.<br />
Mit der Niederlage der Türkei<br />
1918 ist das Ende des Heims in<br />
Ma latya besiegelt: Die Siegermächte<br />
verlangen die Aus weisung aller<br />
Deutschen. <strong>Christoffel</strong> wird zunächst<br />
interniert und dann ausgewiesen.<br />
1919 muss er die Türkei verlassen.<br />
Bethesda – ein türkisches Seuchenlazarett<br />
„Das Elend, das unter den türkischen Soldaten herrschte, konnte<br />
uns nicht gleichgültig lassen. Es waren ihrer im Anfang gegen 150,<br />
die sowohl auf der Knaben- wie auf der Mädchenseite untergebracht<br />
waren. Die meisten hatten Fleckfieber, ein Teil Unterleibstyphus,<br />
einige Wundrose. [...]<br />
Die Behandlung, Pflege und Verpflegung war unter aller Kritik. Der<br />
Chefarzt kam nie. Des Morgens früh machten einige junge Ärzte<br />
Visite. Von einer Untersuchung, Temperaturmessen usw. war keine<br />
Rede. Der Verkehr zwischen Ärzten und Kranken bestand in rohem<br />
Anschnauzen der Ersteren und oft in Fußtritten. Auch auf den<br />
berechtigtsten Wunsch des Patienten einzugehen, hielt man nicht<br />
für der Mühe wert. [...]<br />
Ich kam einmal darüber, wie ein an Unterleibstyphus schwer<br />
Leidender herzbrechend weinte. Auf meine Frage erzählte er, dass<br />
der Sanitätsunteroffizier ihn geschlagen hätte. Dieser erzählte mir<br />
dann, der Kranke beschmutze andauernd sein Bett und da helfe<br />
nichts als Prügel. Man stelle sich vor, bei einem Typhuskranken! [...]<br />
Um die rohe Behandlung der Kranken möglichst einzuschränken und<br />
zu kontrollieren, begleitete ich den Arzt bei der Morgenvisite, und<br />
über Tag besuchte ich oft unverhofft die Krankenräume. Es gelang<br />
mir dann auch, Ärzten und Pflegern einen besseren Ton an zugewöhnen<br />
und die tätlichen Misshandlungen ganz zu beseitigen.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
19
„ Es kam eine lange,<br />
lange Wartezeit.<br />
In missionarischen<br />
Kreisen herrschte<br />
weithin Hoffnungs -<br />
losigkeit. Wir von der<br />
Christlichen <strong>Blindenmission</strong><br />
ließen den<br />
Gedanken nicht Wurzel<br />
fassen, dass unsere<br />
Arbeit im Orient ein<br />
Ende gefunden hätte.<br />
Ich halte es heute<br />
noch für eine besondere<br />
Gnade Gottes,<br />
dass Er uns an dem<br />
Auftrag festhalten ließ<br />
und dass wir glauben<br />
durften, wo eigentlich<br />
“<br />
nichts zu glauben war.<br />
Hoffen, wo die Verzweiflung quält<br />
Wartezeit in Deutschland<br />
// Die Hoffnungstaler Anstalten // Jugendbund und Kinderbund //<br />
Wird <strong>Christoffel</strong> in der Türkei neu beginnen können?<br />
1919 trifft <strong>Christoffel</strong> mit Liesel in<br />
Deutschland ein. Zu seinem großen<br />
Kummer hatten die Behörden<br />
Heinz und Otto in der Türkei zurückgehalten.<br />
Erst fünf Jahre später kann<br />
er sie zu sich nehmen.<br />
Wird er jemals wieder im Orient<br />
arbeiten können? Nach menschlichem<br />
Ermessen lautet die Antwort: nein!<br />
Die Stimmung unter den deutschen<br />
Missionaren ist trübe. „Wir Deutsche<br />
werden hinfort Mission nur treiben<br />
können im Fahrwasser und unter dem<br />
Schutze der Angelsachsen“, bekommt<br />
<strong>Christoffel</strong> zu hören. Er ist nicht dieser<br />
Ansicht. Er teilt stattdessen die Haltung<br />
eines Freundes: „Wir beide wollen<br />
zu denen gehören, die da glauben,<br />
auch wenn sie nicht sehen.“<br />
Wie so mancher heimgekehrte<br />
Missionar findet <strong>Christoffel</strong> Unterschlupf<br />
in einer kirchlichen Einrichtung:<br />
In den Hoffnungstaler Anstalten<br />
in Lobetal bei Berlin betreut er für ein<br />
Jahr als Hausvater und Geistlicher<br />
20<br />
4. Kapitel<br />
die „Brüder der Landstraße“. Friedrich<br />
v. Bodelschwingh hatte 1905 dieses<br />
Heim für Wanderburschen, Strafentlassene<br />
und alle möglichen gestrandeten<br />
Existenzen gegründet. „Die Arbeit<br />
an den Brüdern der Landstraße war<br />
eine ungemein interessante, und ich<br />
habe sie mit großer Freude ge tan“,<br />
berichtet <strong>Christoffel</strong>. Dennoch nehmen<br />
Zeitzeugen an ihm„eine tiefe<br />
Unruhe“ wahr, die Sehnsucht, endlich<br />
wieder auf sein Arbeitsfeld zu den<br />
blinden Menschen im Orient zurückkehren<br />
zu dürfen.<br />
Nebenbei schreibt er an seinen<br />
Kriegserinnerungen „Aus dunklen
Die Hoffnungstaler Anstalten<br />
in Lobetal bei Berlin;<br />
ehemalige Kirche<br />
„Alt-Lobetal“<br />
Foto: Privat<br />
Tiefen“ und hält Missions vorträge in<br />
christlichen Vereinen. Auf diese Weise<br />
kommt er in Berührung mit jungen<br />
Menschen, die er vor dem Krieg so<br />
nicht hatte. Frau Charlotte Rahn,<br />
eine Mitarbeiterin <strong>Christoffel</strong>s, die<br />
damals den Weg zur <strong>Blindenmission</strong><br />
fand, erinnert sich: „Es ist mir nie<br />
wieder ein Mensch in reiferen Jahren<br />
begegnet, der einen so ungeheuren<br />
Einfluss auf die Jugend ausübte. Wie<br />
konnte er mit seinen Worten begeistern<br />
und zünden! Er verabscheute<br />
jedes Pathos, auch das christliche. Er<br />
sprach als innerlich Junggebliebener,<br />
und wir jungen Menschen glaubten<br />
seinem Wort, denn dahinter – das<br />
spürten wir – stand die Tat.“<br />
1924 wird der „Jugendbund der<br />
Christlichen <strong>Blindenmission</strong> im Orient“<br />
gegründet, bald darauf der „Kinderbund“.<br />
Jede Organisation er hält ihre<br />
eigene Zeitschrift: „Das Tor im Osten“<br />
ist für den Jugendbund bestimmt,<br />
„Der kleine Orientfreund“ für den<br />
Kinderbund.<br />
21<br />
„ Vor allem aber spürte<br />
ich ihm damals eine<br />
tiefe Unruhe ab,<br />
die mich fast an die<br />
Unruhe eines Gefangenen<br />
erinnerte, den<br />
es mit allen Fasern<br />
seines Wesens hinauszieht<br />
aus den Mauern<br />
an den Platz, wo er<br />
eigentlich hingehört.<br />
Hoffnungstal war für<br />
ihn nur eine Not lösung.<br />
Sein Herz gehörte der<br />
Mission unter den<br />
Elenden in der isla mi -<br />
schen Welt. Er war fest<br />
ent schlos sen, die erste<br />
Gelegenheit zu be -<br />
nutzen, diesen Dienst<br />
“<br />
wieder auf zunehmen.<br />
Dekan Paul Lutz,<br />
Schorndorf 1955
Foto: CBM<br />
22<br />
<strong>Christoffel</strong>s junge Helfer<br />
„Mitglieder unseres Jugendbundes können junge Leute beiderlei<br />
Geschlechts werden. Nach oben ziehen wir keine Grenzen, son-<br />
dern wer jugendlich denkt und empfindet, ist uns will kommen.<br />
Jedes Mitglied des Bundes übernimmt vier Verpflichtungen.<br />
Diese Verpflichtungen sind nicht als drückendes Gesetz<br />
gemeint, sondern als freiwilliges, freudiges Aufnehmen<br />
eines Anteils der Heimarbeit.<br />
Die Verpflichtungen sind:<br />
1. Missionsgebet<br />
2. Monatlicher Geldbetrag, der durch Selbsteinschätzung<br />
festgelegt wird. Wer einen solchen durchaus nicht geben<br />
kann, ist trotzdem zur Mitgliedschaft berechtigt.<br />
3. Werben neuer Mitglieder und Wecken von<br />
Missions interesse.<br />
4. Theoretische Beschäftigung mit allen den Orient<br />
betreffenden Fragen. Das kann geschehen durch Lesen<br />
und Einzelstudium der einschlägigen Literatur oder<br />
in der Form eines Missionsstudienkreises.“<br />
Dr. Ulrike Schroeter<br />
Einige Jahre später stellt <strong>Christoffel</strong> dankbar fest: „Heute hat<br />
der Bund Mitglieder im ganzen Reichsgebiet, und er hat im Laufe<br />
der Jahre bewiesen, dass die christliche Jugend wohl fähig ist,<br />
Missionsprobleme zu erfassen und an ihrer Lösung mitzuarbeiten.“
Am Podium rechts:<br />
Studienrätin Dr. Ulrike Schroeter.<br />
Sie leitete von 1908 bis 1930 die<br />
Missionsarbeit in Deutschland.<br />
Indessen gehen die Jungen und<br />
Mädchen mit Fantasie und Elan dar<br />
an, für die <strong>Blindenmission</strong> Spenden<br />
zu sammeln. Die Missionsfeste in<br />
Hermannswerder bei Potsdam, von<br />
den Jugendlichen als türkische Basare<br />
ge staltet, werden immer bekannter und<br />
machen allen Beteiligten viel Freude.<br />
1938 verbieten die Nationalsozialisten<br />
die Missionsfeste. Zehn Jahre später<br />
versammeln sich dort wieder alte und<br />
neue Missionsfreunde.<br />
1923: Die Türkei ist Republik<br />
ge worden. Mustafa Kemal (ab 1934<br />
Kemal Atatürk) wird Präsident. Nun<br />
steht auch Deutschen die Türkei offen.<br />
Nach all den Jahren des Wartens und<br />
der quälenden Ungewissheit ist der<br />
Weg zu den blinden Menschen wieder<br />
frei. Voller Hoffnung, Unterstützung<br />
von der neuen Regierung zu erhalten,<br />
reist <strong>Christoffel</strong> 1924 zurück in die<br />
Türkei.<br />
23<br />
Fotos (2): CBM<br />
Missionsfest in<br />
Hermannswerder.<br />
Auf den Basaren<br />
geht es ganz<br />
„türkisch“ zu (1925).
„ Der Iran war nie<br />
Kolonie, wurde aber<br />
jahrzehntelang als eine<br />
solche behandelt. Ein<br />
Volk, das sich auf eine<br />
große Geschichte<br />
besinnen kann, kann<br />
jedoch nicht ewig<br />
unterdrückt werden.<br />
Ein Volk, das der<br />
Menschheit wert vollste<br />
Kulturgüter übermittelt<br />
hat, kann nicht<br />
immer in einem Helotendasein<br />
fest gehalten<br />
werden. Namen wie<br />
Darius, Cyrus, Zarathustra,<br />
Hafis und<br />
andere waren nie ganz<br />
ver gessen und<br />
sind im Bewusstsein<br />
des Volkes heute<br />
lebendiger denn je.<br />
“<br />
Foto: CBM<br />
5. Kapitel<br />
Der Sprung nach Persien<br />
Persien – ein Land mit alter Kultur // Das Heim in Täbris<br />
// Blindenausbildung // Teppichkunst und Kinderarbeit //<br />
Frauen im Islam // Frauen als Mitarbeiterinnen<br />
In der Türkei erwartet <strong>Christoffel</strong><br />
eine herbe Enttäuschung. Seine<br />
Hoffnung, dort wieder mit blinden<br />
und behinderten Menschen arbeiten<br />
zu können, erfüllt sich nicht. Obwohl<br />
er in Konstantinopel die türkische Leh -<br />
rerprüfung ablegt – diese Bedingung<br />
wurde ihm gestellt –, verweigern die<br />
Behörden aus politischen Gründen die<br />
Erlaubnis. So entschließt er sich, nach<br />
Persien zu gehen: „Unser Programm<br />
zielte auf die mohammedanischen<br />
Länder des Nahen Ostens, in denen<br />
keine Blindenfürsorge vorhanden ist.<br />
Zu diesen gehörte auch Persien.“<br />
Es dauert allerdings eine Weile,<br />
bis er die Türkei verlassen kann: „Die<br />
Abmeldung, das Erlangen des Ausreisevisums,<br />
die Regelung der Steuerangelegenheit,<br />
das alles sind Dinge,<br />
Persepolis,<br />
heute Ruinenstätte<br />
Tacht e Dschamschid,<br />
erbaut unter Darius I.<br />
ab 518 v. Chr.
die auch einen geduldigen und der<br />
Staatsgewalt gehorchenden Menschen<br />
zum Wahnsinn bringen können“,<br />
seufzt <strong>Christoffel</strong> in seinem<br />
Reisebericht.<br />
Schließlich sind <strong>Christoffel</strong> und<br />
seine Begleiter – Schwester Elfriede<br />
Schuler, Schwester Hanna Münker<br />
und Ludwig Melzl – dem „heiligen<br />
Bürokratismus entronnen“. Die Fahrt<br />
geht mit dem Dampfer „Diana“ durch<br />
das Schwarze Meer, dann mit dem<br />
Zug durch Russland nach Persien.<br />
„Mit bangem Herzen“ betreten<br />
sie 1925 dieses „unbekannte Land“.<br />
Wie in der Türkei, so wird <strong>Christoffel</strong><br />
die Völkerschaften auch dieses Landes<br />
lieben, verstehen lernen und seine<br />
kulturellen Leistungen bewundern.<br />
In religiöser Hinsicht ist Persien<br />
toleranter als die Türkei: „Sowohl die<br />
Parsi, die Anhänger der alten persischen<br />
Religion Zarathustras, wie auch<br />
die Babi genießen völlige Freiheit.<br />
Dasselbe gilt auch von den eingeborenen<br />
armenischen und nestorianischen<br />
Christen und Juden.“ Die Toleranz,<br />
so sieht es <strong>Christoffel</strong>, sei der<br />
aufgeschlossenen Regierung des<br />
Reza Schah Pahlavi,<br />
1925 bis 1941 Schah<br />
von Persien<br />
Reza Schah Pahlavi zu verdanken.<br />
Dennoch sieht er als scharfer Beobachter<br />
Anzeichen dafür, dass die „Zeit<br />
freier religiöser Betätigung auch wieder<br />
zu Ende gehen, dass die Tür in<br />
Persien bald wieder zugehen kann“.<br />
Ihr Ziel war das Innere Persiens.<br />
Doch durch „etwas rein Äußerliches“,<br />
eine Geldsendung blieb aus, mussten<br />
sie zunächst in Täbris, der damaligen<br />
Hauptstadt der persischen Provinz<br />
Aserbaidschan, Station machen.<br />
25<br />
Foto: Privat<br />
„ Unser Heim wird<br />
zu einer Burg,<br />
in der Schutzlose,<br />
Hilflose, Heimatlose,<br />
Not leidende aller Art<br />
Hilfe und Rat finden.<br />
Auch hier in Persien<br />
gilt unser alter<br />
Grundsatz:<br />
Kein Hilfesuchender<br />
wird abgewiesen.<br />
Die Blindenarbeit<br />
ist das Kernstück,<br />
um das sich alles<br />
andere kristallisiert:<br />
Armenpflege,<br />
Krüppelfürsorge,<br />
Erziehungsarbeit,<br />
“<br />
ärztliche Tätigkeit.
„ Die Tatsache,<br />
dass heute am Schluss<br />
des Jahres in Persien<br />
ein deutsches Blinden -<br />
heim besteht, dass<br />
ferner nach<br />
langen Jahren<br />
deutsche Mission<br />
wieder Fuß gefasst<br />
hat in diesem Lande,<br />
das steht wie ein<br />
Wunder vor unseren<br />
Augen. Ich glaube<br />
nicht, dass jemals<br />
ein Blindenheim<br />
eingerichtet wurde<br />
mit geringeren Mitteln<br />
“<br />
als das unsere.<br />
Blindenausbildung – eine Neuheit auch in Persien<br />
„Die Blindenfürsorge war für Persien ein Novum, und die Tatsache,<br />
dass Deutsche gekommen waren mit der Absicht, persische Blinde<br />
zu betreuen, war für<br />
mohammedanisches<br />
Denken unglaublich.<br />
So mussten wir uns<br />
die verschiedensten<br />
Auslegungen unserer<br />
Absichten gefallen<br />
lassen. Einige hielten<br />
uns für verkappte<br />
Bolschewisten, andere<br />
glaubten, wir wollten<br />
uns durch die Arbeit der Blinden be -<br />
reichern. Andere zweifelten an unserem<br />
gesunden Menschen verstand, da wir<br />
behaupteten, die Blinden lesen und<br />
schreiben zu lehren. [...]<br />
Die meisten Blinden, die zu uns kommen,<br />
suchen Heilung. Da wir diese aber nicht<br />
geben können, gehen sie wieder fort.<br />
Dass der Blinde ein Recht auf<br />
Erziehung hat und seine Angehörigen<br />
in dieser Hinsicht Pflichten, dafür fehlt<br />
jedes Verständnis.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
26<br />
Fotos (2): CBM
Das Heim<br />
in Täbris<br />
Sie bleiben in Täbris. Als das sehnlichst<br />
erwartete Geld eintrifft, haben<br />
sie längst begonnen, hier blinde und<br />
behinderte Kinder zu betreuen.<br />
Auch der Neubeginn in Persien ist<br />
von Sorgen überschattet: Feindschaft<br />
der muslimischen Geistlichkeit, Warnungen<br />
und Tadel aus den Reihen<br />
einiger Freunde und nicht zuletzt<br />
Geldsorgen machen den Missionaren<br />
zu schaffen. In zahlreichen Briefen an<br />
den Freundeskreis wirbt <strong>Christoffel</strong><br />
um Verständnis und bittet um finanzielle<br />
Hilfe. Er bittet nicht vergeblich.<br />
Die Freunde bringen die Mittel auf –<br />
unter persönlichen Opfern gewiss,<br />
denn es herrschen Arbeitslosigkeit<br />
und Not in Deutschland.<br />
Zunächst jedoch muss sich <strong>Christoffel</strong><br />
mit seinen „50 Jahren noch<br />
einmal auf die Schulbank setzen“ und<br />
Persisch, Aserbaidschanisch und den<br />
armenischen Ararat-Dialekt büffeln.<br />
Dann macht er sich an die Aufgabe,<br />
persische und armenische Lehrbücher<br />
Fotos (3): CBM<br />
in Blindenschrift zu entwickeln. Man<br />
darf diese gewaltige Leistung getrost<br />
als Pionierarbeit bezeichnen. Selbstverständlich<br />
schreibt er auch Bibelteile<br />
in Blindenschrift ab und überträgt<br />
für seine Schüler aus der reichen per -<br />
si schen Literatur Dichtung und Prosa.<br />
Die Umgebung reagiert mit<br />
Un verständnis: Die Fremden wollen<br />
blinde Menschen ausbilden? Die<br />
Deutschen müssen sich die son der -<br />
barsten Unterstellungen gefallen<br />
„Wer ein solches<br />
Kind aufnimmt in<br />
meinem Namen,<br />
der nimmt mich auf.“<br />
(Matthäus 18,5<br />
auf Persisch)
„ Ich liebe die Wüste in<br />
jeder Gestalt. Sie ist<br />
nicht tot, wie derjenige<br />
annimmt, der sie nicht<br />
kennt. Sie ist endlos<br />
und löst Gedanken<br />
aus, die in die<br />
End losigkeit, in die<br />
Ewigkeit einmünden.<br />
Sie ist aber nicht<br />
harmlos. Wehe dem,<br />
der sie nicht kennt und<br />
sich in sie hineinwagt.<br />
Sie hasst den fremden<br />
Eindringling. Sie liebt<br />
“<br />
ihre Kinder.<br />
„Ich reise nie mit<br />
solchem Genuss<br />
wie im Orient,<br />
besonders wenn<br />
man die Bahn<br />
hinter sich hat<br />
und die primitive<br />
Art des Reisens<br />
ent weder im<br />
Reise wagen<br />
oder im Sattel<br />
beginnt.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
beim Unterricht mit<br />
blinden Frauen (1925)<br />
Unten:<br />
Tierkunde mit<br />
zahmem Uhu<br />
28<br />
lassen. Aber die Erfolge der blinden<br />
Schüler und Schülerinnen – denn auch<br />
Mäd chen und junge Frauen werden<br />
unterrichtet – wider legen alle Vorurteile<br />
glänzend.<br />
Der Lehrstoff ist bunt und viel sei tig:<br />
Sportunterricht steht ebenso auf dem<br />
Programm wie Handarbeiten für die<br />
Mädchen und Handwerk für die Jun-<br />
Fotos (3): CBM
„ Unser Missions -<br />
auftrag besteht nicht<br />
nur im Dienst am<br />
Wort. Vielleicht hat das<br />
Reini gen eines<br />
Straßen kindes mehr<br />
“<br />
Wert als eine Predigt.<br />
gen. Botanik kann man herrlich im<br />
Duftgarten treiben, den <strong>Christoffel</strong><br />
angelegt hat. Und Zoologie veran -<br />
schau licht der tierliebe „Hairik“ ganz<br />
hautnah an den Hunden, Katzen,<br />
Schafen, einem zahmen Uhu und<br />
anderem Getier, das die Umgebung<br />
des Heimes bevölkert.<br />
„Er wollte die Blinden so er ziehen,<br />
dass sie später ihr Brot selbst verdienen,<br />
auch ihre Arbeit selbst tun können“,<br />
berichtet Essad Ullah, einer der ersten<br />
persischen Schüler. „Ihr dürft die<br />
Blinden nicht be dauern!“ prägt<br />
<strong>Christoffel</strong> den Be suchern des Heimes<br />
ein. Das heißt: Mitgefühl ja. Aber bitte<br />
kein „Mitleid“, das blinde Menschen<br />
ent mün digt! Das brauchen <strong>Christoffel</strong><br />
und seine Zöglinge nicht.<br />
In allen Jahren hat <strong>Christoffel</strong><br />
Frauen als Mitarbeiterinnen an seiner<br />
Seite. Als Beispiel für viele soll an<br />
Täbris – Teppichkunst und Kinderarbeit<br />
Der Orient-Freund <strong>Christoffel</strong> freut sich am lebhaften Treiben auf<br />
den Straßen, Märkten und Basaren. Gern schildert er den Freunden<br />
in Deutschland seine Eindrücke. Doch sein Blick bleibt unbestechlich.<br />
Er sieht tiefer, sieht das mensch -<br />
liche Leid hinter der farbenfrohen<br />
Fassade:<br />
„Ihr habt vielleicht schon davon<br />
gehört, dass Persien das Land<br />
der Teppiche ist. Täbris ist ein<br />
Hauptstapelplatz für den Teppichhandel.<br />
Ihr glaubt nicht, wie<br />
schöne Teppiche man hier sieht.<br />
In manche sind Bilder eingeknüpft,<br />
sodass die Tep piche<br />
aus sehen wie schöne Gemälde.<br />
Die Freude an den Teppichen<br />
kann einem aber verdorben<br />
werden, wenn man erfährt, wie<br />
sie her gestellt werden. Bekanntlich<br />
werden die Teppiche mit der Hand geknüpft. Nun gibt es hier in<br />
Täbris große Teppichknüpfereien, in denen Hunderte von Arbeitern<br />
beschäftigt werden. Kinder von fünf Jahren müssen schon Teppiche<br />
knüpfen. Sie sitzen in halb dunklen Räumen in schlechter Luft und<br />
arbeiten zehn bis vierzehn Stunden. Viele von ihnen erkranken und<br />
werden blind.“<br />
29<br />
Foto: CBM
„ In entscheidenden<br />
und kritischen<br />
Lagen haben Frauen<br />
unserer Arbeit<br />
Dienste getan, wie wir<br />
sie im gleichen Maße<br />
bei Männern nicht<br />
“<br />
fanden.<br />
Johanna Harms<br />
(2.v. l.) mit<br />
blinden jungen<br />
Frauen beim<br />
Handarbeits -<br />
unterricht<br />
Elfriede Schuler<br />
(Schwester von<br />
Hildegard Schuler):<br />
1925 bis 1929<br />
Hausmutter in<br />
Täbris. Sie hei ra te te<br />
Hans Hermann<br />
Lörner, der sich<br />
ebenfalls der<br />
Blinden mission zur<br />
Verfügung stellte.<br />
dieser Stelle ein Name hervorgehoben<br />
werden: Johanna Harms, ab 1940<br />
Heimleiterin in Täbris.<br />
Als im Kriegsjahr 1941 Engländer<br />
und Russen den Iran besetzten,<br />
weigerte sich Johanna Harms, ihre<br />
blinden Schützlinge im Stich zu lassen.<br />
So fiel sie den Russen in die Hände.<br />
Wegen „Spionagetätigkeit“ verurteilt,<br />
verbrachte sie zehn Jahre in russischen<br />
30<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
beim jungen Heimleiterehepaar<br />
Charlotte und<br />
Erich Rahn in Täbris zu<br />
Besuch (1937). Zu seiner<br />
Freude ist es den beiden<br />
gelungen, „die Zügel fest<br />
in die Hand zu bekommen.<br />
Sie standen vor keiner<br />
leichten Aufgabe.“<br />
Arbeitslagern. Kein Tag wurde ihr<br />
ge schenkt. Anschließ end lebte sie als<br />
Ver bannte in Aralsk am Aralsee in<br />
Kasachstan. Erst 1955, als in Deutschland<br />
kaum noch je mand an ihr Überleben<br />
glaubte, kam sie wieder frei.<br />
Fotos (3): CBM
„ Ich halte es für eine<br />
besonders freundliche<br />
und wertvolle Führung<br />
Gottes, dass Er uns<br />
Frauen als Mitarbeiter<br />
zuführte, die entscheidenden<br />
Einfluss<br />
sowohl auf die Entstehung<br />
wie auf die Ent -<br />
wicklung unserer<br />
Arbeit hatten.<br />
Solche Frauen<br />
stehen noch heute<br />
in vor derster Linie<br />
“<br />
unserer Mit arbeiter.<br />
31<br />
Frauen im Islam<br />
<strong>Christoffel</strong> hat auf<br />
einer seiner Reisen<br />
eine aufschlussreiche<br />
Begegnung:<br />
„Sie sind furchtbar<br />
neugierig, die Leutchen,<br />
und man muss auf<br />
hundert Fragen ant -<br />
worten. Da fragte<br />
einer der Männer:<br />
Wie viel Kollegen<br />
hast du? – Ich sagte:<br />
Wir sind unserer vier.<br />
Er: Dann sind also zwei zu Hause ge blieben? – Ich: Nein, einer ist<br />
zu Hause ge blieben. – Er: Ihr seid doch hier nur zwei. – Ich: Kannst<br />
du nicht zählen, wir sind doch drei. Dabei zeigte ich mit dem<br />
Finger auf Schwester Hanna, Herrn Melzl und mich und zählte:<br />
eins, zwei, drei! – Ja, sagte der Ausfrager dann ver wun dert, rechnest<br />
du DIE auch als Person? Er meinte Schwester Hanna.<br />
Foto: CBM<br />
Ich erklärte den Männern, dass der Mann nicht das Recht hätte,<br />
seine Frau von der Welt abzuschließen. Beide, Mann und Frau,<br />
seien von Gott geschaffen und vor ihm gleich. Warum, fragte ich<br />
direkt, müssen die mohammedanischen Frauen sich verschleiern,<br />
warum müssen sie fliehen, wenn ein Mann kommt?“
„ <strong>Isfahan</strong>, die schönste<br />
Stadt Persiens,<br />
die Stadt des<br />
blauen Himmels und<br />
der blauen Kuppeln,<br />
Stadt der Märchen,<br />
der Rosen,<br />
der Nachtigallen,<br />
die Residenz Schah<br />
Abbas des Großen.<br />
Riesige Paläste und<br />
Palast ruinen zeugen<br />
von längst ent schwun -<br />
“<br />
dener Pracht.<br />
<strong>Isfahan</strong> – alte Stadt und neues Leben<br />
Das Heim in <strong>Isfahan</strong> // Die blinden Bettler<br />
// Gehörlose Menschen // Einheimische Mitarbeiter //<br />
<strong>Christoffel</strong>, das Kommunikationstalent<br />
In Täbris ist die Zahl der blinden<br />
und behinderten Schützlinge stetig<br />
angewachsen. <strong>Christoffel</strong> und<br />
seine Mitarbeiter planen den Ausbau<br />
der Arbeit: „Die zweite Station, die,<br />
wenn möglich, Haupt station werden<br />
sollte, musste im per sischen Sprach-<br />
32<br />
6. Kapitel<br />
gebiet liegen, eine zentrale Lage haben<br />
und sollte so viel wie möglich vor<br />
politischen Eventualitäten gesichert<br />
sein.“ So wird die alte Kaiserstadt<br />
<strong>Isfahan</strong>, etwa 1000 Kilometer von<br />
Täbris entfernt, ab 1928 der neue,<br />
zentrale Sitz der Blinden mission.<br />
Die Löwenbrücke
Das Heim in Täbris bleibt bestehen.<br />
Zunächst übernehmen Elsa und Willi<br />
Heine die Leitung, ab 1935 Charlotte<br />
und Erich Rahn, und 1940 wird<br />
Johanna Harms dort Heimleiterin.<br />
Auch das neue Haus in <strong>Isfahan</strong><br />
ist rasch belegt. Fast täglich klopfen<br />
zerlumpte, ausgehungerte Bettelkinder<br />
an die Tür. Nach und nach erfährt<br />
<strong>Christoffel</strong> von dem tragischen Leben,<br />
das sie führen mussten.<br />
In den Briefen an den Freundeskreis<br />
erzählt er von diesen Schicksa len.<br />
Namen wie Hüssein, Soghra, Koukab<br />
(Täbris), Mehmed Agha, Hassan<br />
und viele an dere tauchen in seinen<br />
Berichten auf und sind seinen Lesern<br />
da mals gewiss ein fester Begriff<br />
gewesen.<br />
Die Heimfamilie<br />
Unten:<br />
Blick auf die<br />
Königsmoschee<br />
in <strong>Isfahan</strong><br />
Fotos (3): CBM<br />
„ Im Laufe der Jahre<br />
bekam unsere Heim -<br />
familie ein immer<br />
bunteres Aussehen.<br />
Zu den Blinden gesellten<br />
sich Krüppel<br />
und Niemandskinder<br />
und dann auch Taubstumme.<br />
Wir hatten<br />
immer gewünscht, auch<br />
Letzteren dienen zu<br />
können, wollten aber<br />
nicht eigen mächtig<br />
vorgehen, bis uns,<br />
ohne unser Zutun, ein<br />
taub stummer Knabe<br />
“<br />
gebracht wurde.
Unterricht für gehörlose Menschen<br />
<strong>Christoffel</strong> berichtet den jungen Lesern gern von seinen hör be hin -<br />
derten Schülern:<br />
„Ich wünschte, Ihr könntet einmal in einer Unterrichtsstunde zu -<br />
gegen sein. Sie müssen nämlich jeden Laut unter viel Mühe lernen.<br />
So stehen wir jetzt bei dem Laut ,ch’. Wir üben schon zwei Wochen,<br />
können ihn aber noch nicht. Manche Laute haben sie sehr schnell<br />
ge lernt. Was die<br />
armen Kerls sich dabei<br />
anstrengen müssen,<br />
das könnt Ihr Euch<br />
gar nicht vorstellen!<br />
[...]<br />
Taubstummen -<br />
erziehung war wie<br />
Blindenerziehung für<br />
Persien etwas ganz<br />
Neues. Auch für uns war sie neu. Wir haben die Taubstummen nicht<br />
gesucht. Sie wurden uns gebracht, und zwar so, dass wir uns ihnen<br />
nicht entziehen konnten. Das Einarbeiten in die Methoden<br />
des Taub stummen unterrichts war für uns nicht einfach, und<br />
wir waren uns der Mängel wohl bewusst. Dennoch sind wir<br />
dankbar, dass wir auch auf diesem Gebiet Fortschritte<br />
machen durften.“<br />
Charlotte Müller<br />
mit Boghos<br />
34<br />
„ Scharfe Augen<br />
haben meine Taubstummen.<br />
Sie bezeichnen<br />
alle im Hause nach<br />
besonderen Merkmalen.<br />
Wenn sie mich<br />
bezeichnen wollen,<br />
fahren sie sich übers<br />
Kinn, als ob sie einen<br />
Bart streichen wollten.<br />
Wenn sie sich an den<br />
Hinterkopf greifen,<br />
so bedeutet das eine<br />
Frau. Ali Kule, mein<br />
Helfer, hat eine<br />
Goldplombe im Mund.<br />
Wollen sie den be -<br />
zeichnen, dann zeigen<br />
“<br />
sie auf die Zähne.<br />
Fotos (2): CBM
<strong>Christoffel</strong> und seine Helfer bilden<br />
ehemalige Bettelkinder, blinde sowie<br />
geistig und körperlich behinderte<br />
Menschen zu selbstständigen, lebensfrohen<br />
Menschen aus. Und das in<br />
einer Zeit, in der im Deutschland des<br />
„Dritten Reiches“ die Vernichtung<br />
„lebens unwerten Lebens“ beginnt.<br />
Zur Schar der Waisenkinder, der<br />
blinden und gehörlosen Menschen,<br />
die ver sorgt werden müssen, ge sellen<br />
Mehmed Agha und Koukab<br />
sich Leprakranke und Bettler: „Es gibt<br />
in Is fahan und in den Dörfern der<br />
Um gebung sehr viele, Kinder und<br />
Erwach sene. Am ärmsten sind die<br />
Blin den unter ihnen. Noch habe ich<br />
sehr wenig für sie tun können“, klagt<br />
<strong>Christoffel</strong>. Dennoch macht er möglich,<br />
was ir gend möglich zu machen<br />
ist: Trotz geringer Geld mittel speist<br />
er wöchentlich eine große Bettlerschar<br />
im Hofe des Hauses.<br />
„ Haben die Blinden<br />
Persiens uns etwas zu<br />
sagen? Ich glaube, ja!<br />
Sie wissen nicht, wie die<br />
christlichen Völker für<br />
ihre Blinden sorgen.<br />
Wenn sie den Unterschied<br />
sehen könnten<br />
zwischen ihrer eigenen<br />
Not und der Lage der<br />
Blinden innerhalb des<br />
Christentums, dann<br />
würden sie sagen:<br />
Wir sind obdachlos,<br />
freundlos. Wir sind<br />
hungrig und durstig.<br />
Unsere Volksgenossen<br />
verachten uns. Und Ihr?<br />
Eure Religion ist die<br />
Religion der Liebe.<br />
Wollt auch Ihr uns<br />
“<br />
im Stich lassen?<br />
Fotos (3): CBM
Ali und Boghos,<br />
zwei gehörlose<br />
Schlingel<br />
„Der kleine taubstumme<br />
Knabe ist Mohammedaner<br />
und heißt Ali (Bild, Mitte).<br />
Er ist so alt wie Mairik,<br />
ein Prachtjunge, gesund<br />
und stark, der Haus und<br />
Hof und Garten unsicher<br />
macht. Obwohl er nicht<br />
sprechen kann, macht er<br />
mehr Krach als zehn, die Sprache<br />
haben. Er ist aber ein braver<br />
Junge, der für die schwächliche<br />
Mairik wie ein Bruder sorgt.<br />
Dabei ist er ein großer Spaßmacher.“<br />
Mit Vorliebe neckt er den<br />
Gärtner, wenn der mittags sein<br />
Schläfchen halten möchte.<br />
„Es ist bezeichnend, dass alle<br />
unsere Taubstummen ein großes<br />
Verständnis für Humor haben.<br />
So auch der kleine Bog hos (Bild,<br />
rechts). Eine Phrase be nutzt er<br />
immer wieder, nämlich ,turra<br />
tschi?’, das heißt: ,Was geht es<br />
dich an?’ Zur Zeit und zur Un -<br />
zeit, bei jedem Konflikt kommt<br />
dieses ,turra tschi?’ Dabei lacht<br />
der Junge sein helles Jungen -<br />
lachen und zeigt auf sein angeredetes<br />
Opfer.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Mehmed Agha –<br />
ein Opfer von Unwissenheit<br />
und Quacksalberei<br />
Das Waisenkind Mehmed Agha<br />
(Bild S. 35) hat ein schlimmes<br />
Schicksal: Mit einer Verletzung<br />
am Bein fing es an. „Heilkundi -<br />
ge“ Frauen und umherziehende<br />
Derwische „behandelten“ ihn<br />
so lange, bis sein Bein nicht<br />
mehr zu retten war und amputiert<br />
werden musste. Aus dem<br />
Kranken haus entlassen, irrte<br />
er auf primitiven Holzkrücken<br />
herum, hungerte, bettelte, litt<br />
unerträgliche Schmerzen, bis<br />
ihn ein mitlei diger Mann nach<br />
<strong>Isfahan</strong> brachte – das war<br />
Mehmed Aghas Rettung!<br />
36<br />
Fotos (2): CBM<br />
Mairik ist geborgen<br />
„Einige Wochen vorher (Novem -<br />
ber 1933, d. Red.) nahmen wir<br />
ein kleines blindes armenisches<br />
Mädchen auf, mit Namen Mairik.<br />
Mairik heißt ,Mütterchen’. Ein<br />
ganz armes, elendes Ge schöpf -<br />
chen, welches die Mutter hatte<br />
völlig verkommen lassen. Die<br />
Mutter behauptet, dass es fünf<br />
Jahre alt wäre, es macht aber<br />
den Eindruck eines dreijährigen<br />
Kindes. Mairik bedarf ständiger<br />
Pflege. Aber sie ist ein liebes<br />
Kind mit einem Stimmchen<br />
wie das Piepsen einer Maus.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Elisabeth Pietschker mit Mairik und Ali
Alle lieben Bubeli<br />
Antranik, den alle Bubeli nennen,<br />
ist der erste Sohn des<br />
armenischen Kochs. Er trägt<br />
nach armenischer Sitte den<br />
Namen Antranik, das be -<br />
deutet „der Erst geborene“.<br />
„Er ist ein zarter Junge<br />
mit den großen, träume -<br />
rischen Augen seiner<br />
Rasse, aber lebendig<br />
bis in die Fingerspitzen.<br />
Grund sätzlich sprach ich mit ihm<br />
nur deutsch, und der kleine Kerl lernte spielend.<br />
Mit den Eltern sprach er armenisch, mit den Persern<br />
persisch, mit mir deutsch. Mich nennt er den ,großen<br />
Papa’, seinen Vater den ,kleinen Papa’. Von seiner<br />
Herrscherwürde hat er keine Ahnung, und doch<br />
herrscht er, nicht nur über mich, sondern über<br />
alle, mit denen er in Berührung kommt, und zwar<br />
haupt sächlich durch sein sieghaftes Lachen.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
<strong>Christoffel</strong> – ein guter Spielkamerad<br />
„Als alter Mann war er nicht zu alt, um sich von uns<br />
Schülern auch etwas sagen zu lassen. Er spielte zum<br />
Beispiel mit uns Versteck und wunderte sich, dass<br />
wir ihn fast immer fanden. Er verriet sein Versteck<br />
nämlich selber: durch den Duft seiner Zigarre und<br />
durch sein lautes Atmen.“<br />
Pfarrer Abbas Schah-Mohammedi<br />
Fotos (2): CBM<br />
„ Menschen, die<br />
Kinder nicht liebhaben,<br />
habe ich nie verstanden.<br />
Ich bedauere sie, denn<br />
sie sind innerlich arm und<br />
entbehren das Schönste,<br />
was die Erde hat. Das<br />
“<br />
aber ist das Kind.<br />
37<br />
Die blinde Koukab<br />
wird Lehrerin<br />
„Eines Tages brachte eine<br />
ärmlich gekleidete Türkin<br />
ihr kleines blindes Mädchen,<br />
ein arm seliges Ge schöpflein, dessen<br />
körperlicher Zu stand uns zunächst zaudern ließ,<br />
es aufzunehmen, da keine Ga rantie bestand, dass es<br />
leben bleiben werde. – Das Kind hieß Koukab. Über<br />
Erwarten lebte es sich doch schnell ein. Das<br />
Geschenk einer Puppe (Bild S. 35) half ihr dazu. –<br />
Und dann entwickelte sich Koukab nach jeder Richtung,<br />
besonders geistig. Sie wurde eine der besten<br />
Schülerinnen (oben: Koukab mit ihren Blumen). –<br />
Schon früh zeigten sich starke erzieherische Fähig -<br />
keiten. Mit großer Begeisterung und Geduld wid me -<br />
te sie sich ihren kleineren Leidensgenossen, besonders<br />
einem taubblinden Mädchen, dessen Er zie hung<br />
fast ganz in ihrer Hand lag. Nach und nach rückte<br />
sie dann in die Stellung einer Lehrerin auf.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>
Einheimische Mitarbeiter<br />
„Für jede Mission ist die Frage der Mitarbeiter von großer<br />
Bedeutung. Bei Europäern im Orient ist ein stehendes Ge sprächs -<br />
thema ,die Angestellten’. Man kann sich nicht genugtun in<br />
Klagen über die Unzuverlässigkeit, die Unehrlichkeit und Trägheit<br />
derselben. [...]<br />
Welches war das Geheimnis, das uns mit unseren Mit arbeitern<br />
zufrieden sein ließ? Zunächst eins: Wir hüteten uns, euro päische<br />
Maßstäbe anzulegen. Ein anderer wichtiger Punkt war der, dass<br />
wir in unseren Angestellten und Mitarbeitern den Menschen<br />
sahen, nicht die bezahlte Arbeitskraft.“ <strong>Christoffel</strong> erinnert sich<br />
dankbar an seine Mitarbeiter. Mit manchem knüpfte er freund -<br />
schaftliche Bande. Zum Beispiel mit Ali Kule (im Bild mit dem<br />
gehörlosen Ali):<br />
„Ali Kule kam zu uns. Er war äußerst anstellig, war, wie alle<br />
Dorfleute, Analphabet und sprach nur das Aserbaidschan-<br />
Türkisch. Er war zunächst Türhüter, rückte dann in die Stellung<br />
eines persönlichen Dieners ein. Er hatte eine besondere Sprach -<br />
begabung, lernte spielend Armenisch und Persisch. Auch gab ich<br />
ihm deutschen Unterricht, in dem er gute Fortschritte machte.<br />
Man konnte sich die Entwicklung, die das <strong>Isfahan</strong>er Heim nahm,<br />
bald gar nicht mehr ohne ihn denken. Als Fräulein Hanni Harms<br />
die Leitung des Blindenheims in Täbris übernahm, ging er mit<br />
ihr und hat ihr in gleicher Treue gedient.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
38<br />
Foto: CBM
„Jetzt bin ich beinahe<br />
53 Jahre alt, aber eine<br />
bleibende Statt fand<br />
ich noch nicht.“<br />
<strong>Christoffel</strong>s Handschrift<br />
in einem Brief an<br />
Ange hö ri ge (1928)<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
(1929)<br />
Foto: CBM<br />
Der Erste Weltkrieg hatte <strong>Christoffel</strong>s<br />
Aufbauwerk in der Türkei zerstört. Nun<br />
macht wieder ein Krieg seine Pionierarbeit<br />
zu nichte: 1941, zwei Jahre nach<br />
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs,<br />
be setzen russische und englische<br />
Truppen Teile des Iran, um die Nachschubwege<br />
für die Waffenlieferungen<br />
der Alliierten zu sichern. Das Heim in<br />
Täbris musste nach der Verhaftung<br />
Johanna Harms’ durch die Russen<br />
geschlossen werden. <strong>Christoffel</strong> selbst<br />
kann in <strong>Isfahan</strong> noch eine Weile seine<br />
Schützlinge betreuen. 1943 wird er von<br />
den Engländern gefangen genommen<br />
und für fast drei Jahre interniert.<br />
„ Ich sprach kürzlich<br />
eine Dame aus der<br />
Gesellschaft der<br />
Hauptstadt, eine<br />
Deutsche. Wir kamen,<br />
von unserer Arbeit<br />
ausgehend, auf ähn -<br />
liche Bestrebungen<br />
der Inneren Mission<br />
in Deutschland zu<br />
sprechen. Die Dame<br />
meinte: ,Krüppelheime<br />
und Ähnliches einzurichten<br />
ist eine Kultur -<br />
schande.‘ Ich bin die<br />
Antwort schuldig<br />
geblieben. Wenn aber<br />
Menschen, die einem<br />
christlichen Volke<br />
angehören, derartigen<br />
Ansichten huldigen,<br />
dann wollen wir uns<br />
nicht darüber be -<br />
klagen, wenn die einheimische<br />
Bevöl kerung<br />
es schwer hat, Verständnis<br />
für unsere<br />
“<br />
Arbeit aufzubringen.
„Eine ernste, der Gemeinschaft angehörende<br />
Christin fragte mich einmal, ob ich den mohammedanischen<br />
Priester, den ich als Hilfs lehrer angestellt<br />
hatte, schon mit Jesus bekannt gemacht<br />
hätte. Als ich dies verneinte, schaute sie mich mit<br />
einem unsagbar vorwurfsvollen Blick an. Dass der<br />
Priester bei einem solch unvor bereiteten Sturm -<br />
angriff auf und davon ge gangen wäre, dafür fehlte<br />
jedes Verständnis.<br />
So wie diese Frau gibt es viele<br />
Missionsfreunde, die jeden<br />
Missionsbericht unbefriedigt<br />
aus der Hand legen, wenn darin<br />
nicht von Fortschritten und<br />
Bekehrungen die Rede ist.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
<strong>Christoffel</strong>, der übrigens nicht<br />
allzu viel von Statistiken hält,<br />
hat seine eigene Methode, über<br />
„Erfolge“ zu berichten: Wenn er<br />
die Herzen der Leser anrühren<br />
will, dann erzählt er am liebsten<br />
von „seinen“ Kindern.<br />
<strong>Christoffel</strong> mit<br />
dem blinden<br />
Hassan<br />
<strong>Christoffel</strong>, das Kommunikationstalent<br />
40<br />
Eines von ihnen ist der blinde Hassan, über den<br />
<strong>Christoffel</strong> wie folgt berichtet:<br />
„Er ist ein ganz lieber Kerl. Eine Mutter hat er<br />
nicht mehr. Sein Vater war mit ihm aus seinem<br />
Heimatdorf nach <strong>Isfahan</strong> gekommen und bettelte<br />
hier. Einer unserer Leute sagte dem Vater, dass<br />
er den Jungen zu uns bringen möchte. Das tat<br />
der Vater und ließ Hassan gleich bei uns. Als der<br />
Vater gegangen war, gaben wir dem Kleinen eine<br />
Mundharmoni ka. Die half ihm<br />
über den Abschieds schmerz<br />
hinweg.“<br />
Foto: CBM<br />
<strong>Christoffel</strong> schildert leben dig,<br />
ohne moralisierenden Un terton.<br />
Seine Berichte ziehen die Leser<br />
in ihren Bann. Die freuen sich<br />
mit, wenn ein Junge oder<br />
Mädchen sich im neuen<br />
Zuhause gut einlebt und Fortschritte<br />
macht. Sie sind be -<br />
kümmert über Rückschläge,<br />
die nicht ausbleiben. So weckt<br />
<strong>Christoffel</strong> Verständ nis für<br />
das Wesentliche in der Arbeit<br />
der <strong>Blindenmission</strong>.
In der Nacht vom 30. zum<br />
31. August 1943 wird Ernst Jakob<br />
<strong>Christoffel</strong> verhaftet und abtransportiert.<br />
Ge legenheit, sich von den<br />
Seinen zu verabschieden, hat er nicht<br />
mehr. Zunächst in einem Sammellager<br />
untergebracht, durchläuft er in den<br />
kommenden Jahren acht Lager: im Iran,<br />
im Irak, in Ägypten. Zuletzt ist er in<br />
Neuengamme bei Hamburg interniert.<br />
In diesen Jahren, in denen er<br />
„scheinbar aufhörte, Persönlichkeit zu<br />
sein, in der er eine Nummer wurde“,<br />
trösten ihn die Worte des 42. Psalms<br />
ganz besonders.<br />
Mit Gottesdiensten und seelsorgerlichen<br />
Gesprächen steht <strong>Christoffel</strong><br />
den Mitgefangenen bei. Die Lager<br />
waren nicht groß, so kam man sich<br />
nahe, und „es knüpften sich Bande,<br />
die, so glaube ich, fürs Leben halten<br />
werden“. An viele dieser Menschen,<br />
Mitgefangene oder Gefängniswärter,<br />
Europäer, Iraner, Engländer und Inder,<br />
erinnert er sich dankbar: Da ist zum<br />
7. Kapitel<br />
Ist nun alles zu Ende?<br />
Internierung // Rückkehr nach Deutschland<br />
// Das Ernst-<strong>Christoffel</strong>-Haus in Nümbrecht //<br />
Erneute Ausreise<br />
Beispiel Giovanni, ein italienischer<br />
Mineur, der ihm un eigennützig zur<br />
Seite stand. Gern denkt er auch an<br />
den englischen Major, der die zusammengeschmolzene<br />
kleine Schar<br />
der Gefangenen auf dem Flug nach<br />
Kairo begleitete, „wie er uns auf dem<br />
Flugplatz Schaibah in den hoch ele -<br />
gan ten Speisesaal führte und uns,<br />
verdreckt und zerlumpt, wie wir<br />
Was betrübst du dich,<br />
meine Seele, und bist<br />
so unruhig in mir?<br />
Harre auf Gott, denn<br />
ich werde ihm noch<br />
danken, dass er meines<br />
Angesichts Hilfe<br />
und mein Gott ist.<br />
Psalm 42,6<br />
41<br />
„ Herausgerissen aus<br />
einer Arbeit, in der ich<br />
tief wurzelte, aus einer<br />
so engen Verbindung,<br />
wie sie eine Arbeit<br />
wie die unsrige mit<br />
sich brachte, hinein -<br />
geworfen in ein Leben,<br />
so fremd, ein Leben,<br />
das so untragbar<br />
scheint für jeden, der<br />
zum ersten Mal hinter<br />
Stacheldraht gesetzt<br />
wird, das alles legte<br />
sich wie ein Bann<br />
auf mich, und<br />
vor mir stand das<br />
“<br />
quälende Warum?
„ Ich war im Ganzen<br />
33 Monate, also 2<br />
“<br />
3 /4<br />
Jahre hinter Stacheldraht<br />
und danke Gott,<br />
dass ich trotz meines<br />
Alters (im September<br />
werde ich 70) die Zeit<br />
relativ gut überstand.<br />
waren, wie gleichwertige Menschen<br />
behandelte“.<br />
Am 5. Juni 1946 kann Ernst Jakob<br />
<strong>Christoffel</strong> das Gefangenenlager bei<br />
Hamburg verlassen. Er besitzt nur<br />
noch das, was er auf dem Leib trägt.<br />
„Menschlich gesehen war der ab -<br />
solute Nullpunkt erreicht.“ Vorerst<br />
wohnt er bei seiner Schwester in Bad<br />
Sachsa, steht auf Veranlassung der<br />
britischen Besatzungsbehörde allerdings<br />
noch eineinhalb Jahre unter<br />
Polizeiaufsicht und darf die Stadt nicht<br />
verlassen. Er leidet sehr unter dieser<br />
aufgezwungenen Passivität. Erst durch<br />
Fürsprache des Lordbischofs von Chichester,<br />
Dr. Bell, und von Lord Halifax<br />
wird das Reiseverbot aufgehoben.<br />
Doch zunächst wird es Winter,<br />
der erste, den <strong>Christoffel</strong> seit langem<br />
wieder in Deutschland verbringt. Die<br />
Temperaturen sinken auf 25 Grad<br />
unter Null. „Wie mir, dem alten Orientalen<br />
mit meinem Sonnenhunger<br />
dabei zumute ist, kannst Du Dir<br />
denken!“, klagt er im Januar 1947<br />
seinem Adoptivsohn Otto.<br />
42<br />
„ Wenn ich müde<br />
oder gar mutlos bin,<br />
rufe ich mir ins<br />
Gedächtnis, dass ich<br />
einen Auftrag habe<br />
und dass der, der<br />
diesen Auftrag gab,<br />
versprochen hat,<br />
das Rüstzeug dazu<br />
zu geben. Dass er<br />
es tut, das habe ich<br />
“<br />
oft erfahren.<br />
Die Hoffnung, noch einmal im<br />
Iran arbeiten zu dürfen, hat <strong>Christoffel</strong><br />
auch jetzt nicht aufge geben. In den<br />
folgenden Jahren wird er immer wieder<br />
gefragt, oft mit „ungeduldi gem<br />
Unterton“, wann er denn in den<br />
Orient zurückkehre. Aber er übt sich<br />
in der „Fähigkeit des Wartens in<br />
Geduld“. Diese Geduld scheint ihm<br />
angemessen auch im Blick auf Hanni<br />
Harms, die nun schon mehr als zehn<br />
Jahre hinter Stacheldraht sitzt und<br />
zwar unter Verhältnissen, wie er,<br />
<strong>Christoffel</strong>, sie nicht gekannt hat.<br />
Als er endlich wieder auf Reisen<br />
gehen darf, führen ihn Fahrten durch
Ernst Jakob<br />
<strong>Christoffel</strong> bei der<br />
Grundstein legung<br />
des Blindenheims<br />
in Nümbrecht<br />
am 22. Mai 1949<br />
das zerbombte Deutschland und nach<br />
Berlin, um alte Freunde aufzusuchen<br />
und neue Verbindungen zu knüpfen.<br />
Wie sind die Reihen der Freunde ge -<br />
lichtet! „Die einen fielen in Russland,<br />
die anderen in Frankreich. Der eine ist<br />
verschollen, der andere noch in Ge -<br />
fangenschaft. Andere fielen den Bombenangriffen<br />
zum Opfer. Und doch,<br />
Foto: CBM<br />
trotz allem, bei denen, die blieben,<br />
fand ich eine unwandelbare Treue zu<br />
unserer Arbeit.“<br />
Nun sind es die deutschen Kriegsblinden,<br />
die <strong>Christoffel</strong>s An teilnahme<br />
erregen. Gründlich beschäftigt er sich<br />
mit ihrer Lage: Viele von ihnen leben<br />
in großer Armut. Mancher ist zusätzlich<br />
behindert. Eine Idee treibt ihn um:<br />
für heimatlose Kriegsblinde ein Heim<br />
zu errichten. Im Nachkriegsdeutschland<br />
Mittel aufzutreiben und über die<br />
„Zonengrenzen“ hinaus die notwendigen<br />
Reisen zu unternehmen ist nicht<br />
einfach. <strong>Christoffel</strong> setzt auch jetzt<br />
wieder alle seine Kräfte ein, um<br />
Freunde und Geldgeber zu gewinnen:<br />
„Und nun wir, liebe Freunde!<br />
Es gilt für uns, Hand anzulegen. Mich<br />
beschäftigt der Gedanke Tag und<br />
Nacht. Liegt da nicht eine Aufgabe<br />
vor uns, groß wie ein Berg, und hat<br />
der Glaube nicht die Verheißung,<br />
dass er Berge versetzen kann?“,<br />
schreibt er 1946 an den engeren<br />
Kreis der Freunde der Christlichen<br />
Blinden mission im Orient.<br />
43<br />
„ Es war das zweite<br />
Mal, dass in der<br />
Geschichte unserer<br />
Mission ein Kapitel<br />
geschlossen wurde.<br />
Beide Male durch<br />
einen Krieg. Was<br />
der Inhalt des neuen<br />
Kapitels sein wird,<br />
“<br />
das weiß der Herr.
„Heute, am 22. Mai 1949, legte die Christliche<br />
<strong>Blindenmission</strong> im Orient den Grundstein zu einem<br />
Heim für mehrfachversehrte Kriegsblinde auf dem<br />
Hömerich, Gemeinde Nümbrecht. Nach 40-jähriger<br />
Tätigkeit unter Blinden im türkischen Kurdistan und<br />
Iran beabsichtigt die Mission, eine Parallelarbeit an<br />
den deutschen Kriegsblinden zu eröffnen“, heißt es<br />
in der Gründungsurkunde.<br />
Das Gebäude, das nach Erweiterungen alles zuvor<br />
Entstandene zusammenfasste, wurde 1988 seiner<br />
Bestimmung als „christliches Heim für Blinde und<br />
Sehbehinderte“ übergeben. Zu Ehren <strong>Christoffel</strong>s<br />
erhielt es den Namen „Ernst-<strong>Christoffel</strong>-Haus“.<br />
Das Ernst-<strong>Christoffel</strong>-Haus<br />
44<br />
In umfangreichen Umbaumaßnahmen entstand<br />
2009 das deutschlandweit einzigartige Konzept<br />
einer „Wohngemeinschaft für blinde und sehbehinderte<br />
Menschen“. Die „christliche Senioren- und<br />
Pflegeeinrichtung“ bietet in familienähnlichen<br />
Hausgemeinschaften nun insgesamt 92 pflege -<br />
bedürftigen und sehbehinderten Menschen eine<br />
neue Heimat.<br />
Wohnen und Leben im<br />
Ernst-<strong>Christoffel</strong>-Haus heute<br />
Fotos (2): CBM
Alle, die vorübergehn,<br />
gehn vorbei.<br />
Sieht mich, weil ich blind bin,<br />
keiner stehn?<br />
Und ich steh seit Drei...<br />
Ach, kein Mensch kauft<br />
handgemalte Ansichtskarten,<br />
denn ich hab kein Glück.<br />
Einen Groschen, Stück für Stück!<br />
Wo ich selber<br />
sieben Pfennig zahlte.<br />
Früher sah ich alles so wie sie:<br />
Sonne, Blumen, Frau und Stadt.<br />
Und wie meine Mutter<br />
ausgesehen hat,<br />
das vergess ich nie.<br />
Krieg macht blind.<br />
Das sehe ich an mir.<br />
Und es regnet.<br />
Und es geht der Wind.<br />
Ist denn keine fremde<br />
Mutter hier,<br />
die an ihre eignen<br />
Söhne denkt?<br />
Und kein Kind,<br />
dem die Mutter<br />
etwas für mich schenkt?<br />
(Auszug aus: Erich Kästner,<br />
Monolog des Blinden)<br />
<strong>Christoffel</strong><br />
bei seiner<br />
Abreise<br />
(1951)<br />
1949 gelingt es, in Nümbrecht im<br />
Oberbergischen Land den Grundstein<br />
für ein evangelisches Heim für die<br />
deutschen Kriegsblinden zu legen.<br />
Die Mithilfe zahlreicher Einzelspender,<br />
Firmen und der örtlichen Kirchen -<br />
gemeinden ermöglicht den Bau.<br />
1951 erfüllt sich <strong>Christoffel</strong>s<br />
Wunsch, wieder nach Persien zurückkehren<br />
zu können: Freunde seiner<br />
Arbeit im Iran, vor allem muslimische<br />
Per sönl ichkeiten, hatten sich er folg -<br />
reich für seine Rückkehr eingesetzt.<br />
Die lang ersehnte Ausreisegenehmigung<br />
liegt vor.<br />
So zieht der 75-Jährige noch<br />
einmal hinaus zu den blinden und<br />
be hin der ten Menschen im Iran. „Ich<br />
steige in die Tiefe. Haltet Ihr das<br />
Seil!“ ruft er seinen Be gleitern zum<br />
Abschied zu.<br />
45<br />
Foto: CBM
„ Wir wurden Höhenwege<br />
geführt und<br />
durch tiefe Tiefen. Wir<br />
litten Krankheit und<br />
Verfolgung. Durch<br />
Seuchen und Not,<br />
durch böse Gerüchte<br />
und gute Gerüchte,<br />
durch Internierung und<br />
Gefangenschaft ging<br />
unser Weg. Über allem<br />
aber waltete die Treue<br />
Gottes. So bin ich<br />
auch diesmal guter<br />
Zuversicht, dass trotz<br />
aller Hemmungen Gott<br />
uns weiter Raum zum<br />
“<br />
Dienen geben wird.<br />
Erneut steht <strong>Christoffel</strong> vor<br />
Trümmern. Das Heim in<br />
Is fahan ist nur noch „eine<br />
Ruine“. Vergeblich sucht er nach<br />
vertrauten Gesichtern. Die meisten<br />
Heiminsassen sind verschollen. Vom<br />
ehemaligen Missionseigentum und<br />
von seiner persönlichen Habe ist nur<br />
noch ein kleiner Bruchteil vorhanden.<br />
Mit elf Personen beginnt <strong>Christoffel</strong><br />
in einem einfachen Lehmhaus<br />
von vorn. Die Mieten für geeignete<br />
Häuser sind fast unerschwinglich,<br />
die wirtschaftliche Lage des Landes<br />
ist ver heerend: „Krasse Klassenunterschiede,<br />
unsagbare Armut auf der<br />
einen Seite, größter Reichtum auf der<br />
anderen. Und die Not steigert sich:<br />
Arbeitslosigkeit und innere Unruhen,<br />
Trockenheit, Heuschreckenplage, das<br />
alles wirkt zusammen, um die Not zu<br />
verallgemeinern.“<br />
Wieder füllt sich das Haus:<br />
„Meine Familie zählt jetzt 17 Köpfe“,<br />
berichtet er wenige Monate später<br />
46<br />
8. Kapitel<br />
Noch einmal <strong>Isfahan</strong><br />
Der Wiederaufbau ist schwer // Krankheit und Tod<br />
// <strong>Christoffel</strong>s Missionstheologie // Weggefährten erinnern sich //<br />
Otto <strong>Christoffel</strong> über seinen Adoptivvater // Der Weg führt weiter<br />
nach Hause. Noch herrscht Mangel an<br />
allem: an Winterkleidung, wollenen<br />
Decken, Heizmaterial, Lebensmitteln.<br />
Die Freunde in Deutschland helfen,<br />
so gut sie können. So gelingt ein<br />
bescheidener Neuanfang, dem entbehrungsreiche<br />
Jahre folgen.<br />
Doch „Hairiks“ Kräfte sind verbraucht.<br />
Anfang 1955 erkrankt er<br />
schwer. Hans Hermann Lörner reist<br />
nach <strong>Isfahan</strong>, um dem Leidenden beizustehen.<br />
Er, Schwester Hanna Jung,<br />
der getreue Ali Kule und der taubstumme<br />
Boghos pflegen ihn und sind<br />
bei ihm bis zuletzt. Am 23. April 1955<br />
stirbt Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>. Am<br />
nächsten Tag wird er auf dem armenischen<br />
Friedhof beigesetzt.<br />
„Hier ruht im Frieden Gottes<br />
Pastor Ernst J. <strong>Christoffel</strong>, der Vater<br />
der Blinden, der Niemandskinder, der<br />
Krüppel und Taubstummen nach über<br />
fünfzigjähriger Pionierarbeit“ – steht<br />
in Deutsch, Armenisch und Persisch<br />
auf dem Grabstein.
24 Jahre später, 1979:<br />
Im Iran hat sich die politische Lage<br />
dramatisch verändert: Die Pahlewi-<br />
Dynastie ist zusammengebrochen und<br />
Ayatollah Khomeini proklamiert die<br />
„Islamische Republik“. „Revolutionswächter“<br />
nehmen das christliche<br />
Blindenheim gewaltsam in Besitz.<br />
Ehemalige Heiminsassen berichten:<br />
„Das gesamte Mobiliar aus unserer<br />
Wohnung wurde rausgeschmissen.<br />
Aus der Werkstatt wurden die Ma -<br />
schinen herausgetragen. Die Schule<br />
wird als Schlafraum benutzt. Unser<br />
Gottesdienstraum ist in eine Moschee<br />
ver ändert worden.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>, der „Vater<br />
der Blinden und Niemandskinder“,<br />
hat die abermalige Zerstörung seines<br />
Le benswerks nicht mehr erleben<br />
müssen. Dieser Gedanke mag manchem<br />
ein Trost gewesen sein.<br />
Mehrmals im Jahr<br />
wanderten die<br />
blinden Jungen<br />
und Mäd chen<br />
zu <strong>Christoffel</strong>s<br />
Grab, um mit<br />
ihren Fingern die<br />
In schrift zu lesen.<br />
Ernst Jakob Christof fel<br />
mit behinderten<br />
Schülern – eine der<br />
letzten Auf nahmen<br />
von ihm<br />
Fotos (3): CBM<br />
„ Es ist Gottes<br />
Methode, uns von<br />
Zeit zu Zeit das<br />
Handwerkszeug<br />
aus der Hand<br />
zu nehmen, um<br />
nachzusinnen über<br />
das Werk, das er<br />
uns anvertraute.<br />
Diese Besinnung<br />
aber löste bei<br />
mir Beschämung<br />
“<br />
und Dank aus.
„So kommt der Glaube aus der Predigt. Wenn man<br />
sich an den Buchstaben dieses Wortes hält, so<br />
hat missionarischen Wert nur die Arbeit in der<br />
nichtchristlichen Welt, die den Nachdruck auf die<br />
Predigt legt, während der jenigen, die ihre Aufgabe<br />
in der Betätigung des Glaubens durch die<br />
Liebe sieht, der missionarische Charakter abgesprochen<br />
werden muss. Aber wie alle Theorie ist<br />
auch diese grau. Die Praxis, das Leben, fällen ein<br />
anderes Urteil. [...]<br />
Unsere Mission hat in den 50 Jahren ihres Bestehens<br />
stets in Ländern unter moham meda nischen<br />
Regierungen gearbeitet. Der Mis sionar, der hier<br />
offen das Evangelium vor Mohamme danern gepredigt<br />
hätte, wäre des Landes verwiesen worden.<br />
Damit aber wäre der Sache des Herrn nicht gedient<br />
gewesen. [...]<br />
Da glaubten wir in der Arbeit, die der Herr uns<br />
zugewiesen hat, einen Weg zum Herzen der<br />
Mohammedaner gefunden zu haben. Konnte man<br />
ihnen die frohe Kunde von Jesus nicht durch die<br />
Predigt in Worten bringen, so wollten wir versuchen,<br />
es zu tun durch eine Predigt ohne Worte.<br />
Wir wollten versuchen, ihnen etwas zu zeigen<br />
von dem Glauben, der durch die Liebe tätig ist.<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>s Missionstheologie<br />
48<br />
Unsere Arbeit sollte ein Anschauungsunterricht<br />
sein für Christen und Moslems. [...]<br />
Die Arbeit eines halben Jahrhunderts hat uns recht<br />
gegeben. Die Predigt, die unsere Blindenheime<br />
hielten und noch halten, wird von Mohammedanern<br />
verstanden. Der denkende Mohammedaner<br />
fragt sich: Warum tun sie das? Gewinn haben sie<br />
nicht. Politische Absichten können sie nicht haben,<br />
denn sie wenden sich an die, die wir aus unserem<br />
Volksverband aus schließen. Was wollen sie? Wer<br />
nun eine Antwort auf diese Frage wollte, der kam<br />
zu uns, und dann durften wir bekennen: Die Liebe<br />
Christi dringet uns also. [...]<br />
Unsere anfänglichen Ziele sind dieselben ge blie -<br />
ben: Diejenigen in unseren Heimen durch Gottes<br />
Wort zu Jesus zu führen und denen, die draußen<br />
sind, eine Predigt ohne Worte zu halten. Beides<br />
sind missionarische Ziele, und dass sie missionarischen<br />
Wert haben, hat der Herr in seiner Gnade<br />
uns dadurch gezeigt, dass er uns trotz eigener<br />
Unfähigkeit reiche Frucht sehen ließ.“<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>
„Wüssten unsere Kinder etwas von dem Leid,<br />
das Matthias Claudius beim Heimgang seines<br />
Vaters empfand, sie würden jetzt mit ihm<br />
sprechen: ,Sie haben einen guten Mann be graben,<br />
mir war er mehr!’ Die Trauer liegt noch wie ein<br />
Schatten über unserer Haus gemeinde. Und aus<br />
vielen Briefen geht hervor, dass Pastor <strong>Christoffel</strong><br />
,seinen’ Kindern wirklich mehr war als ein guter<br />
Mann, dass er ihnen Helfer, Rat geber, Wegweiser,<br />
ja, dass er ihnen Vater war im wahrsten Sinne.“<br />
Schwester Anna Jung,<br />
Hausmutter in <strong>Isfahan</strong><br />
„Hairik hat uns ein Erbe hinterlassen, das,<br />
menschlich gesprochen, aber auch geistlich<br />
gesehen, unermesslich ist: Über fünfzig Jahre<br />
durfte er durch Wort und Tat der Liebe in<br />
den Ländern des Islam von seinem geliebten<br />
Herrn und Meister zeugen. Er besaß ein großes<br />
Herz, wie ich es selten bei einem Reichsgottes -<br />
arbeiter sah. Seine Liebe umspannte jeden,<br />
der in seinen Blickkreis trat. Mit Hairik<br />
ist ohne Übertreibung ein Großer im Reiche<br />
Gottes heimgegangen.“<br />
Missionsinspektor Hans Hermann Lörner,<br />
<strong>Christoffel</strong>s Mitarbeiter im Iran, später Gesamtleitung<br />
Weggefährten erinnern sich<br />
49<br />
„Heute, da ich selber auf dem<br />
Wege bin, alt zu werden, bin<br />
ich froh, dem alten <strong>Christoffel</strong><br />
begegnet zu sein. Streng gewiss,<br />
aber gütig. Er machte nicht viel<br />
Aufhebens von sich. Publicity<br />
kannte er nicht. Während andere<br />
in der deutschen Kolonie die<br />
Herren spielten, sich ein Taxi<br />
nahmen und Droschke fuhren,<br />
ging <strong>Christoffel</strong> zu Fuß, um Geld für seine Blinden<br />
zu sparen. Das machte ihn glaubwürdig.“<br />
Pfarrer Abbas Schah-Mohammedi,<br />
<strong>Christoffel</strong>s letzter Täufling,<br />
Leiter des Ev. Blindendienstes in Berlin<br />
„Missionar <strong>Christoffel</strong> war in seinem ganzen<br />
Handeln bewusst und klar, Konzessionen gab<br />
es für ihn nicht. Das war ein ganz wesentlicher<br />
Charakterzug an ihm. Das Geheimnis seiner<br />
gefestigten Persönlichkeit war der Felsengrund,<br />
auf dem er sein Leben aufgebaut hatte: Das Wort<br />
Gottes war ihm unbedingt gültige Richtschnur<br />
und das Gebet die Kraftquelle.“<br />
Foto: CBM<br />
Charlotte Rahn,<br />
Mitarbeiterin <strong>Christoffel</strong>s in <strong>Isfahan</strong> und Täbris
„Mein Vater war in der Lage, die Jugend und auch<br />
die Alten zu begeistern. Kein Zuhörer ging weg,<br />
ohne den Wunsch zu haben, bei dieser Arbeit<br />
mitzuhelfen. Vater hatte viele Freunde in Deutsch -<br />
land, in Schweden, in der Schweiz, in Amerika. Sie<br />
unterstützten sein Werk. – Rührend war Fräulein<br />
Waller aus Montreux. Sie hat ihr ganzes Vermögen<br />
der Mission zur Verfügung gestellt. [...]<br />
Ob das nun junge oder alte Leute waren, er fand<br />
immer eine Verbindung zu ihnen. Er konnte<br />
mit al ten und kranken Menschen sprechen und<br />
sie trösten. Er konnte wie Karl May ,Durchs<br />
wilde Kurdistan’ erzählen und damit die Jugend<br />
begeistern. [...]<br />
Ich kann mich sehr gut entsinnen, wie er einmal<br />
40 bis 50 Männer, die mit Säbeln und Gewehren<br />
bewaffnet waren, fortjagte. Diese fanatischen<br />
Mohammedaner wollten die Christen, die im<br />
Missionsheim Schutz gefunden hatten, ausgeliefert<br />
haben. Und wir hatten im Heim eine unsagbare<br />
Angst. Vater brachte es fertig, diese Bande<br />
ohne Waffen fortzujagen. Er hat durch seine<br />
Persönlichkeit mehr erreicht als andere, die<br />
immer eine Waffe in der Tasche tragen. Er war<br />
groß, schlank und kannte keine Angst.“<br />
Otto <strong>Christoffel</strong><br />
Otto <strong>Christoffel</strong> über seinen Adoptivvater Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Foto: CBM<br />
50<br />
1925 brachte Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
seinen Adoptivsohn Otto nach<br />
Deutschland. Otto besuchte die Knabenschule<br />
der evangelischen Brüdergemeine<br />
in Kleinwelka bei Bautzen<br />
und anschließend das Missionsseminar<br />
der Brüdergemeine in Herrnhut.<br />
Danach erhielt er am<br />
Samuel-Heinicke-Institut in<br />
Leipzig eine Fachausbildung<br />
zum Gehörlosenlehrer und<br />
zum Werklehrer. Vater und<br />
Sohn wünschten sich sehr,<br />
dass Otto ebenfalls in die<br />
Missionsarbeit eintreten<br />
sollte. Das nationalsozialistische<br />
Regime machte diese<br />
Pläne zunichte: 1934 wurde<br />
Otto der Ausweis abgenommen.<br />
Als Armenier, also nicht der<br />
„nordischen Rasse“ angehörend,<br />
erhielt er einen Pass als „Staatenloser“.<br />
Jetzt war es für ihn unmöglich,<br />
Deutschland zu verlassen. Seine Ausbildung<br />
konnte er mit einer „Sondergenehmigung“<br />
abschließen. Doch<br />
bald darauf unterbanden die Nationalsozialisten<br />
die Ausbildung von Gehörlosenlehrern<br />
und die Arbeit mit Hörgeschädigten<br />
gänzlich. Was sollte nun<br />
aus dem jungen Mann werden? Er litt<br />
zeitweilig Hunger und die erschwerte<br />
Lebenssituation zehrte an seinen Kräften.<br />
Freunde des Vaters, unter ande-
em Otto Dibelius, setzten<br />
sich für ihn ein. Als Praktikant<br />
im „Rauhen Haus“ in Hamburg,<br />
in den Bodelschwinghschen<br />
Anstalten in Bethel und<br />
später als Leiter des Heims<br />
für lernbehinderte Kinder in<br />
Scheuern bei Nassau überstand<br />
er die Naziherrschaft<br />
und erwarb sich wertvolle<br />
Erfahrungen in der Arbeit mit<br />
behinderten Menschen. Nach<br />
Ende des Krieges half Otto <strong>Christoffel</strong><br />
anderen, ihrerseits in Bedrängnis geratenen<br />
Mitmenschen. Besonders froh<br />
war er darüber, dass er jetzt seinen<br />
Adoptivvater unterstützen konnte.<br />
1947 wurden Otto <strong>Christoffel</strong>s<br />
Kenntnisse als Gehörlosenfachmann<br />
in Deutschland dringend gebraucht: Es<br />
erfolgte seine Berufung an die Landes -<br />
taubstummenanstalt in Neuwied. Hier<br />
wirkte er viele Jahre als hochgeschätzter<br />
Oberlehrer und Werkaus bilder. Von<br />
Innenminister Gustav Heinemann persönlich<br />
erhielt Otto <strong>Christoffel</strong> 1950<br />
die Deutsche Staatsbürgerschaft, die<br />
es ihm erlaubte zu heiraten. Nach seiner<br />
Pensionierung war er noch lange<br />
ehrenamtlich tätig. Besonders die<br />
Schulung und Beratung von Gehörlosenpfarrern<br />
lag ihm dabei am<br />
Herzen. Otto <strong>Christoffel</strong> verstarb am<br />
19. April 2006 im Alter von 94 Jahren.<br />
Otto <strong>Christoffel</strong><br />
(1944)<br />
Foto: CBM<br />
51<br />
„Mein Vater fühlte sich als Deutscher verantwortlich.<br />
Er konnte nicht verstehen, dass die deutsche<br />
Regierung es zuließ, dass dort in der Türkei – denn<br />
Deutschland war ja mit der Türkei verbündet –<br />
tatsächlich eine solche Verfolgung stattfand. [...]<br />
Merkwürdig, wenn man so mit ihm ging, kam<br />
man nicht auf den Gedanken, dass er tief religiös<br />
veranlagt war. Erst später habe ich Vater richtig<br />
kennengelernt. Es war nach dem Zweiten Weltkrieg,<br />
als die Menschen in kleinen Räumen<br />
zusammengedrängt leben mussten. Vater war<br />
aus der Kriegsgefangenschaft zurück und hatte<br />
Zuflucht bei seiner Schwester, Frau Pfarrer<br />
Bauernfeind in Bad Sachsa, gefunden. Das,<br />
was er am Tag von sich gab, war fröhlich und<br />
auf gemuntert, bevor er ins Bett ging, kniete<br />
er vor seinem Bett und betete. Das gemeinsame<br />
Abendgebet mit der Hausgemeinschaft, das er<br />
hielt, genügte nicht. Er musste noch einmal mit<br />
seinem Herrn und Heiland ein Zwiegespräch<br />
führen. [...]<br />
Mein Vater hatte eine große Ausstrahlung.<br />
Jeder, der mit ihm zu tun hatte, spürte seine<br />
Güte. Man ging von dannen und fühlte sich<br />
geborgen.“<br />
Otto <strong>Christoffel</strong>
„ In der Geschichte<br />
unserer Mission<br />
beginnt ein neues<br />
Kapitel. Noch sind<br />
es unbeschriebene<br />
Blätter. Den<br />
Inhalt wird der<br />
Herr diktieren.<br />
Was auf die leeren<br />
Blätter geschrieben<br />
werden wird,<br />
hängt davon ab,<br />
wie weit wir des<br />
Herren Absicht<br />
verstehen und<br />
“<br />
auf sie eingehen.<br />
Diese Worte <strong>Christoffel</strong>s am Ende<br />
seines Lebens tragen prophetischen<br />
Charakter. <strong>Christoffel</strong> hat seine<br />
Gaben in den Dienst der Mission<br />
gestellt, sein Leben gleichsam zur<br />
gelebten Predigt gemacht. Seine<br />
Grenzen er kennend legte er die<br />
Zukunft seines Werkes voller Hoffnung<br />
in Gottes Hand.<br />
Und es gab eine Zukunft:<br />
Die Christliche <strong>Blindenmission</strong> im<br />
Orient lebt als <strong>Christoffel</strong>-Blinden -<br />
mission (CBM) weiter.<br />
<strong>Christoffel</strong>, der auszog, um blinden<br />
Menschen im Orient zu helfen,<br />
erkannte bald, dass er seine Hilfe<br />
ausdehnen musste. Er bot in seinen<br />
Blindenheimen körperbehinderten<br />
und hörgeschädigten Menschen<br />
sowie Waisenkindern eine Heimat.<br />
Heute ist das Konzept der „ge -<br />
mein denahen Rehabilitation“ der<br />
geeignete Weg, um Menschen mit<br />
Behinderungen integriert in ihren<br />
Familien zu helfen, damit sie in ihrem<br />
Umfeld als vollwertige Mit glieder der<br />
menschlichen Gesellschaft anerkannt<br />
werden.<br />
52<br />
Der Weg führt weiter<br />
Um helfen zu können, musste sich<br />
<strong>Christoffel</strong> viele Fähigkeiten und<br />
Techniken selbst beibringen. Er erfand<br />
die persische Blindenschrift und entwickelte<br />
auto didaktisch Formen der<br />
Gehörlosen arbeit. Basierend auf seiner<br />
Erkenntnis, dass nur kompetentes<br />
Wissen wirklich helfen kann,<br />
entwickelte sich die CBM zur<br />
Fachorganisation, die 1989 von der<br />
Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />
offiziell anerkannt wurde.<br />
<strong>Christoffel</strong> litt darunter, dass<br />
sich mehr und mehr Menschen mit<br />
Augenkrankheiten an ihn wandten<br />
und er ihnen keine medizinische<br />
Versorgung bieten konnte. Die<br />
<strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> nahm<br />
diese Herausforderung an. In den<br />
Sechzigerjahren erweiterte sie ihr<br />
Mandat und entwickelte sich zur<br />
führenden Fachorganisation auf dem<br />
Gebiet der Verhütung und Heilung<br />
von Blindheit in Entwicklungsländern.<br />
<strong>Christoffel</strong> ließ Freunde und Förderer<br />
in Briefen an seinen Erfolgen<br />
und Rückschlägen teilhaben. Ein starker<br />
Rückhalt ist nötig, um seine Arbeit<br />
kontinuierlich fortsetzen zu können.
So war es notwendig, das Anliegen<br />
der <strong>Blindenmission</strong> immer weiteren<br />
Kreisen nahezubringen. Sowohl<br />
moderne Methoden der Öffentlichkeitsarbeit<br />
als auch eine Ausweitung<br />
auf andere Länder durch die Gründung<br />
weiterer inter nationaler CBM-<br />
Vereine konnten die Zahl der Förderer<br />
vergrößern.<br />
Dies ermöglichte eine Ausweitung<br />
der Arbeit in Afrika, Asien und Latein -<br />
amerika. Das Prinzip der ökumenischen<br />
Partnerschaft mit anderen<br />
Organisationen, Kirchen und Werken<br />
bestimmt die Projektförderung. Ein<br />
Netz von Fachberatern und Experten<br />
vor Ort sichert die Qualität der Arbeit<br />
und den verantwortungsvollen Umgang<br />
mit den der CBM anvertrauten<br />
Geldern. Seit 1993 führt die CBM das<br />
Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts<br />
für Soziale Fragen (DZI),<br />
das für die nachgeprüfte, sparsame<br />
und satzungsgemäße Verwendung<br />
der Spendengelder steht.<br />
Kontinuität und Innovation prägten<br />
das Leben und Wirken <strong>Christoffel</strong>s.<br />
Dieses Erbe verpflichtet auch die<br />
heutige CBM.<br />
Seit dem Jahr 2000 ist „VISION 2020“<br />
das Leitmotiv der Blindheitsverhütung<br />
weltweit. Die Initiative, die die CBM<br />
zusammen mit der WHO verfolgt,<br />
hat das Ziel, bis zum Jahr 2020 jegliche<br />
vermeidbare Blindheit zu überwinden.<br />
Nach zehn Jahren erreichte<br />
„VISION 2020“ 2010 die Halbzeit<br />
mit einer guten Nachricht: Die<br />
Verbreitung von Blindheit und<br />
Sehbehinderungen sank um<br />
dreizehn Prozent von 45 Millionen<br />
im Jahr 2004 auf rund 39 Millionen<br />
im Jahr 2010 – statt, wie erwartet,<br />
um zehn Prozent zu steigen.<br />
Doch trotz dieses positiven Trends<br />
bleibt deutlich: Es gibt noch immer<br />
viel zu tun! Mögen hoffentlich auch<br />
die nächsten 100 Jahre CBM-Arbeit<br />
weiterhin so gute Früchte tragen –<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong> wäre sicher<br />
erfreut über die erfolgreiche Fortführung<br />
seines Vermächtnisses!<br />
53<br />
Foto: CBM
Zeittafel<br />
1870/71 Deutsch-Französischer<br />
Krieg<br />
1871 Gründung des deutschen<br />
Kaiserreichs und<br />
Pro klamation Wilhelm I.<br />
zum deutschen Kaiser<br />
1882 Gründung des<br />
Kolonialvereins<br />
1903 Bau der Bagdadbahn<br />
1905 Mustafa Kemal (später<br />
Kemal Atatürk) gründet<br />
den Geheimbund,<br />
aus dem später die<br />
Jungtürkische Partei<br />
hervorgeht<br />
1908 Jungtürkische Revolution<br />
zur Umwandlung des<br />
Osmanischen Reichs in<br />
einen Ver fassungsstaat<br />
1914 Ausbruch des<br />
Ersten Weltkriegs;<br />
Deutsch-türkisches<br />
Defensivbündnis<br />
1915 Pogrome an Armeniern<br />
in der Türkei<br />
1917 Oktoberrevolution<br />
in Russland<br />
1919 Unterzeichnung des<br />
Vertrags von Versailles<br />
1920/21 Wieder Verfolgung<br />
der Armenier durch die<br />
Türken<br />
1922 Abschaffung des<br />
Sultanats in der Türkei<br />
1923 Mustafa Kemal (ab 1934<br />
Kemal Atatürk) wird<br />
Präsident der tür kischen<br />
Republik<br />
1925 Reza Pahlavi wird Schah<br />
von Persien<br />
1933 Machtübernahme Hitlers<br />
1935 Nürnberger Gesetze<br />
1939 Ausbruch des<br />
Zweiten Weltkriegs<br />
1941 Deutscher Überfall<br />
auf die UdSSR;<br />
Britische Truppen<br />
besetzen Syrien, den<br />
Libanon und Persien<br />
(seit Dezember 1934 Iran)<br />
54<br />
1944 Attentat auf Hitler<br />
1945 Bedingungslose<br />
Kapitulation der<br />
deutschen Wehrmacht;<br />
Gründung der UN<br />
1946 Sowjetische Truppen<br />
räumen den Iran<br />
1948 Internationaler<br />
Zusammenschluss der<br />
christlichen Kirchen<br />
zum Ökumenischen Rat;<br />
Währungsreform in den<br />
Westzonen<br />
1949 Verkündung des<br />
Grundgesetzes der BRD<br />
1950 Beginn des Koreakriegs<br />
1953 Tod Stalins<br />
1954 Pariser Verträge<br />
1955 Warschauer Pakt
Die <strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> (CBM) nach dem Tod Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>s<br />
1956 Die „Christliche <strong>Blindenmission</strong> im Orient“<br />
benennt sich zu Ehren ihres Gründers in<br />
„<strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong>“ (CBM) um.<br />
1961 Der Bau der Mauer teilt die CBM in einen<br />
westdeutschen (Bad Sachsa) und einen ostdeutschen<br />
Zweig (Potsdam).<br />
Siegfried und Magdalena Wiesinger über -<br />
nehmen die Leitung der westdeutschen<br />
CBM und machen sie zu einer der größten<br />
Hilfsorganisationen Deutschlands.<br />
1966 wird die weltweit erste Katarakt-Operation<br />
der CBM in Kabul /Afghanistan vorgenommen.<br />
1968 Bensheim / Südhessen wird zum Sitz der westdeutschen<br />
CBM.<br />
1974 Der augenoptische Dienst an CBM-geförderten<br />
Augenkrankenhäusern wird aufgebaut.<br />
1975 Die Freunde der CBM in den USA gründen<br />
einen eigenständigen Verein. Weitere<br />
Vereine folgen.<br />
1979 Ayatolla Khomeini proklamiert im Iran die<br />
„Islamische Republik“. Die Blindenarbeit wird<br />
von einem „Revolutionskomitee“ übernommen.<br />
Die CBM kann offiziell nicht mehr helfen.<br />
1986 Gemeindenahe Rehabilitation – ein neues<br />
Konzept setzt sich durch.<br />
Die 1-millionste Star-Operation wird<br />
ermöglicht.<br />
1989 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />
er kennt die CBM als Fachorganisation für die<br />
Verhütung und Heilung von Blindheit an.<br />
1991 Nach der Deutschen Wiedervereinigung<br />
schließen sich die CBM-Freundeskreise in<br />
Deutschland Ost und West zusammen.<br />
55<br />
1993 Fortan erhält die CBM jährlich das Spendensiegel<br />
des Deutschen Zentralinstituts für Soziale<br />
Fragen (DZI), das eine ordnungsgemäße und<br />
transparente Spendenverwendung zertifiziert.<br />
1995 Der Dachverband für alle CBM-Vereine weltweit<br />
(Christliche <strong>Blindenmission</strong> International)<br />
nimmt in Zürich seine Arbeit auf.<br />
1999 rufen CBM und andere Organisationen „VISION<br />
2020 – Das Recht auf Augenlicht“ aus: eine<br />
weltweite Kampagne zur Verhütung vermeidbarer<br />
Blindheit bis zum Jahr 2020.<br />
2002 Die Überseearbeit aller CBM-Mitgliedsvereine<br />
wird in einem eigenen Verein gebündelt.<br />
2007 startet mit Eva Luise Köhler als Schirmherrin die<br />
Jubiläumskampagne „100 Jahre CBM“.<br />
2008 Die <strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> feiert am<br />
27. November ihren 100. Gründungstag.<br />
2010 wird die zehnmillionste Katarakt-Operation der<br />
CBM in Tansania ausgeführt.<br />
„Eine Milliarde Menschen weltweit sind behindert“,<br />
ergibt der erste Weltbehindertenreport,<br />
der von Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />
und Weltbank erstellt wurde.<br />
Die CBM fördert derzeit 749 Projekte in 81 Ländern.<br />
Neben der CBM in Deutschland gibt es zehn weitere<br />
Mitgliedsvereine: Australien, Großbritannien, Irland,<br />
Italien, Kanada, Kenia, Neuseeland, Schweiz, Südafrika<br />
und USA.
Quellen<br />
Sabine Thüne<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong><br />
Ein Leben im Dienst Jesu<br />
Nürnberg 2007<br />
Anna Carolina Hirzel-Strasky<br />
„Menschliche Werkzeuge göttlicher Erziehung“:<br />
Die Evangelische Predigerschule in Basel (1876-1915)<br />
und ihre Schüler.<br />
Dissertation an der Historisch-Philosophischen Fakultät<br />
der Universität Basel, Sommer 1999<br />
Johanna Harms<br />
Im finstern Tal<br />
Erinnerungen aus dem Lagerleben in Russland<br />
Hermannsburg 1982<br />
<strong>Christoffel</strong>. Aus der Werkstatt eines Missionars<br />
Herausgegeben von der <strong>Christoffel</strong>-<strong>Blindenmission</strong> im Orient 1971<br />
Fritz Schmidt-König<br />
Ernst J. <strong>Christoffel</strong><br />
Vater der Blinden im Orient<br />
Gießen, Basel 1969<br />
Hans Hermann Lörner<br />
Vom Werden einer Mission<br />
Bad Sachsa 1960<br />
Bericht der Christlichen <strong>Blindenmission</strong> im Orient<br />
Mai-Juli 1955<br />
Niklaus Bolt<br />
Wege und Begegnungen<br />
Stuttgart 1951<br />
Briefe an den Freundeskreis und Vorträge<br />
Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>s 1946 bis 1951<br />
Ernst J. <strong>Christoffel</strong><br />
Zwischen Saat und Ernte<br />
Aus der Arbeit der Christlichen <strong>Blindenmission</strong> im Orient<br />
Berlin 1933<br />
56<br />
Ernst J. <strong>Christoffel</strong><br />
Aus dunklen Tiefen<br />
Erlebnisse eines deutschen Missionars in<br />
Türkisch-Kurdistan während der Kriegsjahre 1916-1918<br />
Erich Kästner<br />
Lärm im Spiegel<br />
Mit freundlicher Genehmigung des Atrium Verlages,<br />
Zürich, und Thomas Kästners<br />
Briefe Ernst Jakob <strong>Christoffel</strong>s an Familienangehörige<br />
und an Otto <strong>Christoffel</strong><br />
„Der kleine Orientfreund“ und „Tor im Osten“<br />
dtv-Atlas Weltgeschichte Band 2<br />
Alle Zitate <strong>Christoffel</strong>s sind den hier aufgeführten<br />
Quellen entnommen.<br />
Den Ausführungen zu Otto <strong>Christoffel</strong> und Charlotte Rahn<br />
liegen persönliche Gespräche zugrunde.<br />
Wer sich über die Armenierverfolgung näher informieren<br />
möchte, dem empfehlen wir folgende Literatur:<br />
Hans-Lukas Kieser<br />
Der verpasste Friede<br />
Zürich 2000<br />
Tessa Hofmann (Hg.)<br />
Armenier und Armenien – Heimat und Exil<br />
Hamburg 1994<br />
Wolfgang Gust<br />
Der Völkermord an den Armeniern<br />
München 1993<br />
Lois Fisher-Ruge<br />
Meine armenischen Kinder<br />
Hamburg 1989
ISBN 3-00-005547-9