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Die hohe Kunst <strong>de</strong>s Helfens<br />
GEO, April 2002, S.126-154<br />
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fitieren. Bei kaum einer an<strong>de</strong>ren Therapieform wur<strong>de</strong> ein Erfolg so<br />
<strong>de</strong>utlich nachgewiesen.<br />
Sie beruht in großem Maße auf <strong>de</strong>n Forschungen eines Mannes:<br />
Gerald Patterso n Der 75-Jährige arbeitet wie Marion Forgach am O-<br />
regon Social Learning Center und ist einer <strong>de</strong>r meistzitierten Erziehungsforscher.<br />
Die Frage, mit <strong>de</strong>r er sich seit Jahrzehnten beschäftigt:<br />
Was genau läuft in Familien ab, <strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r verhaltensauffällig<br />
sind? Dar<strong>aus</strong> konnte er praktische Erziehungstipps für Eltern <strong>de</strong>stillieren.<br />
Bild: Die Clique zu H<strong>aus</strong>e - Ohren zu bei Mutters Ansprache<br />
445 Beim Umgang mit ihrer Tochter haben sich die Königs für große<br />
Offenheit entschie<strong>de</strong>n: „Ich lasse Elisa lieber daheim ihre Freiheiten,<br />
bevor sie sich die woan<strong>de</strong>rs nimmt. und ich sie nicht mehr kontrollieren<br />
kann“, sagt die Mutter. Die Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Tochter sind im H<strong>aus</strong><br />
willkommen, sie darf bis 23.30 Uhr mit ihrer Clique unterwegs sein<br />
450 -auch wenn sie die Ermahnungen, ja die Zeit einzuhalten, nicht mehr<br />
hören will<br />
Vor etwa 4o Jahren hat er begonnen, mit "schwierigen-, kriminellen<br />
jungen zu arbeiten, Er stellte rasch fest, dass die Jugendlichen<br />
vor allem ein Problem hatten: Sie hatten offenbar grundlegen<strong>de</strong> soziale<br />
Verhaltensweisen niemals erlernt. Aus <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>n rich-<br />
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tigen Erziehungsprinzipien wur<strong>de</strong> so die konkrete Frage: Wie lernen<br />
Kin<strong>de</strong>r, wie lehren Eltern?<br />
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Minutiöse Beobachtungen in dysfunktionalen Familien brachten<br />
die Antwort: Eltern von auffälligen Kin<strong>de</strong>rn sind ineffektiv, weil sie ungewollt<br />
genau das Verhalten för<strong>de</strong>rn, das sie eigentlich zu verhin<strong>de</strong>rn<br />
suchen. Sie geben falsche Verhaltensanreize und unterwan<strong>de</strong>rn ihre<br />
eigenen guten Absichten. Sie wissen im wahrsten Sinne nicht, was<br />
sie tun und was sie beim Kind bewirken.<br />
Der Hauptfehler: Statt erwünschtes Kin<strong>de</strong>rverhalten zu för<strong>de</strong>rn,<br />
bemühen sie sich, unerwünschtes <strong>aus</strong>zutreiben - durch Drohungen,<br />
durch Schimpfen, Schreien, Schlagen. Das kann nicht funktionieren,<br />
weil Kin<strong>de</strong>r, weil Menschen so nicht lernen Familien verstricken sich<br />
dabei in "coercion", in Zwangsverhalten: ihre Mitglie<strong>de</strong>r versuchen<br />
einan<strong>de</strong>r nicht durch Belohung und Aufmerksamkeit zu beeinflussen,<br />
son<strong>de</strong>rn durch Bestrafung und Demütigung. Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n so regelrecht<br />
auf Aggression trainiert.<br />
Die unheilvolle Dynamik beginnt mit unverdächtigen Momenten,<br />
mit banalen Situationen. Das Kind wünscht einen Keks. Die Mutter<br />
sagt "nein". Das Kind quengelt, die Mutter ignoriert es. Das Kind beginnt<br />
zu weinen. dann zu brüllen. Die Mutter bleibt hart. Das Kind wirft<br />
sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und steigert sich in einen Wutanfall. Da gibt die<br />
Mutter nach und reicht <strong>de</strong>n Keks, damit endlich dieses ewige Geschrei<br />
aufhört". Sie hat durch ihr Verhalten die Aggression <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />
zugleich angeheizt und belohnt. Das Kind lernt: ich muss nur meine<br />
Aggression eskalieren, um zu bekommen, was ich will.<br />
Zwei stun<strong>de</strong>n später. Das Kind weigert sich, sein Zimmer aufzuräumen.<br />
Erst predigt die Mutter, dann droht sie: "ich zähle bis drei,<br />
und dann ... !" Voller Wut macht sich das Kind an die Arbeit. Diesmal<br />
wird die Mutter für die Eskalation belohnt. Und das Kind lernt: Erst<br />
wenn die Mutter brüllt, meint sie es ernst.<br />
Solche Szenen spielen sich in allen Familien ab, und das ist nicht<br />
weiter dramatisch, solange sie rar bleiben. Erst wenn sie sich ständig<br />
wie<strong>de</strong>rholen. wird <strong>aus</strong> ihnen ein Strukturmuster, wird <strong>de</strong>r Zwang zum<br />
Prinzip.<br />
Fatal am gegenseitigen Zwang ist: Er funktioniert! Das Kind räumt<br />
auf. Die Mutter reicht <strong>de</strong>n Keks, Zwang ist erfolgreich, Aggression<br />
zahlt sich <strong>aus</strong>! Das macht sie für Eltern und Kin<strong>de</strong>r gleichermaßen so<br />
verführerisch, je<strong>de</strong>r profitiert davon. Kurzfristig.<br />
Bild: Morgendlicher Trubel - Frühstücksszene<br />
495 Isabelle und Joshua. 8, zu versorgen - <strong>de</strong>r FamilienalItag macht<br />
niemals P<strong>aus</strong>e: „Irgen<strong>de</strong>iner hat immer schlechte Laune, aber ich versuche,<br />
das zu ertragen. Schließlich müssen die Kin<strong>de</strong>r auch meine<br />
Stimmungen <strong>aus</strong>halten.“<br />
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Dass Aggression für Kin<strong>de</strong>r tatsächlich zum Erfolg führt, wies Patterson<br />
anhand von Interaktions-Analysen nach. Er wertete <strong>aus</strong>, wie<br />
oft Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern davon abbringen, sie weiter mit einem Anliegen<br />
zu „behelligen". In kooperativen Familien erreichen sie es in rund 90<br />
Prozent <strong>de</strong>r Fälle - durch Gehorsam: Sie erledigen, was ihnen aufgetragen<br />
wird. In Zwangs-Familien erzielen Kin<strong>de</strong>r die gleiche Quote -<br />
aber durch Wutanfälle, Trotzattacken, zuweilen durch Zurückschlagen:<br />
Sie schaffen es, ihre Eltern zur Aufgabe zu zwingen. "je<strong>de</strong>s Mal,<br />
wenn ich mit ihm streite, weiß mein Sohn, dass er gewonnen hat, sagt<br />
ein frustrierter Vater.<br />
geo.doc Seite 4 von 7<br />
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Gehorsam und Aggression sind gleichsam alternative Strategien<br />
von Kin<strong>de</strong>rn. Aufweiche die Kleinen - unbewusst -zurückgreifen,<br />
hängt entschei<strong>de</strong>nd vom Verhalten <strong>de</strong>r Eltern ab. für Patterson ist<br />
mangeln<strong>de</strong> Folgsamkeit <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Indikator dafür, ob in Familien<br />
etwas schief läuft. "Gehorsam ist die Kernfähigkeit, die ein Kind<br />
erlernen muss, Folgt ein Zweijähriger nicht, hat das dramatische<br />
Auswirkungen: Er wird notwendiges Sozialverhalten erst sehr viel<br />
später erlernen." Arretierte Entwicklung heißt dieses Phänomen, das<br />
vor allem Schulen belastet: Siebenjährige, die sich wie Kleinkin<strong>de</strong>r<br />
benehmen,<br />
Beobachtungen in zwölf Kulturen, von Kenya über Japan bis zu<br />
<strong>de</strong>n USA, ergaben, dass Mütter und Väter überall auf einem ähnlich<br />
hohen Maß an Folgsamkeit bestehen: je nach Alter müssen Kin<strong>de</strong>r7o<br />
bis 85 Prozent <strong>de</strong>r elterlichen Anweisungen nachkommen. Auch eine<br />
neue Umfrage im Auftrag von GEO bestätigt dieses Bild.<br />
ZWANGSPROZESSE ABER sabotieren <strong>de</strong>n Gehorsam. Denn<br />
Coercion funktioniert nur vorübergehend. Langfristig wirkt sie verheerend.<br />
Stetig mehr Aggression ist nötig, um sich durchzusetzen, die<br />
Familien tappen in die Eskalationsfalle. In manchen H<strong>aus</strong>halten<br />
kommt es alle fünf Minuten zum Streit, in Extremfällen sogar je<strong>de</strong> Minute.<br />
Kin<strong>de</strong>r, die in solchen Verhältnissen groß wer<strong>de</strong>n, haben buchstäblich<br />
Zehnt<strong>aus</strong>en<strong>de</strong> von Nahkämpfen hinter sich, bevor sie in <strong>de</strong>n<br />
Kin<strong>de</strong>rgarten o<strong>de</strong>r die Schule kommen - Veteranen <strong>de</strong>r Familienfront.<br />
Vor allem aber üben diese Kin<strong>de</strong>r ein Verhalten ein, das außerhalb<br />
<strong>de</strong>r Familie nicht toleriert wird, son<strong>de</strong>rn als das gilt, was es ist: als a-<br />
sozial.<br />
Es führen viele Wege in die Coercion. Sogar falsch eingesetztes<br />
Lob und wahllose Liebe können kindliches Zwangsverhalten för<strong>de</strong>rn.<br />
Die Forscher fan<strong>de</strong>n vielerlei Abstufungen <strong>de</strong>r Fehlverstärkung und<br />
stellten ein kleines Kompendium elterlicher Zwangtypen zusammen.<br />
Da sind die „überschwänglichen Lober". Susanne K. gehört zu<br />
diesem Typus. Ihr dreijähriger Sohn Moritz hat seiner Schwester ein<br />
Kuchenstück geklaut. Die Mutter fährt dazwischen, will ihm das Stuck<br />
entwin<strong>de</strong>n; dann hat sie Be<strong>de</strong>nken, zu autoritär zu wirken, und lobt<br />
ihn rasch dafür, dass er <strong>de</strong>n Kuchen so geschickt geklaut hat, dass<br />
dieser nicht einmal heruntergefallen ist. Moritz beißt herzhaft zu, er<br />
hat gelernt: Er muss nur raffiniert genug sein, dann kommt er mit vielem<br />
durch.<br />
Da sind die "gleichgültig Lieben<strong>de</strong>n". Sie umarmen ihr Kind, sie<br />
streicheln es, sie lieben es über alles - auch wenn es sich völlig<br />
daneben benimmt. Solche Eltern sind beson<strong>de</strong>rs überrascht, wenn ihr<br />
Kind <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Ru<strong>de</strong>r läuft; doch die Schwelle für Aufsässigkeit liegt<br />
sogar beson<strong>de</strong>rs niedrig, weil die Eltern kaum Grenzen setzen: "Das<br />
Problem dabei ist nicht ein Übermaß an Liebe", kommentiert Gerald<br />
Patterson, "son<strong>de</strong>rn die Verstärkung für unrichtiges Verhalten."<br />
Da sind die "Sphinx-Eltern". Aus Angst, ihr Kind zu verzärteln, loben<br />
o<strong>de</strong>r belohnen sie es so selten wie möglich. Gisela M. hat in einem<br />
Vertrag, <strong>de</strong>tailliert festgelegt, welche Aufgaben ihr "schwieriger"<br />
zehnjähriger Sohn im H<strong>aus</strong>halt erledigen muss. Erfüllt er alle Pflichten,<br />
verkneift sie sich je<strong>de</strong> Anerkennung, <strong>de</strong>nn: "Regeln sind dazu da,<br />
eingehalten zu wer<strong>de</strong>n, dafür darf es keine Belohnung geben." Sie<br />
missachtet das oberste Gebot <strong>de</strong>r Lerntheorie: Man lernt vor allem<br />
durch Belohnung, durch positive Verstärkung.<br />
Da sind die För<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>r Hilflosigkeit, Sie treten oft im Team auf.<br />
Eva Kleine* macht alles für ihren siebenjährigen Sohn Luka. Er kann<br />
sich ohne ihre Hilfe morgens nicht anziehen - Luka hat sie durch etliche<br />
Wutanfälle erzogen, ihm alles abzunehmen. Die Mutter wie<strong>de</strong>rum<br />
hat ihn durch ihr Entgegenkommen auf Hilflosigkeit trainiert. Der Vater<br />
rastet regelmäßig <strong>aus</strong>, wenn er seinen hilflosen Sohn sieht, nennt ihn<br />
einen ,Versager" - allmorgendlich liegt <strong>de</strong>r Familienfrie<strong>de</strong>n in Scherben.<br />
570 Bild: Vater und Sohn putzen das Motorrad<br />
Während Isabelle das Faschingskostüm vorführt, machen Joshua<br />
und Vater Daniel Kiefer, 34, ihr „Männerding“: Motorrad putzen. reparieren,<br />
fahren Momente <strong>de</strong>r Innigkeit zwischen Sohn und Vater , <strong>de</strong>r<br />
als Gastronom selten zu H<strong>aus</strong>e ist.<br />
575 Schließlich sind da noch die „eisernen Bestrafer". Sie glauben,<br />
Kin<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong>n nur durch Bestrafen lernen, manchmal auch nur durch<br />
Schmerz Diese Taktik aber hat einen hohen Preis: Wer straft, wird<br />
selber bestraft. Auszählungen von Familienkonflikten ergaben, dass<br />
Kin<strong>de</strong>r auf jene Elternteile, die am häufigsten strafen, am häufigsten