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Die hohe Kunst <strong>de</strong>s Helfens<br />
GEO, April 2002, S.126-154<br />
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Es gibt Hinweise - aber keine gesicherten Daten -, dass unter<br />
<strong>de</strong>utschen Dächern <strong>de</strong>r permissive Stil beson<strong>de</strong>rs populär ist. Eltern<br />
räumen hierzulan<strong>de</strong> ihren Kin<strong>de</strong>r erhebliche Freiheiten ein und<br />
scheuen sich, klare Grenzen zu ziehen, In <strong>de</strong>r <strong>Geo</strong>-Umfrage sprach<br />
sich rund die Hälfte <strong>de</strong>r Eltern gegen eine autoritäre Erziehung <strong>aus</strong>,<br />
zugleich for<strong>de</strong>rte fast zwei Drittel, Kin<strong>de</strong>r allgemein in Deutschland<br />
strenger anzufassen. Ein Wi<strong>de</strong>rspruch, <strong>de</strong>r auch die öffentliche Debatte<br />
prägt.<br />
Auch unter Lehrern ist das Laissez-faire verbreitet. Bei einer <strong>de</strong>taillierten<br />
Befragung wusste knapp die Hälfte <strong>de</strong>r Pädagogen nicht,<br />
wie sie regieren sollte, wenn etwa ein Mädchen ein an<strong>de</strong>res auf <strong>de</strong>m<br />
Schulhof boxt. Die meisten entschie<strong>de</strong>n sich fürs Räsonieren, also für<br />
langwierige Erklärungen gepaart mit vagen An<strong>de</strong>utungen möglicher<br />
Strafen. Das sind die mo<strong>de</strong>rnen Erziehungsprobleme: Unsicherheit,<br />
Hilflosigkeit. Auf <strong>de</strong>n Schulhöfen und in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rzimmern.<br />
WOMIT HABEN SIE BEI DER ERZIEHUNG DIE MEISTEN<br />
740 SCHWIERIGKEITEN?<br />
• 31% konsequent zu bleiben<br />
• 15% für mich selber Freiräume zu schaffen<br />
• 13% <strong>de</strong>m Kind Grenzen zu setzen<br />
• 9% auch mal hart durchzugreifen<br />
745 • 8% Gehorsam zu erzielen<br />
• 4% <strong>de</strong>m Kind Freiräume zu geben<br />
• 3% <strong>de</strong>m Kind aufmerksam zuzuhören<br />
• 1% das Kind zu belohnen<br />
• 13% mit nichts davon<br />
750 Die autoritative Balance wäre die Antwort darauf, sie ist <strong>de</strong>r Königsweg<br />
<strong>de</strong>r Erziehung - darin sind sich Experten einig. Auch Tripie-P<br />
hat sich diesem Ziel verschrieben, die acht Hamburger Eltern streben<br />
ihn an.<br />
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Die "Prinzipien <strong>de</strong>s Positive Parenting Program sind so einfach,<br />
dass sie je<strong>de</strong>r Fünfjährige verstehen kann", sagt Professor Kurt Hahlwe<br />
von <strong>de</strong>r TU Braunschweig, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Initiator <strong>de</strong>s Programms.<br />
Was beabsichtigt ist: Schließlich sind Kin<strong>de</strong>r auch die Zielgruppe <strong>de</strong>r<br />
Eltern.<br />
Der erste Schritt je<strong>de</strong>r Erziehungs-Verän<strong>de</strong>rung lautet: beobachten<br />
und zählen. Ganz konkret. Was tut mein Kind tatsächlich, welches<br />
(un-)erwünschte Verhalten legt es an <strong>de</strong>n Tag - und wie oft? Gera<strong>de</strong><br />
in Familien bleibt vieles schwammig: „lrgendwie ärgert die mich nur,<br />
irgendwie streitet <strong>de</strong>r immer."<br />
Beobachten und zählen ist ein Wirklichkeitstest, <strong>de</strong>r Eltern zu erfassen<br />
zwingt, was ihr Kind tatsächlich tut. Der Aha-Effekt, <strong>de</strong>r dabei<br />
üblicherweise eintritt, verrät, wie sehr ein ungeprüfter Eindruck täuschen<br />
kann.<br />
Zu<strong>de</strong>m gehört zum Beobachten auch die Selbstbeobachtung. "ich<br />
habe mich durch die Übung gefragt: Was ist eigentlich meine Beziehung<br />
zu meinem Kind?", erzählt eine Mutter. "Und festgestellt, dass<br />
es viel mehr schöne Momente zwischen uns gibt, als ich gedacht hatte."<br />
Der zweite Schritt ist stets: Verhalten benennen, das die Kin<strong>de</strong>r<br />
verän<strong>de</strong>rn sollen. Familienregeln aufstellen. Und wie<strong>de</strong>r: ganz konkret.<br />
Nicht: Paul soll sich anständig benehmen. Son<strong>de</strong>rn: Er soll aufhören,<br />
seine Schwester zu kneifen. Schon bei diesem Schritt verdampfen<br />
viele Probleme, entschärft sich die Konfliktfront. 111 das<br />
Verhalten wirklich so schlimm, dass ich es än<strong>de</strong>rn möchte; und mit<br />
welcher Begründung?<br />
Der Verän<strong>de</strong>rung dienen viele Strategien, vom "beiläufigen Lernen"<br />
bis zur "Fragen-Sagen-Tun-Metho<strong>de</strong>". Aber es gehört dazu beispielsweise<br />
auch eine effektive Art, Kin<strong>de</strong>r anzusprechen. Das geht<br />
so: auf Augenhöhe mit <strong>de</strong>m Kind, wofür man sich hinknien sollte; im<br />
Abstand von etwa einer Armeslänge, weil Kin<strong>de</strong>r sich sonst nicht angesprochen<br />
fühlen; in klaren Worten und ganz ruhig.<br />
Eltern, die diese scheinbar banale Technik zum erstenmal <strong>aus</strong>probieren,<br />
nach<strong>de</strong>m sie sonst ihre Wünsche im Vorbeigehen irgendwie<br />
Richtung Kind adressiert hatten, berichten von regelrechten Erweckungserlebnissen.<br />
Eine Mutter schwärmt: "Es funktioniert sensationell,<br />
855 Auch wenn Mutter und Vater nicht gemeinsam für Konse-<br />
Und es ist so einfach. Warum bin ich nicht selbst darauf ge-<br />
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quenz einstehen. können Verhaltensprobleme auftreten.<br />
kommen?"<br />
geo.doc Seite 6 von 7<br />
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Viele Empfehlungen in Elternkursen wirken irritierend simpel. Das<br />
ist gewollt. je einfacher, <strong>de</strong>sto leichter lassen sie sich umsetzen. Viele<br />
Eltern wun<strong>de</strong>rn sich, wo eigentlich das Problem liege, wenn Erziehung<br />
sich auf so einfache Prinzipien reduzieren lässt.<br />
Die Antwort: in <strong>de</strong>r Praxis: „Die neuen Erkenntnisse immer wie<strong>de</strong>r<br />
umzusetzen, und zwar täglich in vielen unterschiedlichen Situationen,<br />
ohne in alte Routinen zurückzufallen - das ist das Schwierigste", sagt<br />
die Hamburger Triple-P-Trainerin Gabriele Steentjes.<br />
Der dritte Schritt: das Kind loben, belohnen. Gewünschtes Verhalten<br />
för<strong>de</strong>rn, nicht überschwänglich, aber konsequent. Das ist erstaunlich<br />
schwer, hat Kurt Hahlweg beobachtet: "Es ist überraschend, wie<br />
selten Eltern mit positiver Bestärkung arbeiten." Dabei gilt das gleichsam<br />
als erzieherisches Zaubermittel. Dass in <strong>de</strong>r <strong>Geo</strong>-Umfrage nur<br />
rund ein Prozent <strong>de</strong>r Eltern angibt, ihnen falle das Loben schwer, wi<strong>de</strong>rspricht<br />
diesem Befund nicht: Die meisten haben kein Problem mit<br />
Belohnung. aber sie setzen sie selten bewusst ein und meist nur bei<br />
beson<strong>de</strong>ren Anlässen.<br />
DIE HÄUFIGSTEN ERZIEHUNGSFEHLER<br />
810 UNGEWOLLTE BELOHNUNG: Wenn Eltern einem Kind Spielzeug<br />
o<strong>de</strong>r Süßigkeiten geben, um es von einem Fehlverhalten<br />
abzubringen, wird <strong>de</strong>ssen Verhalten vielmehr belohnt - und<br />
tritt wahrscheinlich häufiger auf. Auch Schimpfen o<strong>de</strong>r Langes<br />
Diskutieren schenken Aufmerksamkeit und verstärken e-<br />
815 her das Verhaften, das verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll.<br />
ESKALATIONSFALLEN: Kin<strong>de</strong>r lernen schnell, dass ihnen<br />
durch Steigerung eines Verhaltens ein Wunsch eher erfüllt<br />
wird. Der Sohn for<strong>de</strong>rt kurz vor <strong>de</strong>m Mittagessen immer lauter<br />
Süßigkeiten; gibt die Mutter irgendwann nach, wird das<br />
820 Kind für die Eskalation seiner Ansprüche belohnt. Ähnlich<br />
falsch wäre es, wenn Eltern sich angewöhnen. immer aggressiver<br />
zu wer<strong>de</strong>n, um ihr Kind zu einem bestimmten Verhalten<br />
zu bewegen.<br />
IGNORIEREN VON ERWÜNSCHTEM VERHALTEN: Einige Kin<strong>de</strong>r<br />
825 haben wenig o<strong>de</strong>r gar nichts davon, wenn sie sich gut benehmen.<br />
Im Gegenteil: Angemessenes Verhalten fin<strong>de</strong>t meist viel<br />
weniger Beachtung als schlechtes. Wenn Kin<strong>de</strong>r bei gutem Betragen<br />
ignoriert wer<strong>de</strong>n, lernen sie, dass sie nur durch Krawall<br />
auf sich aufmerksam machen können,<br />
830 INEFFEKTIVER UMGANG MIT ANWEISUNGEN: Ob Kin<strong>de</strong>r eine<br />
Anweisung befolgen, hängt stark davon ab, wie Eltern sie geben.<br />
Die häufigsten Probleme dabei:<br />
• zu viele Anweisungen auf einmal, sodass Kin<strong>de</strong>r das Gefühl<br />
bekommen, es ihren Eltern überhaupt nicht recht machen<br />
835 zu können.<br />
• Überfor<strong>de</strong>rung. Ein dreijähriges Kind. das sein Zimmer allein<br />
aufräumen soll, ist schlicht zu jung für die Aufgabe,<br />
• Anweisungen zur falschen Zeit. Das Kind sieht sich einen<br />
Film an, die Mutter ruft ihm im Vorbeigehen einen Auftrag<br />
840 zu so wird Streit programmiert, weil das Kind die Auffor<strong>de</strong>rung<br />
wahrscheinlich nicht einmal gehört hat.<br />
• Ungenaue Anweisungen. Kin<strong>de</strong>r sind nicht in <strong>de</strong>r Lage, vage<br />
o<strong>de</strong>r abstrakte Or<strong>de</strong>r zu entschlüsseln, etwa: ..Sei nicht albern",<br />
o<strong>de</strong>r: „Benimm dich or<strong>de</strong>ntlich",. Kin<strong>de</strong>r müssen genau<br />
und Schritt für Schritt erfahren, was von ihnen ver-<br />
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langt wird.<br />
WIRKUNGSLOSER EINSATZ VON STRAFE:<br />
• Strafe wird angedroht, aber nicht <strong>aus</strong>geführt. Auch wenn<br />
Drohungen zunächst wirken, wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r schnell Lernen,<br />
850 sie zu ignorieren, wenn Eltern keine Taten folgen lassen.<br />
• Im Zorn erteilte Strafe. Dabei besteht immer das Risiko,<br />
dass Eltern die Kontrolle verlieren und <strong>de</strong>m Kind weh tun.<br />
• Inkonsequente Strafanwendung macht es für Kin<strong>de</strong>r nahezu<br />
unmöglich, einzuschätzen, was von ihnen erwartet wird.